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Zug ins Jenseits


Angstschweiß rann ihm von der Stirn. Panisch klammerte Fabian sich an seinem Sitz fest. Der ganze Zug quietschte und kreischte unerträglich laut. Wie in Zeitlupe konnte er entsetzt erkennen, dass sein Waggon sich langsam aber beständig zur Seite legte. Fabian schrie. Die Welt begann sich um ihn zu drehen und seine verkrampften Hände konnten ihn nicht mehr länger in seinem Sitz festhalten. Schließlich entglitten seinen feuchten Fingern die Sitzlehnen und er knallte in einem unkontollierten Flug gegen die Decke des Zuges. Der Waggon drehte sich ein weiteres Mal um die eigene Achse und Fabian sah nun, wie die Treppe, welche zum unteren Abteil des Zuges führte, in rasender Geschwindigkeit auf ihn zuflog.
Mit einem Schrei auf den Lippen wachte er auf und sah sich angsterfüllt um. Jedoch hörte er immer noch das beruhigende Tackern des Zuges. Während eine knarzende Stimme durch die Lautsprecher sprach, atmete er erleichtert auf. "Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten haben wir unser Reiseziel erreicht. Der Zug endet hier." Die Stimme sagte noch mehr, doch Fabian schloss wieder die Augen und ließ sich in seinen Sitz zurücksinken. Sein Herzschlag entspannte sich langsam. Bald würde er also endlich wieder in Koblenz sein. Auch wenn er diese Stadt nicht besonders gut mochte, so war es immer noch sein Zuhause und er freute sich schon darauf bald wieder mit seinen Freunden um die Häuser zu ziehen. "Möchtet Ihr etwas zu trinken haben?", fragte ihn eine freundliche Frauenstimme. Verwundert öffnete Fabian seine Augen. Seit wann gab es in einer normalen Regionalbahn Bedienstete? Vor ihm stand eine magere Frau und hielt in ihren dürren, fast schon knöchrigen Händen ein verstaubtes Tablett. Sie trug eine altmodische, dunkle Uniform, welche jedoch sehr alt zu sein schien. Ihre Augen standen tief in den Augenhöhlen und ihr Blick hatte etwas durchdringendes an sich. So, als ob sie einem direkt in die Seele blicken würde. Fabian erschauderte bei dem Gedanken, dass sie einfach so seine Seele erkennen könnte. "Wir hatten schon länger keine Gäste mehr in unserem Zug", sagte die Frau zu ihm und lächelte dabei. Zumindest versuchte sie es, aber ihre durchdringenden Augen und auch die Knochen, welche überall aus ihrer Haut hervorzuschimmern schienen, entstellten ihren Gesichtsausdruck zu einer verzerrten Grimasse. Verwundert rieb er seine Augen. Träumte er immer noch? Die Frau verschwand aber nicht und legte stattdessen einfach ihren Kopf schief. Gerade überwand er sich dazu eine Frage zu stellen, da sagte die Frau auch schon: "Ihr müsst von dem Phasenwechsel noch völlig verwirrt sein. Ich werde Euch wohl besser noch für eine Weile hier alleine lassen." Mit diesen Worten drehte sie sich auch schon um und verließ über die Treppe, welche zum unteren Abteil des Zuges führte, den Waggon. Er wollte ihr noch etwas hinterherrufen, doch sein Rachen fühlte sich auf einmal so trocken an und aus seinem Mund kam nicht mehr als ein leises Krächzen. Enttäuscht lehnte er sich wieder zurück in seinen Sitz. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie er sich während des einseitigen Gespräches aufgerichtet hatte. Was war hier nur los? Wurde er etwa verrückt? Das alles konnte doch nicht einfach so wahr sein? Oder etwa doch? Ihm schossen immer mehr Fragen durch den Kopf und als er sich auch noch umsah, fielen ihm immer mehr merkwürdige Details auf. Das Licht, welches von draußen kam, fiel seltsam gedämpft in den Zug ein und auch die Umgebung sah anders aus, als sie eigentlich sollte. Die Bäume und Pflanzen draußen schienen verdorrt zu sein und trugen nur wenige, verkrüppelt wirkende Blätter an ihren knöchernen Ästen. Der Rhein, wenn es denn immer noch der selbe Fluss war, wurde überall von einem dichtem Nebel verdeckt. Während Fabian mit immer größer werdender Verwunderung und Angst die Umgebung musterte, kam der Zug langsam zum Stehen. Und wieder einmal ertönte die knarzende Stimme durch die Lautsprecher: "Wir bitten Sie, diese Unterbrechung in unserer Fahrt zu entschuldigen, aufgrund von einigen... unvorhergesehenen technischen Problemen, müssen wir leider unsere Fahrt für eine Weile unterbrechen. Bitte bewahren Sie Ruhe und bleiben Sie auf ihren Plätzen. Die Fahrt wird in Kürze wieder fortgesetzt." Irritiert stand Fabian auf und befand sich im Begriff die Treppe hinunter zu gehen. Eine dürre Hand schloss sich mit unbändigem Willen um seinen Arm und hielt ihn fest. "Ihr könnt dort nicht hinunter gehen. Wenn Ihr das tut, werdet Ihr nicht in der Lage sein, Euer Ziel zu erreichen!", herrschte die Frau ihn an. Erschrocken drehte Fabian sich um. Wo kam diese Frau denn auf einmal her? Während er sich umdrehte, löste der Junge sich schon fast unbewusst aus ihrem Griff. Endlich fand er auch seine Stimme wieder und antwortete: "Ich muss aber wissen, was hier los ist." Die Frau wollte erneut nach ihm greifen und Fabian wich instinktiv einen Schritt zurück. Genau in diesem Moment fuhr ein Ruck durch den Zug und er geriet ins Wanken. Die Frau öffnete mit einem lautlosen Schrei ihren Mund und versuchte den Jungen zu packen, doch es war zu spät. In einem letzten Reflex griff Fabian nach ihren ausgestreckten Händen. Sein Griff ging jedoch ins Leere und Fabian stürzte hintenüber die Treppen herab.

"Da hinten lebt noch jemand! Los, helft mir ihn herauszuziehen!" Fabian stöhnte schmerzerfüllt auf. Er befand sich inmitten der Trümmer des entgleisten Zuges. Als ihn nach einer gefühlten Ewigkeit einige starke Arme herauszogen, versank sein Bewusstsein ein weiteres mal in Dunkelheit.

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Tag der Veröffentlichung: 20.10.2012

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