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Günter war frei. Endlich hatte er die Arbeit im Labor abgeschüttelt. Das Erwerbsleben, manchmal zerknackt es den Menschen. Im Ansturm der Glasröhrchen war Günter müde geworden. Der Druck der Zumutungen hatte ihn sachte verformt. Wie er eigentlich war, ein bunter Vogel mit munteren Einfällen, - keiner wußte es, keiner wollte es wissen. Sie hatten sein "Gehirn gemietet". Sie zogen Nutzen aus seinem Spektrum. Dreimal hatte er gewechselt. In jedem Labor warfen sich ihm andere Aufgaben in die Arme. Zeitweise, wenn der Chemiker ausfiel, lief alles auf Günter zu. Auch sonst war er unentbehrlich. Am Ende, er konnte keinen abweisen, versagten seine Augen. Erst war das Blickfeld eingeengt, dann wurde es dunkel.

Er nannte mir den Namen dieser Krankheit. AUMAUROSIS FUGAX. War es ein Akt der Selbstrettung? "Vergaß" er eines Tages, wie man genau hinsieht? Als er exakt in der blendenden Helle der Untersuchungslampe dasaß, hatte seine Seele sich da geweigert, alles hereinzulassen, jenes "alles" , jeweils ohne jede Beziehung zum Eigentlichen? Ja, die Dinge, um die es geht.

Wir trafen uns in Harvestehude, wo sich nach zwei Nebenstraßen die Außenalster dehnt. Welchen freien Blick hast du auf die winddurchwehte Stadt. Mittelweg, Institut für Sozialwissenschaft, unser Treffpunkt. Es ging um Walter Benjamin, eine Ausstellung, die ich mit Günter besuchen wollte, er war am Telefon sofort auf meinen Vorschlag eingegangen. Günter der Laborant, ja war er das? Er war im Gespräch ein Spötter und Gaukler und auf dem Papier: ein Schreibender. Er war ein Schriftsteller, mit dem Doppel- und Widersinn begabt, dem Schaukel-Denken, der Kipp-Phantasie, der Ambivalenz der Dinge und Menschen.

In seinen Geschichten gab es das Lächeln und auch das Gelächter: es ging um etwas, das hinter den Menschen und Dingen ist. Im Text baute er das Skurrile erst langsam auf. Wann wurde "es" hinter- und untergründig? Er ließ es, jenes »es« nicht "plötzlich" heraus. Der Leser wußte immer den Augenblick nicht, wann: bis dann das mit Spaß durchwirkte Entsetzen mit einem mal nackt und bloß dalag.

Nach der Ausstellung, es war kalt, suchten wir einen warmen Platz. Günter betrat als erster das Künstler-Café an der Milchstraße. Er schob sich, leicht schief, den Kopf keck etwas nach oben und zur Seite gebogen, hinein. Er suchte für uns einen Platz aus: im nahezu privat und künstlerisch ausgreifend möblierten Hinterzimmer. Wir versanken in Sesseln von Büffel-Leder, um uns der Hauch von Afrika, von Weltstadt, von Ambiente und Flair. Die Musikhochschule um die Ecke. Die Nachrichtenzentrale - dpa - schräg gegenüber.

Günter war nicht groß. Er war schmal, fast ein Sporttyp, sehr beweglich. Was mir gut gefiel: sein schmales Jungengesicht mit den aufmerksamen, vogelartig plinkenden Augen. Sie waren schmal eingebettet. "Etwas sehr verkürzt", hätte mein Zeichenlehrer gesagt, wenn ich sie so wie sie waren zu Papier gebracht hätte. Ein volles Auge, wie er selbst es hatte, wünschte der Meister, der nun allerdings sogenannte Glupsch- oder basedowsche Augen und eine Fettnase hatte, fleischig und großporig, an der er seinen Daumen rieb, wenn er bei Bleistift-Skizzen Halbtöne und Schattierungen benötigte, es kam auf dem Papier zu toll-changierenden Nasenfett-Tönen im Strich, die ihm keiner nachmachte.

Aber zurück vom Zeichenmeister Dr. Brüning zu Günter. Er war in seinem eigentlichen Leben Satiriker. Ja, er schrieb freche, kühl-gekonnte Menschenbilder. Er erzählte vom grausam Alltäglichen in einer erst erheiternden Weise.

Dann gab es bei fortschreitendem Text im Halse des Lesers ein Kratzen und weiter unten im Magen das Rumoren und Raunen zunehmenden Drucks: Lebens-, Daseins-Beklemmung als Kind einer abstrusen Welt.

Günter war Autodidakt. Mit ganzen oder abgebrochenen Semestern konnte er nicht aufwarten. Er lernte arbeitend. Im weißen Kittel, frisch und knarrend, stand er 39 Jahre im Labor und diente den Dämpfen und Geistern der Chemie. Wie er jetzt Milch in den Kaffee gab und dabei abmessend blinzelte, konnte ich ihn mir gut mit einer Pipette denken. Ich erzählte ihm, sprunghaft, wie ich bin, daß die Milchepumpe italienisch »la pompetta di latte« heiße.

