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PROLOG



Wir sind gerade auf dem Weg ins Krankenhaus St. Joseph.
Mama liegt seit langem darin, denn sie hat weit vorausgeschrittenen Krebs. Nun wird sie mit lauter Chemotherapien behandelt – aber ich weiß, dass es nichts mehr hilft; ich habe es im Gefühl, dass die Ärzte keine Chance mehr haben, sie endgültig zu heilen.

Eine Krankenschwester hat uns vor kurzem angerufen und gesagt, wir sollten schnellstmöglich kommen. Den Grund weiß ich nicht, sogar Papa hatte die Schwester keine Antwort gegeben. Er ist fast ausgeflippt, hat mich und meine kleine Schwester ohne Worte ins Auto gesetzt und ist ohne Anschnallen losgefahren.
Als wir ihn fragen wollten, was denn los sei, hat er nur gedankenverloren und ernst in die Ferne geguckt.
Ich glaube, er denkt, dass Mama tot ist. Ehrlich gesagt, vermute ich es auch, auch wenn ich es nicht wahrhaben will.

Ich weine nicht, ich sitze nur hinten im Auto und gucke aus dem Fenster.
Meine Schwester Leni atmet schwer und guckt mit einem Geisterblick durch die Fußmatte und den Autoboden auf die Straße. Sie sieht fast so aus, als würden im Inneren ihres Kopfes Bilder ablaufen, die niemand sehen wollen würde. Sie tat mir leid.

Kaum sind wir am Parkplatz, springt Papa aus dem Wagen, knallt die Tür zu und geht mit Schnellschritt auf den Empfangsschalter des Krankenhauses zu. Leni und ich beeilen uns nachzukommen. Inzwischen ist Leni in Tränen ausgebrochen.

Langsam und mit zittrigen, schwitzigen Händen drücke ich die Klinke zu Mamas Zimmer auf. Im Bett liegt Mama mit geschlossenen Augen, daneben sitzt eine Ärztin.

Ich erwarte das Schlimmste.

Leni rennt krächzend zu Mama. Ich glaube, sie will schreien, aber sie bekommt keinen Ton heraus. Sie schmeißt sich um Mamas Hals. Papa und ich stehen einfach nur im Vorraum.

Als Leni sich von Mama löst, passiert etwas, was mir nicht mal im Traum eingefallen wäre.

Mama wacht auf!

Die Ärztin flüstert nur zwei Sätze, als sie aus dem Zimmer geht: „Sie hat geschlafen.Sie liegt im Sterben.“
Jetzt dachte ich mir im ersten Mal in meinem Leben: Heilige Sch****, Kacke verdammte und so was wie fuck...

Ich gehe mit Papa zu Mama und stelle mich neben das Bett. Papa kniet sich daneben und drückt Mamas Hand so fest, dass sie schon fast blau anläuft.
Mama drückt zurück, hat aber nicht genügend Kraft, es so zu halten und ihre Hand wird wieder schlaff.

„Ihr wisst; das Leben geht weiter.
Auch ohne mich.
Macht das, was euch Spaß macht
und verschwendet nicht allzu viele Gedanken
an mich.“

Das waren Mamas Worte.

Ich ging nahe an sie ran und drückte sie lange, während Mama mir mit ihrer sanften, warmen Stimme „Auf Wiedersehen, mein Kleines“ ins Ohr flüsterte, sodass nur ich es hören konnte.


Das waren die letzten Worte, die ich von ihr hörte.
Für immer.

Vor meinen Augen wurde es schwarz.
Schwarz wie die Nacht, schwarz wie ein Rabe, schwarz... dunkler als dunkel, so dunkel, dass man es schon gold nennen müsste...Ich wusste nicht wieso gold, eigentlich wusste ich gar nichts...

Ich hörte nichts mehr, ich fühlte nichts mehr, ich roch nichts mehr, ich war wie ausgelöscht; wie eine kaputte Seele, die verloren an einem Sandstrand liegt und von jedem getreten wird, aber es gar nicht wahrnimmt, es gar nicht wissen will …


…und einfach nur in ein tiefes, schwarzes Loch fällt und nichts dagegen machen kann.


In diesem einen Moment gibts du dich deinem Schicksal hin.

Kapitel 1



Aus meinem Tagebuch
Lucy Kruse
12.09.2011, Montag, letzter Ferientag

Ich weiß noch genau, wie das nach dem Verabschieden von Mama gewesen war:

Als ich wieder aufwachte und erkannte, dass ich auch in einem Krankenbett lag, sprang ich wie von einer Tarantel gestochen aus dem Bett, spurtete aus dem Zimmer und blieb vor der Türschwelle verängstigt und schwer atmend stehen.

In meinem Kopf liefen wieder diese schrecklichen Bilder ab, als ich Mama sterben sah.
Schnell schüttelte ich den Kopf und ging vorsichtig in das Zimmer hinein. Gott sei Dank war es nicht Mamas Zimmer, oder ihr Nachbarzimmer.

Ich legte mich wieder ins Bett und da wurde mir erst klar, dass ich so getan und mich so verhalten hatte, als wäre Mama nur krank gewesen und jetzt wieder gesund.
Als wäre alles ok.
Aber es war ja nicht so!
Gleich fühlte ich wieder diese Schwärze in meiner Seele und ich hatte Gewissensbisse, dass ich sie schon am ersten Tag ihres Todes hatte vergessen.

