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Ausgerechnet Schwimmen

Frau Lenau beugte sich über ihre Tasche, um die Zeugnisse hervorzuholen. Endlich, dachte Richard. Er schob sich unauffällig einen Kaugummi in den Mund. Noch nie hatte er sich so auf die Ferien gefreut. Er ging schon lange nicht mehr gern zur Schule. Am liebsten wäre er ausgewandert. Nach Österreich zum Beispiel. Dort musste man nicht zur Schule gehen. Man konnte genauso gut zu Hause bleiben und die Mutter oder der Vater brachte einem alles bei. Richard schwärmte seiner Mutter oft von Österreich vor. Aber die lachte immer nur und sagte: „Dann hättest du doch gar keine Schulkameraden.“ Genau das war aber der Punkt. Darum wollte Richard ja nach Österreich.

Auf einmal klopfte es laut und die Tür wurde aufgerissen. Richard drehte sich um und biss sich vor Schreck auf die Zunge. Herr Drescher! Schnell würgte Richard den Kaugummiklumpen herunter. Der Sportlehrer marschierte in die Klasse, im Trainingsanzug, wie immer. Er hatte einen Stapel Zettel in der Hand und ein rechteckiges Grinsen im Gesicht.

„Ich bin gleich wieder draußen, Frau Lenau“, sagte Herr Drescher und stellte sich direkt neben Richards Platz auf.

Richard versuchte, ruhig weiterzuatmen.

„Im nächsten Schuljahr werdet ihr bei mir Schwimmunterricht haben“, fuhr Herr Drescher fort.

„Jaaa!“, rief Keno und klatschte in die Hände.

Die anderen jubelten. Nur Richard blieb stumm. Schwimmen bei Drescher! Das war bestimmt noch schlimmer als Geräteturnen.

„Hier ist ein Brief an eure Eltern mit allen Informationen“, sprach Herr Drescher weiter. „Am ersten Schultag müsst ihr mir eure Schwimmpässe vorlegen, vergesst das nicht!“

Er schaute in die Runde.

„Gibt es hier jemanden, der noch nicht das Bronzeabzeichen hat?“

Die Schüler wurden leise und guckten sich neugierig um. Nur Richard blickte geradeaus. Sein Herz hämmerte. Aber er meldete sich nicht. Kein Kind meldete sich.

Herr Drescher legte Richard von der Seite die Hand auf die Schulter. Eine Riesenpranke, schwer und warm. Lehrer sollen Schüler nicht anfassen, dachte Richard, Herr Drescher soll mich nicht anfassen! Er sah zu Frau Lenau. Die zog die Augenbrauen zusammen, aber sie sagte nichts.

„Was ist mit dir, Richard?“, fragte Herr Drescher.

Natürlich. Jetzt nochmal Richard alleine. Genau wie beim Sport. „Damit alle sehen, wie man es nicht macht“, sagte Herr Drescher immer. Wenn Richard dann aus vollem Anlauf gegen den Kasten knallte oder wie ein nasser Lappen über der Reckstange hängen blieb, kicherten und lachten alle.

Herr Drescher holte seine Hand wieder zu sich.

„Sag schon, Richard! Hast du das Abzeichen?“

Alle starrten Richard an. Das Blut schoss ihm in den Kopf. Ihm wurde heiß. Am liebsten wäre er zerschmolzen und im Teppichboden versickert. Da flutschte die Antwort plötzlich aus seinem Mund:

„Natürlich hab ich das“, hörte er sich sagen. Es klang so selbstverständlich, dass er es fast selbst glaubte.

„Na, dann können ja alle mitmachen“, sagte Herr Drescher.

Er drückte Richard den Stapel Elternbriefe zum Weiterreichen in die Hände und verabschiedete sich. Mit zackigen Schritten verließ er den Raum.

Richard überflog den Brief in seiner Hand. Herr Drescher schrieb:

 

Liebe Eltern,

bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir mit dreißig Kindern kein Anfängerschwimmen durchführen können. Für die Teilnahme am Schwimmunterricht im nächsten Schuljahr ist es daher unerlässlich, dass Ihr Kind das Jugendschwimmabzeichen in Bronze hat. Sollte dies nicht der Fall sein, muss die Prüfung in den Ferien unbedingt privat nachgeholt werden!

Schöne Ferien wünscht Ihnen

Harald Drescher

 

Hastig faltete Richard den Brief zusammen und versenkte ihn in seiner Schultasche. Er rieb sich seine Hände an der Hose ab und sah nach vorn. Frau Lenau begann mit der Zeugnisausgabe. Nacheinander rief sie die Schüler zu sich. Als Richard an der Reihe war, sagte sie:

„Ein schönes Zeugnis!“

Aber Richard konnte sich auf einmal gar nicht mehr freuen.

