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Prolog

Wer immer sich das Wort Schmerz ausgedacht hat, hatte keine Ahnung. Er wusste nicht, dass es Dinge gibt, die so grausam sind, dass man sie nicht in Worte fassen kann. Das, worüber er sprach, hat er nie erfahren, und während ich an diesem Gefühl, diesem Zustand des Seins, für den es keinen Namen gibt, zugrunde gehe, verhöhne ich jenen Menschen für seine Dummheit und sein Unwissen. Die Energie, die durch meinen Körper fließt und gegen seine leblose Hülle pocht, wird meine Zellen jeden Moment zersprengen. Ich bin gefangen zwischen dem Sein und meiner endlosen Qual. Ich will sterben, sehne mich nach dem Tod, nach der erlösenden Dunkelheit, die sich mir entzieht. Ein einzelnes Wort drückt gegen die Außenwände meines berstenden Schädels. Ich will es hinausschreien, doch es bohrt sich in mein Inneres und hinterlässt Zerstörung. Blutgefäße splittern, und spitze Scheren zerschneiden mein Inneres. Es ist dieses eine Wort, das vor meinem Inneren Auge auftaucht, immer wieder. Scaara. Das Wort, das die Welt erklärt, die Ursache allen Seins, der Sinn des Universums. Scaara, Scaara. In diesem Moment durchbreche ich die Oberfläche und spüre die eisige Kälte, die mich erstickt.

 

Mrs. Hunter ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen und streckte die Füße aus. Sie trug hochhackige, schwarze Lederstiefel, die am Absatz bereits ein wenig abgenutzt waren, obwohl sie sie erst vor drei Wochen gekauft hatte. Sie schloss die Augen und versuchte den Gedanken zu verdrängen, der sich wie eine lästige Fliege nicht abschütteln ließ. Eine Kloschüssel. Ganz viel Klopapier ausgelegt. Die Wände waren weiß verkachelt und das gelbe Licht, das schon seit Monaten nicht repariert worden war, flackerte. Sie kniete sich vor die Kloschüssel und steckte einen Finger in ihren Hals. Das kurze Gefühl des Würgreizes, der Adrenalinkick. Dann die Befreiung, während ihr Magen sich dankbar entleerte.

Nein. Sie hatte damit aufgehört. Heute war es auf den Tag genau dreißig Jahre her, seit sie damit angefangen hatte, und sie hatte einen schweren Weg gehabt. Ohne Ryan hätte sie es wohl nicht geschafft. Er war ihre Stütze gewesen, hatte ihr Halt gegeben und war immer für sie da gewesen. Doch er hatte nie das gewisse Etwas gehabt, das sie in ihrer Jugend bei Männern geliebt hatte, diese Wildheit, dieser gewisse Hang, seine eigenen Fähigkeiten zu überschätzen, der freche, leichtsinnige Charme. Vielleicht war es auch besser so. Schließlich hatte Joel seinen Übermut mit dem Leben bezahlt. Mrs. Hunter seufzte und drückte mit der Handfläche vorsichtig gegen ihren Bauch. Sie fühlte sich aufgebläht. Unruhig rutschte sie auf ihrem Bürostuhl hin und her, um sich in eine angenehmere Sitzposition zu bringen.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie erschrocken zusammen fahren. Erleichtert stellte sie fest, dass es nur Mr. Garner war, einer der jüngeren und unerfahrenen Mitarbeiter, der offensichtlich nicht zu wissen schien, dass er seine Chefin nach dem Mittagessen besser in Ruhe lassen sollte.

„Mr. Garner! Was gibt’s?“, fragte Mrs. Hunter gereizt und drehte sich auf ihrem Stuhl schwerfällig zu ihm um. Sie sah, dass er eine Kaffeetasse in seiner rechten Hand hielt, und nahm den Geruch wahr, den das warme Getränk verströmte. Übelkeit keimte in ihr auf, und sie wandte das Gesicht zur Seite, als könne sie ihre Nase dadurch der Duftwolke entziehen.

„Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass Sie Ihren Kaffee gefälligst draußen trinken sollen? Keine Nahrungsmittel in diesem Büro!“

„Entschuldigen Sie“, stammelte der junge Mann, und nicht ohne eine gewisse Befriedigung stellte Mrs. Hunter fest, dass er rot anlief und hastig rückwärts stolperte, wobei er seine Schuhe mit einem Schwall Kaffee bekleckerte. Sie konnte seine Schritte auf dem Gang hören, als er sich entfernte, um die Tasse zurück in sein Büro zu bringen. Als er ohne den Kaffee zurückkam, hatte sein Gesicht eine puterrote Farbe angenommen, und er starrte betreten auf die Kaffeeflecken auf seinen Schuhen.

„Mrs. Hunter!“, rang er sich schließlich ab. „In Ebene 2 ist eine Anomalie aufgetreten. Besser gesagt, in Ebene 2, Sektor 5A, wenn Sie es genauer wissen wollen.“

Mrs. Hunter machte Anstalten, sich auf ihrem Stuhl aufzurichten, doch ihr Magen rebellierte. Sie ließ sich wieder in ihre Stuhllehne sinken und sah Mr. Garner fragend an, musste jedoch feststellen, dass dieser offenbar nichts mehr zu sagen hatte.

„Eine Anomalie, sagen Sie?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Sie ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen, wie um zu prüfen, ob es ähnliche Übelkeit in ihr hervorrufen würde wie das Mittagessen. Doch das flaue Gefühl im Magen, das sie plötzlich verspürte, hatte nichts mehr mit Essen zu tun.

„Ja, Ma’am, eine Anomalie. In Sektor 5A, Ebene 2.“

„Und um was für eine Anomalie handelt es sich, wenn ich fragen darf?“, hakte Mrs. Hunter nach.

„Das wissen wir noch nicht, Ma’am. Das Seltsame ist, als ich die Einstellungen des Systems überprüft habe, hat alles gestimmt. Aber Frostor meldet eine erhöhte Temperatur in Gefrierfach... warten Sie, ich hab’s mir aufgeschrieben...“ – er zog ein zerknülltes Papier aus der Hosentasche seiner abgetragenen Jeans – „33 B 127.“

„Lassen Sie mal sehen!“, forderte Mrs. Hunter. Seit vielen Jahren hatte das Gefriersystem der Anlage Cryos bis auf einen einzelnen, menschlich verschuldeten Zwischenfall tadellos funktioniert, wurde es doch von einem hochintelligenten Computer namens Frostor gesteuert und überwacht. Die Tatsache, dass nun irgendwo eine Störung im System aufgetreten zu sein schien, lieferte erheblichen Grund zur Beunruhigung.

„Das muss ich mit eigenen Augen sehen! Lassen Sie mich mal einen Blick auf den Überwachungsmonitor werfen.“ Mrs. Hunter erhob sich von ihrem Bürostuhl und war überrascht, wie beweglich und vital sie sich plötzlich fühlte. Der beunruhigende Gedanke an die Störung in Sektor 5A verdrängte alle Gedanken an ihr körperliches Unwohlsein.

„Folgen Sie mir, Ma’am!“, sagte Mr. Garner beflissen und schritt erhobenen Hauptes voran. Mrs. Hunter stellte sich insgeheim die Frage, ob er sich in seiner Rolle des Entdeckers der Störung womöglich sehr wichtig vorkam. Aber diese Überlegungen waren jetzt nebensächlich. Viel wichtiger war es, schnellstmöglich herauszufinden, was dort unten im Gange war, und dann die nötigen Gegenmaßnahmen einzuleiten.

 

Mr. Garner führte Mrs. Hunter durch eine Reihe von Gängen, die sie wie ihre Westentasche kannte. Vor dem Überwachungsbüro, das während der Abwesenheit der dort beschäftigten Mitarbeiter stets verschlossen sein musste, blieb er stehen und hantierte ungeschickt mit seinem Schlüsselbund herum. Seine Hände zitterten vor Nervosität. Angesichts der angespannten Lage konnte Mrs. Hunter es ihm nicht verdenken. Sie selbst wagte es kaum, alle Möglichkeiten durchzuspielen.

„Bitte sehr“, forderte Mr. Garner sie auf, einzutreten. Mrs. Hunter folgte ihm und sah sich um. Das Büro von Mr. Garner und seinen drei Kollegen war nicht gerade das Ordentlichste, und auch diesmal konnte sie ihr Missfallen über die auf seinem Schreibtisch verteilten Papierstapel, aber vor allem über die Tasse Kaffee, die bedenklich nah neben seiner Computertastatur stand, kaum verbergen. Lagen dort hinten auf dem Boden etwa leere Süßigkeitenverpackungen? Nicht daran denken, wies sie sich an und atmete tief durch.

„Sind Sie allein?“, fragte sie.

Mr. Garner nickte nur. Sie warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Die Tatsache, dass nicht noch weitere Mitarbeiter in den Vorfall hineingezogen wurden, konnte man wohl als Glück im Unglück bezeichnen.

„Dann sehen wir uns die Sache doch mal an.“ Unaufgefordert nahm Mrs. Hunter auf Mr. Garners Bürostuhl Platz. Die Stuhllehne gab ein ganzes Stück nach, als sie sich anlehnte. Sie warf einen Blick auf Mr. Garners Computerbildschirm und erblickte die recht unübersichtliche Benutzeroberfläcke des ihr wohlbekannten Überwachungs- und Steuerungsprogramms Frostor CryoWatch.

„Zeigen Sie mir, wie Sie auf die Störung aufmerksam geworden sind und was Sie gesehen haben“, verlangte Mrs. Hunter. „Ach ja, und entfernen Sie doch bitte endlich diesen Kaffee! So kann man ja nicht arbeiten!“

Mr. Garner errötete abermals und stellte den Kaffee auf den etwas aufgeräumteren Schreibtisch eines Kollegen. Dann beugte er sich vor und deutete auf die obere rechte Ecke seines Monitors.

„Hier. Sehen Sie diesen Temperaturwert?“

Mrs. Hunter kniff die Augen zusammen, um etwas erkennen zu können. In all der Eile hatte sie ihre Brille in ihrem Büro vergessen. Zwischen all den grünen Zahlen und Buchstaben erkannte sie einen roten Wert. Offenbar war die Temperatur in Gefrierfach 33 B 127 von -196 °C auf -150 °C gestiegen. Mrs. Hunter stockte der Atem.

„Unternehmen Sie doch etwas!“, rief sie entsetzt aus.

Mr. Garner zuckte merklich zusammen und trat aus der Reichweite seiner Chefin.

„Es ist nicht so leicht, etwas zu unternehmen, wenn die Ursache unbekannt ist“, verteidigte er sich. „Wie Sie sehen, ist der Regler für die Solltemperatur richtig eingestellt, doch er scheint irgendwie nicht zu funktionieren.“

„Aber dann müsste Frostor doch eine Funktionsstörung gemeldet haben“, gab Mrs. Hunter zu bedenken.

„Frostor hat lediglich die erhöhte Temperatur gemeldet, aber mit dem Kühlsystem scheint alles in Ordnung zu sein.“

Mrs. Hunter schüttelte zweifelnd den Kopf. „Aber das ist doch nicht möglich...“ Sie warf einen Blick auf den Bildschirm, um seine Angaben zu überprüfen, konnte jedoch die Ursache der Anomalie ebenso wenig ausmachen wie ihr Mitarbeiter. Zu ihrem Entsetzen stellte sie jedoch fest, dass die Temperatur mittlerweile bei -149 °C lag. Der Auftauprozess schritt viel zu schnell voran. Wenn sie ihm nicht Einhalt geboten, würde er höchstwahrscheinlich tödlich enden.

„Haben Sie schon versucht, die Temperatur unterhalb des Sollwerts einzustellen?“, fragte Mrs. Hunter.

Mr. Garner sah sie erschrocken an. „Aber Ma’am... Das ist doch verboten. Es kann schwerwiegende Schäden im Organismus nach sich ziehen.“

„Wie mir bekannt ist“, gab Mrs. Hunter patzig zurück. „Wenn Ihnen auf die Schnelle etwas Besseres einfällt, dann nur raus damit. Jetzt geben Sie mal her!“

Sie griff nach der Maus und doppelklickte auf den Wert in der Spalte „Soll-Temperatur“. Ein Eingabefeld öffnete sich, und sie änderte den dort ausgewiesenen Wert von -196 auf -210. Dann drückte sie Enter, um die Änderung zu bestätigen.

Mr. Garner räusperte sich nervös. „Sind Sie sicher, dass -“

„Passwort!“, schnitt Mrs. Hunter ihm barsch das Wort ab, als sich ein Eingabefeld öffnete, das sie zu einer Verifizierung ihrer Berechtigung durch ein Passwort aufforderte. Sie schob Mr. Garner die Tastatur hin. Dieser war so nervös, dass er sich zweimal vertippte, bis es ihm endlich gelang, das richtige Passwort einzugeben.

Gespannt wartete Mrs. Hunter ab, was passieren würde. Auch Mr. Garner hielt den Atem an, vermutlich allerdings eher aus Furcht angesichts der unerlaubten Handlung seiner Chefin.

„Sehen Sie, es funktioniert!“, rief Mrs. Hunter aufgeregt, als die mittlerweile auf -148 °C angestiegene Temperatur wieder um ein Grad Celsius fiel.

Mr. Garner wirkte noch nicht ganz überzeugt. „Und wie regulieren wir dann die Temperatur wieder auf den Normalpunkt?“

„Das ist eine gute Frage“, sagte Mrs. Hunter nachdenklich. „Aber damit müssten Sie sich doch auskennen. Sie arbeiten schließlich jeden Tag mit dem System. ... Oh, verdammt!“

Mit Schrecken erkannte sie, dass die Überwachungssoftware in Gefrierfach 33 B 127 erneut einen Temperturanstieg verzeichnete. Ihre Maßnahme schien wirkungslos gewesen zu sein.

„Ma’am, die Temperatur...“, setzte Mr. Garner an.

„Ich sehe es doch selbst!“ Mrs. Hunter schüttelte fassungslos den Kopf. „Seien Sie mal einen Moment still, ich muss nachdenken!“

„Ma’am, der Temperaturanstieg scheint sich auf die umliegenden Gefrierfächer auszubreiten.“

„Was?!“

„Ja, sehen Sie selbst!“ Mr. Garner fuchtelte hektisch mit dem Finger vor dem Bildschirm herum und wies auf die Temperaturanzeigen anderer Gefrierfächer, die sich ebenfalls rot verfärbt hatten.

Mit einem Rechtsklick auf das Anzeigefeld des Gefrierfachs 33 B 127 öffnete er eine Grafik, in der die Temperatur des Gefrierfachs und der umliegenden Gefrierfächer visuell dargestellt wurden. Darauf war zu erkennen, dass der Temperaturanstieg offensichtlich vom Zentrum des Gefrierfachs 33 B 127 ausging.

„Was können wir denn jetzt tun?“, fragte Mrs. Hunter entsetzt.

„Mir fällt nur eine Möglichkeit ein“, sagte Mr. Garner ernst. „Wir müssen die Quelle der Störung isolieren und ausschalten.“

Mrs. Hunter holte tief Luft. „Aber das bedeutet...“

„Ja, das bedeutet, dass wir das Gefrierfach isolieren müssen.“

„Gibt es denn keine andere Möglichkeit? Denken Sie an den Zwischenfall im letzten Jahr“, protestierte Mrs. Hunter schwach.

Mr. Garner schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, nicht.“

Mrs. Hunter erhob sich von Mr. Garners Bürostuhl. Anders als in der Jahrzehnte später entwickelten, hochmodernen Schwesterstation Glacier, konnte man ein Gefrierfach in Cryos nur vor Ort isolieren. „Also gut. Lassen Sie uns das Unvermeidliche tun. Und zwar schnell!“

 

Sie verließen Mr. Garners Büro und nahmen den kürzesten Weg zu einem abgeschiedenen Raum, in dem sich abgesehen von einer runden Falltür im Boden nichts befand. Darunter verbarg sich eine Leiter, welche in das Gefriersystem von Cryos führte, einen Ort, an dem man sich aufgrund seiner frostigen Temperatur nicht gern aufhielt. Das letzte Mal, das Mrs. Hunter dort unten gewesen war, war vor anderthalb Jahren gewesen, aufgrund des Zwischenfalls, wie man in Cryos nur sagte. Ein Tag, an den sich keiner hier allzu gern erinnern mochte. An diesem Tag war ebenfalls eine Anomalie aufgetreten, die fatale Folgen nach sich gezogen hatte. Es war ein Tag, auf den keiner der Mitarbeiter von Cryos stolz war, und dessen Ereignisse nur unter großer Mühe hatten vertuscht werden können. Mrs. Hunter hoffte inständig, keine Wiederholung des Zwischenfalls erleben zu müssen, denn die Maßnahmen, die sie hatte ergreifen müssen, um ihn zu vertuschen, waren keinesfalls angenehm gewesen. Sie wusste, dass ein weiterer Vorfall dieser Art sie angesichts ihrer ohnehin fragwürdigen Vergangenheit den Job kosten konnte.

„Ma’am, wenn ich bitten darf?“ Mr. Garner zeigte auf einen Ziffernblock am Boden neben der kreisförmigen Falltür, der die Eingabe einer Zahlenkombination erforderte, die nur wenigen Menschen auf Cryos bekannt war. Mrs. Hunter als Stationsleiterin war eine von ihnen. Seufzend ging sie in die Hocke und versuchte, den ziehenden Schmerz, der ihr dabei in den Rücken fuhr, zu ignorieren. Sie war eben nicht mehr die Jüngste, und musste sich obendrein eingestehen, dass sie sich auch viel zu wenig bewegte.

Mr. Garner wandte pflichtbewusst den Blick ab, um die Zahlenkombination nicht zu sehen, die Mrs. Hunter eintippte, bevor sie ihren Daumen auf einen Scanner hielt, um den Autorisierungsprozess zu beenden.

„Nach Ihnen“, sagte sie, als die Falltür sich mit einem lauten Klicken öffnete, und den Blick auf eine metallene Leiter freigab, die etwa dreieinhalb Meter in die Tiefe führte.

Mr. Garner stieg herab und schaltete unten angekommen das Licht ein. Mrs. Hunter folgte ihm und konnte sich dabei des Gefühls nicht erwehren, in einen dunklen, unheilvollen Keller herabzusteigen. Die schier unendlichen unterirdischen Gänge von Cryos hatten bei ihr stets ein Gefühl der Beklemmung hervorgerufen, wann immer sie sich dort unten aufgehalten hatte.

Als sie unten angekommen war, befand sie sich in einem kleinen Raum mit nur einer Tür, die, wie sie wusste, in das Gängesystem von Cryos führte. Auch diese Tür war mit einem Ziffernblock und einem Daumenscanner gesichert.

„Bitte sehr, Ma’am“, sagte Mr. Garner und hielt ihr einen der dicken Daunenmäntel hin, die in diesem Raum für die Mitarbeiter bereit hingen, die sich in die Kälte des unterirdischen Hochsicherheitstrakts von Cryos begaben. Die Mitarbeiter der Station nannten die Gänge auch das Eisige Labyrinth.

„Danke“, sagte Mrs. Hunter und ließ sich von ihrem Mitarbeiter in den Mantel helfen. Dann nahm sie auch die Mütze und die gefütterten Handschuhe entgegen, die er ihr reichte.