Eine Krankenschwester kam herein und begrüßte mich. Sie fragte mich nach meinem Zustand (so eine blöde Kuh); die Antwort hätte sie sich auch selbst denken können.

Damals war ich ziemlich sauer auf die Ärzte im Krankenhaus, weil sie Mama ja nicht heilen konnten.

[Heute bin ich 13 Jahre alt, also eigentlich im schlechtestem Alter (wegen der Pubertät und so), als Mama starb war ich elf und Leni war acht. Jetzt kommt sie in die 5. Klasse, ich in die Achte.]

Die Schwester, sie hieß Tina Kessler, brachte mir ein Glas Wasser und eine Nudelsuppe. Eigentlich war Nudelsuppe meine Leibspeise, aber in diesem Zustand hatte ich überhaupt keine Lust etwas zu essen.

Tina erklärte mir, dass Mama nun tot sei und eine Beerdigung stattfinde.

Außerdem lag ich anscheinend bis abends bewusstlos im Krankenhaus und wachte dann wieder auf. Danach schlief ich ein und hatte angeblich sehr schlecht geträumt.
Am Morgen um 4:30 Uhr stand ich auf und holte per Knopfdruck Tina Kessler. Sie war gleich da und ich fragte sie nach Mama aus, worauf sie mir über Mamas Tod und ihren Krebs erzählte. Aber statt bedrohlich auf mich zu wirken, war es wie eine Erleichterung. Mama hatte gelitten und wurde von Gott nur befreit. Außerdem starb sie friedlich – und mit uns.

Ja, das war’s. Mehr kann ich nicht mehr schreiben. Ich fühle mich so ausgelaugt und leer. (Wieder wie diese verlorene Seele am Strand.)
Ich will mich nie mehr so fühlen, aber ich glaube, so einfach geht das nicht.

Gute Nacht, Tagebuch!
Deine Lucy


Ich klappte mein in rotes Leder (mit weißen Punkten) gebundenes Tagebuch zu, verschloss es und legte es auf mein Regal über meinem Bett. Ich war müde, konnte aber nicht einschlafen. Mein Zimmer hatte sich über Nacht aufgeheizt und ich lag nur in Unterwäsche ohne Decke im Bett. (Mir war richtig heiß!)

Ich faltete die Hände, machte die Augen zu und legte meinen Teddy L.L.Kruse (ich weiß, komischer Name; Abkürzung von LucyLeniKruse) neben mich.

So machte ich das immer, wenn ich mit Mama redete.

Diesmal machte ich das leise und dachte mir das nur.

Ich machte die Augen wieder auf und schaute lange Zeit noch auf meine Zimmerdecke und ließ die Gedanken schweifen.

Vielleicht finden das manche blöd oder kindisch mit dem Tagebuch oder dem Beten, aber mir hilft es, also mache ich es auch.


Zwei Jahre ist es nun schon her, dass Mama gestorben ist. Vor gut zwei Wochen machten Papa, Leni und ich eine Art Trauerfeier. Ich glaube, Mama hat uns dabei zugesehen und sanft angelächelt. So (macht und) machte sie das immer, wenn wir uns Mühe geben für sie.

Ich und meine Schwester Leni hatten ein gutes Verhältnis zueinander. Wir machen die Arbeit auf dem Reiterhof. Reitschüler oder Freunde kamen eigentlich gar nicht hierher. Wir hatten nicht viele richtig gute Freunde, nur ein paar, mit denen man Spaß
haben kann, aber denen man keine Geheimnisse anvertraut oder so.
Meine beste Freundin war Leni.

Wir hatten sieben Pferde, einen Hund, eine Katze, drei Meerschweinchen und drei Hasen. Jetzt fragt ihr euch bestimmt, wo wir das ganze Geld her bekamen und so. Na ja, Leni und ich machten Nebenjobs einmal in der Woche, um eine bisschen Geld für uns zu haben und Papa arbeitete in einer Maschinenfirma, das Geld gab er dann uns für den Reiterhof und die Schule. Viel Geld hatten wir nicht, aber es reichte, um alles aufrecht zu erhalten. Nach der Arbeit verzog sich Papa immer wieder in sein Zimmer, was mich langsam ziemlich nervte.

Ich und Leni aßen, machten zusammen die Hausaufgaben und packten dann am Reiterhof an, sprich Pferde auf die Weide lassen, Hasen füttern, Ställe ausmisten und einkaufen gehen.
Wenn wir dann noch Zeit hatten, machten wir immer einen kleinen Ausritt oder wir ritten auf dem Platz, um unsere eigenen PferdenSchnuppe und Mucki ein wenig an die Dressur zu erinnern.


So ging das jetzt ein, fast zwei, Jahre. Irgendwie gefiel mir das Leben so; viel Freiheit, Pferde und eine richtig gute Freundin.

