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Sehen ohne zu sehen

Wie ein Schatten stehe ich dort. Unbeweglich wie ein Stein. Durch die Dunkelheit bin ich nicht wahrzunehmen. Doch auch ich sehe nicht alles. Meine Sinne sind bis aufs Stärkste geschärft und trotzdem weiß ich, dass ich nicht alles sehe, was in diesem Raum ist. Darin besteht die Aufgabe: sehen ohne zu sehen. Damit gemeint ist bloß, dass wir Dinge wahrnehmen können müssen, auch wenn wir sie nicht sehen. Wie wir alle wissen, können die Spielmacher das Wetter in der Arena beeinflussen. Das Wetter, den Lichteinfluss .. Alles. Und wir müssen vorbereitet sein. Schließlich sind wir Karrieretribute, wir sind fürs Kämpfen und Töten geschaffen. Unsere Aufgabe besteht darin, die Hungerspiele zu gewinnen. Dieses Jahr ist mein Jahr. Wenn ich nicht gezogen werde, werde ich mich freiwillig melden. Und wenn ich in der Arena bin, will ich gewinnen. Gewinnen heißt Überleben. Überleben heißt die Rückkehr in den Heimatdistrikt. Zu seiner Familie und seinen Freunden. Warum ich in die Arena gehe? Wegen der Ehre und des Stolzes, des Ansehens und allen anderen Dingen. Um vorbereitet zu sein trainiere ich im örtlichen Trainingscenter. Seit ich 6 Jahre alt bin, bin ich mit dem Umgang von Waffen vertraut. In den Distrikten 1, 2 und 4 ist es üblich, die Tribute für die Hungerspiele zu trainieren. Ich komme aus Distrikt 2. Wir sind Maurer und haben Steinbrüche, in denen wir arbeiten. Doch seit der Zerstörung von Distrikt 13 sind wir auch für die Waffen des Kapitols zuständig. Unser Distrikt kennt sich am besten damit aus, doch jeder muss lernen. Und so lerne ich heute zu sehen ohne zu sehen.

 

Ich stehe immernoch reglos an der Wand und starre in den Raum. Meine Ohren sind gespitzt und meine Augen reagieren auf jeden Lichtreflex. Ich habe keine Waffen zur Hand, doch ich bin stark. Durch das jahrelange Training habe ich Erfahrung und Kraft gesammelt. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Die Energie gleitet durch meinen gesamten Körper bis in meine Finger- und Zehenspitzen. Das Prickeln tut gut. Ich muss grinsen, weil es so angenehm ist. Dann stoße ich mich von der Wand ab und gehe leise in den Raum hinein. Ich bin bereit. Was oder wer auch immer kommen mag, ich werde es abwehren.

Ich stehe eine gefühlte Ewigkeit wartend in der Mitte des Raumes. Dann sehe ich sie. Die Faust, die mich zu Boden zwingen soll. Doch ich bin schnell und weiche aus. Wer der Angreifer ist kann ich bei der Dunkelheit nicht erkennen, doch es interessiert mich nicht. Blitzschnell kehre ich die Situation um und ziehe meinem Angreifer im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen weg. Mit einem Ruck ziehe ich seine Beine nach hinten und er verliert das Gleichgewicht. Im selben Moment lande ich auf ihm und drücke seine Arme nach hinten. Ich könnte sie ihm brechen, aber jemanden während des Trainings zu verletzen oder gar zu töten verstösst gegen die Regeln. Triumphierend trohne ich auf meinem Angreifer, doch ich habe ihn unterschätzt. Er befreit seine Arme so schnell, dass ich nicht rechtzeitig reagieren kann und schleudert mich von sich. Mit einem dumpfen Geräusch lande ich rücklings auf dem Boden und versuche mich aufzurappeln, doch da ist er schon über mir und drückt meine Arme mit seinen Knien schmerzvoll herunter. Vor Wut beginne ich zu beben und versuche, ihn wegzudrücken. In diesem Moment weiss ich, dass er ein Junge ist, denn er ist unglaublich schwer. Ich höre auf, mich zu wehren und atme etwas schwer. Es dauert einen Moment, bis er realisiert, dass ich aufgebe. Er zögert, weiß nicht, ob ich es ernst meine, könnte sich täuschen. Er überlegt zu lange und ist zu unaufmerksam, denn schon habe ich meine Beine angezogen und ihn von mir heruntergestoßen. Er landet direkt vor mir und ich stürze mich auf ihn. Diesmal landet er auf dem Rücken. Ich blockiere seine Arme mit meinen Händen und drücke seine Beine mit meinen Knien nach unten. Ich hocke auf ihm und nur wenige Zentimeter trennen uns voneinander. Jetzt will ich endlich wissen, wer er ist. Ich warte auf das Signal unseres Trainers, dass es vorbei ist und er den Raum erhellt, doch es passiert nicht. Stattdessen passiert etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet habe. Mein Angreifer beugt sich zwei Zentimeter vor und .. küsst mich!