Sie tippte die nächste Zahlenkombination ein und ließ abermals ihren Daumen scannen. Dann zog sie ihre Handschuhe und ihre Mütze an.

Die Tür schwang auf, und eine eisige Kälte schlug den beiden entgegen.

„Dann lassen Sie uns mal etwas Licht in das Dunkel bringen“, sagte Mrs. Hunter.

Als hätten ihre Worte Gehör gefunden, schaltete sich automatisch das Licht ein, als Mr. Garner in den eisigen Gang hinaus trat und Mrs. Hunter ihm folgte. Die Tür schlug hinter den beiden zu. Mrs. Hunter vergewisserte sich, dass der Alarmknopf neben der Tür aktiviert war. Man konnte ja nie wissen, was sie hier unten erwarten würde.

Sie gingen einen etwa zehn Meter langen, recht niedrigen Gang entlang, der von einem anderen Gang gekreuzt wurde. Dort endete der Gang, in dem sich die beiden gerade befanden und wurde vom sogenannten Eisigen Labyrinth abgelöst.

„Nach rechts“, wies Mr. Garner seine Chefin an, als sie am Ende des Ganges angelangt waren. Mrs. Hunter hielt den Atem an und folgte Mr. Garner in das Eisige Labyrinth.

Sie befand sich nun in einem drei Meter hohen, ebenfalls drei Meter breiten und mehrere hundert Meter langen Gang, in dem es aussah wie in der Gerichtsmedizin in einer der schlechten Krimiserien, die in ihrer Jugend noch im Fernsehen gelaufen waren. Anstelle von Wänden befanden sich an den Seiten der Gänge Gefrierfächer, in denen Menschen lagen. Jedes dieser Fächer war mit einer handgroßen digitalen Anzeigetafel ausgestattet. Die meisten der in den Fächern verwahrten Menschen waren Verbrecher, die aus Mangel an herkömmlichen Gefängnissen eingefroren und zur sicheren Verwahrung an diesen Ort gebracht worden waren. Wie immer löste diese Tatsache ein mulmiges Gefühl in Mrs. Hunter aus. Für gewöhnlich bevorzugte sie es aus gutem Grund, ihre Mitarbeiter vorzuschicken, wenn wieder einmal ein Kontrollrundgang im Eisigen Labyrinth fällig war.

„Wir sollten uns beeilen“, drängte sie Mr. Garner. Länger als nötig wollte sie sich hier unten nicht aufhalten. Trotz der für einen unterirdischen Gang recht großzügigen Raumverhältnisse löste die Tatsache, dass sie sich tief unter der Erde inmitten von eingefrorenen Verbrechern befand, eine klaustrophobische Nervosität bei ihr aus.

„Ebene Zwei, sagten Sie? Dann müssen wir noch ein Stockwerk tiefer.“ Es missfiel ihr, sich tiefer in den Untergrund begeben zu müssen, fast so, als befände sie sich unter Wasser und könne es kaum erwarten, an die Oberfläche zu stoßen und Luft in ihre Lungen strömen zu lassen. Aber vor ihrem Mitarbeiter wollte sie sich ihr Unbehagen nicht anmerken lassen.

„Ja, Ma’am“, erwiderte Mr. Garner und bog schnellen Schrittes vor ihr in die Kurve, als der Gang eine jähe Wendung nach links nahm. Mrs. Hunter versuchte Schritt zu halten, was mit den hochhackigen Stiefeln, die sie trug, nicht gerade einfach war. Am Ende des Ganges erkannte sie nun eine Öffnung im Boden, in die eine weitere Leiter hinab führte. Es handelte sich um einen der Zugänge zur Ebene Zwei, des zweiten Untergeschosses von Cryos.

Das Klappern ihrer hohen Absätze hallte von den Türen der Gefrierfächer wider, wie ein unheimlicher, bizarrer Klang, der sie vor einer nahenden Bedrohung warnte. Sie versuchte vergeblich, die drängende Frage daran auszublenden, was den plötzlichen Temperaturanstieg verursacht haben mochte, doch langsam nahm ein beängstigender Gedanke in ihrem Kopf Gestalt an. Wenn es weder an einer Funktionsstörung Frostors noch an einem Fehler eines Mitarbeiters lag, dann kam nur noch eine Erklärung in Frage. Der Gedanke daran ließ sie stärker erschaudern, als es die Kälte des Eisigen Labyrinths je vermocht hatte. Es war der Gedanke an eine Macht, der sie nicht gewappnet war, und die vor vielen Jahren schon einmal ein großes Loch in ihr Leben gerissen hatte. Falls ihre Befürchtungen tatsächlich zutrafen, hing der Ausgang des heutigen Tages in hohem Maße von der Natur des Verbrechers ab, den sie in Gefrierfach 33 B 127 vorfinden würden. Warum nur hatte sie nicht zuvor an Mr. Garners Rechner nachgesehen, wer in diesem Fach eingefroren lag?

„Mr. Garner, warten Sie!“, rief sie. „Wer liegt in diesem Gefrierfach eigentlich?“

Mr. Garner drehte sich um und zuckte ratlos mit den Schultern. „Habe vor lauter Aufregung vergessen, nachzusehen“, gab er zu. „Für mich sind das sowieso alles nur Nummern.“

„Es wäre vielleicht nicht ganz unwichtig gewesen, das zu wissen“, sagte Mrs. Hunter. „Wenn Sie auch nicht wissen, wer in diesem Gefrierfach liegt...“ Sie räusperte sich. Ihre Kehle fühlte sich mit einem Mal wie zugeschnürt an.

Mr. Garner schien ihre plötzliche Verunsicherung zu bemerken. „Keine Sorge, der wird nicht gleich aufwachen“, erwiderte er beschwichtigend.

„Wir sollten jedenfalls nicht völlig unüberlegt dort hinunter gehen“, beharrte Mrs. Hunter.

Mr. Garner machte ein verständnisloses Gesicht. „Wieso denn nicht?“

„Hören Sie, ich weiß nicht, was da unten im Gange ist, aber vielleicht hat das Ganze keine... wie soll ich sagen... Ursache, die mit den Gesetzen der herkömmlichen Physik zu erklären ist.“

Mr. Garners Augen weiteten sich, als er begriff. „Sie meinen...“

Mrs. Hunter nickte. Er brauchte es nicht auszusprechen. Jeder Mitarbeiter von Cryos wurde im Zuge seiner Einweisung auf die Möglichkeit eines derartigen Ereignisses hingewiesen, doch eine praktische Vorbereitung hatte keiner von ihnen erhalten. Auf so etwas konnte man sich nicht vorbereiten.

Mr. Garner wirkte mit einem Mal nicht mehr so entschlossen, voran zu gehen. „Vielleicht sollten wir umkehren“, sagte er nervös und machte Anstalten, ebendies zu tun.

„Moment mal!“ Mrs. Hunter packte ihn am Arm. „Wenn wir nicht einschreiten, greift der Temperaturanstieg ungebremst auf die anderen Fächer über. Das haben Sie mir doch vorhin noch an Ihrem Rechner gezeigt.“

Mr. Garner mied ihren Blick. Seine Lage war ihm sichtlich unangenehm. „Ja, aber wenn wir uns dafür in Gefahr begeben müssen...“

Mrs. Hunter hielt seinen Arm weiterhin in festem Griff und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. „Hören Sie, Mr. Garner, ich weiß selbst nicht, was uns dort gleich erwartet. Aber was ich weiß, ist, dass wir mit Sicherheit unseren Job verlieren, wenn wir nichts unternehmen.“

Vielleicht haben wir ihn bereits verloren, fügte sie im Stillen hinzu, behielt diesen Gedanken jedoch für sich.

„Wir sollten also ganz ruhig bleiben und uns überlegen, was zu tun ist. Lassen Sie uns nichts überstürzen. Auch ich bin beunruhigt, aber ich halte kopfloses Wegrennen nicht gerade für die beste Entscheidung, die wir jetzt treffen können.“

Mr. Garner schluckte. „Was schlagen Sie vor?“

Mrs. Hunter atmete tief durch und ließ sich einen Moment Zeit, um zu überlegen. Sie selbst hatte mehr Angst, als sie zuzugeben bereit war. Schreckliche Bilder flackerten vor ihrem inneren Auge auf, derer sie sich nicht erwehren konnte. Sie erinnerte sie sich an eine Macht, der ihre Kameraden hilflos ausgeliefert gewesen waren. Sie selbst hatte nur untätig zusehen können, wie sie einer nach dem anderen starben, während sie auf ihren eigenen Tod gewartet hatten. Doch wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dieser Macht tatsächlich erneut zu begegnen? Was würde geschehen, wenn sie wegliefen und Cryos sich selbst überließen? Sie versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren, aber es gelang ihr nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Mr. Garner sah sie erwartungsvoll an. Schließlich fasste sie einen Entschluss. Es war unvermeidbar.

„Wir sollten hinunter gehen und uns die Sache ansehen“, sagte sie. „Soweit ich Sie verstanden habe, droht uns zum jetzigen Zeitpunkt noch keine unmittelbare Gefahr. Die Temperatur steigt um etwa ein bis zwei Grad Celsius pro Minute, richtig?“

Mr. Garner nickte schwach.

„Uns bleibt also noch ein wenig Zeit bis zum Zeitpunkt des Auftauens und selbst unter besonderen Umständen dürfte die Aufwachphase danach ebenfalls eine gewisse Zeit andauern. Lassen Sie uns das Gefrierfach isolieren und nachsehen, ob wir etwas herausfinden können. Wir entscheiden dann vor Ort, was zu tun ist.“

Mr. Garner schien noch nicht überzeugt. „Unter diesen besonderen Umständen, wie Sie es nennen, sehen wir uns mit einer Gefahr konfrontiert, die wir nicht einschätzen können“, gab er zu bedenken. „Es könnte alles passieren.“

Obwohl sie sich über seine Ängstlichkeit ärgerte, musste Mrs. Hunter ihm insgeheim Recht geben.

„Wir müssen das Risiko eben eingehen“, beharrte sie. „Wenn aufgrund unserer Untätigkeit die halbe untere Ebene auftaut oder wer weiß was passiert, müssen wir vor Luck Rede und Antwort stehen. Es war schon beim letzten Mal nicht gerade ein Spaziergang, ihn dazu zu überreden, uns eine zweite Chance zu geben.“

Mr. Garner runzelte die Stirn. Mrs. Hunter machte sich bewusst, dass die gesamte Belegschaft von Cryos eine Reihe von Spekulationen aufgestellt hatte, wie es ihr gelungen war, das Einverständnis des Abgeordneten Luck zur Vertuschung des Zwischenfalls zu gewinnen. Rasch wechselte sie das Thema.

„Das schnelle Auftauen ist zwar Besorgnis erregend, begünstigt jedoch auch die Wahrscheinlichkeit des Todesfalls. Vielleicht erledigt sich das Problem von selbst, bevor es sich zu einer Bedrohung für uns entwickeln kann.“

„Ein Todesfall?“ Mr. Garner blickte sie entsetzt an. „Sie wollen einen weiteren Todesfall in Kauf nehmen?“

Mrs. Hunter setzte eine ernste Miene auf. Mr. Garner würde begreifen müssen, dass man eben manchmal tun musste, was nötig war.

„Ich sage Ihnen mal was, Mr. Garner. Ich würde das Gefrierfach eigenhändig abschalten, wenn das erforderlich sein sollte, um heil hier herauszukommen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, wir werden uns für die eine oder andere Möglichkeit entscheiden müssen. Und zwar so schnell wie möglich, denn uns läuft die Zeit davon. Ich verstehe ja Ihre Sorge angesichts der Vorstellung, dass wir uns einer Gefahr aussetzen, die wir vielleicht nicht kontrollieren können. Andererseits müssen wir um jeden Preis verhindern, dass sich dieser Temperaturanstieg weiter ausbreitet und in Folge dessen unsere Häftlinge sterben. Luck wird es gar nicht gefallen, wenn wir die Situation nicht unter Kontrolle bekommen. Schon nach dem Zwischenfall hat er deutlich gemacht, dass er uns keine weitere Chance geben wird. Was, wenn er seine Drohung wahr macht? Wenn wir nicht einmal den Versuch wagen, die Lage in den Griff zu bekommen, kann ich nicht dafür garantieren, dass Sie und ich morgen noch hier stehen.“

Mr. Garner starrte sie nur an.

„Weglaufen ist keine Option, Mr. Garner“, schlussfolgerte Mrs. Hunter. „Wir müssen uns der Gefahr stellen. Und wenn sie tatsächlich so groß ist, wie wir befürchten, dann müssen wir eben das Unvermeidliche tun, bevor die Situation eskaliert. Lieber nehme ich den Tod eines einzelnen Kriminellen in Kauf, als die Kontrolle über die Gefrierfächer und damit die untere Ebene zu verlieren. Und genau das wird passieren, wenn wir nichts unternehmen. Sie haben ja selbst gesehen, wie schnell sich dieser Temperaturanstieg ausbreitet.“

Trotz der frostigen Temperaturen im Eisigen Labyrinth stand Mr. Garner der Angstschweiß im Gesicht.

„Na los, Mr. Garner!“, forderte Mrs. Hunter. “Ich gehe voraus.”

Sie ließ seinen Arm los und stieg rasch die Leiter herab, um ihm keine Möglichkeit zu geben, einen weiteren Einwand vorzubringen. Mr. Garner wirkte ein wenig außer Atem, als er sie einholte.

„Hier entlang.“ Er schien sich wieder gefangen oder gar resigniert zu haben. Mrs. Hunter war es gleichgültig, wie er sich fühlte. Es war Zeit, zu handeln, und er musste eben mitziehen.

Während sie schweigend die Gänge entlanggingen und Mrs. Hunter ihr schlechtes Ortsgedächtnis verfluchte und entnervt den Versuch aufgab, sich für alle Fälle den Rückweg zu merken, nahm sie plötzlich ein Geräusch wahr. Es war ein leises Piepsen. Ein Geräusch, das zuletzt während des Zwischenfalls erklungen war und auf eine Fehlfunktion eines der Gefrierfächer hinwies. Je weiter sie gingen, desto lauter wurde das Piepsen. Sie spürte großes Unbehagen in sich aufsteigen.

„Hören Sie das, Mr. Garner? Wir sind nah dran.“

Mr. Garner nickte. „Wir müssen dort hinten um diese Kurve biegen. Dahinter müsste es sein.“ Er deutete auf eine Biegung am Ende des Ganges. Es beruhigte Mrs. Hunter ein wenig, dass wenigstens er sich hier unten gut auszukennen schien.

Als sie das Ende des Ganges erreicht hatten, bogen sie nach rechts. „Stopp!“, sagte Mr. Garner schließlich und hielt sie an der Schulter fest. „Hier ist es.“

Mit einem mulmigen Gefühl blieb Mrs. Hunter stehen und sah sich um. Rein äußerlich unterschied sich dieser Gang nicht von den anderen Gängen, die sie bereits passiert hatten. Dennoch fühlte sie sich plötzlich verloren, und ein Gefühl der Beklemmung breitete sich in ihr aus. Das unaufhörliche Piepsen klang wie eine sich ständig wiederholende Drohung. Sie wünschte sich, dass es aufhörte.

„Haben Sie sich den Rückweg gemerkt?“, vergewisserte sie sich bei Mr. Garner. Dieser nickte nur. Sein Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass ihm immer unwohler wurde und er am liebsten weggelaufen wäre.

„Wo genau ist es?“ Mrs. Hunter ließ ihren Blick über die Gefrierfächer zu ihrer linken und rechten Seite schweifen. Auf ihrer linken Seite befanden sich mehrere Gefrierfächer, deren digitale Temperaturanzeigen rot blinkten. Dies lag wohl daran, dass der Temperaturanstieg sich auf die umliegenden Fächer ausgebreitet hatte.

Sie ging ein Stück näher heran. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Mr. Garner einen Schritt zurück trat, als habe er Angst, das kritische Gefrierfach könne jeden Augenblick explodieren. Mrs. Hunter wusste selbst nicht, was geschehen würde, wenn sie es aus der Wand herausfahren ließ, doch ihr blieb noch genug Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Zunächst einmal musste sie sich Gewissheit verschaffen, welcher Verbrecher darin lag. Sie beugte sich vor, um auch ohne ihre Brille etwas erkennen zu können.

Rasch erkannte sie, dass eines der Gefrierfächer, welches sich im Zentrum der blinkenden Fächer befand, eine stark erhöhte Temperatur von mittlerweile -102 °C aufwies, während die Temperaturen der übrigen Fächer höchstens 20 °C über der Solltemperatur lagen. Sie atmete auf. 20 °C war eine ganze Menge, jedoch bestand eine gewisse Hoffnung, dass die Insassen dieser Gefrierfächer noch keine irreversiblen Schäden erlitten hatten. Dies konnte man von dem Menschen in Gefrierfach 33 B 127 wohl leider nicht behaupten.

Mrs. Hunter überflog die Anzeigetafel des Gefrierfachs, was ihr einen groben Überblick über den Häftling, der sich darin befand, verschaffte. Neben der Nummer 33 B 127 und der Innentemperatur des Fachs zeigte die Anzeigetafel eine achtstellige Identifikationsnummer des Verbrechers sowie die bisherige Dauer der Einfrierung. Mrs. Hunter stellte fest, dass diese Person bereits seit dreißig Jahren eingefroren war. Sie erinnerte sich, dass man in den Anfangszeiten des Krieges noch nicht sehr viele Menschen eingefroren hatte. Die Verbrechen, die sie begangen hatten, mussten recht schwerwiegend gewesen sein, um eine Einfrierung zu rechtfertigen. Dies machte die Situation natürlich nicht ungefährlicher.

„Was sehen Sie?“, erklang Mr. Garners Stimme aus einiger Entfernung.

„-101 °C“, antwortete sie nach einem erneuten Blick auf die Temperaturanzeige, und versuchte ihren aufkeimenden Ärger niederzukämpfen. Der Feigling hatte sich zurückgezogen und überließ ihr die gefährliche Arbeit.

„Waaas?!“, erklang Mr. Garners schockierte Antwort. „Wir müssen etwas unternehmen!“

Mrs. Hunter beherrschte ihre Wut, obwohl sie ihm am liebsten die bissige Bemerkung entgegengesetzt hätte, er könne doch selbst nachsehen und selbst etwas unternehmen. Als seine Vorgesetzte war es ihr gutes Recht, ihm Anweisungen zu erteilen, doch es würde vermutlich zu nichts führen. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren.

„Ich sehe mal nach, welche zusätzlichen Infos mir Frostor liefert“, sagte sie stattdessen ruhig. Unter dem Display mit den Basisinformationen befand sich zwischen einer Pfeiltaste nach oben und einer Pfeiltaste nach unten ein runder Knopf. Sie drückte auf den Knopf, um zum Hauptmenü zu gelangen. Das rote Blinken und das durchdringende Piepsen verursachten ihr Kopfschmerzen, doch sie ignorierte sie.

Im Hauptmenü fiel ihr neben einigen Menüpunkten zu den medizinischen Daten, der Versorgung des eingefrorenen Körpers und der Temperaturhistorie, welche in der Signalfarbe rot leuchtete, ein Menüpunkt zum Hintergrund des eingefrorenen Verbrechers auf. Mit der unteren Pfeiltaste navigierte sie sich bis dorthin und drückte den runden Knopf in der Mitte, um sich Zugang zu den Informationen zu verschaffen, die dieser Menüpunkt beinhaltete.