Nur die Eltern fehlten …


Kapitel 2



Mein Wecker holte mich endlich aus meinem Albtraum, in dem ich weglaufen wollte, aber ich immer auf einem Fleck blieb und so total den Stress und Panik bekam. Vielleicht kennt ihr das.
Diesmal war ich sogar richtig dankbar auf meinen blauen Klingeling.
Nun war es 5:30 Uhr und der erste Schultag nach den Ferien. Leni und ich hatten mit dem Schulwechsel nicht viele Probleme, ich blieb sowieso auf der Realschule und meine Schwester war auf einer Schule, die Grund- und Realschüler zusammen unterrichteten.

Schnell stand ich auf und zog mir meinen Schlafanzug aus und das alte T-Shirt von Mama über. Es war mir etwas zu groß, aber ich mochte es und zog es liebend gerne an.

Durch mein kleines Zimmer und den Flur (wir hatten nur ein einstöckiges Haus mit Keller und Erdgeschoss, der 1 Stock bzw. Dachboden wurde für das Heu genutzt) ging ich in Lenis Zimmer und schlich leise an ihr Bett. „He, Leni, aufstehen.“, flüsterte ich ihr ins Ohr und strich ihr über den Kopf. Langsam drehte sie sich um und schälte sich aus der Bettdecke.
„Was ist denn?“, fragte sie schlaftrunken und schaute mich aus zugekniffenen Augen an. „Ähm!“, ich lachte kurz auf, „Schule, Leni!“
„Oh, vergessen.“, meinte sie und stieg aus dem Bett. Mit verwuschelten Haaren und sich die Augen reibend torkelte sie ins Badezimmer. Wahrscheinlich hatte Leni gestern Nacht genauso schlecht geschlafen wie ich.


Neuer Tag, neues Glück! stand an dem heutigen Datum in lila an meinem und Lenis Wandkalender. Na ja, ein sehr einfältiger Spruch, aber gut.
Ich schaute auf die To-do-Liste für heute: Schule, Tiere, Heu und Stroh
Das hieß, heute würde keine Zeit für eine Reitstunde oder einen Ausritt bleiben.

Papa kam in die Küche. Ich sagte etwas übertrieben fröhlich: „Hallo Papa! Gut geschlafen?“ Er nuschelte irgendwas von „Hallo“ und „Nein“ in sich hinein und setzte sich an seinen Platz.
Ich stellte ihm eine Schale Müsli hin und wir Kinder setzten uns ebenfalls.

Eigentlich wollte ich ihn noch mal zum Reden bringen wegen seinem Zurückziehen (das jetzt schon ein Jahr lang anhielt), aber er war gerade beim Ausschlürfen seiner Milch, packte seine Tasche und ging mit einem „Schönen Tag noch“ – Gruß zur Haustür raus.

Oh Gott, letzte Nacht hatten ja alle schlecht geschlafen. War etwa Vollmond? Ein Blick auf den Kalender bestätigte es mir. Ja, gestern war Vollmond.


„Lucy, Lucy! Komm schnell her! Lucy!“, hörte ich Leni durch den ganzen Stall schreien. Ich rannte von den Hasen zu den Pferdeboxen und blieb vor Fleckals Box stehen. Leni kniete bei Fleckal und tastete sorgfältig ihre Hufe ab.
„Lucy, da bist du ja. Ich glaube, Fleckal hat Hufrehe! Wir müssen sie schnellstmöglich behandeln!“, sagte Leni aufgeregt und schielte über den Rand der Box.

Oh ja, das mussten wir! Hufrehe können bei Pferden bis zum Tod führen. Das ist eine richtig gemeine Krankheit, die auch schmerzhaft ist.

„Ich lasse mich heute einfach von der Schule befreien, das wird schon gehen, ok? Du gehst aber hin. Heute bekommt ihr ja die Listen für das neue Schuljahr, die habe ich schon. Warte kurz hier.“, meinte ich und lief schnell ins Haus, um mich abzumelden.


„Grüß Gott, hier ist Frau Oberhermer. Sekretariat am Meier-Gymnasium. Was kann ich für Sie tun?“, schallte mir eine fröhlich verstellte Stimme zu. Es war diese komische Sekretariatsleiterin von meiner Schule, die ich gar nicht leiden konnte.
„Hallo, hier ist Lucy Kruse aus der 7 A. Ich befreie mich für heute wegen Husten und Kopfschmerzen vom Unterricht. Hüstel, hüstel! Mein Vater ist zurzeit zwecks persönlichen Gründen verhindert, er konnte mich nicht abmelden.“, sagte ich und versuchte möglichst mitleidig und krank zu klingen.
„Oh, du armes Ding! Natürlich wirst du von uns befreit. Gute Besserung.“, säuselte Frau Oberhermer ins Telefon.
Ich murmelte ein leises „Danke und Auf Wiedersehen“ und legte auf.

Einen Vorteil hatte man bei dieser Frau, man musste nur ein bisschen mitleidig tun und schon hatte man sie am Haken.


„Ok, Leni. Bist du dann soweit, dass ich dich jetzt zur Schule bringen kann?“, rief ich Leni durch den Flur zu.
[Ich brachte sie jeden Tag um 7:10 Uhr zur Schule, wir mussten und konnten zu Fuß gehen (und brauchten ca.30 min), sonst müssten wir die Buskosten zahlen.]