Total perplex reiße ich die Augen auf und starre geschockt in die Schwärze. Im selben Moment stößt er mich schon wieder von sich und drückt mich zu Boden. Wütend fange ich an zu treten und zu trampeln und gebe animalische Laute von mir. Wer ist er?! Und was fällt ihm ein, mich zu küssen? Doch ich weiß die eine Antwort schon: es war ein Ablenkungsmanöver. Er ist schlau und einfallsreich, das muss ich ihm lassen, aber Filia Tamalf wird nicht ohne Gegenwehr besiegt. Ich sammle meine Kraft, dann versuche ich ihn mit allen Vieren von mir zu stoßen und keuche dabei leicht, doch er ist einfach zu schwer. Wütend und erschöpft sacke ich buchstäblich in mich zusammen und starre nach oben, wohl in sein Gesicht.

In dem Moment ertönt die Hupe und es wird Stück für Stück heller. Zielstrebig sehe ich nach oben und erkenne als erstes den dünnen Mund meines Angreifers. Wieso musste ich auch unbedingt als erstes dorthin sehen? Dann kann ich im schwachen Licht seine Nase erkennen. Mein Blick wandert zu seinen Augen, die noch in tiefen Schatten liegen. Auffordernd sehe ich ihn an, dann ist es plötzlich gleißend hell und ich muss die Augen zukneifen um nicht geblendet zu werden. Nach einer Weile öffne ich sie wieder und sehe, dass seine noch geschlossen sind. Ich kenne ihn nicht. Er hat kastanienbraunes Wuschelhaar und markante Gesichtszüge. Dann blinzelt er und öffnet seine Augen. Sie sind meerblau. Er sieht mich eine scheinbare Ewigkeit an, dann löst sich langsam sein Griff um meine Handgelenke und er lässt zögerlich von mir ab. Er sitzt immernoch auf meinen Beinen, aber er fühlt sich nicht mehr schwer an. Ich richte meinen Oberkörper auf. Auf seinem Gesicht zeichnet sich ein Lächeln ab. Warum zur Hölle lächelt der denn?,denke ich und ziehe fragend die Augenbrauen hoch.

„So lustig?“, frage ich ihn, mittlerweile leicht genervt.

„Nein, ich finde es nur bemerkenswert, dass mich ein so zierliches Mädchen beinahe besiegt hätte.“, er lächelt breiter.

„Aha, cool. Kannst du jetzt mal vielleicht von meinen Beinen runtergehen?“, frage ich und er steht endlich auf, dann reicht er mir seine Hand, um mir aufzuhelfen. Etwas zögerlich greife ich nach ihr und er zieht mich mit einem Ruck nach oben, und zwar so heftig, dass ich gegen seine Brust knalle und wir fast wieder gemeinsam umkippen. Holla, was ist denn heute los?