Zusätzlich zur Identität des Verbrechers enthüllte der Menüpunkt sein Alter zum Zeitpunkt der Einfrierung, seine Herkunft sowie das Verbrechern, das er verübt hatte. Mrs. Hunter kniff die Augen zusammen und begann zu lesen. Als Erstes gelang es ihr, den Namen einer Frau zu entziffern.

Sie musste zweimal hinsehen, um zu begreifen, was sie dort sah. Ihr Herzschlag setzte einen Augenblick lang aus und sie vergaß zu atmen. Sie taumelte zurück, als habe sie einen Faustschlag in den Magen erhalten.

„Mrs. Hunter, ist alles in Ordnung?“, erklang Mr. Garners alarmierte Stimme. Wenige Augenblicke später war er bei ihr und stützte sie, denn ihre Beine drohten, unter ihr nachzugeben. Sie schnappte nach Luft, und es dauerte einige Sekunden, bis die Sterne vor ihren Augen verschwanden.

„Und ich wusste nicht einmal, dass sie in Cryos liegt...“, stieß sie schließlich hervor. Sie lehnte sich gegen eines der benachbarten Gefrierfächer und versuchte, ihren Atem zu beruhigen.

Mr. Garner sah sie bestürzt an. „Was haben Sie gelesen?“

Mrs. Hunter öffnete den Mund, um eine Antwort zu geben, doch ihr Kopf war leer. „Sehen Sie selbst“, sagte sie nur.

Mr. Garner trat an das Gefrierfach 33 B 127 heran. Als er sich wieder zu ihr wandte, sprach Panik aus seinem Blick.

„-95 °C, Mrs Hunter! Es geht rasend schnell!“ Er klickte sich hektisch durch das Hauptmenü, als könne er dadurch die Erwärmung des Fachs stoppen.

Plötzlich stieß er einen spitzen Schrei aus, der Mrs. Hunter erschrocken zusammen fahren ließ, und flog etwa einen halben Meter rückwärts durch die Luft.

„Mr. Garner!“, rief Mrs. Hunter erschrocken. „Ist alles in Ordnung? Was ist los?“

Mit einer Geschwindigkeit, die Mrs. Hunter ihm nicht zugetraut hätte, rappelte sich Mr. Garner auf und stolperte rückwärts. „Magie!“, rief er entsetzt aus. „Es ist tatsächlich Magie! Ich habe gerade einen Schlag erhalten – wie aus dem Nichts!“

Hektisch wanderten seine Augen durch den Raum, bis er seine Chefin hilflos ansah. „Sie haben Recht, wir müssen agieren.“

„Agieren?“ Mrs. Hunter stieß ein schwaches Lachen hervor und wagte einen kraftlosen Versuch, sich von der Wand aus Gefrierfachtüren abzustoßen, an die sie sich noch immer lehnte. Er misslang kläglich. Alle Energie schien aus ihrem Körper gewichen zu sein und ihre Gedanken überschlugen sich.

„Agieren?“, wiederholte sie. „Was meinen Sie damit?“

Mr. Garner sah sie verständnislos an. „Na, das, was Sie vorhin meinten, mit dem Isolieren der Ursache. Dass wir das Gefrierfach abschalten müssen. Wir müssen diese Frau töten, bevor sie uns tötet oder hier alles in die Luft fliegt!“

„Nein, das werden wir nicht tun“, sagte Mrs. Hunter entschlossen und richtete sich auf. „Wenn Sie diese Frau töten wollen, müssen Sie zuerst mich töten.“

In Mr. Garners Blick lag Fassungslosigkeit.

„Aber was ist mit der Magie? Die könnte uns umbringen! Wir haben doch besprochen, was zu tun ist, wenn Magie im Spiel ist. Vor wenigen Minuten haben Sie sich noch dafür ausgesprochen, einen Magier zu töten.“

„Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wir werden dieses Fach isolieren und kontrolliert auftauen. Danach werde ich Mr. Luck anrufen und den Fall mit ihm besprechen. Niemand sonst wird davon erfahren, haben Sie mich verstanden?“

„Mr. Luck? Ich verstehe nicht. Ich dachte, gerade den wollten Sie aus der Sache raushalten. Und was soll diese Diskussion überhaupt? Wir müssen handeln! Wir haben nicht mehr viel Zeit!“

„Passen Sie bloß auf, Mr. Garner!“, wies ihn Mrs. Hunter scharf zurecht. „Es gibt keine Diskussion. Sie tun, was ich sage.“

Mr. Garner starrte sie entgeistert an.

„Das war keine Bitte, das war ein Befehl.“

„Aber wieso...?“

„In diesem Gefrierfach“, sie deutete auf das Gefrierfach 33 B 127, „befindet sich keine gewöhnliche Verbrecherin. Es ist Scarlett Rose.“

 

 

 

 

Stimmen in der Dunkelheit

 

Ich hatte kein Gefühl dafür, wie lang ich diesem Zustand aus stechendem Schmerz, Taubheit und Feuer geschwebt hatte, doch schließlich erwachte ich. Zuerst glaubte ich, ich sei tot, denn ich spürte meine Gliedmaßen nicht. Doch noch immer war mein Körper erfüllt von Schmerz, und gleichzeitig wusste ich nicht, ob ich überhaupt noch einen Körper besaß. Schließlich nahm ich Geräusche wahr. Ich konnte ihren Ursprung nicht ausmachen. Ob sie von außerhalb stammten oder ich sie mir nur einbildete, wusste ich nicht. Hin und wieder drangen Stimmen an mein Ohr, doch ich verstand nicht, was sie sagten. Sie klangen so undeutlich, als befände ich mich unter Wasser, und ich versank immer tiefer unter die Oberfläche des unendlichen, schwarzen Nichtfühlens.

 

Als ich das nächste Mal an die Oberfläche getragen wurde, hörte ich klarer. Ich nahm das Geräusch von Schritten wahr. Eine Tür, die geöffnet und dann wieder geschlossen wurde. Die Schritte wurden lauter. Ein leises Summen, das den Raum erfüllte. Ich spürte wieder diesen stechenden Schmerz, der meinen Körper durchdrang und wollte schreien, doch ich konnte mich nicht bewegen. Meine Arme und Beine spürte ich immer noch nicht. Auf einmal war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob der Schmerz in meinem Inneren war oder von außen auf mich einwirkte.

„Haben Sie ihn angerufen?“, erklang eine männliche Stimme. Sie klang wütend und verängstigt zugleich. Obwohl ich die Worte hörte, konnte ich doch nur ihren Klang deuten, nicht aber ihre Bedeutung verstehen.

„Ja“, kam die knappe Antwort einer Frau. Sie sprach entschlossen. Ihre Stimme ließ keinen Widerspruch zu.

„Das hätten Sie nicht tun sollen“, sagte der Mann. Diesmal überwog eindeutig die Wut.

„Ich musste es tun“, sagte die Frau. „Sie verstehen das nicht, und das ist auch besser so. Je weniger Sie und jeder andere darüber wissen, desto besser. Schlimm genug, dass ich Sanders und Chan informieren musste, aber irgendwer muss sie schließlich medizinisch versorgen.“

„Aber Luck wollen Sie in alles einweihen.“ Dies war wieder die Stimme des Mannes. Sie klang trotzig.

„Es ist notwendig, dass Luck eingeweiht wird“, entgegnete die Frau ruhig. „Mir wäre es auch lieber, wenn das nicht nötig wäre, aber geheimhalten können wir die Sache sowieso nicht. Frostor zeichnet alle Zwischenfälle unwiderruflich auf. Sie selbst sagten mir, dass er nicht manipuliert werden kann.“

„Ich weiß“, sagte der Mann. „Mich beschäftigt nicht nur die Tatsache, dass Sie mir Ihre Beweggründe nicht verraten wollen. Vor allem ist mir unwohl dabei, dass wir uns gerade ohne jeglichen Schutz im selben Raum wie diese magische Verbrecherin aufhalten.“

„Sie wird uns nichts tun“, erwiderte die Frau.

„Das würde ich gerne glauben. Aber ohne Informationen fällt es mir schwer, Ihnen in dieser Sache zu vertrauen. Und Sie wollen mir ja keine geben.“

„Und Sie stellen meine Vertrauenswürdigkeit infrage.“ Die Stimme der Frau klang verärgert.

„Nein, nein!“, sagte der Mann hastig. „Das hatte ich damit nicht gemeint. Verstehen Sie mich nicht falsch, aber alles, worauf ich mich verlassen kann, ist ein Name, den Sie irgendwoher kennen, und ich weiß nicht einmal, woher.“

Die Frau erwiderte etwas, doch es klang verzerrt, und die Worte entzogen sich mir. Das Gespräch klang erneut undeutlich und verschwommen. Nur das Summen konnte ich noch deutlich hören. Abermals driftete ich in die Dunkelheit ab.

 

Als ich das Bewusstsein wieder erlangte, hörte ich nichts. Das Summen, das den Raum erfüllt hatte, war verschwunden. Dann wie aus dem Nichts eine Stimme, die mich erschrocken zusammenzucken lassen hätte, wenn ich dazu fähig gewesen wäre, mich zu bewegen. Erleichtert stellte ich jedoch fest, dass ich nun meine Arme und Beine spüren konnte. Zwar fühlten sie sich an, als gehörten sie nicht zu meinem Körper, aber ich konnte sie zumindest spüren.

„...ein Wunder, dass sie am Leben ist. Sie war in so kurzer Zeit so schnell aufgetaut, dass ich die Hoffnung auf ihr Überleben schon aufgegeben hatte. Doch wie Sie sehen, hat sich ihr Zustand so gut entwickelt, dass es uns gelungen ist, sie heil aus ihrer Kryokapsel zu bergen und hierher ins Krankenzimmer zu verlegen. Sie muss noch eine Weile intravenös ernährt werden, aber ich bin zuversichtlich, dass wir sie in den nächsten Tagen aufwecken können.“

Es war eine weibliche Stimme. Ich war mir nicht sicher, aber ich glaubte, dass sie nicht derselben Frau gehörte wie beim letzten Mal. Diesmal konnte ich die gesprochenen Worte nicht nur hören, sondern auch verstehen.

„Endlich!“, sagte eine andere Frau erleichtert. Ich erkannte, dass es die Frau war, deren Stimme ich schon einmal gehört hatte. „Luck wird bereits ungeduldig. Nun wird er mir endlich glauben, dass es die Sache wert ist. Mr. Garner, würden Sie bitte nach Mr. Luck sehen und ihn hierher schicken? Danach können Sie wieder an Ihre Arbeit gehen.“

„Ja, Ma’am“, erklang eine männliche Stimme, die mir ebenfalls bekannt vorkam. Schritte ertönten, und eine Tür wurde geschlossen. Ich nahm an, dass der Mann den Raum verlassen hatte. Vergeblich versuchte ich mich zu erinnern, in welchen Raum ich mich befand und wie ich hierher gekommen war. Doch mein Kopf war leer. Alles, was ich wusste, war, dass ich unbeschreibliche Schmerzen gehabt hatte, die mit einer quälenden Langsamkeit verebbt und immer noch nicht vollständig abgeklungen waren. War ich verletzt? Lag ich im Sterben? Der Tod schien mir eine gnädige Alternative zu dem Schmerz zu sein, den ich erlebt hatte.

„Halten Sie das wirklich für eine gute Idee?“, riss mich die Stimme der Frau, die zuerst gesprochen hatte, aus meinen Gedanken. Es war die Stimme einer jungen Frau, wie ich nun erkannte.

„Ich weiß es nicht“, gab die andere Frau zu. Der Stimme nach zu urteilen, war sie etwas älter als ihre Gesprächspartnerin. „Aber ich musste es versuchen.“

„Aber wieso? Zwar bin ich froh, dass Sie sich dagegen entschieden haben, diese Frau sterben zu lassen. Ich halte nicht viel davon, Menschen aufgrund eines bloßen Verdachts zu töten. Das haben wir im Zuge der Weißen Welle schon einmal erlebt. Nicht gerade ein glanzvolles Kapitel in der Geschichte von East, wenn Sie mich fragen. Naja, wie dem auch sei, es ging und geht nach wie vor eine erhebliche Gefahr von dieser Frau aus. Ich hatte damit gerechnet, dass Sie in dieser Sache nichts dem Zufall überlassen wollen.“

„Ich weiß Ihre ehrliche Einschätzung sehr zu schätzen“, erwiderte die ältere Frau. „Nur die Wenigsten haben heutzutage noch den Mumm, Entscheidungen von Autoritätspersonen offen infrage zu stellen.“ Ein bitterer Klang schwang in ihren Worten mit.

„Um Ihre Frage soweit wie möglich zu beantworten“, fuhr sie dann mit gesenkter Stimme fort. „Diese Frau ist mir nicht unbekannt. Ich weiß, dass sie niemanden töten wird.“

„Nicht unbekannt?“ Die Stimme der jüngeren Frau klang überrascht. „Woher kennen Sie sie?“

„Lassen Sie das mal meine Sorge sein. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass ich meine Gründe habe, sie nicht einfach sterben zu lassen.“

Die jüngere Frau schien zu verstehen, dass es besser war, nicht weiter nachzufragen, denn sie erwiderte nichts. Eine Weile lang herrschte Stille.

„Wie ist ihr Zustand?“, fragte die ältere Frau schließlich.

„Sie entwickelt sich sehr gut“, antwortete die jüngere Frau. „Der Aufbau ihrer Muskeln schreitet ungewöhnlich schnell voran. Ich schätze, bereits in ein paar Tagen wird sie selbständig atmen können.“

„Wie ist das möglich? Die zwei Insassen, die wir bisher aufgetaut haben, mussten nach dem Aufwachen monatelanges Muskelaufbautraining über sich ergehen lassen. Ich hatte damit gerechnet, dass wir Scarlett Rose frühestens zum Ende des Sommers entlassen könnten.“

„Das muss die Magie sein. Magier besitzen die Fähigkeit, ihre Magie für die Selbstheilung zu benutzen. Offenbar handelt es sich dabei um einen unterbewusst gesteuerten Prozess.“

„Faszinierend. Haben Sie sich vergewissert, dass -“

Ein Klopfen an der Tür schnitt der älteren Frau das Wort ab.

„Herein!“, rief sie. Die Tür öffnete sich, und Schritte erklangen.

„Serena!“, erklang eine tiefe Männerstimme, die mir unbekannt war. „Miss Sanders, würden Sie uns für einen Augenblick entschuldigen?“

„Selbstverständlich, Abgeordneter Luck“, sagte die jüngere Frau namens Miss Sanders. „Aber in zehn Minuten muss ich wieder hier sein, um nach der Patientin zu sehen. Sie ist noch nicht stabil genug, um für einen längeren Zeitraum ohne medizinische Aufsicht gelassen zu werden.“

Sie ging aus dem Raum und ließ die Tür hinter sich zufallen. Nun befanden sich abgesehen von mir, wenn ich richtig gehört hatte, nur noch der Abgeordnete Luck und die ältere Frau im Raum.

Der Abgeordnete seufzte. „Sie ist also nicht tot. Und ich dachte schon, du hättest gute Neuigkeiten für mich, Serena.“

Ich spürte, wie meine Sympathie für den Abgeordneten Luck rapide schwand.

„Dass sie lebt, ist eine gute Neuigkeit“, widersprach die Frau namens Serena.

„Das verschafft uns vor allem eine Menge Probleme“, erwiderte Luck. „Wie du wahrscheinlich besser weißt als ich, ist es unmöglich, einen Magier einzufrieren. Doch diese Magierin ist eine Verbrecherin, und Verbrecher gehören in Verwahrung.“

„Man sollte jedoch nach der Art des Verbrechens differenzieren“, wandte Serena ein. „Es ist ja nicht so, als hätte sie ein Kapitalverbrechen begangen.“

Ich hatte nicht die leiseste Idee, wovon die beiden sprachen. Was sollte ich getan haben? So sehr ich es auch versuchte, ich konnte mich an nichts erinnern. Weder an das Verbrechen, das ich laut Luck begangen haben sollte, noch an irgendetwas anderes.

Luck lachte freudlos. „Serena, sie hat nicht nur ausdrücklich gegen das Kriegsgesetz verstoßen, sondern durch ihre Fehlentscheidung auch fünf Leute auf dem Gewissen.“

„Sie wollte nur helfen.“ Serenas Stimme klang scharf. „Niemand bedauert die Konsequenzen ihrer Entscheidung mehr als ich, Gordon. Und dennoch bin ich der Überzeugung, dass sie das Richtige getan hat.“

„Du betrachtest diese Sache nicht mit der nötigen Objektivität, und dafür kann ich dir auch keinen Vorwurf machen. Ich nehme an, du hättest alle Entscheidungen befürwortet, die deine Hoffnung auf Myers‘ Rettung am Leben gehalten hätten.“

Serena seufzte. „Das kann ich nicht abstreiten. Aber ich habe jetzt keine Lust, allzu sehr in der Vergangenheit herumzustochern. Ich bleibe dabei, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat, auch wenn ihr Versuch leider nach hinten losging. Allein für diesen Versuch verdient sie es jedoch, am Leben zu bleiben. Ich kann und konnte nie begreifen, weshalb ihr Verhalten eine so sensible Strafe nach sich ziehen musste.“

„Die richtige Entscheidung – das ist eine gewagte These“, stellte Gordon Luck mit belustigter Stimme fest. Dann wurde er wieder ernst. „Eine These, von deren öffentlicher Vertretung ich dir nur abraten kann. Das Gesetz, gegen das Scarlett Rose verstoßen hat, ist nach wie vor unverändert.“

„Zu Unrecht“, stellte Serena fest.

„Dies lass mal die Sorge des Hohen Parlaments sein“, beendete Luck das Thema. Einige Minuten verstrichen, in denen die beiden nichts sagten.

„Was werden wir nun tun, Gordon?“, fragte Serena schließlich.

Gordon Luck räusperte sich. „Viel Handlungsspielraum bleibt uns nicht. Das Kind ist ja dank deiner Sentimentalität bereits in den Brunnen gefallen. Dir ist doch bewusst, dass du mir mit deiner Aktion einen Haufen Probleme an den Hals geschafft hast?“

„Mit welcher Aktion? Mit der Aktion, Scarlett Rose leben zu lassen? Was hätte ich denn tun sollen?“, rief Serena aufgebracht.

„Sie sterben lassen“, sagte Luck kalt. „Nach dem Vorfall im letzten Jahr hätte ein Toter mehr oder weniger auch keinen Unterschied mehr gemacht. Und vor allem hättest du sie so diskret sterben lassen sollen, dass nicht gleich deine halbe Mitarbeiterschaft Wind von der Geschichte bekommt!“

„Letztes Jahr hast du ein Riesendrama aus Matrix Macanthonys Tod gemacht“, verteidigte sich Serena. „Und jetzt sagst du, ich soll meine Häftlinge sterben lassen?“

Sie machte eine Pause, um Luft zu holen. Als sie wieder sprach, lag Verachtung in ihrer Stimme.