„Ja, gleich, nur noch kurz Zähne putzen.“

Ich ließ Leni raus, ging selber hinaus und schloss die Tür hinter mir ab. Wir brauchten echt mal wieder ein neues Schloss, das alte sah schon richtig „mittelalterlich“ aus.

Den gesamten Weg über sprachen wir kaum etwas, jeder war in Gedanken.
An der Schule angekommen, verabschiedete ich mich schnell mit einem Kuss bei Leni und ging wieder heim. Um dreizehn Uhr müsste ich sie wieder abholen.

Während des erfrischenden Spaziergangs überlegte ich, wie wir Fleckal am besten (vielleicht sogar ohne Tierarzt) heilen konnten. Auf jeden Fall musste sie strenge Diät halten und die Box musste mit Rindenmulch gefüllt werden.
„Na ja, irgendwie kriegen wir das schon hin. Egal wie.“, murmelte ich mir vor und schaute gedankenverloren auf den Boden.

Zu Hause angekommen, kümmerte ich mich erst einmal um das Pferd.

„Hey, du Kleine, wie geht’s dir?“, flüsterte ich Fleckal ins Ohr. (Ich weiß, ich rede ziemlich viel mit den Pferden.) Danach holte ich schnell zwei Packungen Rindenmulch vom Heuboden. Das ist vielleicht eine mordsmäßige Arbeit; diese Riesenformate hinunter in den Stall zu werfen und dann noch in die Schubkarre zu hieven.
Als ich dann endlich an Fleckals Box ankam, begrüßte sie mich mit einem Stups direkt auf den Hintern, weil ich mich gerade gebückt hatte, um die Mistgabel aufzuheben. Ich wäre fast umgefallen. „Oh Mann, Fleckal!“, sagte ich kopfschüttelnd und lächelte.

Die Arbeit war schnell getan.
Obwohl ich ausmisten musste, die Box mit Rindenmulch ausfüllen und zum Schluss noch Fleckal geputzt hatte mit Waschen und Shampoonieren, war es erst halb elf.

Das hieß, ich hatte noch Zeit zum Reiten.
Ich beschloss, gleich die etwas übergewichtige Fleckal zu nehmen, weil sie schon geputzt war und ein bisschen Bewegung schadete den „Hufrehen-Hufen“ bestimmt auch nicht (wenn es ihr nicht weh tat). Außerdem musste sie ab jetzt sowieso Diät halten. Also holte ich schnell einen Strick aus der Sattelkammer und ging wieder zu ihr.
„Hallo Fleckal, da bin ich wieder. Na, wie gefällt dir deine neue Einstreu? Komm, wir gehen jetzt ein bisschen raus.“, sagte ich leise und hakte den Führstrick an das Halfter.


„Hey!! Stopp, hast du nicht gehört, was ich dir gesagt habe!!? Du sollst nicht weg rennen, bleib stehen!!“
Ich zuckte zusammen, als ich diese durchdringende Stimme hörte und drehte mich blitzschnell um.
Das Schreien kam aus dem Wald und ich hörte noch schnelle Schritte, die versuchten im Zickzack und mit Wendungen zu entkommen.
Dann war es ruhig.
Was ging da vor sich?
Waren das etwa wieder diese nervigen Jungen aus dem Nachbarort, die immer Räuber und Gendarm spielten? Na ja, das war eher unwahrscheinlich, die Jungs würden nie so ernst und brutal schreien. Außerdem waren sie ja in der Schule (so wie ich nicht).

Ich hatte keine Ahnung und ehrlich gesagt, wollte ich es auch gar nicht mitbekommen. Was sollte ich denn nun machen?
Hinterher rennen?
Ignorieren?
Oder schnellstmöglich die Polizei holen?

Ich kam zu keiner Entscheidung, denn mein Körper reagierte von selbst.
Ich rannte, rannte und rannte – und machte mir dabei überhaupt keine Gedanken über Fleckal, die immer noch angebunden im Stall stand, oder über Leni, die ich um eins abholen musste.

Ich rannte nach Westen, Richtung Wald; dort gab es einen kleinen Trampelpfad zum See.
Schnell geriet ich außer Puste, bis ich schließlich anfing nur noch zu gehen.
Die zwei Personen waren auch hier entlang gelaufen, da war ich mir sicher. Es gab sogar noch Fußabdrücke im Schlamm.
Also, wenn ich der Täter oder der Jäger gewesen wäre, hätte ich mir irgendwas über die Schuhe getan, damit man wenigstens das Profil der Sohle nicht erkennt.
Langsam hatte ich wieder etwas Kraft und ich trabte weiter, bis der See in mein Blickfeld traf – und damit auch mein schlimmstes Ereignis gleich nach Mamas Tod…

„Hilfe! Nein, lassen Sie mich los! Sofort! Hilfe! Hilfe! Neeeeeeiiiiiiiiiin!!“, schrie jemand panisch vor Angst, er bangte um sein Leben.
„Hey, Kleiner! Hier wird dich keiner retten. Sei leise jetzt! Du bist selber schuld, du hättest es nicht tun müssen!!“, zischte ein junger Mann dem Jungen zu und kniff die Augen zu schmalen Spalten zu.
Ich bekam Gänsehaut und zitterte nun richtig. Was wird dieser Mörder machen, er hatte den Jungen im Würgegriff!
Ich biss mir auf die Zähne.