Unser Trainer Aramos hat wohl bemerkt, dass wir total neben der Rolle sind, denn er kommt zu uns. „Gute Arbeit, ihr Beiden. Niall, du musst lernen, dass es nicht immer ernst gemeint ist, wenn sich jemand ergibt. Und Filia...“, Aramos zögert und findet die richtigen Worte nicht. Beleidigt verschrenke ich die Arme vor der Brust. „Was?“, frage ich spitz. „Du solltest über manche Dinge nicht zu überrascht sein...“, sagt Aramos schliesslich. Bei diesen Worten verraten Nialls Mundwinkel ein unterdrücktes Grinsen. Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu.

„Ihr dürft dann gehen.“, sagt Aramos und drängt mich von Niall weg zum Ausgang. Niall folgt uns mit gewissem Abstand doch ich höre genau, dass er leise kichert, dann trete ich aus dem Dunkelraum in die Eingangshalle des Trainingscenters.

 

Familienbesprechungen

Klackend öffnet sich die Haustür, die ich gerade aufgeschlossen habe und ich trete in den Flur. Ich steige die Treppe hinauf und gehe ins Bad, dann schließe ich die Tür ab und ziehe mich aus, anschliessend trete ich ans Waschbecken und sehe in den Spiegel. Ich mustere mein Gesicht lange und eingehend: die hohen Wangenknochen, der wohlgeformte, volle Mund. Die großen smaragdgrünen Augen mit den langen Wimpern, die Stupsnase und die eindeutig zu grosse Stirn. Ich stehe lange vor dem Spiegel und überlege ernsthaft, was diesen Niall so fasziniert hat, dass er mich so anstarren musste. Schließlich gebe ich es auf, öffne meinen Zopf und schüttele die blonde Mähne einmal durch, dann gehe ich duschen.

 

Anschliessend trabe ich die Treppe hinunter in die Küche und begrüße meine Mutter, die am Herd steht. „Wie war das Training?“, will sie wissen und ich muss schlucken.

„Äh...gut.“, murmele ich und sie dreht sich verdutzt zu mir um. Kein Wunder, denn das ist gar nicht meine Art.

„Ein Kampf?“, fragt mein Vater vom Türrahmen aus.

„Ja.“, antworte ich.

„Hast du gewonnen?“

“Nein...“, sage ich zögernd. „Aber fast.“

„Was ist passiert?“, interessieren sich beide.

„Er hat mich überrumpelt...“, gebe ich zu.

„Er?“, fragt meine Mutter noch interessierter.

„Ja, er heißt Niall. Den Nachnamen kenne ich nicht und ihn auch nicht.“, sage ich leicht genervt. Meine Mutter versteht und hält den Mund. Das Thema ‚Jungs’ war für mich nie wirklich interessant. Ich bin mittlerweile siebzehn Jahre alt und kann mit Jungs nicht wirklich etwas anfangen. Aber wirklich deprimiert bin ich nicht darüber, dass ich meinen ersten Kuss an Niall verloren habe. Schließlich gab es keinerlei Erwiderung meinerseits also gilt er nichtmal als richtiger Kuss, entschied ich. Und ansonsten hätte ich wahrscheinlich sowieso später keinen Kuss bekommen. Aber ich kann schließlich nichts dafür, dass die Jungs aus meinem Distrikt solche Vollidioten sind.

„Was gibt’s zu essen?“, wechsle ich stattdessen das Thema.

„Spagethi mit Tomatensosse.“, antwortet meine Mutter lächelnd. Ich weiß, dass sie mein Leibgericht nicht ohne Grund kocht, denn morgen ist die Ernte. Morgen ist MEIN Tag. Ich werde gezogen oder ich melde mich freiwillig für die Hungerspiele, eins von beiden passiert mit Sicherheit. Ich bin ein Karrieretribut und will dieses Jahr selbst in die Arena. Ich will das Kapitol sehen und alles andere auch. Nur leider muss ich in das Kapitol mit einem Jungen. Und mit Jungs kann ich ja bekanntlich nicht viel anfangen.