Als er zurück zu seinem Platz ging, kam ihm Keno entgegen. Der war im Alphabet gleich nach ihm dran. Keno rempelte Richard ganz leicht an, wie aus Versehen. Kaum hörbar sagte er:

„Lügner.“

Daran hatte Richard nicht gedacht. Keno war ja dabei gewesen, als Richard beim Schwimmkurs letztes Jahr als Einziger das Bronzeabzeichen nicht geschafft hatte. Und seine Mutter Verena fragte Richards Mutter seitdem regelmäßig: „Wie steht’s mit dem Schwimmen? Hat Richard endlich Bronze?“ Richards Mutter antwortete dann immer: „Solche Abzeichen sind uns nicht so wichtig.“ Aber sie ärgerte sich über Verenas Fragerei – das wusste Richard genau.

Urlaubsgeld

Auf dem Heimweg brannte Richard die Sonne auf den Kopf. Mauersegler jagten über den Himmel und schrien Sriii Sriii. Schwimmbadwetter! Richard musste an die großen dicken Jungen mit den Riesenbadehosen denken, wie sie breitbeinig das Sprungbrett zum Schwingen brachten und gewaltige Arschbomben ins Wasser setzten. Richtige Fontänen schossen über ihnen nach oben. Und Murat aus der achten Klasse! Der konnte einen Salto vom Dreier. Wenn er wieder aus dem Wasser auftauchte, schleuderte er seine Haare mit einer kurzen Kopfbewegung nach hinten. Das sah unglaublich cool aus.

Richard konnte keine Arschbombe und schon gar keinen Salto. Er traute sich noch nicht einmal, vom Startblock zu springen. Springen war für ihn der reine Horror. Deshalb hatte er auch das Bronzeabzeichen nicht bekommen. Bis vorhin in der Schule war ihm das ziemlich egal gewesen, aber nun lag dieser Brief von Herrn Drescher in seiner Schultasche und drohte, ihm die Ferien zu vermasseln. Wenn seine Mutter den las, würde sie Richard bestimmt in einen Schwimmkurs stecken. Nein, den Brief gab er ihr besser nicht. Und im nächsten Schuljahr würde er einfach am Rand sitzen und den anderen beim Schwimmen zugucken. Basta!

 

In Gedanken versunken bog Richard in den Haubentaucherweg ein. Hohe Bäume beschatteten den Gehweg, trotzdem war auch hier die Luft heiß und sie trocknete Richard die Kehle aus. Kein Wunder, dass niemand auf der Straße war. Richard freute sich, dass er sich gleich in sein kühles Zimmer verkriechen konnte. Doch da hörte er hinter sich schnelle Schritte und ein Keuchen, jemand griff nach seinem Ranzen und riss Richard herum. Es war Keno. Er hatte tatsächlich einen Umweg gemacht, nur um Richard vor den Ferien noch einmal zu erwischen.

Keno schnaufte. Nasse Haarsträhnen klebten an seiner Stirn und Schweißtropfen standen ihm auf der knubbeligen Nase.

„Na, Toilettentaucher! War doch nett von mir, dass ich dich nicht verpetzt habe“, sagte Keno und bleckte die Zähne.

Blitzartig wurde Richard klar, was seine Mutter meinte, wenn sie von gelben Belägen sprach, die man kriegte, wenn man sich nicht anständig die Zähne putzte. Keno hauchte Richard ins Gesicht. Wenn es so etwas wie das Böse gab, dann roch es genau so. Richard wurde schlecht.

„Lass mich in Ruhe!“, presste er heraus, riss sich los und ging mit schnellen Schritten weiter.

Aber Keno ließ nicht locker. Er folgte Richard, hielt ihn am Arm fest und sagte mit schleimig-weicher Stimme:

„Ich schlage vor, dafür ist ein schönes Urlaubsgeld fällig.“

Richard zog ein Zwei-Euro-Stück aus seiner Hosentasche und gab es Keno. Normalerweise reichte das, um Keno loszuwerden.

Diesmal aber nicht. Keno drehte und wendete das Geldstück in seiner Hand.

„Wenn ich ehrlich bin, ist das ein bisschen wenig. Wir fliegen nächste Woche nach Ibiza, da ist alles sehr teuer – aber das kannst du ja nicht wissen, Toilettentaucher!“

Mit einer schnellen Bewegung packte Keno Richard am Nacken und stieß ihn mit voller Wucht in die sauber gestutzte Buchsbaumhecke neben ihnen. Äste knackten und stachen Richard in Gesicht und Arme.