Der Junge keuchte und versuchte den Arm des Mannes wegzudrücken. Der schien es zu genießen, wie wehrlos der Junge war. Ich wollte helfen, eingreifen, den Jungen retten…, aber meine Beine waren wie Blei.
Ich hasste ihn (natürlich den brutalen Mann)!! Ich hasste ihn vom ersten Moment an! Wie konnte man so etwas machen? Wie?

Gerade als der Mann das Messer ziehen wollte, sprang ich reflexartig aus dem Gebüsch und schmiss mich schreiend und mit aller Kraft auf den Mann, der ziemlich erschreckt aussah.
Mit sich riss er den Jungen, der mich ungläubig anstarrte, sich aber dann wieder fing und sich aus den muskulösen Armen befreite.
„Lauf weg!! Schnell, nun mach schon!“, schrie ich ihn an und nickte mit dem Kopf in Richtung See.

Er schüttelte schnell den Kopf und warf sich auch auf den Mann, der unter Stöhnen zusammenbrach. Ich versuchte, ihm das Messer abzunehmen, aber der war einfach zu stark.
Ich zerrte und riss, während der Junge den Täter am Hals zu Boden drückte. Er röchelte und gab schließlich die Kraft auf, sodass ich endlich sein Messer hatte.

„Was wollten Sie? Ich rufe die Polizei.“, stieß ich stöhnend hervor und hielt das Messer über den Brustkorb des Mannes, bereit zuzustechen.

Was geschah, ließ mein Herz stehen bleiben.
Der Mann guckte uns einmal noch böse und mit verzerrtem Gesicht an…

... – und flog plötzlich als pechschwarzer Rabe unter unseren Leibern davon.


Ich schrie kurz auf und sprang weg von diesem komischem Vieh. Der Junge schaute mich ein letztes Mal ängstlich, aber auch dankbar an und rannte dann ohne irgendein Wort weg.
(Der ist irgendwie komisch, aber total süß…)
Ich versuchte meine Erlebnisse zu ordnen, aber es ging nicht; mir gelang es nicht, das mit der Wirklichkeit zu verbinden.

Was eigentlich auch nur logisch war.

Noch schwer atmend ging ich nach Hause und bemerkte dabei die anderen Raben in den Bäumen nicht…

Kapitel 3



Zu Hause angekommen ließ ich mich erst einmal auf unsere Bank vor der Tür plumpsen. Was war das gerade?
Wollte der Mann den Jungen umbringen; sah zumindest so aus. Aber wegen was?
Meine Gedanken waren ein einziges Chaos.
So was gab es doch gar nicht. Ein Rabenmensch…
Ich zwickte mich einmal kräftig. „Autsch.“, entfuhr es mir und ich wusste, das das die Wirklichkeit sein musste.

Irgendwie sagte mir mein Gefühl, dass ich etwas mit dem Jungen und dem komischen Vieh zu tun hatte. Dass ich eine Aufgabe hatte, einen Auftrag.
`Nein, was soll das? Mann!´, ich versuchte, das Gefühl zu verdrängen und redete mit meinem Kopf (natürlich nicht wörtlich gemeint).

Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken.
Ich hatte so viele Fragen, ich hatte einen fast begangenen Mord beobachtet. Was wird denn nun kommen?

„Oh, Mist. Leni, ich muss sie ja noch abholen.“, fluchte ich und ging schnell zu Fleckal, um sie wieder in die Box zu bringen. Sie sah mich richtig vorwurfsvoll an und schnaubte.


„Hi, Leni, wie geht’s dir? Komm schnell, ich muss dir etwas erzählen.“, sagte ich zu meiner Schwester und zog sie am Arm aus dem Schulgelände. „Was ist denn los? Und tu deinen Arm da weg, das tut weh.“, meinte Leni säuerlich und sah mich an.
„Wahrscheinlich wirst du mir jetzt nicht glauben, aber es ist wahr. Also, ich wurde Zeugin einer Verfolgungsjagd und eines Fast-Mordes. Auch wenn du mich dann für verrückt hältst, es war so: Ein Junge rannte im Wald zum See und wurde von einem Mann verfolgt, am See wollte der Mann den Jungen umbringen mit einem Messer, aber irgendwie sprang ich dann reflexartig aus dem Gebüsch und der Junge entkam so, aber das Unglaubwürdigste war, dass der Mann sich dann in einen Raben verwandelt hat und weg geflogen ist. Bitte glaub mit, ich schwöre, dass es wahr ist.“, plapperte ich schnell los und sah Leni an.

Die guckte mich von der Seite an und zog die Augenbrauen hoch. „Ok“, meinte sie lang gezogen und ironisch und schaute wieder auf den Boden.