„Der Unterschied ist wahrscheinlich, dass die Familie Macanthony über einen Haufen Geld und eine Menge Einfluss verfügt. Da ist es kein Wunder, dass ein korrupter, machthungriger Politiker mit zweierlei Maß misst, wenn es darum geht, wer ins Gras beißen muss!“

„Serena, Serena... Immer noch das alte Temperament. Ein bisschen mehr Zurückhaltung und eine dezentere Wortwahl würden dir gut stehen.“

„Aber so ist es doch!“, empörte sich Serena. „Sag mir nicht, dass ich nicht die Wahrheit sage. Hat sich die Familie Macanthony nicht sogar für ein halbes Vermögen einfrieren lassen, um sich vor der Weißen Welle in Sicherheit zu bringen? Da war doch vor zehn Jahren mal etwas in den Nachrichten. Ich finde es unfassbar, dass dir ein paar eingefrorene Millionäre so viel mehr bedeuten als Scarlett Rose und all ihre Verdienste für den Widerstand.“

„Hüte deine Zunge, Serena!“, sagte Luck verärgert. „Dir dürfte bewusst sein, dass du auf wackligem Posten sitzt. Wenn du auch diesmal ungeschoren davon kommen willst, solltest du mich nicht gegen dich aufbringen.“

Serena sagte nichts.

„Doch nun zurück zu unserem eigentlichen Problem. Vielleicht wäre es doch das Beste, es uns ein für alle Mal vom Hals zu schaffen“, sagte Luck nachdenklich.

„Spielst du schon wieder auf Scarletts Tod an?“, fragte Serena. Die Verachtung in ihrer Stimme war unüberhörbar.

„Eine Magierin stellt eine große Gefahr dar, Serena. Vor allem, wenn wir nicht wissen, ob sie ihre Kräfte kontrollieren kann und auf wessen Seite sie sich schlagen wird. Diese Narbe in ihrem Gesicht... Du kennst die Geschichte ihrer Entstehung nur zu gut. Scarlett Rose dürfte eigentlich gar nicht mehr am Leben sein. Hast du nie darüber nachgedacht, dass sie vielleicht über dunkle Kräfte gebietet?“

Serena sog scharf die Luft ein. „Du willst sie also tatsächlich immer noch töten, ja? Nach allem was wir getan haben, um sie am Leben zu halten?“

„Das war mit Sicherheit sehr heldenhaft“, erwiderte Luck spöttisch. „Aber letztendlich liegt die Entscheidung bei mir. Und aus meiner Sicht überwiegt das Risiko, wenn wir sie am Leben lassen.“

Ein langes Schweigen folgte.

„Sieh mich nicht so an, Serena. Ich finde den Gedanken genauso unangenehm wie du, aber es ist nun einmal der einzige Weg, für unsere Sicherheit zu garantieren.“

„Ach ja? Der einzige Weg? Und was ist mit einer magischen Ausbildung? Rose hat schon damals für East gekämpft. Was soll deine Behauptung, sie würde sich vielleicht auf die falsche Seite schlagen und ihre angeblichen dunklen Kräfte gegen uns einsetzen? Du suchst doch nur nach einer Rechtfertigung, um den einfachen Weg einzuschlagen. Den Weg, der ihren Tod vorsieht.“

„Eine magische Ausbildung? Mach dich nicht lächerlich, Serena. Wir haben weder die Kapazitäten, um sie auszubilden und rund um die Uhr zu überwachen, damit sie keine Dummheiten macht, noch das Bedürfnis, eine tickende Zeitbombe in unseren Reihen aufzunehmen, die uns jeden Augenblick um die Ohren fliegen könnte.“

Serena seufzte entnervt.

„Eine tickende Zeitbombe? Nun übertreibst du aber. Gordon, ich kenne Scarlett Rose. Sie ist absolut loyal. Sie war eine der Besten.“

„Wenn sie nur nicht so ein Problem damit hätte, Befehle zu befolgen. Wir können es uns nicht leisten, dass ihr Ungehorsam den Widerstand gefährdet.“

„Das verstehe ich ja, aber denk doch mal an die Möglichkeiten, die uns ihr Erwachen bietet. Du weißt, wozu sie schon ohne ihre magischen Kräfte fähig war, und welche Rolle sie vor dem Vorfall spielte, der zu ihrer Verurteilung führte. Ohne sie wäre vielleicht die Level-Drei-Elite nie entstanden. Die unerwarteten magischen Kräfte, die Scarlett Rose entwickelt hat, scheinen sehr stark zu sein. Sie könnten ein enormes Potenzial bergen. Überleg doch mal, wir könnten sie zur Level-Drei-Kämpferin ausbilden.“

„Dein Vorschlag lautet also, sie im Wespennest ausbilden zu lassen?“, fragte Gordon Luck ungläubig. „Du erwartest also ernsthaft von mir, dass ich sie in den Kern des Widerstands einschleuse, dort, wo sie am meisten Schaden anrichten kann?“

„Dort, wo sie dem Widerstand am meisten nutzen wird“, widersprach Serena.

„Das kann ich nicht billigen“, beharrte Luck.

„Stattdessen verschwendest du einen Haufen magisches Potenzial, das direkt vor dir liegt“, entgegnete Serena verächtlich. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Moyas Soldaten auch das Gebiet um Quayeth überrennen und die Neun auf das Wespennest stoßen. Jeder einzelne Magier in unseren Reihen ist von unermesslichem Wert, wenn wir uns den Neun und ihren Verbündeten entgegenstellen müssen. Du könntest derjenige sein, der dem Widerstand den einen Magier geliefert hat, der ihn stark genug machte, um eine Chance gegen Moyas Schergen zu haben.“

Luck erwiderte nichts. Er schien nachzudenken. Auch ich dachte nach. Verhandelten die beiden tatsächlich gerade über meinen Tod? Die Situation erschien mir unwirklich und ängstigte mich weit weniger, als sie wahrscheinlich sollte.

„Nun gut“, brach Luck schließlich das Schweigen. „Ich werde ihre Aufnahme in Betracht ziehen. Aber sie wird sich meinen Anordnungen und den Regeln des Wespennests fügen müssen.“

„Danke, Gordon!“, Serenas Stimme klang ungemein erleichtert. „Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“

„Du wirst die Gelegenheit erhalten, mir zu zeigen, wie viel es dir bedeutet“, sagte Luck. „Ich erwarte selbstverständlich eine kleine Gegenleistung von dir, Serena. Du kennst die Regeln vom letzten Mal.“

„Was?“

„Du hast richtig gehört, meine Liebe. Eine Gegenleistung.“

„Du Schwein!“, rief Serena angewidert. „Die wirst du nicht bekommen!“

„In diesem Fall befürchte ich, dass es um das Schicksal der kleinen Rose schlecht bestellt ist. Und dass dein kleiner Patzer nicht an die Öffentlichkeit gerät, kann ich dir dann auch nicht mehr garantieren. Das Hohe Parlament dürfte sehr interessiert an den Ereignissen sein, die sich unter deiner Leitung auf Cryos abgespielt haben. Man wird sich fragen, ob du der Situation noch gewachsen bist. Zweifellos wird es eine ausführliche Diskussion über deine Personalie geben. Und wie diese Diskussion ausgeht... wer weiß das schon?“

„Du bist widerlich“, sagte Serena voller Abscheu.

„Komm schon, es ist nur eine kleine Gegenleistung, meine Hübsche. Es wird nicht lang dauern.“

Serena atmete tief durch.

„Also gut“, lenkte sie ein. „Ich werde es tun, um meine Schuld bei Scarlett zu begleichen.“

„Na, wunderbar“, freute sich Luck. „Nichts anderes habe ich von dir erwartet, Serena. Du wirst es gleich heute Nacht tun, um mir zu beweisen, wie wichtig dir Scarlett Roses Wohlergehen ist. Du weißt ja, wo du mich findest.“

Mit diesen Worten schritt er zur Tür und verließ den Raum.

Serena blieb noch eine Weile stehen. Ich konnte hören, wie sie leise atmete. Sie schien nicht allzu weit weg von mir zu stehen. Vielleicht sah sie mich in diesem Moment an und fragte sich, ob mein Leben den Gefallen, worin auch immer er bestand, wert war. Ich wünschte mir, ich könnte die Augen öffnen und mich bei ihr bedanken, denn obwohl ich noch sehr benommen war, wusste ich, dass sie gerade eben viel für mich getan hatte. Doch noch immer konnte ich mich nicht bewegen, und so blieb mir nichts anderes übrig, als weiterhin zu lauschen, was um mich herum geschah.

Schließlich öffnete sich die Tür und ich hörte Schritte, die sich mir näherten. Eine zweite Person schien den Raum betreten zu haben, und am Klang der Schritte erkannte ich, dass es nicht Gordon Luck war.

„Sie sind ja immer noch hier“, erklang Miss Sanders‘ überraschte Stimme. „Entschuldigen Sie, nachdem ich dem Abgeordneten draußen auf dem Flur begegnet bin, dachte ich, Sie seien auch schon gegangen. Meine Güte, Sie sind ja aschfahl! Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Ja, ja, alles in Ordnung“, sagte Serena, doch sie klang gereizt. „Sehen Sie ruhig nach der Patientin, ich wollte gerade gehen.“

Das Klappern ihrer Absätze entfernte sich, bis die Tür sich hinter ihr schloss. Nun war ich wohl mit Miss Sanders allein.

Ich spürte einen leichten Druck auf meinem rechten Arm und wurde sofort schläfrig. Verzerrte Bilder von einem dunklen Wald begleiteten mich, während ich wieder in die Dunkelheit sank.

 

Böses Erwachen

Ich befand mich in einem Wald, der sich wie eine dunkle Faust um mich schloss. Um mich herum herrschte eine bedrückende Stille. Das Knistern von Zweigen unter meinen nackten Füßen war das einzige Geräusch, das ich hören konnte. Meine Füße waren klein, wie die Füße eines Kindes, und meine Haut war hell, fast weiß. Sie wirkte beinahe wie ein Licht in der Dunkelheit des Waldes. Ich bewegte mich vorsichtig, bemüht, keinen Laut zu erzeugen. Etwas Bedrohliches lag in der Luft und ich hatte Angst, es könne auf mich aufmerksam werden. In weiter Ferne erblickte ich eine kleine Lichtung. In der Mitte der Lichtung befand sich ein Kreis, der aus flachen, weißen Steinen bestand. Ein Strahl hellen Lichts drang durch die Lücke in den Baumkronen über der Lichtung und erleuchtete das Innere des Steinkreises. Es war ein eindrucksvoller, fast mystischer Anblick.

Plötzlich drang ein Ruf aus weiter Ferne an mein Ohr.

„Scarlett! Warte auf mich!“

Es war die Stimme eines Kindes, das nach mir rief, doch ich blieb nicht stehen und wandte meinen Blick nicht von der Lichtung ab. Meine Füße bahnten sich weiterhin ihren Weg durch das Unterholz und trugen mich zum Licht.

„Scarlett, geh nicht weiter!“

Die Stimme des Kindes war nun näher gekommen. Sie klang verängstigt. Ich wandte mich um, doch alles, was ich sehen konnte, waren die dunklen Schemen von uralten Bäumen, deren mächtige Kronen kein Licht passieren ließen. Von dem Kind war weit und breit nichts zu sehen. Graue Flocken schwebten vor meinen Augen zu Boden. Erst nach einigen Sekunden wurde mir bewusst, dass es Asche regnete. Mit einem Mal bekam ich Angst. Ich wandte mich wieder zu der Lichtung um, dem einzigen lichterfüllten Ort in diesem gespenstischen Wald. Doch dort, wo die Lichtung gewesen war, loderte nun ein riesiges Feuer, das sich auf die umliegenden Bäume ausbreitete. Die Bäume wisperten und ächzten, als die Flammen auf sie übersprangen und mit lautem Knistern an der fahlen Rinde leckten.

Hastig wich ich zurück und stolperte über eine Baumwurzel. Ich wollte aufstehen, doch die Wurzel hatte sich um meinen Knöchel gewandt und hielt mich fest umklammert. Verzweifelt versuchte ich, meinen Fuß aus ihrem Griff zu entwinden, während die roten Flammenzungen immer näher kamen und nach mir griffen. Doch je stärker ich mich wehrte, desto fester wurde der Griff der Wurzel, die sich nun auch um meine Arme schlang.

Das Wispern und Knacken der brennenden Bäume wurde lauter. Sie schienen zu sprechen. Ich versuchte, die geflüsterten Worte zu verstehen. Auf einmal war das Flüstern ganz nah an meinem Ohr und ich konnte die Worte deutlich hören.

„Wenn ich untergehe, gehst du mir mir unter.“

Panik und Entsetzen erfüllten mich. Ich begann zu schreien. Ich hörte einen lauten Knall und die Welt um mich herum versank in gleißendem, hellem Licht.

 

„Scarlett, beruhigen Sie sich! Nun halten Sie schon still! Hilf mir, Steven! Ich kann sie nicht allein halten.“

Ein Poltern ertönte.

„Was ist hier los, Miss Sanders? Was ist passiert? Stimmt irgendwas nicht mit Scarlett Rose?“

„Gut, dass Sie da sind, Mrs. Hunter. Sie hat irgendeinen Anfall. Ich habe versucht, sie aufzuwecken, aber sie hat angefangen, zu schreien und zu zappeln. Ich kann sie kaum bändigen.“

„Mr. Chan, was stehen Sie nur herum und glotzen? Na los, halten Sie Roses rechten Arm fest!“

„Scarlett, Sie sind hier in Sicherheit! Es ist alles in Ordnung!“

„Wir sollten ihr ein Beruhigungsmittel verabreichen.“

„Nein, Mr. Chan, ich muss mit ihr sprechen.“

„Muss das jetzt sofort sein? Sie sehen doch -“

„Früher oder später wird sie aufwachen müssen. Miss Sanders, haben Sie nicht gestern Abend gesagt, sie sei mittlerweile bereit, aufgeweckt zu werden?“

„Ja, davon bin ich ausgegangen. Sie ist in körperlich guter Verfassung. Selbst ihre Muskeln haben sich weitestgehend aufgebaut. Sie kann seit einigen Tagen selbständig atmen.“

Im hellen Licht, das noch immer meine Augen blendete, erkannte ich nun schemenhafte Gestalten. Die Helligkeit schmerzte in meinen Augen. Es war kaum zu ertragen.

„Luck wird sich freuen, das zu hören. Er wird langsam ungeduldig.“ Erst jetzt bemerkte ich, dass mir diese Stimme irgendwoher bekannt vorkam.

Langsam verblasste das Grauen, das ich angesichts des Feuers empfunden hatte. Zwar befand ich mich noch immer im Griff der Baumwurzel, aber ich stellte erleichtert fest, dass der sengende Schmerz, den ich von der Berührung des Feuers erwartet hatte, ausblieb.

„Mr. Chan, sie hat aufgehört, sich zu wehren. Ich denke, Sie können sie jetzt loslassen.“ Es handelte sich um die Stimme einer Frau. Ich erinnerte mich, dass die Person, zu der sie gehörte, Serena hieß.

Ich atmete auf, als sich der Griff der Wurzel löste. Meine Sicht wurde klarer. Ich erkannte die Umrisse von drei Personen, die vor mir standen. Die Bäume und das Feuer waren verschwunden.

„Scarlett, können Sie mich hören?“ Die Person auf der linken Seite beugte sich zu mir vor und gab mir einen sanften Klaps auf die Wange. Auch ihre Stimme kam mir vertraut vor. Es war die Stimme der jüngeren Frau namens Miss Sanders. „Scarlett?“

„Ja“, wollte ich antworten, doch meiner Kehle entwich nur ein leises Krächzen. „Hören Sie doch, sie versucht, zu sprechen!“, rief Miss Sanders aufgeregt.

„Vielleicht sollten wir ihr etwas zu trinken geben“, schlug eine männliche Stimme vor.

„Dann bringen Sie ihr doch ein Glas Wasser, Mr. Chan“, befahl Serena.

„Ja, Ma’am.“ Die Gestalt auf der rechten Seite entfernte sich. Nun standen nur noch die beiden Frauen vor mir. Meine Augen schienen sich mit der Zeit an das helle Licht zu gewöhnen, denn ich begann, mehr zu erkennen als nur die Umrisse der Frauen. Miss Sanders, die Frau zu meiner Linken, hatte sich mit sorgenvoller Miene über mich gebeugt. Sie war groß, blond und schlank und trug einen weißen Arztkittel sowie eine Brille mit rechteckigen Gläsern und dickem Rahmen, die irgendwie nicht so recht zu ihrem schmalen Gesicht passte. Sie sah recht jung aus. Ich schätzte sie auf höchstens Anfang dreißig. Wie der Klang ihrer Stimme hatte vermuten lassen, war Serena etwas älter, vielleicht Mitte fünfzig. Sie war etwas kleiner als Miss Sanders, hatte gebräunte Haut und trug ebenfalls eine Brille. Ihr schwarzes, zu einem unordentlichen Dutt hochgestecktes Haar war von grauen Strähnen durchsetzt.

„Scarlett, können Sie mich hören? Können Sie uns sehen?“ Miss Sanders fuchtelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum.

„Da ist ja Mr. Chan mit dem Wasser“, bemerkte Serena. „Geben Sie ihr etwas zu trinken. Aber seien Sie vorsichtig.“

Der Mann namens Mr. Chan trat von meiner Rechten an mich heran. Er war groß, schlank und hatte leicht gebräunte Haut und dunkle Mandelaugen, die unruhig hin und her flackerten. Wie Miss Sanders war er in Weiß gekleidet. Vorsichtig hob er den Arm und führte ein Glas Wasser zu meinem Mund. Seine Hand zitterte, und ein wenig Wasser schwappte auf meine Lippen. Erst jetzt bemerkte ich, wie trocken sich mein Mund anfühlte und wie durstig ich war. Gierig bekann ich zu trinken. Ich fühlte einen stechenden Schmerz in meiner Kehle. Es fühlte sich an, als steckte ein Messer in meinem Hals, und ich konnte kaum schlucken. Ich verschluckte mich und und musste husten. Das Wasser rann über mein Kinn auf meine Brust.

„Hm, vielleicht versuchen Sie das später noch einmal“, sagte Mr. Chan und trat mit spürbar angespanntem Gesichtsausdruck ein paar Schritte zurück.

„Scarlett, können Sie sprechen?“, fragte Serena.

„Ja“, antwortete ich. Der fremdartige Klang meiner eigenen Stimme erschrak mich.

„Sie spricht, sie spricht!“, jubelte Miss Sanders.

Mr. Chan hatte sich zurückgezogen und musterte mich aus sicherer Entfernung. Sein Blick wirkte misstrauisch.

Ich kniff die Augen zusammen und blickte Miss Sanders fragend an. Was war hier überhaupt los? Wo war der Wald, in dem ich gerade eben beinahe verbrannt war? Und wo war ich jetzt? Ich sah mich um. Ich lag in einem Bett mit weißer Bettdecke, das sich in einem kahlen, fensterlosen Raum befand. Miss Sanders stand rechts neben dem Bett, Serena stand am Fußende des Bettes.

„Wo bin ich?“, fragte ich.

Miss Sanders bedachte mich mit einem mitfühlenden Blick. „Scarlett, das wird jetzt möglicherweise ein Schock für Sie sein. Erinnern Sie sich, was geschehen ist? Sie sind -“

„Genug!“, unterbrach Serena sie mit scharfer Stimme. „Miss Sanders, Mr. Chan, raus hier! Ich will allein mit ihr reden.”

