Victoria schaute sich verwirrt um. Ihre blonden Korkenzieherlocken hingen wie Fremdkörper von ihrem Kopf herab. Ab und zu, wenn sie den Kopf drehte, wirbelten sie durch die Luft und erzeugten dabei ein Geräusch, als würden sie Messer sein, die die Luft in Scheiben schnitten. Ihre smaragdgrünen Augen wanderten über den schwarzen Marmorboden, über den ihre Füße vor einigen Minuten gesaust waren, und dann empor an den Wänden, an denen die Portraits der Vorsitzenden und Gründer der Gemeinschaft aufgereiht hingen. Kräftig gebaute Personen mit Zertifikaten, ernst dreinschauende Leute mit Orden, piekfeine Damen mit zierlichen Händen, an denen sehr viele goldene oder auch silberne Ringe steckten, manchmal saßen auch Hüte auf ihren Köpfen; Hüte mit Federn, mit Schleifen, mit schwingenden Bändern, fest in den Haaren verankert. Alte Männer mit weißem Haar oder langen Bärten starrten geradeaus, und man hätte glauben können, dass sich dadurch alsbald schon Löcher in der gegenüberliegenden Wand bilden müssten. Doch so verschieden sie auch aussahen, sie alle hatten etwas gemeinsam: sie alle... hatten keine Schatten. Bis auf einen. Denn einer der Gemalten fiel aus der Reihe. Er starrte nicht wie die anderen. Er hatte die Augen zwar geöffnet, jedoch blickte er nicht finster umher oder fixierte einen Punkt. Vielmehr sah er aus, als würde er munter hin und her schauen und darauf warten, dass etwas Interessantes, Unerwartetes geschah. Und er – hatte einen Schatten! Der neue Vorsitzende, eine Schande für die Gemeinschaft. Zumindest wenn es nach Priscilla ging. Victoria schüttelte sich und gab sich dann wieder vollständig ihren Gedanken hin. Priscilla war die stellvertretende Vorsitzende. Für sie musste alles perfekt sein. Wenn jemand oder etwas nicht ihren Bedürfnissen und Anforderungen entsprach, war er bzw. es für sie ein Schandfleck in der Familie. Ja, genau, sie waren alle wie eine große Familie. Wenn einer nicht mitmachte, aus der Reihe tanzte, wie er, war die Gemeinschaft am Ende. Allerdings verstand Victoria nicht, warum alle ausgerechnet nach Priscillas Nase tanzen mussten – zumal sie ja noch nicht einmal die oberste Vorsitzende war. Nur weil sein Vater eine menschliche Frau geheiratet hatte, war der neue Vorsitzende nun ihr Sündenbock. Vater und Mutter verbannt, der Sohn einsam und verlassen inmitten von Leuten, die ihn hassten. Die Menschen waren zwar nicht wie sie, das wusste Victoria nur allzu gut, doch stand es nirgendwo, dass es verboten wäre, einen Menschen zu heiraten. Eigentlich war es gar nicht so schlimm, einen Schatten zu haben, im Gegenteil, Victoria fand sie schon immer faszinierend – und hübsch. Allerdings war es ihr Job, die verschiedensten Schatten zu stehlen und herzubringen; einen eigenen hatte sie jedoch nicht und würde sie auch nie haben. Sicher hatte das viele Vorteile – man konnte beispielsweise hinter jeder Ecke stehen und sich verstecken oder lauschen, ohne dass jemand den verräterischen Schatten sah – und doch war es seltsam, nun einen Schattenjäger unter sich zu haben, der selbst einen Schatten hatte, der gestohlen werden könnte. Victoria tauchte aus ihrer Gedankenwelt auf.
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
An meine Mum und meinen Dad, die noch nicht einmal wissen, dass hier dieses Buch entsteht, die aber unheimlich stolz wären...