Aber ich sah, dass sie überlegte und sagte noch einmal bittend: „Bitte, helf mir, ich bekomme das Erlebnis nicht aus meinem Kopf heraus und ich habe dauernd das Gefühl, dass ich eine Aufgabe habe, von der ich noch nichts gewusst habe und ich diese erfüllen muss.“
„Ok, ich habe da auch ein Gefühl, dass ich dir vertrauen kann.“, sagte Leni, immer noch ein bisschen ungläubig, aber wenigstens etwas.
„Ok, und wie geht’s weiter?“, fragte sie mich.
„Na ja, der Junge ist weg gerannt und der Mann war ja auch weg, also bin ich auch heimgegangen. Und dann habe ich dich abgeholt.“, sagte ich und zuckte mit den Schultern.
„Ja, gut. Meinst du, wir sollen es Papa erzählen?“
„Nein, Leni. Eher nicht, der hat eh schon genügend Probleme und drum kümmern wird er sich sowieso nicht.“
„Ok“

Wieder zu Hause sperrte ich die Tür auf und bereitete schon mal das Essen vor. Papa sollte eigentlich schon da sein, aber vielleicht hat er sich einfach nur verspätet oder hat Stress in der Arbeit.
Es klingelte und ich machte auf; es war Papa, na also, wenn man vom Teufel spricht…
„Hallo. Wir müssen beim Essen dann mal reden, ok?“, meinte er lustlos und verzog sich gleich wieder im Zimmer.
Und das regte mich immer mehr auf in letzter Zeit, er kümmerte sich überhaupt gar nicht mehr um seine Familie! Pffff, als wären wir schon erwachsen und keine Kinder mehr, die Unterstützung brauchen (mit den Kindern meine ich Leni). Als könnten wir schon alleine Geld einbringen für alles und einen richtigen Haushalt schmeißen.

Nach dem Kochen befahl ich Leni missmutig den Tisch zu decken. Die machte das sofort, sie wollte mir die Laune nicht noch mehr versauen. Und das war auch gut so, denn was wir mit Papa dann noch zu bereden hatten, sollte sehr überraschend sein.

Wir saßen alle drei am Tisch.
Das war vielleicht lange her, dass wir das mal gemacht haben. Das letzte Mal war Mama aber noch dabei.
Ich schüttelte mich, um das komische Gefühl loszuwerden, das sich in mir breit gemacht hatte.

„Ok, Kinder…“ – er hatte Kinder zu uns gesagt; das hatte er seit einem Jahr nicht mehr gesagt. Für euch ist es wahrscheinlich nicht besonders überraschend, wenn euer Papa zu euch Kinder sagt, aber Leni und ich waren sehr überrascht. Sogar Papa zuckte etwas zusammen und guckte auf den Boden. Ich lächelte und fing mich wieder; Papa erzählte weiter:
„Also, ich habe lange über unser Leben, wenn man das überhaupt Leben nennen kann hier, nachgedacht. Und ich finde, wir sollten viel ändern; sehr viel.“, er machte einen kleine Pause, „wir sollten zusammen ein neues Leben anfangen – ohne Trauer und Zurückziehen, aber nicht ohne Petra, wir dürfen sie nicht vergessen, müssen aber lernen, ohne sie weiter zu leben. Das ist genau das, was sie damals im Krankenhaus gesagt hat und ich denke, wir alle wollen, dass Petra zufrieden ist und das ist sie, wenn wir weiterleben. Ja…“
Papa stoppte und seufzte einmal tief.

Ich rannte in mein Zimmer, sperrte die Tür zu und schmiss mich in mein Bett.
Nein, was war los?
Oh mein Gott, wie sehr sich Papa geändert hat!
Aber woher und wieso?
Mir wurde schwindelig von den vielen Fragen, diesem ekelerregendem Rabenvieh und ich ließ das Denken einfach.
Ich schloss die Augen und schwebte davon.


„Hey, Lucy, wach auf. Was ist denn los mit dir?“, eine sanfte Stimme weckte mich und ein Hand legte sich auf meinen Rücken.
Ich öffnete die Augen und traute ihnen erst einmal nicht.
An meinem Bett stand Papa, daneben Leni. Sie guckten mich besorgt an; worauf ich sagte: „Mir geht es gut, aber was ist denn passiert?“
Sie lächelten und hoben mich aus dem Bett.

Wie gut es sich anfühlt, wenn dich jemand so liebevoll in den Arm nimmt.
Ich hatte es in der „schwarzen Zeit“ schon fast wieder vergessen…


Kapitel 4



Aus meinem Tagebuch
Lucy Kruse
13.09.2011; Dienstag, erster Schultag

Heute war so ein komischer Tag, ich bin immer noch am Überlegen, ob das hier ein Traum ist oder doch die Wirklichkeit.
Vielleicht sollte ich das Ganze einfach hinnehmen, egal ob es echt ist oder nicht.

Heute war der erste Schultag, ich war nicht in der Schule wegen Fleckal, aber ich glaube, der geht’s bald wieder gut.
Als ich Fleckal dann putzte, hörte ich Schreie und bekam dann mit, wie ein Mann einen Jungen bedrohte und sich dann urplötzlich in einen Raben verwandelte. Ich rettete den Jungen von dieser Rabengestalt. Ich war so geschockt, dass ich sogar ganz normal heimgehen konnte und ich das gar nicht so schlimm fand... Gänsehaut, schon wieder: ich hasse es!

Zu Hause (mittags) änderte sich Papa total. Er sagte, wir müssten ein neues Leben anfangen und so. Irgendwie freue ich mich auch, aber es ist ein komisches Gefühl.