 

Als das Essen fertig ist sitzen wir, meine Mutter, mein Vater und ich, gemeinsam am Tisch und machen uns darüber her. Meine Mutter ist eine einzigartige Köchin und das sehe nicht nur ich so. „Also morgen...“, beginnt mein Vater und ich bin sofort hellwach.

„Irgendwelche Tipps?“, will ich wissen. Mein Vater sieht mich besorgt an.

„Die typische Karriero-Strategie könnte dich umbringen, Fil...“, sagt er nachdenklich.

„Warum?“, will ich beleidigt wissen.

„Ich meine, nach dem heutigen Training wissen wir ja, dass du gegen einen Junge in deinem Alter ein Floh bist. Du bist einfach zu leicht und nicht stark genug. Aber das ist ganz natürlich...“, murmelt er verlegen.

„Dann beweise ich dir das Gegenteil. Ich beweise dir, dass ich stark bin und gegen einen Jungen in meinem Alter sehrwohl etwas ausrichten kann.“, sage ich siegessicher.

Mein Vater sieht mich eindringlich und lange an. „Pass bitte auf dich auf.“, sagt er dann voller Vaterliebe. Ich lächle nickend.

„Klar, Dad.“, sage ich und meine Mutter drückt meine Hand. Ich nehme die meines Vaters und so sitzen wir einige Minuten da. Tauschen still Mutzusprechungen aus. Dann löse ich meine Finger und sehe beide an. „Keine Sorge, ihr seht mich doch morgen auch nochmal.“, sage ich und grinse.

„Unternimm doch noch etwas mit Talissia.“, schlägt meine Mutter vor und ich stimme ihr schweigend zu. Ich hatte sowieso vor, mich nach dem Essen mit meiner besten Freundin zu treffen, schließlich gibt es viel zu bereden. „Aber du musst heute früh ins Bett, denk daran.“, mahnt sie noch und ich grinse erneut.

„Klar, Mom.“, sage ich und stehe auf. Ich stelle meinen Teller in die Spüle und verlasse das Haus in Richtung des Viertels, in dem Talissia wohnt. Der Frühling hat schon begonnen und die Schmetterlinge fliegen umher. Das leise Rauschen der Blätter des Waldes nahe unseres Hauses begleitet mich und ich laufe summend los.

Verfolgt

Als ich auf dem Weg zu Talissia bin drehen sich alle meine Gedanken um die morgige Ernte. Wer wird wohl mit mir in die Arena kommen? Bitte, flehe ich, bitte lass es keinen Schwächling sein!

Ich laufe durch die Straßen und komme am Marktplatz vorbei. In meinem Bauch kribbelt es vor Aufregung, doch ich hebe sie mir für morgen auf. Plötzlich höre ich von schräg hinter mir ein leises Knacken. Ich fahre blitzschnell herum und starre in die Dunkelheit, doch da ist nichts. Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe, stecke die Hände in die Taschen meiner Jacke und gehe weiter. Bis zu Talissias Haus ist es noch ein Stück, denn sie wohnt im Gegensatz zu mir im Dorf der Sieger, da ihr Vater ein ehemaliger Gewinner der Hungerspiele ist. Ein wenig neidisch bin ich ihr gegenüber schon, das muss ich zugeben. Aber bald werde ich genausoviel Beachtung und Neid bekommen wie ihre Familie, denn ich werde die Gewinnerin der diesjährigen Hungerspiele sein, da bin ich mir sicher.

