Der See, auch wenn es meinem Chef nicht paßt, zieht mich an. Weit hinunter gehe ich, so dicht ans Wasser wie möglich. Hans, als dein Doktorvater sage ich es dir, du hast einen Sprung in der Schüssel. So Prof. Butenschön. Dabei weiß er, daß man diese Kräfte messen kann. Ich klappe das KINEMETER auf und richte es auf den See. Schräg nach unten. Ich spüre Kräfte. Das Kinemeter zeigt sie an. Auf dem Display klettert der McH-Wert eifrig, heute bis 7,07 nanoMcH (nach Ellister McHaunty). Dann bewegt sich nichts mehr. Mir ist kalt. Eigentlich seit damals, als es geschah. Ich erzähle der Reihe nach.
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Es begann mit dem Kongreß in Oberwasser. Mein Chef nahm mich aus der Hauptstadt im Wagen mit. Hans, wir haben ein Problem. Die Exponate müssen aktiviert werden, eine Stunde vor der .Präsentation. Wir sind auf das Labor angewiesen.
Wir näherten uns der Grenze. Eine niedrige, feuchte Landschaft. See lag an See. An den Ufern, ringsum, Weiden mit Kugelköpfen. Sie strecken ihre Äste wie Finger in die Luft. Hier gibt es sie noch. Im Haus spukt der Buzemann unter dem Dach, und im See lebt eine Wasserjungfrau. Undine, aus dem See steigt sie an Land, wählt sich einen Menschenmann, für eine kurze Weile bis zum schlimmen Ende.
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Wir erreichten unseren Bestimmungsort. Im Tagungsraum sah ich später ein ganzes Bord mit Büchern über den Landstrich und seine Unheimlichkeiten. Butenschön hatte es eilig. Wir gingen in das Labor, drei Arbeitsplätze, Blick auf den See. Mein Chef öffnete seinen Metallkoffer. Wer von Ihnen traut sich das zu?
Zwei langbeinige Mädchen starrten uns an. Dabei waren sie aus der Hauptstadt. Auch die Dritte sprach nicht. Sie war klein und dunkel. Mir, dem Systematiker, gelang es nicht, sie einzuordnen. Sie war, das sah man, aus der Gegend. Später erfuhr ich: Aus dem letzten Dorf kam sie, dicht vor der Grenze, unten am See.
Sie sah nicht Butenschön, sie sah mich an. Sie sprach nicht. Sie nahm die Exponatsträger aus dem Koffer. Der Chef gab ihr den Sicherheitsbehälter. Silbrig schimmerte das Metall. Licht kam von der Speziallampe, nicht von draußen. Über dem See stand die Luft in milchigen Streifen.
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Mit dem Mundschutz sah sie aus wie eine, die dazugehört. Kraft hatte sie. Ohne Werkzeug, mit bloßer Hand öffnete sie den unter Vakuumdruck verschlossenen Zylinder mit den Proben. Als Butenschön ihr Anweisungen gab, arbeitete sie ohne Zögern und fast ohne hinzusehen. Blickte durchs Fenster auf den See. Vor ihr in drei Schalen die Nährlösung. Wie exakt sie portionierte: Tropfen für Tropfen fiel, nach knappem Fingerdruck. Die Pipette bewegte sich nicht, nur der Gummibalg.
Perfekt, sagte Butenschön. Er bat sie, ihm bei der Präsentation im Plenum zur Hand zu gehen. Sie stand, die Fremde im Team, unbewegt. Wie klein sie war.
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Die Tagung lief ab. Begriff ich, was geschah? Sie, im Hemd der Pioniere, den Kragen weit aufgeschlagen, machte Fotos von allen. Sogar beim Referat des Frauenhofer-Preisträgers kam sie nach vorn. Frech fand man das, wie sie halb auf dem Tisch liegend ihre Bilder blitzte.