Mr. Chan ließ sich das nicht zweimal sagen. Im Eiltempo verschwand er durch die Tür nach draußen.

„Aber Mrs. Hunter, ich bin die betreuende Ärztin“, protestierte Miss Sanders. „Ich sollte zur medizinischen Überwachung bei ihr bleiben.“

„Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, aber ich werde Sie bei Bedarf rufen. Wenn Sie nun bitte so freundlich wären, uns allein zu lassen“, erwiderte Serena Hunter mit strenger Stimme und einem Blick, der keine weiteren Widerworte zuließ.

„Wie Sie meinen“, gab sich Miss Sanders geschlagen und warf Serena Hunter einen beleidigten Blick zu. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand. Mit einem lauten Krachen fiel die Tür hinter ihr ins Schloss, als sie den Raum verließ.

Serena Hunter nahm Miss Sanders‘ Platz an der linken Seite meines Bettes ein.

„Sie ist manchmal ein wenig übereifrig, die Gute“, sagte sie. „Doch nun zu dir, Scarlett. Ich darf doch Scarlett sagen? Mein Name ist Serena.“

Sie blickte mich fragend an, als erwarte sie eine Reaktion von mir. Ich erwiderte nichts. Zu viele Fragen schwirrten mir im Kopf herum.

Sie schien mein Schweigen als Zustimmung zu deuten. „Erinnerst du dich an die Ereignisse vor... bevor du zu dir gekommen bist?“

Ich dachte nach. Das Erste, was mir einfiel, war der unheimliche Wald.

„Da war ein Wald“, sagte ich. Das Sprechen fiel mir schwer, und die Worte kamen nur mühsam aus meinem Mund.

Serena Hunter musterte mich mit wachsamem Blick. „Ein Wald...“, sagte sie langsam, als wolle sie sich die Worte auf der Zunge zergehen lassen. „Du erinnerst dich also tatsächlich. Was ist dort geschehen?“

Ich betrachtete sie eingehend. Ihr Blick hatte etwas Trauriges an sich und die Art, wie die ausgeprägten Falten um ihren Mund und ihre Augen verliefen, ließ vermuten, dass sie in ihrem Leben einige schmerzhafte Zeiten durchlebt hatte.

„Es war sehr dunkel. Ich konnte nicht viel sehen. Da war ein Kind. Es hat nach mir gerufen. Und dann war da ein Feuer.“

„Ein Kind?“, fragte Serena überrascht. „Aber da war doch kein Kind... Wann ist das passiert?“

„Gerade eben, bevor Sie da waren.“

Serena Hunter sah mich verständnislos an.

„Es hat angefangen zu brennen und dann war auf einmal alles ganz hell“, erklärte ich. „Und dann, als das Licht zu verschwinden begann, standen Sie und die anderen beiden da. Da war auch eine Baumwurzel, die mich festgehalten hat. Ich habe versucht, mich zu wehren, aber sie hat mich nicht losgelassen.“

Die Wachsamkeit in Serenas Blick verschwand und wich einer leicht verdrießlichen Miene.  

„Scarlett, das waren wir. Wir waren diejenigen, die dich festgehalten haben, als du plötzlich angefangen hast, wie wild um dich zu schlagen. Du musst geträumt haben. Und das helle Licht hast du gesehen, als du die Augen geöffnet hast. Deine Augen mussten sich erst wieder daran gewöhnen, Licht zu sehen.“

Ein Traum? Aber das alles hatte sich so real angefühlt.

„Habe ich geschlafen?“, fragte ich.

„Ja. Erinnerst du dich an die Zeit, bevor du geschlafen hast? Weißt du, wer du bist?“

„Ich bin Scarlett Rose“, sagte ich.

Serena nickte zustimmend. „Dass du dich an deinen Namen erinnerst, ist schon einmal ein Anfang. Was weißt du sonst über deine Vergangenheit?“

Ich überlegte. Wenn ich genauer darüber nachdachte, fiel mir nichts weiter ein, was ich ihr sagen konnte. Ich musste wirklich lang geschlafen haben, denn ich erinnerte mich an kein einziges Detail aus meiner Vergangenheit.

„Wie lang habe ich geschlafen?“

Serena Hunter lächte. „Du wirst Antworten auf deine Fragen erhalten. Wir sollten jedoch lieber an einem anderen Punkt der Geschichte beginnen.“

„Welcher Geschichte?“

„Deiner Geschichte. Du musst dich doch an etwas erinnern. Immerhin weißt du noch, wie du heißt.“

Ich dachte nach. Woher genau kannte ich eigentlich meinen Namen? Dann fiel es mir wieder ein.

„Da waren Leute. Ich habe gehört, wie sie geredet haben. Mein Name fiel. Sie haben über meinen Tod gesprochen. Der Mann hieß... Er hieß Gordon Luck.“

Serena Hunter riss erschrocken die Augen auf. „Das hast du gehört?“

„Da war auch eine Frau“, ergänzte ich. „Die Frau wollte nicht, dass ich getötet werde. Sie hat versucht, den Mann davon zu überzeugen, mich am Leben zu lassen. Schließlich haben sie sich geeinigt, unter der Bedingung, dass die Frau dem Mann einen bestimmten Gefallen erweist.“

Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich, als mir die Bedeutung meiner Worte bewusst wurde. Jemand hatte vorgehabt, mich zu töten. War mein Leben immer noch in Gefahr?

Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen und auf Serena Hunters merkwürdig angespanntem Gesicht verweilen. Dann begriff ich.

„Sie waren das! Sie waren die Frau.“

„Ich bedaure, dass du dieses Gespräch mit anhören musstest, Scarlett. Wir hatten ja keine Ahnung, wie weit sich deine kognitiven Fähigkeiten zu diesem Zeitpunkt bereits regeneriert hatten.“

Ich starrte sie an. Was sagte sie da? Ich verstand kein Wort davon.

„Sie haben über meinen Tod diskutiert“, wiederholte ich die einzige Erinnerung, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt hatte. „Warum sollte ich sterben?“

Ich blickte an mir herab. Mein Körper steckte in einer Art weißem Nachthemd. Die ebenfalls weiße Bettdecke bedeckte mich von der Hüfte abwärts. Meine Arme waren sehr bleich und lagen schlaff neben meinem Körper. Erst auf den zweiten Blick entdeckte ich die Infusionsnadeln.

„Was haben Sie mit mir gemacht?“, rief ich panisch und versuchte, die Nadeln aus meiner Haut zu ziehen.

„Ganz ruhig, Scarlett.“ Serena Hunter packte mich an den Oberarmen und hielt mich mit sanftem Griff von meinem Vorhaben ab. Viel Kraft benötigte sie dafür nicht – meine Arme waren ganz schwach und ich konnte sie kaum heben. Serena wartete ab, bis ich mich nicht mehr wehrte und sich mein Atem wieder beruhigt hatte.

„Ich werde dir nichts tun. Du hast nichts zu befürchten.“

Ich zwang mich, an das Gespräch zurückzudenken, in dem sie für mein Leben eingesetzt hatte. Vielleicht hatte ich von ihr ja tatsächlich nichts zu befürchten. Ein gewisses Misstrauen blieb jedoch. Ich wollte endlich erfahren, was hier vor sich ging.

„Was ist hier los?“, fragte ich. „Warum hatte ich so große Schmerzen und bin an diese Schläuche angeschlossen? Bin ich krank? Und warum kann ich mich an nichts erinnern?“

Serena Hunter sah mich mit ernster Miene an.

„Du wirst deine Antworten bekommen“, versicherte sie mir abermals. „Aber du musst mir versprechen, ruhig zu bleiben. Ganz gleich, was du nun hören wirst. Hast du verstanden?“

Ich nickte schwach.

„Gut“, sagte Serena Hunter. „Ich denke, ich kann dir nun einige deiner Fragen beantworten. Du warst eingefroren und wurdest vor Kurzem aufgetaut.“

„Was?“ Hatte sie gerade tatsächlich eingefroren gesagt? Das klang so absurd, dass diese Frau entweder verrückt sein musste oder ich womöglich selbst unter Halluzinationen litt.

„Eingefroren?“, wiederholte ich vorsichtig. „In einer Eisschicht?“

„Nicht ganz“, sagte Serena. „Sondern in einem Gefängnis.“

„In einem Gefängnis?“ Dass ich tatsächlich eine Gefangene war, hatte ich ja geahnt. Aber war ich zusätzlich auch eine Verbrecherin? Was hatte ich denn verbrochen, um in einem Gefängnis zu landen? Meine Unfähigkeit, mich zu erinnern, trieb mich schier in den Wahnsinn.

„Du befindest dich in Cryos, einem der zwei großen verbliebenen Gefängnisse von East, die sich einer Technologie namens Kryonik bedienen. In einfachen Worten bedeutet dies, dass die Insassen unseres Gefängnisses eingefroren und ihre Körper unter sehr niedrigen Temperaturen konserviert werden.“

Ich starrte sie nur an, ohne wirklich zu begreifen, was sie gerade sagte.

„Die Tatsache, dass du dich an nichts erinnern kannst, rührt wahrscheinlich daher, dass du eingefroren warst“, fuhr sie fort. „Leider handelt es sich dabei um eine häufig auftretende Nebenwirkung der kryonischen Konservierung. Zu den weiteren möglichen Nebenwirkungen zählen anhaltende Taubheitsgefühle in den Extremitäten, Lähmungserscheinungen, der Verlust der kognitiven Fähigkeiten, bis hin zum Tod...“

Sie verstummte, als sie meinen entsetzten Blick bemerkte.

„Aber bei dir ist doch bis auf die fehlende Erinnerung alles in Ordnung, oder?“, vergewisserte sie sich.

Ich nickte schwach. Mit einem Mal war mir übel zumute.

„Es gibt aber auch eine positive Nebenwirkung“, beeilte Serena sich zu ergänzen. „Während der Organismus eingefroren ist, altert er nicht. Das heißt, du bist noch genauso jung wie zum Zeitpunkt deiner Einfrierung.“

Ich erwiderte nichts. Meine Gedanken überschlugen sich und es gelang mir nicht, auch nur einen von ihnen zu fassen zu bekommen.

„Warum bin ich hier?“, fragte ich schließlich.

Serena Hunters Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich. Sie ließ einige Augenblicke verstreichen, bevor sie antwortete.

„Du hast gegen eines der Gesetze von East verstoßen. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen“, erwiderte sie kurz angebunden.

Mir fiel auf, dass sie auf einmal sehr aufgewühlt klang. Für mich erweckte sie den Eindruck, als könne sie meine Frage sehr wohl beantworten. Ich beschloss jedoch, mir die Suche nach einer Antwort für einen späteren Zeitpunkt aufzuheben, um Serena Hunter nicht zu verärgern. Dieser Luck wollte mich vielleicht immer noch töten, und Serena könnte sich als meine einzige Verbündete gegen ihn erweisen. Vielleicht konnte ich ihr andere Fragen stellen, zu deren Beantwortung sie eher bereit war.

„Werde ich nun bald aus dem Gefängnis entlassen?“, wollte ich wissen. „Schließlich wurde ich aufgetaut.“

Serena nickte. „Ja, und es gibt einige Dinge, die du vor deiner Entlassung wissen solltest.“

Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr.

„Wir haben nicht viel Zeit. Also hör genau zu, was ich dir jetzt erzähle.“

Mit einem leisen Ächzen ließ sie sich auf meiner Bettkante nieder.

Ich nickte nur, obwohl mir noch viele unbeantwortete Fragen auf der Zunge brannten. Womöglich würde Serenas Erzählung einige von ihnen beantworten.

„Wie ich bereits erklärt habe, halten wir uns derzeit in Cryos auf“, sagte Serena Hunter. „Cryos ist eine kryonische Anlage im Nordwesten von East, die hauptsächlich der Sicherheitsverwahrung von Straftätern dient. East ist der Name des Landes, in dem wir leben. Nicht weit von dem Ort, an dem wir uns gerade befinden, verläuft die Grenze zu unserem Nachbarland West. Die beiden Länder waren einander noch nie besonders wohlwollend gesinnt. Seit Jahrhunderten spielten sich immer wieder vereinzelte Fehden und territoriale Streitigkeiten entlang der Grenze ab, aber im Großen und Ganzen versuchten die beiden Nationen, trotz aller Feindseligkeiten den Frieden zu wahren. Das änderte sich, als vor etwa fünfzehn Jahren der König von West die Regierungsgeschäfte an seinen Sohn Moya übergab.“ Sie machte eine nachdenkliche Pause.

„König Moya gilt als der mächtigste und gefährlichste Magier unserer Zeit und ist für seine grausame Herrschaft und seine gnadenlose Unnachgiebigkeit bekannt. Er verfolgt das Ziel, East zu unterwerfen, sämtliche feindliche Magier zu töten und alle anderen Menschen zu seinen Sklaven zu machen. In seiner Kriegserklärung an East hat er geschworen, nicht eher zu ruhen, bis er diese Ziele erreicht und somit nahezu unbegrenzte Macht erreicht hat. In den vergangenen zwanzig Jahren ist es König Moya und seinen Anhängern gelungen, ihr Territorium um ein Vielfaches auszudehnen und einen Großteil der vormals östlichen Städte unter ihre Kontrolle zu bringen. Kurz gesagt befinden wir uns mitten in einem Krieg, den wir auf lange Sicht zu verlieren drohen.“

„Gibt es denn keine Möglichkeit, sich gegen diesen König Moya zu wehren?“, fragte ich.

Serena Hunter bedachte mich mit einem strengen Blick. „Ich könnte dir mehr erzählen, wenn du mich nicht unterbrechen würdest. Ja, einige von uns halten an der Hoffnung fest, dass es uns gelingen könnte, Moya zumindest daran zu hindern, weiter nach East vorzurücken und weitere Gebiete an sich zu reißen. Ab und zu verzeichnen wir bei der Verteidigung unseres verbliebenen Territoriums sogar kleinere Erfolge. Im Großen und Ganzen jedoch haben wir der Übermacht Moyas wenig entgegenzusetzen.

Ein großes Problem ist dabei auch unsere eigene Uneinigkeit. Du musst wissen, dass die östliche Gesellschaft gespalten ist. Diejenigen von uns, die nicht daran glauben, dass wir eine Chance haben, Moya aufzuhalten, sprechen sich dafür aus, vor West zu kapitulieren. Sie sind davon überzeugt, dass die Einnahme unseres Landes durch Moya unaufhaltsam ist, und dass wir viel Blutvergießen vermeiden könnten, wenn wir uns sofort ergeben. Noch bildet die Fraktion, die den Kampf gegen Moya noch nicht aufgegeben hat, eine knappe Mehrheit innerhalb der Bevölkerung von East. Den Kern dieser Fraktion kennt man als den sogenannten Widerstand, eine Gruppe von Magiern und Kämpfern, die dazu ausgebildet wurden, Moyas Krieger und Spione aufzuspüren und zu töten.“

Serena machte eine weitere Pause, um mir Zeit zu geben, das Gehörte zu verarbeiten.

„An diesem Punkt kommst du ins Spiel, Scarlett Rose“, eröffnete sie mir schließlich.

„Ich?“ Ungläubig starrte ich sie an. Was hatte ich denn mit all dem zu tun?

„Ja, du“, wiederholte sie mit ungeduldiger Stimme. „Was glaubst du, warum wir dich aufgetaut haben?“

„Weil ich meine Strafe verbüßt habe. Für was auch immer ich getan habe.“

Serena seufzte. „Ich habe wohl vergessen, zu erwähnen, dass wir eigentlich niemanden mehr auftauen. Nach Ausbruch des Krieges gegen West wurde ein strenges Verbot über das Auftauen von Häftlingen verhängt. Das Risiko, dass sie Moya in die Hände fallen und sich ihm anschließen, ist zu groß. Viele von ihnen sind dem Staat East aufgrund ihrer Verurteilung und der damit verbundenen Haftstrafe nicht gerade freundlich gesinnt. Nein, du wurdest außerplanmäßig aufgetaut, und zwar aus demselben Grund, aus dem wir glauben, dass du dem Widerstand von Nutzen sein kannst. Du bist eine Magierin.“

„Was bedeutet das?“

„Als Magierin gebietest du über Magie, eine Form von Energie oder Macht, wenn du es so nennen möchtest. Es gibt nur noch sehr wenige Magier. Einige von ihnen haben sich König Moya angeschlossen und zählen zu seinen gefürchtetsten Anhängern, doch die meisten Magier wurden von Moya oder auf seinen Befehl hin getötet.“

Erneut stieg die Übelkeit in mir hoch. Obwohl ich noch kaum Informationen über die Welt besaß, in der ich lebte, war selbst mir klar, dass ich als Magierin eine lebende Zielscheibe für diesen Moya war.

„Was soll ich jetzt tun?“

„Du wirst dich dem Widerstand anschließen“, erwiderte Serena Hunter mit entschlossener Stimme. „Dort wirst du eine Ausbildung in Kriegskunst und Magie erhalten. Und uns dann in unserem Kampf gegen König Moya unterstützen.“

Meine Kehle war wie zugeschnürt. Nach allem, was ich gehört hatte, erschien es mir richtig, gegen Moya vorzugehen. Gleichzeitig erschien es mir jedoch auch wie das reinste Selbstmordkommando.

„Und wenn ich das nicht möchte?“, fragte ich vorsichtig.

„Dann haben wir keine Verwendung für dich. Der Abgeordnete Luck wird sich in seiner Befürchtung, dass du eher eine Bedrohung als eine Bereicherung für den Widerstand darstellst, bestätigt sehen. Er wird zu seinem ursprünglichen Vorhaben zurückkehren, dich zu töten, bevor du dich zu einer Gefahr für East entwickeln kannst.“

„Sie haben mich also nur aufgetaut, damit ich als Magierin dem Widerstand dienen kann?“, fragte ich.

„Wir hätten dich nicht eingefroren, wenn wir gewusst hätten, dass du eine Magierin bist. Zum Zeitpunkt deines Einfrierens hielt man dich für eine Frau ohne magische Fähigkeiten. Das Problem beim Einfrieren von Magiern ist, dass sie nicht eingefroren werden können. Die Magie, über die ein Magier verfügt, bahnt sich ihren Weg ins Freie und sorgt dafür, dass der Magier seine natürliche Körpertemperatur aufrecht erhält. Wenn diese Magie sich zu sehr ausbreitet, kann sie sogar das ganze Kühlsystem lahm legen. Deine magischen Fähigkeiten scheinen sich erst entwickelt zu haben, während du eingefroren warst.“

„Und dann mussten Sie mich auftauen, damit das Kühlsystem nicht zerstört wird“, folgerte ich.

Serena nickte.

„Und nun soll ich dem Widerstand helfen.“

Serena nickte abermals.

„Andererseits habe ich scheinbar irgendetwas getan, das mich ins Gefängnis gebracht hat. Ich bin eine Verbrecherin“, gab ich zu bedenken. „Wird der Widerstand mich überhaupt aufnehmen?“

„Das liegt ganz an dir“, entgegnete Serena. „Wenn du dich an die Regeln hältst und deine Vertrauenswürdigkeit unter Beweis stellst, solltest du nichts zu befürchten haben. Dem Widerstand mangelt es an Magiern, und wir können jede zusätzliche Unterstützung in unseren Reihen gut gebrauchen.“

„Was wird nun passieren?“, wollte ich wissen.