Später bin ich dann anscheinend wieder bewusstlos geworden (Mann, dafür habe ich aber eine Schwäche) in meinem Zimmer und ich hatte abgeschlossen. Papa und Leni kamen dann durch das Fenster ins Zimmer und weckten mich irgendwie wieder.

Danach haben wir noch mal geredet und wir haben beschlossen, dass Leni und ich in ein Internat gehen und Papa in die Nähe zieht. Doch über die Tiere haben wir uns noch keine Gedanken gemacht…

Also, gute Nacht!




Bei diesen Gedanken lief mir wieder ein Schauder über den Rücken. Ich schütteltete mich.

Diese Tagebucheinträge halfen mir sehr.
Ich legte mein Buch auf den Schrank neben dem Bett und ließ den Kopf auf das Kissen sinken und seufzte.

„Hallo Mama!
Eigentlich will ich jetzt gar nicht mehr so viel reden.
Es ist genug passiert heute.
Du hast es ja miterlebt.
Wie kann an einem einzigen Tag
so viel Komisches passieren?
Also, gute Nacht, Mum!“

Nach diesem Gebet schlief ich schnell ein. Und das war auch gut so.


Klingelingeling, klingelingeling, klingelingeling, klinge – endlich war dieser schriller, hoher Ton von meinem Wecker aus. Meine Freundin hatte einen, der wiehert und muht und grunzt; so einen wollte ich auch.

Heute holte ich zur Feier des Tages (keine Ahnung, warum `Zur Feier des Tages´, aber ich hatte das Gefühl, dass es heute schön werden konnte) meine einzige Kette, die mir Mama mal zum Geburtstag geschenkt hatte, aus der Schatulle. Die Kette war golden und der Anhänger stellte einen Falben dar, der gerade sprang. Außerdem mochte ich sie, weil mein Pferd Mucki auch ein Falbe war.

Leni und ich saßen am Tisch und aßen unser Müsli. Papa kam auch schon, er hatte ein sehr schönes Hemd an, vielleicht dachte er heute auch `Zur Feier des Tages´.

„Guten Morgen! Habt ihr vielleicht noch Zeit zu reden, bevor wir alle zur Arbeit müssen?“, fragte er und setzte sich auch an den Tisch. „Ja, klar“, meinte Leni.
Papa fing an: „Also, wir hatten gestern doch noch wegen der Schule und dem Internat gesprochen und ich dachte, Internat Marienhof ist ganz ok. Ich habe mich schon im Internet schlau gemacht und ich könnte euch die Website mal zeigen.“
„Ja, also die würden wir gerne sehen, aber ist das eine Mädchenschule; hört sich so an!?“, sagte ich fragend.
„Nein. Es ist eine Realschule. Das gesamte Schulgelände
ist riesig. Da es ja ein Internat ist, gibt es noch insgesamt zwei Anbauten mehr, wegen den Zimmern und so. Ich habe einen guten Eindruck, wir können uns das ja mal überlegen, ok?“, schloss Papa und stand auf, um sich eine Schale Müsli zu holen.

Oh mein Gott, ich bin es noch gar nicht gewöhnt, wie anders alles ist, seitdem sich „Dad“ (das sage ich eigentlich nie) so verändert hatte. Aber - es ist einfach nur schön...

Papa war nun schon in der Arbeit, Leni und ich packten noch die Schultaschen und gingen dann auch los.
Die Tiere wollten wir nachmittags versorgen, die Schule heute war auch sehr wichtig und wir schon am zweiten Schultag zu spät zu kommen, war nicht gerade die beste Begrüßung.
Also gingen wir zügig los.

Angekommen an Lenis Schule verabschiedete ich mich von ihr und fragte noch: „Kannst du mir noch die Liste für die Sachen geben? Dann besorgen wir das heute.“
„Ja, klar, aber wenn wir auf das Internat kommen, dann brauchen wir doch sowieso andere Sachen, oder?“, entgegnete Leni und ich schüttelte den Kopf über meine Vergesslichkeit. Leni lachte, drückte mich einmal und ging dann über den Pausenhof zu ihrem Klassenzimmer. Ich ging gleich weiter. Meine Schule lag nur vier Minuten länger (zu Fuß).

„Hey, Lucy! Auch wieder da, was?“, begrüßte mich meine Freundin überschwänglich. (Uff, ist die aber heute gut drauf...sonst kommt immer nur ein leises Hallo)
„Oh mein Gott, Lucy! Du wirst es nicht glauben; ICH BIN MIT LEON ZUSAMMEN!! OMG! Ich glaub es selber noch gar nicht! Komm, ich erzähl dir alles.“, rief Julia über den ganzen Schulhof und zerrte mich mit sich in unser neues Klassenzimmer. Ok, jetzt war alles klar! Julia war also mit Leon, dem so tollen Typen, der so lange Haare und eine Skaterfrisur hatte, dass er sich immer darunter versteckte. Toll. (Das mein ich jetzt total ironisch! Ich hasse diesen Typi!)
Julia war meine noch beste Freundin in der Klasse. Alle anderen Klassenkameraden waren Total-Zicken oder Vollidioten oder unterentwickelte Heinis. Sie war eigentlich ganz ok, nur was zusammen unternehmen war nicht so unser Ding. Sie war immer bei ihren Cousinen (die gingen in die Parallelklasse) gewesen, jetzt war sie wahrscheinlich immer bei Leon.