Als Richard sich mit Mühe aus der Hecke hochgerappelt hatte, war Keno längst abgehauen. Die Straße war wieder wie ausgestorben. Mit zitternden Händen versuchte Richard, die Hecke glattzustreichen und einige abgeknickte Zweige aufzurichten – vergeblich. Sein Körper hatte einen hässlichen Krater in die grüne Wand gerissen. Richard betastete sein zerkratztes Gesicht. Die Haut brannte, aber da war kein Blut. Richard blieb noch einen Moment stehen, dann ging er weiter.

 Er musste daran denken, wie der ganze Ärger mit Keno angefangen hatte. „Richard Hasenherz“ hatte Keno ihn genannt. Lasse und Alex hatten laut gelacht. „Du kannst mich nicht beleidigen!“, hatte Richard geantwortet und war einfach weggegangen. Vielleicht war das ein Fehler gewesen. Jedenfalls hatte es Keno erst richtig angestachelt. „Was ich alles kann, das weißt du gar nicht!“, hatte er Richard hinterhergerufen.

Seitdem hatte Keno es auf Richard abgesehen. Regelmäßig lauerte er ihm auf dem Schulweg auf, zusammen mit Lasse und Alex. Sie schubsten Richard zwischen sich herum und traten ihm gegen die Schienbeine. Wenn Lasse und Alex nicht dabei waren, verlangte Keno auch Geld von Richard – für ein paar Tage Ruhe. Und Richard zahlte. Er wehrte sich nicht. Wie auch? Er war ja ganz allein und hatte in der Klasse niemanden, der ihm half. Den anderen war anscheinend egal, wie es ihm ging – so wie sie ihn beim Sport immer auslachten.

Keno dagegen war der King der Klasse. Sie hatten ihn wegen seiner großen Klappe sogar zum Klassensprecher gewählt.

Freddys Friedhof

Richard musste noch ein gehöriges Stück laufen bis zum Ende des Haubentaucherweges. Dort wohnte er mit seiner Mutter in einem roten Backsteinhaus.

Er überlegte, ob er ihr erzählen sollte, was Keno getan hatte. Aber sie würde sicher sofort zu Verena rennen und sich beschweren. Das hatte sie schon einmal gemacht. Am nächsten Tag hatten Keno, Lasse und Alex Richard dann auf dem Schulklo überfallen. Sie hatten ihn vor die dreckigste Kloschüssel geschleppt und seinen Kopf hineingedrückt. „Das passiert einem, der es wagt, mich zu verpetzen!“, hatte Keno gerufen. „Beim nächsten Mal wird abgezogen!“

Seitdem brauchte Keno nur „Toilettentaucher“ zu sagen, um Richard in Angst und Schrecken zu versetzen.

 

Richard versuchte, sich von seinen trüben Gedanken abzulenken, indem er den Grünstreifen neben der Straße nach toten Insekten absuchte. Als er einen schwarzen Käfer leblos im Gras liegen sah, hob er ihn auf. Der Käfer war an einer Seite eingedrückt, aber er glänzte schön – wie Lakritz. Sicher würde er Freddy gefallen. Richard steckte den Käfer in die leere Streichholzschachtel, die er immer bei sich trug.

Freddy war sechs Jahre alt, fünf Jahre jünger als Richard. Er wohnte auch am Ende der Straße im Wendehammer. Ab und zu schenkte Richard ihm etwas – einen Lolli, eine Murmel oder Ähnliches. Zur Zeit legte Freddy einen Krabbeltierfriedhof an und brauchte ständig totes Getier dafür. In ordentlichen Reihen begrub er Hummeln, Spinnen und Käfer im Vorgarten – manchmal auch Stubenfliegen, die er von der Fliegenklatsche gekratzt hatte. Auf die winzigen Gräber steckte er aus Ästen gebastelte Kreuze oder er legte größere Kieselsteine darauf. Einige Steine hatte Richard für Freddy mit einem wasserfesten Stift beschriftet. Freddy konnte ja noch nicht schreiben. „Hermann Hummelsepp“, „Finchen und Fritze Fliege“, „Kalle Käfer“ und „Gerold Grashüpfer“ waren Namen, die sich Richard für die toten Tiere ausgedacht hatte. Solche Namen machten Freddy Spaß.

 

„Ich hab was für dich!“, sagte Richard, als er Freddy im Vorgarten entdeckte.

Freddy ließ die Harke fallen, mit der er gerade den Boden bearbeitete, und kam zum Zaun gelaufen.

„Lilo Lakritze – ein schrecklicher Unfall“, sagte Richard mit gespielt trauriger Miene und öffnete die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.06.2017
ISBN: 978-3-7438-2048-7

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