Serena öffnete den Mund, doch bevor sie mir eine Antwort geben konnte, klopfte es laut vernehmlich an der Tür.

„Einen Moment bitte!“, rief Serena. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und runzelte verdrießlich die Stirn. „Eigentlich sollte er noch nicht hier sein. So ein Mist, das habe ich wohl Sanders zu verdanken...“

Die Tür schwang auf und ein Mann trat betrat den Raum. Er war etwa in Serenas Alter, trug einen teuer aussehenden Anzug und hatte weißgraues Haar, das er sich sorgfältig über seine werdende Glatze gekämmt hatte. Sein Gang und der Blick, mit dem er Serena musterte, verrieten, dass er eine gewisse Autorität besaß und es gewöhnt war, Anweisungen zu geben.

„Serena!“, rief der Mann mit einem breiten Lächeln und durchschritt den Raum. Irgendetwas sagte mir, dass sein Lächeln nur aufgesetzt war. Er breitete die Arme aus und drückte Serena zur Begrüßung einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Wie schön, dass unser Gast endlich aufgewacht ist. Miss Sanders war so freundlich, mich zu informieren, dass Miss Rose bereits früher als erwartet zu einem Gespräch in der Lage ist.“

Serenas Miene verfinsterte sich. „Natürlich war sie das.“

Während ich noch überlegte, woher mir die Stimme des Mannes nur so bekannt vorkam, wandte sich dieser nun mir zu.

„Miss Rose, welche Freude, Sie gesund und munter anzutreffen. Ich habe lang darauf gewartet, Ihre Bekanntschaft zu machen und endlich persönlich mit Ihnen zu sprechen.“

Er warf einen kurzen Seitenblick auf Serena.

„Erlauben Sie mir, mich vorzustellen, Miss Rose. Mein Name ist Gordon L. Luck. Ich bin Abgeordneter des Hohen Parlaments von East.“

Entsetzt schnappte ich nach Luft. Mr. Luck – der Mann, der sich meinen Tod wünschte!

Serena legte mir eine Hand auf die Schulter. Ganz ruhig, sagte ihr Blick. Dir passiert nichts.

Langsam atmete ich aus und blickte Gordon Luck herausfordernd an.

„Was wollen Sie?“

Luck zog die Augenbrauen hoch. Seine Miene zeigte Verärgerung. Einen Augenblick lang wirkte es, als wolle er etwas erwidern, dann jedoch schien er es sich anders zu überlegen. Er sah Serena an.

„Mr. Luck möchte mit dir deine Möglichkeiten besprechen, dem Widerstand zu helfen“, erklärte Serena.

Luck nickte zustimmend. „Ich nehme an, Mrs. Hunter hat Sie bereits über alles Wesentliche ins Bild gesetzt?“

„Ich habe ihr vom Widerstand erzählt“, bestätigte Serena.

„Dann wissen Sie ja bereits, weshalb wir Sie für unsere Sache brauchen und wie wertvoll Sie für den Widerstand sind, Miss Rose“, sagte Gordon Luck mit demselben aufgesetzten Lächeln, das er zuvor Serena geschenkt hatte. „Ich nehme an, Sie haben viele Fragen.“

„Vor allem frage ich mich, warum Sie die Absicht hatten, mich zu töten“, erwiderte ich.

Für einen Augenblick verrutschte das Lächeln auf Mr. Lucks Gesicht. Dann gewann er die Kontrolle über sich zurück.

„Was führt Sie zu der Vermutung, ich würde derartige Absichten hegen? Serena, was hast du ihr erzählt?“

Serena seufzte. „Sie hat eines unserer Gespräche gehört, Gordon.“

Luck funkelte sie an. Er hatte wohl eine andere Antwort erwartet.

„Miss Rose, Sie müssen verstehen, dass angesichts Ihres plötzlichen Erwachens ein gewisses Maß an Vorsicht geboten war. Nun, da Sie offensichtlich dazu bereit sind, mit uns zu kooperieren, gibt es jedoch keinen Anlass, sich Sorgen zu machen.“

Er bedachte mich mit einem fürsorglichen Blick. Ich war nicht überzeugt. Noch bevor ich überhaupt erwacht war und Gelegenheit dazu gehabt hatte, nicht zu kooperieren, wie er es nannte, hatte dieser Luck bereits Pläne geschmiedet, die meinen Tod vorsahen.

„Aber lassen Sie uns über erfreulichere Dinge sprechen. Ich möchte Ihnen gerne im Einzelnen darlegen, auf welche Art und Weise Sie den Widerstand unterstützen werden. Serena, würdest du uns bitte allein lassen.“

„Natürlich.“ Serena warf mir einen kurzen Blick zu und wandte sich zum Gehen.

„Sie bleibt“, verlangte ich. Die Vorstellung, mit Luck allein zurückzubleiben, versetzte mich in Unbehagen. Ich vertraute ihm nicht.

Abermals schnellten Lucks Augenbrauen in die Höhe, und er sah mich mit diesem verärgerten Blick an.

„Ich erbitte mir etwas mehr Respekt, junge Dame“, sagte er kalt. „Möglicherweise begreifen Sie die Tragweite meiner Entscheidung, Sie in den Widerstand aufzunehmen, noch nicht, aber etwas mehr Dankbarkeit wäre durchaus angemessen.“

Serena drehte sich zu ihm um. „Sie ist erst vor etwa einer Stunde aus einem jahrzehntelangen Kryoschlaf erwacht, Gordon. Sie braucht Zeit, um alles zu begreifen.“

Ihre Worte ließen mich aufhorchen. Hatte sie gerade jahrzehntelang gesagt?

Zu mir gewandt fügte sie hinzu: „Es ist in Ordnung, Scarlett. Du kannst mit ihm reden. Er wird dir helfen. Falls du mich brauchst, warte ich gleich draußen vor der Tür.“

Das wird mir auch nichts nützen, wenn er einen Weg findet, mich lautlos zu ermorden, dachte ich. Doch ich konnte nichts tun. Offensichtlich hatte Serena Respekt vor Luck und gehorchte seinen Anweisungen.

Luck wartete, bis Serena den Raum verlassen hatte. Dann richtete er das Wort wieder an mich.

„Jetzt hör mir mal genau zu, du verzogenes Gör. Ich werde nicht dulden, dass du mir weiterhin so unverschämt auf der Nase herumtanzt. Du hast ja keine Vorstellung, mit welchem Aufwand und Risiko deine Eingliederung in den Widerstand verbunden ist! Serena hat mich davon überzeugt, dich am Leben zu lassen, also wäre es klug von dir, mich nicht in eine Lage zu versetzen, in der ich mich gezwungen sehe, diesen Entschluss zu überdenken. Du wirst mich ab sofort mit dem Respekt behandeln, der einem Hohen Abgeordneten zusteht. Andernfalls wirst du sehr bald meinen Unmut zu spüren bekommen. Haben wir uns verstanden?“

Ich nickte. Ich hatte mich also nicht getäuscht. Der Kerl war genauso unangenehm, wie ich es die ganze Zeit lang vermutet hatte.

„Sehr erfreulich“, sagte Luck mit grimmigem Lächeln. „Ich wollte gerade dazu übergehen, dir deine Rolle im Widerstand zu erläutern, Rose. Wobei wir bereits beim ersten und wichtigsten Punkt angelangt wären: der Annahme einer neuen Identität. Scarlett Rose gehört ab sofort der Vergangenheit an.“

Entgeistert starrte ich ihn an, weil ich nicht sofort begriff, was er meinte. Für einen Augenblick schwirrte die Befürchtung, er wolle mich immer noch ermorden, wieder in meinem Kopf herum. Ich gab mir alle Mühe, mir meine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen.

„Was meinen Sie?“, fragte ich so gelassen wie möglich.

„Das habe ich doch gerade gesagt“, erwiderte Luck ungeduldig. „Du wirst eine neue Identität annehmen. Das bedeutet, dass du dich als eine andere Person ausgeben wirst.“

„Warum?“

„Die Tarnung dient deiner eigenen Sicherheit. Wenngleich die Ereignisse, die dich in deine derzeitige Lage versetzt haben, viele Jahre zurückliegen, hat sich der Name einer so bekannten Kriegsverbrecherin doch in das Gedächtnis vieler Leute eingebrannt. Es ist dir daher absolut untersagt, irgendjemanden über deine wahre Identität in Kenntnis zu setzen oder auch nur eine Andeutung dahingehend verlauten zu lassen, dass du nicht diejenige sein könntest, für die du dich ausgibst. Hast du verstanden?“

„Eine bekannte Kriegsverbrecherin?“, echote ich. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Das klang nicht gut.

„Hast du verstanden?“, wiederholte Luck seine Frage nun mit deutlich mehr Nachdruck.

„Ja, ja“, beeilte ich mich, zu sagen, obwohl ich überhaupt nichts verstand. Was hatte er da gesagt? Ich, eine Kriegsverbrecherin?

„Was habe ich denn verbrochen?“, hakte ich nach. Vielleicht hatte ich bei dem Abgeordneten mehr Glück als bei Serena, wenn es darum ging, ihm Informationen über meine angeblich so verbrecherische Vergangenheit zu entlocken.

„Du weißt es nicht?“, fragte Luck erstaunt.

Ich schwieg. Die Blöße, ihm zu offenbaren, wie wenig ich tatsächlich wusste, wollte ich mir nicht geben.

„Das kommt mir nicht ungelegen“, sagte Luck nachdenklich. „Je weniger du weißt, desto besser.“

„Ich möchte aber wissen, wer ich in der Vergangenheit war und was mit mir passiert ist“, platzte ich heraus.

Na toll! Nun hatte ich mir doch die Blöße gegeben. Aber ich musste es einfach wissen.

Luck lächelte überheblich.

„Rose. Es mag ja zutreffend sein, dass Serena Hunter aus Gründen, die mir mehr als schleierhaft sind, viel von dir hält und ein meines Erachtens überhöhtes Maß an Vertrauen in dich setzt. Ich jedoch kann mich ihrer Einschätzung nur unter massiven Einschränkungen anschließen. Es wäre dumm und gefährlich, dir von deiner Vergangenheit zu erzählen, wenn doch Unwissenheit der beste Schutz davor ist, dass du dich verplapperst. In den wenigen Minuten, die unser Gespräch nun andauert, habe ich mehrmals den Eindruck gewonnen, dass du einfach nicht im richtigen Moment den Mund halten kannst. Warum sollte ich dir also Informationen preisgeben, mit denen du deine Tarnung in Gefahr bringen wirst?“

Ich schnappte empört nach Luft. Meine bissige Erwiderung blieb mir im Hals stecken, als ich mir Lucks bisherige Reaktionen auf meine angriffslustigen Antworten ins Bewusstsein rief. Es war klüger, ihn nicht zu sehr zu provozieren, obwohl der Ärger über seine herablassenden Worte in mir brodelte.

„Vielleicht würde es mir helfen, zu wissen, warum die Tarnung so wichtig ist“, unternahm ich den Versuch, mich verständnisvoll zu zeigen.

„Das bezweifle ich“, entgegnete Luck knapp. „Ein sauberer Neuanfang wird Vieles vereinfachen.“

Also würde ich von ihm wohl auch nichts erfahren. Anstelle von Informationen über meine Vergangenheit hatte mir das Gespräch mit Luck lediglich ein flaues Gefühl im Magen eingebracht. Was, wenn ich tatsächlich ein Kriegsverbrechen verübt hatte? Hatte ich gar Menschen getötet oder gefoltert? Der Gedanke daran ließ mich nicht mehr los.

„Und mit diesem Neuanfang gehen ein neuer Name und ein verändertes Äußeres einher“, fuhr Luck unbeirrt fort. „Mit diesem Gesicht unbemerkt zu bleiben, liegt wohl kaum im Bereich des Möglichen.“

Etwas an der Art, wie er mit diesem Gesicht sagte, ließ mich stutzig werden. Unter den vielen Gedanken, die in meinem Kopf herum schwirrten, war die Frage nach meinem Aussehen eher in den Hintergrund geraten. Doch nun begann ich mich zu fragen, wie ich eigentlich aussah. Unwillkürlich versuchte ich, mein Gesicht mit der Hand zu berühren, doch wieder gelang es mir nicht, meine Arme anzuheben.

„Was ist denn so besonders an meinem Gesicht?“, fragte ich.

„Es ist... wie soll ich sagen... sehr markant“, sagte Luck zögerlich. „Am besten, du siehst es dir selbst an.

Serena!“, rief er laut in Richtung Tür.

Sofort flog die Tür auf und Serena Hunter betrat mit alarmiertem Gesichtsausdruck den Raum.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie und warf mir einen besorgten Blick zu.

Ich nickte, obwohl ich mir nicht sicher war, ob tatsächlich alles in Ordnung war. Besonders gut fühlte ich mich nicht.

„Die junge Dame wünscht, einen Blick in den Spiegel werfen zu dürfen“, verkündete Luck.

Bei diesen Worten wich Serena sämtliche Farbe aus dem Gesicht und sie sah Luck durchdringend an.

„Es ist noch zu früh, Gordon“, widersprach sie.

„Ich denke, es ist an der Zeit“, erwiderte Luck. Für einen kurzen Augenblick zuckten seine Mundwinkel wie beim Anflug eines gehässigen Grinsens.

„Miss Rose, Sie haben doch darum gebeten, zu erfahren, wie Sie aussehen“, stellte er, plötzlich wieder ganz förmlich, an mich gewandt fest.

Trotz des unguten Gefühls, das mich angesichts Serenas Reaktion beschlich, nickte ich.

„So soll es sein“, sagte Mr. Luck. „Serena...“

Serena Hunter warf ihm einen vernichtenden Blick zu und verließ den Raum. Draußen hörte ich sie mit jemandem diskutieren. Bei genauerem Hinhören erkannte ich, dass die zweite Stimme zu Miss Sanders gehörte, die offensichtlich die ganze Zeit vor der Tür oder in einem Nebenraum gewartet hatte. Worüber die beiden Frauen sprachen, konnte ich nicht verstehen, aber Miss Sanders‘ Stimme klang sehr aufgebracht.

Einen Augenblick später kehrte Serena mit einem kleinen, rechteckigen Spiegel in der Hand zurück. Miss Sanders folge ihr mit empörter Miene.

„Abgeordneter Luck, bei allem Respekt“, begann sie. „Ich denke nicht, dass es so kurz nach Miss Roses Aufwachen das Beste für sie ist, in diesen Spiegel -“

„Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen, Miss Sanders“, schnitt Gordon Luck ihr das Wort ab. „Aber früher oder später wird sie es sehen. Sie hat ein Recht dazu. Nicht wahr, Miss Rose?“

Er zwinkerte mir verschwörerisch zu, doch das Funkeln in seinen Augen wirkte boshaft.

Ich erwiderte nichts.

„Gordon“, setzte Serena zu einem weiteren Versuch an, Luck von seinem Vorhaben abzubringen. „Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, wenn wir -“

„Ich will es sehen.“ Die Worte waren meinem Mund entschlüpft, ehe ich darüber nachdenken konnte. Wenn doch nur dieses Gezanke endlich aufhörte. In meinem Schädel pochte es schmerzhaft.

„Bist du dir sicher?“, fragte Serena.

„Sicher.“

Tatsächlich war ich mir nun sicher. Was immer mich bei meinem Blick in den Spiegel erwartete, es war immer noch mein Gesicht. Luck hatte Recht, früher oder später musste ich mich mit dem Anblick meines Gesichts auseinandersetzen.

„Nun gut“, gab sich Serena geschlagen und näherte sich mir vorsichtig. „Bitte erschrick nicht. Wir mussten deinen Schädel vor deiner Einfrierung kahl rasieren und diese rote Linie...“

„Nun lass es sie doch endlich sehen“, sagte Luck ungeduldig und riss ihr den Spiegel aus der Hand.

Er hielt ihn vor mich hin, so dass ich mein Gesicht sehen konnte.

Ich blinzelte, weil ich im ersten Moment nicht glauben konnte, was ich sah. Dann schrie ich entsetzt auf.

Mein Kopf war komplett haarlos und meine Haut war totenbleich. Zwei große, smaragdgrüne Augen starrten mich aus dem Spiegel an, als sei ich das Abstoßendste, das sie je erblickt hatten. Doch all das war es nicht, was mich in Entsetzen versetzt hatte.

Auf meiner linken Stirnseite beginnend zog sich eine blutrote Linie quer über mein Gesicht, die aussah wie eine klaffende Wunde. Die Linie verlief von meiner Stirn über meine Nase bis auf meine rechte Wange, wo sie eine Biegung machte und sich weiter über die rechte Seite meines Kinns bis auf meinen Hals erstreckte. Dort bildete sie einen Knick, von dem aus sich ein weiterer Ausläufer der Linie über mein rechtes Schlüsselbein zog und vor der Schulter abrupt endete.

Ich wollte den Blick abwenden, doch es gelang mir nicht. Der Anblick war schrecklich und faszinierend zugleich.

„Scaara, Scaara!“, rief ich verzweifelt. „Wie ist das geschehen?“

Kein Wunder, dass Luck so erpicht darauf war, mir eine neue Identität inklusive neuer Verkleidung zu verpassen. Die rote Linie zog wie ein Leuchtfeuer alle Aufmerksamkeit auf mein entstelltes Gesicht. Mein Atem beschleunigte sich und ich bekam kaum noch Luft. Eine Träne löste sich aus dem rechten grünen Auge im Spiegel.

„Eine Folge Ihrer Zuwiderhandlung auf Befehle“, sagte Luck mitleidlos. „Diese Narbe verdanken Sie den falschen Entscheidungen, die Sie getroffen haben.“

„Gordon, es reicht!“, fauchte Serena. „Raus hier, sofort! Miss Sanders, verabreichen Sie ihr ein Beruhigungsmittel. Sie braucht jetzt etwas Ruhe.“

Noch immer starrte ich auf das Gesicht in dem Spiegel, den Gordon Luck nun betont langsam beiseite zog, um widerwillig Serenas Aufforderung nachzukommen. Nur am Rande bemerkte ich, wie Miss Sanders an meinen Infusionsnadeln herumhantierte. Mein Blick folgte Mr. Luck, der sich vor der Tür noch einmal umwandte und triumphierend lächelnd die Hand zum Gruß hob. Dann war er verschwunden und ich sank zurück in tiefe Dunkelheit.

Die Verwandlung

In den nächsten Tagen bekam ich weder den Abgeordneten Luck noch Serena Hunter zu Gesicht. Miss Sanders, die, wie ich nun erfuhr, meine Ärztin war und mein Erwachen aus dem Kryoschlaf überwacht hatte, und ihr Assistent Mr. Chan betreuten mich rund um die Uhr und ließen mich keine Sekunde aus den Augen. Letzterer vermied es jedoch so oft wie möglich, sich mit mir allein im Raum aufzuhalten. Ich vermutete, dass ihm der Anblick meines Gesichts Angst einjagte. Miss Sanders dagegen hatte stets ein freundliches Lächeln auf den Lippen und schien sich ehrlich um mein Befinden zu sorgen.