Nach einer Weile biege ich in eine ruhige Gasse ein und verlangsame mein Tempo ein wenig. Hinter mir höre ich, wie jemand scheinbar einen Stein mit dem Fuß wegkickt. Ich drehe mich sofort um. Verfolgt mich jemand?, frage ich mich verwirrt in Gedanken. Aber wer sollte mich, ausgerechnet mich, verfolgen? Ich stehe eine Weile da und schaue in die mittlerweile totenstille Gasse, dann schüttele ich den Kopf und gehe weiter. Von Weitem sehe ich bereits die hell erleuchteten Straßen des Dorfes der Sieger und beschleunige meine Schritte. Ich erreiche Talissias Haus schnell, doch die Fenster sind dunkel. Sind sie nicht zuhause? Ich klingele zweimal. Keine Antwort. Enttäuscht drehe ich mich um und gehe zurück auf die Straße und schlage den Weg nach Hause ein. In der dunklen Gasse stolpere ich über einen großen Stein und falle leise aufschreiend zu Boden. Vor Angst kneife ich die Augen zu, doch ich lande weich und öffne meine Augen wieder. Verdutzt spüre ich den warmen, kräftigen Griff eines Jungen um meine Taille. Ich schaue nach oben. Die schwachen Lichtstrahlen aus den Hausfenstern verleihen seinem Gesicht einen goldenen Schimmer. Seine meerblauen Augen mustern mich überrascht. Niall.

Wütend rappele ich mich auf und befreie mich aus seinem Griff.

„Sag mal, verfolgst du mich etwa?!“, fahre ich ihn an.

„Ohne mich hättest du dir wahrscheinlich die Knie aufgeschürft, das käme morgen gar nicht gut an.“, er lächelt leicht. Ich schaue ihn lange an.

„Warum tust du so, als würden wir uns schon ewig kennen?“, frage ich ihn ehrlich interessiert.

„Tun wir. Wir gehen auf dieselbe Schule, ich bin nur eine Stufe höher. Wir sehen uns jeden Tag, Fil. Du hast mich nur nie beachtet.“, sagt er und ich erkenne in seiner Stimme ein leichtes Bedauern.

„Ich hab allgemein mit Jungs nichts am Hut.“, sage ich knapp.

„Merkt man.“, erwidert er. Darauf folgt ein langes Schweigen.

„Du bist kein Arschloch.“, stelle ich laut fest und würde mir dafür am liebsten den Kopf einschlagen.

Er grinst mich an. „Nein und ein Macho auch nicht wirklich.“, versucht er mich zu beeindrucken.

„Ach, und was sollte dann der Kuss von heute Mittag?“, frage ich mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Ein Ablenkungsmanöver.“, er grinst immernoch. Wütend stelle ich fest, dass ich lächeln muss.

„Gut. Ich muss dann nach Hause.“, versuche ich ihn abzuschütteln und setze mich in Bewegung, doch er folgt mir.

„Verfolgst du mich schon wieder?“, will ich wissen.

„Nein, wir wohnen nur zufällig in der selben Richtung.“, antwortet er, doch ich glaube ihm nicht wirklich. Er wirft mir einen langen Seitenblick zu.

„Hab gehört, du willst dich morgen freiwillig melden?“, versucht er ein Gespräch aufzubauen.

„Ja.“, antworte ich knapp und will damit das Gespräch schonwieder beenden, doch er zieht mich am Arm zurück und schleudert mich herum, bis ich ganz knapp vor ihm stehe und nimmt mein Gesicht in seine Hände. Er sieht mich lange an. Die Erinnerung an den Kuss überkommt mich und mein Blick wandert zu seinen Lippen.

„Dann pass auf dich auf, Fil.“, bittet er.

„Hör auf, mich ‚Fil’ zu nennen.“, grummele ich.

„Okay.“, gibt er nach.

 

Wir gehen lange schweigend nebeneinander her, bis ich mein Haus in der Dunkelheit ausmachen kann. Ich krame meine Schlüssel aus meiner Jackentasche und will mich schon zum Haus wenden, doch dann fällt mir Niall wieder ein. Ich drehe mich zu ihm um. Er steht schweigend mit den Händen in den Hosentaschen da und betrachtet mich.

„Dann bis morgen.“, verabschiede ich mich.

„Bis morgen. Schlaf gut.“, sagt er.