Das neue Klassenzimmer war schön. Eierschalenfarbene Wände und weinrote Ränder an den Seiten, damit die Tische die Wand nicht zerkratzen. Letztes Jahr hatten wir eins mit lauter vollgekritzelten Stühlen, wo überall Müll lag.
Dieses Jahr waren wir eindeutig besser dran.

Julia gab mir noch schnell den Stundenplan und setzte sich neben mich (Neben mich? Ich dachte, neben Leon!). Die war aber untreu...

In der ersten Stunde hatten wir Mathe; toll, gleich nach den Ferien in der ersten Stunde Mathe zu haben.

„Lucy, schön, dass du heute auch wieder da bist. Gestern hast du nichts verpasst, heute fangen wir erst richtig mit Stoff an. Also; guten Morgen! Bitte aufstehen, wir wollen beginnen!“, rief sie in die Klasse und legte ihr Mappe auf den Pult. Alle erhoben sich.
„Psst, Julia. Ich muss dir was sagen.“, flüstere ich leise Julia zu und versteckte meinen Kopf ein bisschen mit den Haaren, damit man nicht gleich sieht, dass ich rede.
„Ja, was is?“, bekam ich zurück.
Wir durften uns wieder setzen und ich fing an zu erzählen.
„Also, meine Schwester und ich müssen dieses Schuljahr in ein Internat weit weg von hier. Also, es kann sein, das heute mein erster und auch letzter Schultag hier ist. Nur das du das weißt.“
„Oh, tut mir leid. Wir reden in der Pause weiter.“

Die Mathe- und danach die Französisch-Stunde gingen ewig langsam voran. Ich schaute die ganze Zeit aus dem Fenster und überlegte, wie im Internat alles ablaufen könnte. Und die Pferde und anderen Tiere mussten wir ja auch noch irgendwie unterbringen. Den Rabenmenschen hatte ich schon fast vergessen, den Jungen dagegen nicht ganz...

Endlich!! Pause.
Das wurde aber auch Zeit.

Draußen wartete Julia schon auf mich. Ich setzte mich zu ihr auf die Bank und packte mein Brot aus. „Also, wie jetzt, du ziehst weg? In ein Internat?“, fragte Julia und schaute mich an.
„Ja, wahrscheinlich, aber bitte erzähle es nicht gleich der ganzen Schule, ok?“, sagte ich.
„Ja, klar. Weißt du schon, wo das Internat ist?“
„Nein, weiß ich nicht, aber es heißt Marienhof ist eine Realschule und keine Mädchenschule.“
„Oh, tut mir leid für dich, dass du weg ziehen musst. Und gerade jetzt, wo das neue Schuljahr erst angefangen hat.“
„Ach, das passt schon, dann kann ich mich einleben und muss nicht erst alles nachlernen.“
„Stimmt. Ich glaube, die Pause ist gleich aus und ich muss noch kurz aufs Klo. Also bis nachher.“, meinte Julia und ging Richtung Haupteingang.
Ich stand auch auf, schlenderte durch den Hof und ging in unser Klassenzimmer.

DINGDONGDANG
Es klingete und Frau Melzel, die Deutschlehrerin, kam herein. Alle erhoben sich und grüßten. Bei der waren wir alle ziemlich brav und erzogen, die hatte manchmal komische Launen...
"So, hat irgendjemand noch eine Frage zu unserem letzten Thema? Und wenn, dann bitte schnell.", meinte sie mit einem strengen Blick in die Klasse und als sich keiner meldete, holt sie aus ihrer Tasche ein paar Bögen und teilte sie aus. "Viel Erfolg", sagte sie knapp und setzte sich wieder an den Pult.
Oh nein, wieso müssen wir ausgerechnet jetzt (am zweiten Schultag nach den Ferien!!!) eine Stegreifaufgabe schreiben und warum bei der Melzel?!
Alle anderen hatten schon hektisch angefangen zu schreiben, weil wir bei Frau Melzel nur fünfzehn Minuten für fünf seeehr umfangreiche Aufgaben Klammern hatten, aber mir war das heute herzlich egal! Gestern war ich sowieso krank.
Ich überlegte mir währenddessen, warum die letzten Tage so seltsam gewesen waren und ob das wohl Zufall war mit Papas Umschwenkung, der Rabengestalt, dem Auftrag und dem Jungen...

"Wer fertig ist, legt sein Blatt hier vorne auf den Tisch!", schreckte mich die harte Stimme von Melzel aus den Gedanken.
Ich war wieder in der Gegenwart angekommen, dachte mir: "Ach, sch***egal" und ging nach vorne, um ein leeres Blatt abzugeben. Kam bestimmt cool.
Die Melzel schaute mich nicht schlecht an, so ein verunsichertes Gesicht hatte ich noch nie an ihr gesehen.

Bevor sie etwas sagen konnte, huschte ich mit einem Grinsen auf meinen Platz zurück und setzte mich.
Und schon war Deutsch auch wieder rum.

Kapitel 5




Kapitel 6




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Tag der Veröffentlichung: 27.10.2012

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