Im Café an der Milchstraße kamen wir von der einer Menschenmutter abgezapften Milch auf das Werden und Vergehen. Wir sprachen von Zeugung, vom Liebesakt, auch wenn dieser ja in der modernen Welt überwiegend frucht- und damit ziellos bleibt. Ist nicht, fragten wir, der Vollzug der Nähe immer eine Leistung? Wir sprachen darüber, wie man eine Frau findet. Welche Aufregung es damals für uns 18jährigen war, überhaupt einmal in diese Ecke des Lebenshauses zu gelangen. Wir nannten es die »intime Abteilung«. Jean Paul der Poet und anfangs Hungerleider schildert, daß sein Freund auch deshalb Medizin studierte, weil er in Halle als Student das erste Mal die Geschlechtszone einer Frau berühren konnte. Da fällt freilich im Brief ein ganz drastischer Ausdruck.

Hier kamen wir auf Fred, der sich im Laufe des Lebens immer mehr ins Kleine orientierte. Erst nahm er sich eine Mini-Wohnung, durch die er zu einer Puppeneinrichtung kam. Viele Sachen konnte Fred einfach nicht aufbewahren. Wirklich groß war deshalb die Mülltonne, für die er einen Zuschlag zahlte. Und mehr als drei Bücher aus der Stadtbibliothek holte Fred sich nie. Aber eine Frau brachte Fred schließlich in der Wohnung unter. Eine Frau, die ihm auch im Hinblick auf seine Unterordnungsbedürfnisse entgegenkam. Sie ließ ihren Namen ins Telefonbuch setzen. Eine Katze schaffte sie an, was für den Tagesablauf besondere Zurüstungen forderte. Fred machte den Abwasch, ging zum Supermarkt, - auch ihr Seelenleben ordnete er, indem er die ganze Vergangenheit der kleinen Frau in ein großes Heft schrieb. Sogar für Vodoo-Zauber war Fred zu haben.Oft wurden Todesanzeigen gemalt oder Papierpuppen verbrannt. Durch solche Ventile: die Frau, die Katze, die gezündelten Puppen, verschaffte sich Fred immer wieder Luft und neue Lust.

Dann wechselten wir von Fred zu Robert und Elise, sie waren immer beschäftigt, weniger mit sich als mit zwei Campingwagen und ihrer Eigentumswohnung mit Hochglanzspüle. Günter meinte, daß in der Ehe noch vieles zu vollziehen war. Er wünschte ihnen, als sie kürzlich aufbrachen: »Lebt nett zusammen«. Robert war der Mann, der immer erschrocken blickte, wenn man ihm eine Tasse hinstellte und der im Drang nach Sauberkeit jedes Hotelzimmer mied, wodurch er zum Camping-Reisenden wurde mit einem für seinen Lisol- und Keimfrei-Geruch bis nach Passau bekannten Wagen.

Ach ja, Robert tat sich generell schwer. Er lief mit kurzen Schritten immer gern einmal wieder ins "Aus". Aber er erreichte, daß andere die Dinge für ihn erledigten. Er war bequem. Sein Selbst war unangreifbar, - nie in Frage gestellt. Von ihm galt, daß ein einzelner imstande ist, durch seine bloße Art allen Leuten, die mit ihm zu tun gibt, Schuldgefühle einzuimpfen.

Wenn nämlich im Umgang mit Robert aber auch gar nichts klappte, was geschah dann? Der Verursacher aller Pannen merkte nichts. Als Sündenbock fiel Robert aus. Robert blieb auch im Chaos nichts weiter als er selbst. Wir, seine Freunde, stehen im Banne seiner statischen Aufladung: »Ich-Robert-glücksgefangen-in-meinem-Ich«. Wir andern, wir ernten Schuldgefühle, daß wir ihm keine besseren Freunde sind.

Wir kennen Robert seit 30 Jahren. "Mir ist nicht alles erreichbar", sagt Robert. Da sind Bescheidenheit und Verzicht. Oder ist es sanft plätschernde Resignation?

"Ich bin", erklärt Robert uns, "als Kind nicht sogleich gewachsen. Ich war schwach und langsam. Meine Mutter hat mich vor der Welt und vor Schmutz gewarnt. Wie man auf Schritt und Tritt sauber bleibt, das hat meine Mutter mir gezeigt. Ihr Spruch, den ich mir gemerkt habe, war: WER DURCH SÜMPFE GEWATET IST, KANN KEINE TEMPEL MEHR BETRETEN."
Nur einmal sah ich Robert an einer Grenze. Er blickte zwei volle Stunden lang über den Zaun. Er sah sich mit mir den Film DAS SCHWEIGEN an. Diese Fülle der Qual, diese aufgewühlte Lebens-Pein und -Lust. Das war das eine Mal, daß ich Robert lebendig sah.

In der Lebens-Beschränkung hielt Robert sich wacker. Er war als Freund selbstbewußt und ausdauernd, mit Pausen. Wenn er nach langer Zeit auf mich anrief, sagte er: "Wilhelm, ich will von Dir einmal wieder Nutzen ziehen." Voller Wärme, fragte ich ihn: "Was hast Du auf dem Herzen?" Roberts Antwort: Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.

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Tag der Veröffentlichung: 24.04.2009

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