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Der Vortrag rauschte an mir vorüber. Reflektorisch zuckte ich im Blitz-Rhythmus mit. Sah auf sie, die nun ins Labor ging. Mit den Exponaten zurückkam. Noch in der Tür und auch später traf mich ihr schneller Blick. Dunkles Zentrum im Augenweiß. Schwarze Strippchen wippten ihr in die Stirn. Sie sah wie ein Junge aus.
Ich dachte an den Waldgeist im Sommernachtstraum. Dieses Zwiegeschöpf. Jedes Ding bekam einen Kick. Beim Eishockey springt der Puck auch so über das Feld, ohne Schwerkraft.
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Ich will von der Insel sprechen. Es geschah am Ende der Tagung. Sie drängte sich in die Teeküche. Tschuldigung. Kehlig sprach sie. Sie griff sich ins nasse Haar. War schwimmen. Die Worte kamen gequetscht. Sie stand tatenlos. Hielt die Tasse. Unentwegt, bezwingend, sah sie mir in die Augen.
Ich schlug ihr spontan ein Treffen vor. Jetzt hatte meine Stimme das Kratzige. Ich dachte an Babelsberg, wo ich bereits ähnliche Dinge arrangiert hatte. Nicht dort, sagte sie. Treffpunkt: Die Insel.
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Ich fuhr los. Hinter Oberwasser ging es immer weiter abwärts. Dann kam das Schild, schwarz auf gelbem Grund, UNTERWASSER. Ich war am Ziel. Mehr hatte sie mir nicht gesagt. Nur mich gewarnt: Geben Sie acht, der See ist tief. Warten Sie auf mich auf der Insel. Ich werde von der anderen Seite kommen.
Ich quartierte mich im Gasthof ein. Als erstes ging ich zum Ufer. Alles war zugewachsen. Wo das Schilf sich öffnete, sah ich sie mitten im See: Die Insel. Mit Gebüsch, Bäumen, Gestrüpp, Flächen und Wald. Vorn ein Streifen Sand, Inselufer, gelb. Die Sonne stieg.
Im Gasthof schickte man mich zu Fischer Bollmann, der mir den Kahn zeigte. Ziemlich groß, sagte ich, wir sind nur zu zweit. - Na, sagte er, ich lege ihnen ein paar Kissen hinein. Er grinste. - Drüben auf der anderen Seite, was ist da? - Der Fischer kniff die Augen zusammen: Da gibt es nur Quicken, Sand und dann kommt Heide. Da wohnt keiner.- Und auf der Insel? - Bollmann grummelte, spuckte seinen Priem aus: Da sind nur Schweine.
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Vom Wirt hörte ich, daß die Dorfjungen ein Geheimnis haben. Auf der Insel im Unterholz wachsen sonderbare Pilze. Sie haben Knollköpfe, häßlich ausgestülpt. Bei manchen sind die Stengel hohl, schlauchig. Feuerrote gibt es, aber auch leichenblasse, giftgelbe. Gruselig die länglichen Totentrompeten. Die Jungen sind aber auf nur einen Pilz aus. Es heißt, er drehe den Mädchen das Herz um. Selten ist er, und wer ihn mit dem Messer schneidet, der verdirbt ihn. Ausgegraben, schwillt er an, ein richtiger Protz-Stulpen. Aber die Wirkung bleibt erhalten. Nur sieben Sudtropfen vom Höswurz oder Knabenkraut, und du erliegst dem Liebeszauber.
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Ich stand auf der Insel und schaute zum anderen Ufer. Ach, die andere Seite. Nichts tat sich. Ein Ausflugsboot kam vorbei. Mir wurde die Zeit lang. Ich hörte ein Wassergeräusch. Mit der einer Hand ruderte sie. In der anderen hielt sie ein Plastikbündel hoch. So schwamm sie heran. Sie sah mich längst. Auch die letzten Meter blickte sie mich an. Stieg an Land. Ich sah, wie reizvoll sie war. Ihr Gang ohne Schwerkraft. Große, wasserhelle Augen. Die Haut dunkel. Ich sah ganz anders als meine Eltern aus. Sie haben mich weggegeben, sagte sie.