Langsam begann ich, mich von den Auswirkungen des Kryoschlafs zu erholen. Meine Muskeln regenerierten sich außergewöhnlich schnell, wie Miss Sanders mir zufrieden mitteilte. Schon bald konnte ich meine Arme wieder uneingeschränkt bewegen. Zwar war ich anfangs noch immer etwas kraftlos, doch ich wurde mit jedem Tag stärker. Daraufhin verordnete mir Miss Sanders eine Reihe von Übungen, die mir beim Aufbau meiner Muskeln helfen sollten. Gestützt von Miss Sanders und Mr. Chan erlangte ich nach und nach meine Fähigkeit zu gehen wieder.

Außerdem konnte ich endlich wieder Nahrung zu mir nehmen. Zunächst musste ich mich mit Flüssignahrung begnügen, an der ich bereits nach wenigen Tagen die Lust verlor, weil sie wie Pappe schmeckte. Glücklicherweise war ich einige Tage später endlich in der Lage, feste Nahrung zu essen. Miss Sanders brachte mir Zwieback, der zu meinem Bedauern steinhart war, weil er bereits seit Jahren in der Vorratskammer von Cryos gelegen hatte, sowie etwas Käse und Obst. Ich konnte kaum glauben, wie gut richtiges Essen schmeckte, und Miss Sanders beglückwünschte mich zu meinen Fortschritten.

Der einzige Bereich, in dem ich keine Fortschritte verzeichnen konnte, war der Rückgewinn meiner Erinnerung. Mein Leben vor meiner Einfrierung schien unwiderbringlich aus meinem Gedächtnis gelöscht zu sein. Meine vielzähligen Versuche, Miss Sanders oder sogar Mr. Chan Informationen zu meiner Vergangenheit zu entlocken, waren vergeblich. Nachdem ich sie bereits zum wiederholten Mal danach gefragt hatte, offenbarte mir Miss Sanders schließlich, dass sie genauso wenig über meine Identität wusste wie ich selbst. Sie gab zu, dass sie aus Neugier versucht hatte, etwas über mich herauszufinden, dieser Versuch jedoch erfolglos geblieben war. Lediglich Mr. Luck und Serena Hunter schienen über die Hintergründe meiner Person im Bilde zu sein. Weder der Abgeordnete noch die Stationsleiterin stattete mir jedoch einen weiteren Besuch ab. Während einer der vielen mühsamen Trainingseinheiten zum Aufbau meiner Muskeln erwähnte Miss Sanders, dass Mr. Luck sich derzeit in der nahe gelegenen Stadt Quayeth aufhielte und Mrs. Hunter unpässlich sei. Schweren Herzens gab ich mich damit zufrieden, dass ich wohl so bald keine Antworten auf meine Fragen erhalten würde.

 

Eines Morgens weckte mich Miss Sanders etwas früher als gewöhnlich und wies mich an, aufzustehen. Ich vermutete, dass sie sich eine neue Muskelübung einfallen lassen hatte, doch sie führte mich zur Tür. Noch nie hatten Miss Sanders und Mr. Chan mir erlaubt, das Krankenzimmer zu verlassen. Gespannt wartete ich ab, was nun geschehen würde.

Miss Sanders öffnete die Tür und trat in den Raum dahinter. Als ich ihr folgte, stellte ich fest, dass sich hinter dieser Tür kein weiteres Zimmer, sondern ein langer Gang befand, der von verschlossenen Türen gesäumt wurde. Mit seinen grauen Wänden und den ebenso grauen Türen sah der Gang nicht weniger karg und unwirtlich aus als das Krankenzimmer.

Die Tür zum Krankenzimmer befand sich ungefähr auf halber Höhe des Ganges, so dass wir entweder nach links oder nach rechts gehen konnten. Miss Sanders verlor keine Zeit, wandte sich nach rechts und ging schnellen Schrittes voran. Voller Stolz stellte ich fest, dass es mir gelang, mit ihr Schritt zu halten. Das Muskelaufbautraining hatte sich bezahlt gemacht. Der Gang machte einen Knick nach links und wir folgten der Biegung. Schließlich blieb Miss Sanders vor einer stählernen Tür stehen, neben der sich ein Tastenfeld mit Zahlen befand. Sie tippte eine Zahlenkombination ein und die Tür öffnete sich nach außen. Dahinter befand sich ein hohes Treppenhaus mit einer im Zickzack nach oben führenden Treppe.

„Das wird jetzt vielleicht etwas anstrengend“, warnte mich Miss Sanders. „Wir müssen bis nach ganz oben gehen.“

Ich blickte hinauf. Bis nach oben waren es bestimmt zwanzig Höhenmeter.

„Wir werden langsam gehen“, versprach Miss Sanders. „Wenn Sie eine Pause brauchen, sagen Sie einfach Bescheid.“

Ich nickte und machte mich an den Aufstieg. Miss Sanders ging voraus.

Glücklicherweise erwies sich der Aufstieg als weniger anstrengend als befürchtet. Ich brauchte nur eine einzige Pause. Als wir schließlich das obere Ende der Treppe erreicht hatten, standen wir erneut vor einer verschlossenen Stahltür. Sie sah genauso aus wie die Tür zwischen dem Gang und dem Treppenhaus.

„Hier müssen wir hindurch gehen“, sprach Miss Sanders das Offensichtliche aus. Abermals tippte sie eine Zahlenkombination in den Ziffernblock neben der Tür, welche daraufhin aufschwang.

In dem großen Raum hinter der Tür wurden wir bereits erwartet. Zu meiner Überraschung erblickte ich Serena Hunter und den Abgeordneten Luck. Serenas angespannter Gesichtsausdruck wich einem leichten Lächeln, als sie mich sah. Die Miene des Abgeordneten blieb unergründlich. Ich wandte den Blick von ihm ab, da sein Anblick unangenehme Erinnerungen in mir weckte.

Neben Gordon Luck standen zwei junge Frauen. Die eine sah aus wie ein jüngeres Abbild Mr. Lucks, was mich darauf schließen ließ, dass es sich höchstwahrscheinlich um seine Tochter handelte. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug und graue Schuhe mit hohen Absätzen. Ihr haselnussbraunes Haar hatte sie zu einem strengen Knoten zusammen gebunden. Die Frau zu ihrer Rechten unterschied sich rein äußerlich so stark von ihr, dass man kaum vermutet hätte, die beiden Frauen im selben Raum vorzufinden. Sie überragte Lucks Tochter um einen halben Kopf und war damit beinahe so groß wie deren Vater. Im Gegensatz zu Lucks Tochter, die ein wenig mollig war, war die Frau zu ihrer Rechten gertenschlank und hatte schier endlos lange Beine, die sie in einer hautengen, bunt gemusterten Leggins zur Geltung brachte. Darüber trug sie ein bauchfreies, weißes Spitzentop und eine lässige Lederjacke mit dicken Schulterpolstern. Sie hatte sehr helle Haut und ein nahezu makelloses Gesicht mit großen, runden Augen, die mich interessiert musterten. Am Auffälligsten an ihr war jedoch das hochgegeelte, weißblonde Haar, das wie ein Büschel Gras von ihrem Kopf abstand und in schwarzen Haarspitzen endete.

„Miss Sanders, Sie sind überraschend früh dran“, bemerkte Serena.

„Was ich sehr begrüße, denn wir wollen bald aufbrechen“, fügte Lucks Tochter hinzu. „Wir kennen uns noch nicht, glaube ich. Halo Luck.“

Sie schüttelte Miss Sanders die Hand.

Ich hatte also Recht behalten – sie war Lucks Tochter. Ich hoffte, dass ihr Äußeres die einzige Ähnlichkeit mit ihrem Vater war. Dann wandte sie sich mir zu und schüttelte mir kurz die Hand, wobei sie es vermied, mich länger als nötig anzusehen.

Noch eine, der mein Gesicht nicht gefällt, dachte ich bitter. Wie wohl ihre mir noch unbekannte Begleiterin auf mein ungewöhnliches Äußeres reagieren würde?

„Hi Scarlett, ich bin Eomara Minerva-Mayring, aber du kannst mich Eom nennen. Freut mich, dich kennenzulernen.“

Sie schüttelte mir mit strahlendem Lächeln die Hand. Halo Luck warf ihr von der Seite einen Blick zu, den ich nur als missbilligend deuten konnte.

„Scarlett Rose“, erwiderte ich, völlig überrumpelt von Eoms positiver Ausstrahlung.

„Daran müssen wir noch arbeiten“, mischte sich Halo Luck ein. „Ab sofort bist du nicht mehr Scarlett Rose.“

„Was ich ihr bereits erläutert habe“, fügte ihr Vater gelangweilt hinzu. „Wie es scheint, lassen die Nachwirkungen der Einfrierung auf ihr Erinnerungsvermögen langsamer nach als ich dachte.“

Ich fragte mich, woher ich seiner Meinung nach wissen sollte, wessen Identität ich annehmen sollte. Anstatt mir genauere Informationen darüber zu geben, hatte er seine Zeit während unserer letzten Begegnung lieber damit verbracht, mich mit meinem Spiegelbild zu quälen. Allerdings war ich klug genug, diesen Gedanken für mich zu behalten.

„Eom, würdest du dich bitte wie besprochen um die letzten Vorbereitungen kümmern?“, bat Halo Luck ihre Begleiterin.

Ich fragte mich, von welchen Vorbereitungen die Rede war und was nun mit mir geschehen würde. Erwartungsvoll und angespannt zugleich ließ ich meinen Blick umher schweifen. Der Raum, in dem wir uns befanden, war größer als das Krankenzimmer und wirkte um Einiges einladender als alle Räumlichkeiten, die ich am unteren Ende des Treppenhauses zu Gesicht bekommen hatte. Er hatte weiße Wände, die mit Fotografien von fremdartigen Maschinen und langen Gängen dekoriert waren. Parallel zur Deckenkante verliefen langgezogene, rechteckige Fenster, durch die Licht in den Raum fiel. Auf meiner linken Seite befand sich eine große, stählerne Tür, die den Sicherheitstüren zum Treppenhaus ähnelte. Zu meiner Rechten stand eine Art Empfangspult. Vor mir erblickte ich einige abgewetzte, dunkelrote Sessel, die um einen niedrigen runden Tisch herum zu einer Sitzecke gruppiert worden waren. Links davon stand ein mit dicken Mänteln behangener Kleiderständer. Eine weitere Person, die meiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war, entdeckte ich jedoch nicht.

„Scarlett“, riss mich Eoms Stimme aus meinen Gedanken. „Komm mit!“

Sie winkte hinter dem Empfangspult hervor. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie dorthin gegangen war. Ich folgte ihr und spürte dabei die missbilligenden Blicke der beiden Lucks auf mir. Oder war das nur Einbildung?

Hinter dem Empfangspult befand sich ein Schreibtisch mit einem großen Telefon, das eine Vielzahl an Knöpfen und Taste hatte, und einem Überwachungsmonitor, der Videoaufnahmen von verschiedenen Orten zeigte. Neben dem Raum, in dem wir uns gerade befanden, und dem Treppenhaus, waren verschiedene Perspektiven auf eine verschneite Waldlandschaft und die Außenwand eines Gebäudes zu erkennen. Der Bürostuhl hinter dem Schreibtisch war leer. Eom wandte sich nach rechts und verschwand durch eine halb geöffnete Tür, die ich zuvor nicht gesehen hatte, da sie durch das Empfangspult verdeckt gewesen war. Ein Klicken ertönte, woraufhin ein Lichtschein die Türöffnung erhellte.

Vorsichtig trat ich nach Eom in den Raum und sah mich um. Auf den ersten Blick wirkte er wie eine Gerümpelkammer. Die linke Seite des schmalen Raums war mit einem Regal zugestellt, in dem sich Pappkartons, Ordner und verschiedene Gegenstände, die dort achtlos abgelegt worden waren, stapelten. Auf der rechten Seite befand sich ein Waschbecken mit einem kleinen Spiegel. Der Raum führte außerdem zu einer weiteren Tür mit der Aufschrift „WC“, deren Zugang von einem umgefallenen Hocker versperrt wurde. In der Mitte des Fußbodens hatte jemand einen schwarzen, kastenförmigen Koffer und eine dunkelblaue Sporttasche abgestellt.

Eom hob den Hocker vom Fußboden auf und platzierte ihn vor dem Waschbecken. Dann beugte sie sich zu dem schwarzen Koffer herunter. Mit einem leisen Klicken der Verschlussschnalle öffnete er sich.

„Tut mir leid, dass wir keinen besseren Raum zur Verfügung haben“, entschuldigte sie sich. „Wir hätten diese Vorbereitungen gern unten getroffen, aber du weißt ja, wie streng die Zugangsvorschriften hier sind. Halo und ich dürfen Cryos leider nicht betreten.“

„Äh... welche Vorbereitungen?“ Verwirrt blickte ich zu dem nun geöffneten Koffer herüber, in dem einige Pinsel, Tiegel und Tuben zu erkennen waren.

„Man hat dir das nicht gesagt?“, fragte Eom sichtlich überrascht.

Ich schüttelte den Kopf.

„Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht überrumpeln. Du hast dich bestimmt schon die ganze Zeit gefragt, was hier vor sich geht. Wir sind heute hier, um dich abzuholen und zu deinem neuen Zuhause zu bringen. Wie Halo vorhin erwähnt hat, musst du eine neue Identität annehmen. Ich werde dir deshalb zeigen, wie du dich schminken musst, um deine Narbe zu kaschieren.“

Ihr Tonfall klang dabei so unbeschwert, als hätte sie nicht einmal bemerkt, wie schrecklich dieses Ding in meinem Gesicht, das sie „Narbe“ nannte, aussah.

„Wir haben nicht viel Zeit, da wir heute einen langen Weg vor uns haben und Halo es eilig hat, aufzubrechen. Du kannst dir deine Fragen für nachher aufheben. Wir werden sie dir so gut wie möglich beantworten.“

Eom griff in den schwarzen Koffer und förderte einen besonders großen Tiegel zutage, den sie auf dem Rand des Waschbeckens abstellte. Sie schraubte ihn auf.

„Bitte setz dich“, forderte sie mich auf und deutete auf den Hocker vor dem Waschbecken.

Ich zögerte. Wenn ich mich setzte, würde ich mein Gesicht im Spiegel sehen. Eine Vorstellung, die mich nicht gerade mit Vorfreude erfüllte. In den letzten Wochen war es mir gelungen, meinem Spiegelbild weitestgehend aus dem Weg zu gehen, was nicht zuletzt Miss Sanders‘ rücksichtsvollem Verhalten mir gegenüber zu verdanken war.

„Kannst du das nicht machen, ohne dass ich mich im Spiegel anschauen muss?“, bat ich.

Eom schenkte mir ein warmherziges Lächeln. „Mach dir keine Sorgen wegen der Narbe, Scarlett. Du siehst wunderschön aus. Sieh sie als Zeichen dafür, wie stark du bist und was du überlebt hast. Wenn du wüsstest, wie sie entstanden ist, wüsstest du auch, dass du dich dafür nicht schämen musst. Du kannst stolz auf dich sein.“

„Was meinst du damit? Mr. Luck hat gesagt, sie sei die Strafe für mein Verbrechen“, erwiderte ich traurig.

Eom sah mich mit ihren großen, dunklen Augen an und schüttelte fassungslos den Kopf.

„Ich werde dir jetzt etwas sagen“, sagte sie und schloss die Tür. „Aber du musst mir versprechen, es für dich zu behalten. Ich habe Halo versprochen, nicht mit dir über deine Vergangenheit zu sprechen, und ich möchte keinen Ärger bekommen. Verstehst du?“

Ich nickte. „Ich sage nichts.“

„Gut. Sieh in den Spiegel. Was siehst du?“

Widerstrebend ließ ich mich auf dem Hocker nieder und wandte mein Gesicht zum Spiegel. Zwar war ich immer noch skeptisch, aber die Aussicht auf Informationen, die ich schon seit Wochen vergeblich zu bekommen versucht hatte, überzeugte mich, der Sache eine Chance zu geben.

„Ich sehe eine riesige rote Linie, die sich über mein ganzes Gesicht zieht“, sagte ich niedergeschlagen. „Oder eine Narbe, wie du gesagt hast.“ Zu meiner Erleichterung stellte ich fest, dass die besagte Narbe zumindest nicht ganz so schlimm aussah, wie ich sie in Erinnerung gehabt hatte.

„Ich dagegen sehe eine lebende Legende, die als einziger Mensch seit Hunderten von Jahren eine schwarzmagische Spaltung überlebt hat“, erwiderte Eom. „Ich sehe Hoffnung für den Widerstand, ich sehe die Gründung von Level Drei, und ich sehe, wo das Rote Inferno gescheitert ist.“

All diese Worte riefen keine Erinnerungen, sondern nur weitere Verwirrung in mir hervor. Eine lebende Legende? Schwarzmagische Spaltung? Das Rote Inferno? Wer oder was war das alles?

„Schwarzmagische Spaltung?“, wiederholte ich verständnislos.

„Ein mächtiger Magier hat versucht, dich zu spalten“, erklärte Eom. „Er hat sich dabei einer besonders bösartigen Form von schwarzer Magie bedient, die dich eigentlich hätte töten müssen. Doch du hast überlebt. Von der Spaltung hast du einzig und allein diese rote Narbe zurück behalten.“

Ich konnte mir zwar nicht genau vorstellen, was eine Spaltung war, aber es beunruhigte mich, dass ich offenbar Feinde hatte, die mir Schaden zufügen wollten. Serenas Worte, dass König Moya und seine Helfer östliche Magier töteten, hatte ich nicht vergessen.

„Wer hat das getan?“, wollte ich wissen.

Eom zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Es heißt, der schwarze Magier sei geflohen, nachdem es ihm nicht gelungen war, dich zu spalten. Vielleicht ist er mittlerweile tot oder hat sich König Moya angeschlossen. Ich muss dazu sagen, dass das viele Jahre her ist, noch vor König Moyas Aufstieg an die Macht.“

„Wie viele Jahre...?“, begann ich, als plötzlich die Tür aufschwang und Serena Hunter ihren Kopf durch den Türspalt steckte.

„Ich hoffe, ich störe nicht. Ich bin hier, um mich zu vergewissern, dass Mr. Lucks Anordnung planmäßig in die Tat umgesetzt wird.“

Sie sah zu mir herüber und bemerkte, dass Eom und ich noch nicht einmal angefangen hatten, die rote Narbe zu überschminken.

Mit gesenkter Stimme fügte sie hinzu: „Was ist denn los? Miss Minerva-Mayring, ich hoffe, Sie haben Miss Rose keine Geschichten erzählt. Mr. Luck würde das nicht gutheißen, wie Sie wissen. Er hat mich gebeten, nach dem Rechten zu sehen und ein Auge auf Sie zu haben.“ Sie betrat den Raum und lehnte sich neben dem Waschbecken an die grob verputzte Wand. Dabei betrachtete sie mich mit kritischem Blick.

Ich fragte mich, warum Serena Hunter sich so verhielt. Im einen Augenblick war sie freundlich zu mir und verteidigte sogar mein Leben gegen Mr. Luck, im nächsten Augenblick hingegen ähnelte ihr Verhalten mir gegenüber der herablassenden Art des Abgeordneten oder sie ließ sich gar mehrere Wochen lang nicht bei mir blicken. Entweder war sie eine sehr launische Person oder Mr. Luck hatte sie stark unter Druck gesetzt.

