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Aufstehen, Duschen, Alfi füttern, Frühstücken, alles putzen und desinfizieren, und .... zur Therapie


Lucy und die Todesangst

Kaum ertönt das erste Surren des Radioweckers, schnellt Lucys Hand bereits aus dem Bett und betätigt den „Aus“-Schalter. Stille kehrt zurück in das dunkle Schlafzimmer.
Es war schon unfair, dem Wecker gegenüber. Er hatte nie eine echte Chance seinen Job vernünftig zu erledigen. Lucy schien geradezu darauf zu warten, zu lauern, auf dieses erste Surren. Als wolle sie beweisen, dass sie nicht auf diesen Wecker, dieses billige Modell ohne Digitalanzeige, mit knarzenden Lautsprechern, angewiesen war. So schien es dem Wecker jedenfalls. Dieser Tag, um fünf Uhr morgens noch frisch und neu und unberührt, beginnt wie alle anderen Tage auch: frustrierend. Für den Wecker.
Für Lucy hingegen ist es der Auftakt zu einer Ansammlung von Pflichten und Aufgaben, die sie sich jeden Abend aufs Neue in ihrem Block notierte und dann auf dem Küchentisch ließ. Als Arbeitsanweisung für den nächsten Tag.
Lucy war krank. Sie hatte keine wirklich greifbare Krankheit, keinen Krebs oder eine dieser Autoimmunkrankheiten, die erst seit der Ausstrahlung von Dr. House in das Bewusstsein der Gesellschaft gerückt waren. Lucys Krankheit war subtiler Natur, nahezu unsichtbar, dennoch an ihr klebend und ihr Leben bestimmend.
Lucy hatte schwere Zwangsneurosen. Nicht mehr und nicht weniger.


„Guten Morgen Alfi,“ sagte sie, als ihr Kater auf die Bettdecke hüpft. Mehr Kommunikation gibt es nie zwischen ihnen. Anfassen will sie Alfi nicht. Zu viele Keime. Alfi kennt das schon. Und nimmt es ihr nicht übel. Im Gegenteil: Alfi, der sich Lucys Macken völlig bewusst war, zieht nur Positives aus Lucys Erkrankung. Solange sie sich selber zu einem straff durchorganisierten Tagesablauf zwingt, vergisst sie niemals ihm seinen Futternapf zu füllen. Fünf Mal täglich. Die empfohlene Ration. Jawohl.
In einer zackigen Bewegung stellt sich Lucy auf die Beine, nimmt die zurecht gelegte, frische Wäsche vom Stuhl neben dem Fenster und geht schnellen Schrittes ins Badezimmer. Duschen, Zähne putzen, frisieren, Make Up auftragen, anziehen. Dann der Gang zur Küche, Kaffee schwarz mit einer Scheibe Brot, dünn beschmiert mit Halbfettmargarine, und einer Banane. Während des Kauens und Schlürfens dann das obligatorische Studium der To-Do-Liste. Alfi füttern. Zu guter Letzt die Küche aufräumen, abwaschen, desinfizieren und den ersten Gang des Tages erledigen. Soweit der Plan bis zum ersten Etappenziel des Tages: das Haus verlassen.
Lucy ist guter Dinge. Fast schon gut gelaunt und vielleicht sogar ein bisschen weniger mechanisch als sonst, geht sie unter die Dusche.