Sie breitete sich in der Sonne hin, lag im Licht, nackt, voller Leben. Dicht rückte sie heran, sie duftete wie die Meeresfrüchte, die ich bei San Angeli gesehen hatte, auf der kleinen Fischermole. Oder was für ein Duft war es? Ein Geruch von weit her.
Ich hielt ihre Hand, faßte ihren Arm. Wie kalt sie war. So bin ich immer, sagte sie und schüttelte sich das Wasser aus dem Schopf. Die Tropfen rannen ihr von der Nase auf den bewegten Mund. Ich schaute immer hin, immer drauf, auf dies Lippenpaar.
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Ich wich zurück. Sie mit ihrem kurzen Leib, in sich gespannt wie eine Kugel, hatte schwingende Kraft. Sie zog mir die Unterlippe in die Länge. Sie küßte mich. Nicht im Zusammenschluß der Münder, sondern irgendwie einzeln. Sie schaffte es, mir unten Luft zu lassen. Ein Ziehen und Gezogenwerden. Ich geriet immer mehr zum Ufer. Im Rutschen, im Gedrücktwerden schauderte meine Haut.
Von ganz woanders, schien mir, kam ihre Stimme. Zur Insel mache ich dich. Kurzbeinig, umschlang sie mich gänzlich. Ich lag wie in einer Höhle von Eis. Sie nahm mir Wärme. Sie verflüssigte sich. Sie floß in mich hinein, mischte sich in mein Blut. Dann, stoßweise, schwamm sie bis in mein Herz.
Es tat weh. Zugleich war mir unendlich wohl. Sie ließ ihre Kraft an mir aus. Licht war in der Umschlingung. Sie sprach. Die letzte Landzunge, sagte sie. Sie speiste mir Energie zu. Sie nahm mir die Luft. Ich fiel aus Raum und Zeit. Drehte mich, fiel in Wirbeln, traf auf einen Grund, Schneefeld: ich, von Licht überschüttet nach langem Winter.
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Ich erwachte, hörte ihre unentrinnbare Stimme: Die Sonne! Gut für dein Sensorium. Sie faßte mich mit den Schneidezähnen. Ein Lebensvorrat, sagte sie, ein Guthaben. Eine Insel bist du jetzt. Unerreichbar. Ohne Landverbindung.
Dunkel roch sie, nach Untergrund. Geruch des Modders, in den hineinsinkt, was in der Höhe bricht. Sie war eifrig. Ganz naß machte sie mich mit dem, was ihr aus dem Munde lief. Nun wußte ich, es war, was aus aus dem Boden der Tiefe nach oben kommt.
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Das Ende war traurig. Sie wollte nicht in mein Boot. Ich hatte es vorsorglich für zwei Tage gemietet. An patschnasser Hand zog sie mich zum kleinen See in der Mitte der Insel. Im Schatten, schwarz, lag er unter Bäumen. Unergründlich in seiner Stille und Tiefe. Ich kühle mich ab, rief sie. Belustigt, trotzig ihr Blick. Strippchen wippten ihr über die Stirn. Sie sprang.
Die Spannung, Hans! So rief sie. Dann glitt sie hinab, verschwand.
Lange stand ich noch. Sah aufs Krummholz der Eberesche. Schwarze Wülste. Langwurzeln. Sie richteten sich auf. Bogen sich nach mir hin.
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Als ich den Kahn zurückgab, holte Bollmann die Kissen heraus, trug sie in den Schuppen, schob sie ins Wandschapp. Links davon ragte an verrostetem Haken eine Baumwurzel in den Raum. Kreuz-quer verschlungenes Schwarzholz, knollig und verwarzt. Wilde Wurzel, Greiferin.
Ich wich zurück. Bollman legte mir die Hand auf die Schulter. Er wies mit dem Kopf hinaus. Die Angst hielt mich fest. Zuerst sah ich nur den See. Und dann, in seiner Mitte, ohne Landverbindung, drohend Gebüsch, Baum, Strauch, Zeigefinger gegen den Himmel, die Insel.
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2008
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