„Nun gut, fangen wir an“, sagte Eom mit ungebrochener Fröhlichkeit. „Scarlett, siehst du diese Paste?“ Sie deutete auf den großen Tiegel, den sie auf dem Waschbeckenrand abgestellt hatte. Darin befand sich eine weißliche Creme.

„Nimm dir etwas davon und verstreiche es auf deiner Narbe“, wies mich Eom an.

Ich tat, was sie sagte, und begann, die weiße Paste großzügig auf der Narbe zu verstreichen. Das Ergebnis war beeindruckend. Die Paste besaß eine hohe Deckkraft, und an den Stellen, wo ich sie aufgetragen hatte, nahm meine Narbe innerhalb von Sekunden einen rosigen Farbton an, der sich kaum von meiner natürlichen Hautfarbe unterschied.

Nachdem ich die komplette Narbe mit der Paste eingerieben hatte, betrachtete ich das Ergebnis im Spiegel. Ich war sprachlos. Die Narbe war nun kaum mehr zu erkennen. Jemand, der mein Gesicht aus der Nähe betrachtete, konnte vielleicht noch erkennen, dass meine Haut an manchen Stellen anders aussah, würde dies jedoch allenfalls für eine gewöhnliche Narbe halten.

„Nun zu deinen Haaren“, sagte Eom und kramte in ihrem Koffer. Sie zog einen länglichen Gegenstand in einer Plastikverpackung, einen Waschlappen und eine Sprühdose hervor. Dann legte sie die drei Gegenstände zu dem Tiegel mit der weißen Paste auf den Waschbeckenrand.

„Ein Rasierer“, erklärte sie. „Mr. Luck möchte, dass du dein Aussehen so sehr veränderst, dass niemand auch nur auf die Idee kommen könnte, du seist Scarlett Rose. Du bist offensichtlich eine recht bekannte Persönlichkeit...“ – Serena warf ihr einen warnenden Blick zu – „...und sollst wohl unter keinen Umständen erkannt werden. Die Narbe als wichtigstes Wiedererkennungsmerkmal haben wir bereits gut versteckt. Aber auch deine Haarfarbe ist sehr auffällig.“

Unwillkürlich warf ich einen weiteren Blick in den Spiegel. In den Wochen seit meinem Erwachen aus dem Kryoschlaf waren auf meinem kahl rasierten Schädel feuerrote Haarstoppeln gesprießt. Auch meine Augenbrauen, die in demselben Rotton leuchteten, waren nachgewachsen. Es war wohl Ironie des Schicksals, wie gut meine Haare farblich mit meiner Narbe harmonierten. Ich musste Eom zustimmen; unauffällig sah ich nicht gerade aus.

Eom drehte den Wasserhahn auf und machte den Waschlappen nass, mit dem sie anschließend über meinen Kopf wischte. Dann nahm sie die Sprühdose zur Hand und verteilte großzügig den daraus entweichenden Schaum auf meinen Haaren. Zuletzt griff sie nach dem Rasierer, riss ihn aus seiner Verpackung und begann, damit meinen Kopf zu rasieren. Schweren Herzens musste ich mit ansehen, wie sich meine beginnende Haarpracht vor meinen Augen in Wohlgefallen auflöste.

Als sie fertig war, öffnete Eom die blaue Sporttasche, die neben dem Koffer auf dem Boden stand, und holte ein Handtuch heraus, mit dem sie mir den Kopf abrubbelte.

„Jetzt die Augenbrauen“, forderte sie.

Widerstrebend setzte ich den Rasierer an meiner rechten Augenbraue an.

„Aber ich kann doch nicht ohne Augenbrauen herumlaufen“, protestierte ich.

„Es tut mir leid, aber die roten Augenbrauen sind einfach zu auffällig. Du wirst dir Augenbrauen aufmalen“, sagte Eom.

Weil ich mich konzentrieren musste, um nicht mit dem Rasierer abzurutschen, verkniff ich mir eine Bemerkung darüber, wie blöd aufgemalte Augenbrauen aussahen. Während ich mir die Augenbrauen abrasierte, räumte Eom die Gegenstände auf dem Waschbeckenrand, die nicht mehr benötigt wurden, in den Koffer zurück und legte im Austausch dafür zwei neue, längliche Gegenstände vor mich hin.

„Ein Augenbrauenstift und Mascara“, klärte sie mich auf. „Mit dem Stift kannst du dir deine Augenbrauen aufmalen.“ Sie zeigte mir, wie die aufgemalten Augenbrauen verlaufen mussten und wie ich sie am besten zeichnen konnte. Nach einigen Versuchen hatte ich zwei hellbraune Striche über den Augen, die zwar noch etwas wacklig aussahen, aber eindeutig als Augenbrauen zu erkennen waren.

„Mit der Zeit wirst du immer geübter werden“, ermutigte mich Eom. „Zuletzt musst du noch die Mascara auftragen, da auch deine Wimpern rot sind.“

Sie zeigte mir an ihren eigenen, noch ungeschminkten Wimpern, wie man Mascara auftrug. „Wichtig ist, dass du direkt am Wimpernansatz anfängst, damit kein Millimeter deiner Wimpern unbedeckt ist“, riet sie mir. Bei Eom sah das Schminken einfach und routiniert aus, aber ich stach mir einige Male ins Auge und verschmierte die Wimperntusche auf meinen Lidern und auf meiner Nase, bevor es auch bei mir funktionierte.

„Sehr gut, Scarlett“, lobte mich Eom. „Nun folgt der wichtigste Teil deiner Verwandlung.“

Wieder suchte sie etwas in der blauen Tasche. Ich fragte mich, wie viele Schminkutensilien sie noch aus der Tiefe ihres Koffers und ihrer Tasche befördern wollte. Seit wir begonnen hatten, war bestimmt schon fast eine Stunde vergangen.

Diesmal hielt sie einen großen, durchsichtigen Plastikbeutel in der Hand, in dessen Innern sich etwas befand, das wie helles, menschliches Haar aussah. Sie öffnete den Beutel und zog eine blonde Perücke hervor.

„Du musst darauf achten, dass die Perücke nicht schief sitzt“, sagte Eom, während sie mir dabei half, mir meinen neuen Haarersatz aufzusetzen. Sie strich die Perücke glatt und gab mir dann einen Augenblick Zeit, mein neues Ich im Spiegel zu betrachten.

„Unglaublich, was für eine Veränderung“, kommentierte Serena Hunter meine Verwandlung. Auch ich selbst war mit dem Ergebnis zufriedener als ich vermutet hatte. Meine blonde Haarpracht, die ich als kinnlangen Bob mit Pony trug, sah richtig echt aus und passte gut zu meinen grünen Augen. Bis auf die Augenbrauen wirkte alles an mir sehr natürlich. Nach wie vor freute ich mich am meisten darüber, dass die rote Narbe nicht mehr zu sehen war.

„Bitte achte darauf, vor allem deine Augenbrauen und deinen Körper täglich zu rasieren“, wies mich Eom an. „Nichts darf darauf hinweisen, dass du nicht diejenige bist, für die dich ausgibst. Natürlich musst du auch jeden Tag die weiße Paste und die Mascara auftragen, um deine Verkleidung zu perfektionieren. Ich empfehle dir, auch deinen Kopf regelmäßig zu rasieren, damit deine Perücke richtig sitzt. Die Perücke solltest du bei Bedarf waschen, besonders, wenn sie anfängt, unangenehm zu riechen.“

Sie sammelte die Schminkutensilien vom Waschbecken zusammen und verstaute sie im schwarzen Koffer. Anschließend überreichte sie mir die Tasche.

„Das gehört dir. In der Tasche findest du frische Kleidung. Zieh dich bitte um. Draußen ist es ziemlich kalt, und in deiner jetzigen Kleidung wird dich außerdem jeder anstarren.“

Ich sah an mir herab und stellte fest, dass ich noch immer mein weißes Nachthemd aus dem Krankenzimmer trug.

„Der Schminkkoffer ist auch für dich bestimmt“, fügte sie hinzu. „Ich nehme ihn schon einmal mit nach draußen, während du dich umziehst. Mrs. Hunter und ich warten draußen.“

Sie griff nach dem Koffer, lächelte mich an und ging durch die Tür hinaus. Serena Hunter folgte ihr.

„Warten Sie“, rief ich ihr hinterher. „Diese ganze Verkleidung... als wer gebe ich mich denn nun aus?“, wollte ich wissen.

„Ab sofort lautet dein Name Matrix Macanthony“, eröffnete mir Serena. „Alles weitere wird dir Miss Luck erläutern.“

Mit diesen Worten ließ sie die Tür hinter sich zufallen und mich mit vielen neuen Fragen und dem fremdartigen Klang des Namens Matrix Macanthony zurück.

 

Nachdem ich mich mein weißes Krankenhemd durch einen abgetragenen Wollpullover sowie ein Paar zerrissene Jeans ersetzt hatte und in den Empfangsraum zurückgekehrt war, drängte Halo Luck zum Aufbruch. Ich war mir noch immer im Unklaren darüber, ob und wohin ich mit den anderen aufbrechen würde. Meine aufwendige Tarnung ließ allerdings vermuten, dass es nun für mich an der Zeit war, Cryos zu verlassen.

„Miss Macanthony. Draußen ist es kalt. Ziehen Sie sich bitte Ihren Mantel an, bevor wir losfahren“, sagte Halo Luck, während sie nach ihrem eigenen Mantel griff, der auf dem Garderobenständer hing. Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass mit Miss Macanthony ich gemeint war.

„In deiner Tasche“, half mir Eom, als sie meinen ratlosen Gesichtsausdruck bemerkte.

Ich kramte in meiner Tasche. Unter einer Decke und einem Handtuch fand ich einen dünnen olivgrünen Wollmantel, der bereits etwas abgenutzt aussah. Ich warf ihn mir über.

„Dann können wir ja nun fahren“, verkündete Halo Luck. „Mrs. Hunter, könnten Sie bitte die Tür öffnen?“

Begleitet vom lauten Klappern der Absätze ihrer schwarzen Stiefel ging Serena Hunter zu der Tür, die, wie ich vermutete, ins Freie führte, und tippte eine Zahlenkombination ein. Für ein Gefängnis war Cryos wirklich nicht schlecht gesichert.

Die Tür schwang auf, und ein weißer Lichtschein blendete meine Augen. Nach einigen Augenblicken erkannte ich, dass draußen Schnee lag. Ein eisiger Windstoß fegte durch die Türöffnung hinein.

„Ein Wunder, dass Cryos bei diesem Wetter überhaupt ein Kühlsystem braucht“, scherzte Eom und zog sich die Lederjacke enger um die nackte Taille.

„Wieso? Es ist doch nicht das ganze Jahr über Winter“, erwiderte Serena zerstreut.

„Zeit, uns zu verabschieden“, sagte Mr. Luck mit einem Blick auf seine protzige Armbanduhr. „Serena, es ist mir immer wieder eine Freude, deine Gastfreundschaft zu genießen. Miss Sanders, sehr erfreut, Sie kennen gelernt zu haben.“

Er drückte Serena einen flüchtigen Kuss auf die Wange und schüttelte Miss Sanders die Hand. Auch seine Tochter und Eom verabschiedeten sich von den beiden Frauen.

„Gib mir deine Tasche, Scarlett. Ich nehme sie schon einmal mit nach draußen, du willst dich sicher noch verabschieden“, bot mir Eom an.

„Matrix“, korrigierte Halo Luck sie mit strengem Blick. „Nicht Scarlett. Beeilen Sie sich, Miss Macanthony, damit wir gleich aufbrechen können.“

Ich nickte nur und dankte Eom im Stillen für die kurze Gelegenheit, mich von Serena Hunter und Miss Sanders verabschieden zu können. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie Halo Luck und Eom dem Abgeordneten Luck nach draußen folgten.

„Scarlett, wir werden Sie vermissen“, sagte Miss Sanders und zog mich in eine unerwartete Umarmung.

„Scarlett.“ Serena verabschiedete sich ohne große Worte und mit einem knappen Handschlag. Mir war nach wie vor schleierhaft, warum sie sich einerseits so sehr für mein Leben eingesetzt hatte, andererseits nun aber so distanziert wirkte.

Ich wollte mich gerade schon zum Gehen wenden, als mir ein spontaner Einfall in den Sinn kam.

„Serena, warum war es Ihnen so wichtig, dass ich nicht sterbe?“, fragte ich gerade heraus. „Was liegt Ihnen an mir?“

Eine Antwort erwartete ich nicht wirklich, da die Frage sehr direkt war und Serena sie wahrscheinlich für unverschämt hielt. Aber es war meine letzte Gelegenheit, die Antworten zu bekommen, die mir Gordon Luck und seine Tochter vermutlich nicht geben würden.

Umso überraschter war ich, als sie antwortete: „Ich kann dir keine umfassende Auskunft darüber geben. Es hat etwas mit deinem Kriegsverbrechen zu tun, das aus meiner Sicht gar kein Verbrechen war. Du hast versucht, jemanden zu retten, den ich liebte. Als du aus dem Kryoschlaf erwacht bist, bot sich mir unverhofft endlich die Möglichkeit, meine Schuld bei dir zu begleichen.“

Sie warf einen Blick in Richtung Ausgang.

„Aber nun geh. Du wirst erwartet.“

„Eines möchte ich noch wissen“, wagte ich mich weiter vor. „Welchen Gefallen mussten Sie Mr. Luck erweisen, um mich zu retten?“

Serenas Miene versteinerte. „Ich sagte, du sollst gehen“, wies sie mich mit zorniger Stimme ab.

Wie vom Blitz getroffen wandte ich mich ab und eilte zum Ausgang. Offenbar war ich mit meiner letzten Frage zu weit gegangen.

Ich trat durch den Ausgang ins Freie, wo Halo Luck mich bereits mit ungeduldiger Miene erwartete. Eine eisige Kälte umhüllte mich und meine Füße versanken in einer dicken Schneeschicht. Einige Meter hinter Halo Luck erblickte ich den Rand eines dichten, weitläufigen Nadelwaldes.

„Da sind Sie ja endlich“, sagte Halo Luck. „Folgen Sie mir.“

Ich stapfte ihr einige Meter durch den Schnee hinterher, bis wir einen schmalen Weg erreichten. Er verlief mitten durch den Wald und ich konnte nicht sehen, wo er endete. In der Mitte des Weges stand ein großer, schwarzer Geländewagen.

Halo Luck steuerte schnellen Schrittes auf den Wagen zu. Ich hingegen blieb stehen und wandte den Kopf, um noch einen letzten Blick auf Cryos zu werfen, bevor ich die Station für immer verließ.

Das kleine, rechteckige Gebäude, auf dessen Fassade ich bereits über den Überwachungsmonitor einen Blick erhascht hatte, lag friedlich inmitten einer Lichtung, die von den dunklen Nadelbäumen des großen Waldes gesäumt wurde. Das Gebäude verfügte nur über einen Zugang. Serena Hunter stand hinter der noch immer geöffneten Eingangstür und blickte mir nach. Als sie meinen Blick bemerkte, zog sie sich zurück und verschwand in der Dunkelheit des Empfangsraumes. Einige Augenblicke später schloss sich auch die Eingangstür.

Überrascht bemerkte ich, wie klein Cryos von außen betrachtet wirkte. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass der Empfangsraum offensichtlich der einzige oberirdisch gelegene Teil der Anlage war. Das erklärte auch, warum das Krankenzimmer und das Treppenhaus fensterlos gewesen waren.

Vereinzelte Schneeflocken begannen zu fallen und schwebten langsam zu Boden. Schaudernd erinnerte ich mich an den schrecklichen Traum von dem Ascheregen und dem brennenden Wald.

„Miss Macanthony“, schallte Halo Lucks Stimme hinter mir durch den Wald. „Wo bleiben Sie denn?“

Ich wandte mich um und lief die restlichen Meter zum Wagen.

„Nun trödeln Sie doch nicht so“, tadelte mich Halo Luck. „Steigen Sie ein.“

Sie hielt mir die Tür hinter der Beifahrertür auf. Ich kletterte auf den Rücksitz, auf dessen gegenüberliegender Seite Eom Platz genommen hatte. Mr. Luck saß auf dem Beifahrersitz.

Halo Luck schlug die Autotür hinter mir zu und ging zur Fahrerseite. Sie stieg auf den Fahrersitz und startete den Motor, der ein lautes Brummen von sich gab.

„Schnall dich an“, wies mich Eom an und schloss ihren Sicherheitsgurt. Ich folgte ihrem Beispiel. Mit einem Ruck setzte sich der Geländewagen in Bewegung. Fasziniert beobachtete ich, wie die Bäume, die den schmalen Waldweg säumten, immer schneller an uns vorbei zogen.

„Wohin fahren wir?“, fragte ich in die Runde.

„Nach Quayeth“, kam Halo Lucks Antwort von vorne.

„Quayeth... die Stadt, die Serena Hunter erwähnt hat, als sie mir East beschrieben hat“, erinnerte ich mich.

„Ja, Quayeth ist die nächstgelegene Stadt“, bestätigte Halo Luck. „Sie werden dort mit Eom neue Kleidung kaufen. Anschließend werden wir unsere Reise fortsetzen.“

Neue Kleidung zu kaufen war keine schlechte Idee. Vor lauter Aufregung hatte ich es zunächst ignoriert, aber nun spürte ich die eisige Kälte, die von draußen in den Wagen drang und durch meinen dünnen Wollmantel kroch. Da half selbst die Sitzheizung des modern ausgestatteten Fahrzeugs nicht viel.

„Werde ich danach den Widerstand treffen?“, fragte ich hoffnungsvoll.

„Wir haben eine lange Fahrt vor uns. Ruhen Sie sich erstmal ein wenig aus“, überging Halo Luck meine Frage.

Frustriert stellte ich zum wiederholten Mal fest, dass das Vertrösten auf später wohl eine beliebte Reaktion auf viele meiner Fragen zu sein schien. Wohl oder übel begnügte ich mich also damit, aus dem Fenster zu starren und über Serena Hunters Worte unmittelbar vor meiner Reise nachzudenken. Welchen geliebten Menschen hatte ich versucht, zu retten? Und handelte es sich bei diesem Versuch um das Verbrechen, das Mr. Luck so scharf verurteilte?

Folglich war ich Serena Hunter vor meiner Einfrierung schon einmal begegnet. Aber wann? In welcher Beziehung hatte ich zu ihr gestanden? Ich versuchte, mir die etwas jüngere Serena Hunter vorzustellen, doch ich wusste nicht einmal, wie alt sie zum Zeitpunkt meiner Einfrierung gewesen war.

All diese Gedanken führten jedoch zu nichts und bereiteten mir Kopfschmerzen. Ich versuchte, an nichts zu denken, während die Bäume vor dem Fenster vorbei flogen. Der Waldweg wich nun einer befestigten Straße, die sich vor uns in endlosen Kurven einen Berg hinauf wand. Ich fragte mich, ob wir diesen Berg überqueren mussten, um zur Stadt Quayeth zu gelangen. Doch noch während wir die ersten Kurven der Serpentine entlangfuhren und bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, überwältigte mich die Müdigkeit und ich sank in einen tiefen Schlaf.

 

Impressum

Texte: Janine Hassenfus
Bildmaterialien: Janine Hassenfus
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2015

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