Ich drehe mich nichtmehr um sondern schließe die Haustür einfach hinter mir als ich hindurchschlüpfte. Doch ich bleibe lange hinter der Tür stehen und denke über ihn nach. Schließlich schüttele ich den Kopf und gehe die Treppe hinauf in mein Zimmer und ins Bett, doch ich kann lange nicht schlafen. Alle meine Gedanken wirbeln wild umher. Doch irgendwann zieht mich die Erschöpfung in einen unruhigen Schlaf ohne Traum.

Die Ernte

Etwas Warmes streichelt meine Wange. Langsam öffne ich die Augen und stelle fest, dass es die warme Morgensonne war, die mich geweckt hat. Seufzend stehe ich auf und gehe ins Bad. Als ich in den Spiegeln schaue trifft mich fast der Schlag: Meine Augen liegen in dunklen Schatten und ich habe so blasse Haut wie Schnee. Geschockt schnappe ich nach Luft. So kann ich doch nicht zur Ernte gehen! Ich steige unter die Dusche und schrubbe alle Anstrengungen, Sorgen und Zweifel von mir ab. Natürlich werde ich in diesen wunderbaren 33. Hungerspielen siegen! Da gibt es gar nichts anzuzweifeln. Mit diesem siegessicheren Gedanken steige ich aus der Dusche und nehme sämtliche Schönheits-Rituale durch. Als ich endlich fertig bin, sehe ich überhaupt nicht mehr müde aus. Nein, ganz im Gegenteil: Ich sehe aus wie ein Engel. Zufrieden ziehe ich mir meine besten Klamotten an: ein goldenes Cocktail-Kleid und ebenfalls goldene High-Heels. Meine Haare stecke ich zu einer eleganten Hochsteckfrisur hoch. Ich betrachte mich im Spiegel und muss lächeln, denn ich sehe toll aus. Perfekt für meine wichtigeste Ernte.

Ich gehe die Treppe hinunter in die Küche und werde sofort mit den Komplimenten meiner Mutter konfrontiert. Dankend nehme ich einen Teller mit zwei Pancakes an, setzte mich an den Küchentisch und beginne zu essen. Mein Vater kommt dazu und gemeinsam frühstücken wir. 

 

Später gehen wir zusammen zum Marktplatz. Schon als ich ihn nur von Weitem sehe, beginnt mein Bauch vor Aufregung zu kribbeln. Am Marktplatz trenne ich mich von meinen Eltern, die mir ein letztes Mal Glück wünschen und lasse mich bei einem Beamten des Kapitols registrieren. Ich strecke ihm meinen Zeigefinger entgegen und er sticht mit einer dünnen Nadel hinein, danach lässt er das Blut in ein Register tropfen und fährt mit einem Scanner darüber. Aus dem Scanner dringt eine elektronische Stimme: „Filia Tamalf, siebzehn Jahre.“. Der Beamte schickt mich weiter und ich werde von einem Friedenswächter in ein abgezäuntes Areal geführt, in dem sich die siebzehnjährigen unseres Distrikts befinden und auf die Verlosung der diesjährigen Tribute warten. Ich stelle mich zu Talissia.

„Hey“, sagt sie.

„Hi, wo warst du denn gestern Abend?“, frage ich. 

„Wir haben bei meinen Großeltern gegessen..“, antwortet sie.

„Sag mal, du hast nicht vor, dich freiwillig zu melden, oder?“, frage ich zögerlich. Ich wüsste nicht, wie sauer ich wäre, wenn sie sich schneller melden würde als ich. Und ich wollte auch keinen Streit mit ihr.

„Nein, erst nächstes Jahr.“, sagt sie und ich entspanne mich. „Aber du.“, sie zwinkert mir zu und ich nicke verlegen.

Dann betritt die Betreuerin unseres Distrikts, Tiffany Queen, die Bühne und unser Gespräch verstummt abprubt.