„Guten Morgen Lucy.“
Frau Traustein, eine rüstige Rentnerin Mitte Sechzig, ist Lucys einzige Nachbarin in dem alten Haus am Ende der Seestraße. Jeden Morgen, wenn Lucy ihre Wohnung verlässt (nicht ohne dabei die Türklinke mit desinfizierenden Tüchern abzurubbeln; jeweils vor UND nach Benutzung), trifft sie auf die ältere Dame, die ihren kleinen Dackel Spartakus Gassi führt.
„Heute wird’s bestimmt ein wunderschöner Tag, meinst nicht Kindchen?“ Frau Trausteins warmes Lächeln entringt Lucy nicht mehr als ein kurzes „Ja, guten Morgen.“ Sie lässt die Rentnerin im Hausflur stehen und eilt hinaus, in den jungen Tag. Sie spürt die Kühle des Morgens, die kleinen Tröpfchen des Frühnebels auf ihrer perfekt geschminkten Gesichtshaut. Ein Tribut an die Schönheit: Make-Up. Trotz größtem Ekel (in Anbetracht der Herstellungsart und der Inhaltsstoffe handelsüblicher Schminke kaum verwunderlich) malt sich Lucy jeden Tag ein neues Gesicht. Ein normales. Oder auch nicht. Jeder Farbstrich sitzt an seinem Platz, keine einzige Unreinheit ist zu entdecken, die Haut makellos. Der Mund, präzise eingefärbt in den aktuellen Herbstfarben, nie geküsst. In Lucys Universum gab es nicht einen Grund, warum sich die Lippen einer Frau mit denen eines Mannes treffen sollten. Was da alles für Krankheiten übertragen werden können, unvorstellbar! Und selbst, wenn das Gegenüber klinisch unbedenklich wäre. Allein die Vorstellung über die zuletzt eingenommene Mahlzeit des Traumprinzen und die daraus entstehenden Mundgerüche lassen jeden Wunsch nach einem Kuss zu Grunde gehen.
Lucy ist eine zwangsneurotische Mittdreißigerin, schlank, hübsch geschminkt, adrett angezogen, mit zackigem Schritt und zielstrebigem Auftreten. Und sie ist ungeküsst, denn Lucy kennt keine Liebe. Zumindest nicht die zu einem Mann. Oder einer Frau. Oder einem Tier. Wie Alfi zum Beispiel. Alfi leistet ihr Gesellschaft. Macht ab und an Geräusche, die eine prickelnde Abwechslung im täglichen Protokoll bedeuten. Alfi ist das Abenteuer in Lucys Leben. Und mehr als Alfi braucht sie nicht. Aber lieben? Nein. Lieben tut sie Alfi nicht. Sie respektiert ihn. Mehr nicht.
Der erste Termin des Tages führt sie in das städtische Klinikum. Eine Pflicht, die ihr gar nicht passt. Durch ihr etwas exzentrisches Verhalten ist Lucy seit einiger Zeit nicht mehr in der Lage ihrem Beruf nachzugehen. Dabei mochte Lucy ihren Job. Im Museum war sie für das Führen und Überprüfen der Statistiken zuständig gewesen. Eine Welt aus Zahlen, ohne jede Emotion, kam Lucy sehr entgegen. Vor einigen Monaten sah das der Kurator des Museums allerdings anders. Als Lucy einen Heulkrampf bekam, weil die Putzfrau offenbar versäumt hatte das Damenklo nach einer Betriebsfeier wieder in einen hygienisch unbedenklichen Zustand zu versetzen. Die Tatsache, dass sie gezwungen war zwischen benutzten Damenbinden und zerfetztem Toilettenpapier auf dem Boden ihr Geschäft zu verrichten, verursachte einen massiven Nervenzusammenbruch bei der blassen Statistikerin. Und kostete sie zuletzt den Job.
Strahlend weiße Zähne blitzen ihr entgegen. „Hallo und Willkommen in der St.-Sebastian-Genesungsklinik“, trällerte das Mädchen am Empfang, kaum älter als zwanzig, mit einem sündhaften Aussehen. Lucy beachtet sie kaum. „Ich habe einen Termin mit Dr. Lehrmann. Halb neun.“
Der Unterschied zwischen der freundlichen Anrede des Empfangsmädchens und Lucys stakkatohaftem Vortrag ist so prägnant, dass es dem Mädchen für einen kurzen Augenblick das Lächeln aus dem Gesicht stiehlt. Doch sie fängt sich schnell wieder. The Show must go on.
„Natürlich. Ihr Name war? Ah, Frau Winkler. Ich werde ihm sofort Bescheid geben. Nehmen sie doch so lange in der Wartezone Platz.“ Das Mädchen zeigt zu einer trostlosen Sitzgruppe in der Ecke des Empfangsbereichs. Lucys Blick bleibt starr auf einen Punkt irgendwo hinter der Südwand des Gebäudes haften. Sie wartet lieber hier. Und hält es nicht für nötig, das dem Mädchen mitzuteilen. Auf gleich welche Weise.
Die Empfangsdame räuspert sich kurz und wendet sich dann ihrer Telefonanlage zu. Als sie Herrn Dr. Lehrmann in der Leitung hat, murmelt sie kaum hörbar etwas von „irgendeine Irre“ und „Termin“. Lucy hört es. Sie hat gute Ohren. Verachtung ist ein Gefühl, und Gefühle haben kaum Platz in ihrer Welt. Also ignoriert sie die Empfangsdame weiter, zeigt keine Regung, selbst als Dr. Lehrmann um die Ecke biegt und sie freundlich anlächelt.
„Lucy Winkler, richtig? Mein Name ist Lehrmann. Doktor Lehrmann. Ich werde ihre stationäre Therapie begleiten“. Braune Augen, Lachfältchen, dezenter Drei-Tage-Bart, dunkle, nach frischem Heu duftende Haare. Erst als sie seine Hand auf ihrer Schulter spürt, zuckt Lucy zusammen. Lehrmann lässt sich davon nicht aus dem Konzept bringen. Er legt die Hand um ihren Ellebogen und schiebt sie sanft vor sich her. „Gehen wir doch in mein Büro um den Verlauf zu besprechen“, sagt er dabei.
Verlauf. Verlauf hört sich gut an, denkt Lucy. Das hört sich nach einem Plan an. Sie geht mit ohne ein Wort zu sagen und denkt kurz daran, wen und vor allem was Dr. Lehrmann heute wohl schon alles mit dieser Hand angepackt haben könnte, mit der er gerade ihre Seidenbluse ruiniert.

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Tag der Veröffentlichung: 09.11.2011

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