„Willkommen, Willkommen!“, flötet sie in ihrem typischen Kapitolakzent und einem strahlenden Lächeln im Gesicht. Wie immer trägt sie eine ihrer heiß geliebten Perücken. Diesmal ist es eine Knallgrüne und dazu eines dieser Kapitolkostüme in einem dunkleren Ton.

„Nun ist es wieder soweit! Ein Jahr lang habt ihr gewartet. Doch nun, ist es endlich wieder an der Zeit, einen mutigen jungen Mann und eine mutige junge Frau auszuwählen, die die Ehre haben werden, Distrikt zwei bei den 33. alljährlichen Hungerspielen zu vertreten!“, aufgeregt klatscht sie in ihre behandschuhten Hände. „Doch vorher...“, ihre Stimme senkt sich ein wenig. „...Möchten wir euch einen kleinen Film zeigen, direkt aus dem Kapitol gesandt für euch! Vorhang auf für die Geschichte unserer geliebten Hungerspiele!“, ruft Tiffany strahlend und breitet ihre Arme theatralisch gen Fernseher aus.

 

Eins gab es ein Land namens Nordamerika., tönt es aus den Lautsprechern und auf dem Bildschirm erscheint verdorrtes Land., Dürren, Feuer und Fluten, Hurrikane und Tornados suchten es heim. Grausame Kriege entbrannten um das Wenige, das zum Leben noch geblieben war. Die Erde war wüst und verbrannt, die Menschen verängstigt und ohne Hoffnung., auf dem Bildschirm kann man eine schrecklich dünne Familie sehen, die durch eine verwüstete Stadt läuft., Doch aus Trümmern und Asche erhob sich die Nation Panem – ein Kapitol umringt von dreizehn Distrikten -, und viele Generationen lang lebten ihre Bürger in Frieden und Wohlstand., der Fernseher zeigt die Familie von vorher in edler Kleidung und mit strahlenden Gesichtern., Dann kamen die Dunklen Tage: Die Distrikte erhoben sich gegen das Kapitol, und der Schatten eines schrecklichen Krieges fiel auf das strahlende Licht unserer Nation., fliehende, weinende und sich fürchtende Menschen erscheinen als Großaufnahme auf dem Bildschirm, im Hintergrund hört man Bombeneinschläge., Sie lehnten sich auf gegen das Land, das sie nährte, liebte und beschützte. Zurück blieb eine Spur der Verwüstung: Elternlose Kinder irrten durch die Straßen., auf dem Bildschirm kauert ein dürres Kind in einer dunklen Gasse und nagt an einem winzigen Knochen., Das Land drohte zu zerbrechen. Auf einen langen erbitterten Kampf mit unzähligen Toten folgte endlich der Friede. Zwölf Distrikte wurden unterworfen, der dreizehnte ausgelöscht., uns wurden die Ruinen von Distrikt 13 auf dem Bildschirm gezeigt., Nach dem Sieg über die Rebellen schwor unsere Nation, nie wieder solchen Verrat zu dulden. Darum wurde ein Hochverratsvertrag mit neuen Gesetzten zu Sicherung des Firedens unterzeichnet., auf dem Bildschirm sieht man, wie Präsident Snow, der damals deutlich jünger war, einem anderen Mann, der von Firedenswächtern festgehalten wird, einen Zettel hinlegt und dieser diesen unterzeichnet., Doch die Dunklen Tage sollten niemals in Vergessenheit geraten, und so wurde den Distrikten auferlegt, in jedem Jahr an einem festgelegten Tag einen tapferen Jungen und ein tapferes Mädchen zu opfern und sie als sogenannte Tribute in einen Wettkampf um Ehre, Mut und Opferbereitschaft zu schicken – die Hungerspiele., Ausschnitte aus vergangenen Ernten werden auf dem Bildschirm gezeigt., In einer großen Freilichtarena müssen diese vierundzwanzig Tribute gegen ihre Mitspieler und die Natur ums Überleben kämpfen. Der einsame Sieger soll uns in jedem Jahr an die verzeihende Großmut der Nation erinnern., auf dem Bildschirm erscheint nun ein Finalkampf in einer der Arenen der letzten Spiele., Es ist eine Zeit der Reue und eine Zeit der Danksagung. Wir gedenken unsere Vergangenheit. Wir sichern unsere Zukunft., Der Bildschirm wird schwarz und der Film ist zuende.

Tiffany Queen trippelt erneut zum Mikrofon und klatscht begeistert. „Und nun...zu den Tributen!“, ruft sie sichtlich aufgeregt. „Wie immer, Ladies first!“. Ich bin sofort hellwach und beobachte sie ganz genau. Sie trippelt zu der Glaskugel mit den Mädchennamen, greift tief hinein und zieht einen kleinen, quadratischen Zettel heraus. Sie geht zurück zum Mikrofon und faltet den Zettel quälend langsam auseinander. Dann verliest sie mit klarer Stimme: „Talissia Howarts.“. Talissia stößt mich schon bei der Verlesung ihres Vornamens von der Seite aus mit ihrem Ellebogen an. Sie will, dass ich mich melde. Sofort schießt meine Hand nach oben, obwohl ich mich unwohl fühle, meiner besten Freundin den Platz wegzunehmen.

„Ich melde mich freiwillig!“, rufe ich nur wenige millisekunden vor einem anderen Mädchen. Wütend sieht sie mich an. Tiffany deutet von der Bühne auf mich und ruft mich zu sich. Ich sehe Talissia kurz von der Seite an, doch sie nickt mir nur zu und ich lächle sie dankbar an. Die Menge bahnt mir einen Weg zur Bühne und hocherhobenen Hauptes stolziere ich in meinen High-Heels zur Bühne. Dann steige ich die Treppen hinauf zu Tiffany und reiche ihr die Hand.

„Dein Name?“, fragt sie.

„Filia Tamalf.“, antworte ich.

„Dann wollen wir doch mal sehen, wer mit dir in die Arena kommt, Filia!“, ruft Tiffany begeistert und greift in die Glaskugel mit den Jungennamen. Sie zieht den ersten Zettel, den sie kriegen kann hinaus und verliest ihn mit klarer Stimme: „Jeelan Fellok!“. Ein zwölfjähriger Junge wird hervorgeschoben.

Sofort ruft jemand aus der Menge: „Ich melde mich freiwillig!“, weitere Meldungen folgen, doch Tiffany pickt den Jungen heraus, der sich als erstes gemeldet hat. Ich beachte ihn nicht sondern sehe Talissia an, die mir den gehobenen Daumen entgegenstreckt. Ich muss fast grinsen.

„Wie ist dein Name?“, reißt mich Tiffany aus meinen Gedanken. Ich denke zuerst verwirrt, ich bin gemeint, aber sie meint offentsichtlich meinen Mittribut.

„Niall Femok.“, sagt er und ich starre ihn an. Niall?! Warum habe ich ihn nicht erkannt? War ich wirklich so vertieft in Talissias und mein stilles Mutmachspiel? Er sieht mich lange an. Am liebsten würde ich sein Gesicht mit meinen Fingernägeln zerkratzen. Wie war das noch gleich gestern? ‚Pass auf dich auf’? Was ist bloß mit diesem Typen los?!

„Meine Damen und Herren! Unsere diesjährigen Tribute Filia Tamalf und Niall Femok!“, ruft Tiffany und ich starre Niall immernoch an. „Gebt euch bitte die Hand.“, bittet Tiffany und Niall reicht mir ohne ein Wort seine Hand. Als ich ihm zögerlich die Hand gebe ist sein Händedruck warm und fest. Ich reiße ihm meine Hand weg und er zieht seine ebenfalls zurück. Dann kommen die Friedenswächter und bringen uns in das Justitzgebäude hinter uns, je in einen Verabschiedungsraum und ich warte alleine auf meine Familie und Talissia.

Impressum

Texte: Robea Schlegel
Bildmaterialien: Severina001 (Cover)
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Emma.

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