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Fluchend stapfte Robb durch den Wald.
Laub raschelte unter seinen Stiefeln und der schwere Geruch nach feuchter Erde und getrockneten Blättern lag in der Luft. Die Sonne stand bereits sehr tief, sodass es düster war zwischen den Bäumen. Vereinzelt zogen Nebelschwaden über den Boden. Es herrschte Stille bis auf das Rascheln der Blätter.
Als er über eine Wurzel stolperte fluchte Robb noch etwas heftiger. Zur Hölle mit Ned und seinen Kumpanen, die ihn aus Spaß allein im Wald stehen gelassen hatten.
Irgendwann war der Pfad, dem er gefolgt war, zu Ende. Im Dunkeln, die Sonne war untergegangen und es drang kaum noch Licht durch das dichte Blätterdach, drehte der junge Mann sich im Kreis, ohne viel erkennen zu können.
Dann war ihm aber so, als schimmere ein schwacher Lichtschein zwischen den Stämmen hindurch. Vorsichtig tastete er sich darauf zu, doch im nächsten Moment bestand der Wald nur noch aus grauen Schatten. Finsternis und diese unheimliche Ruhe umgaben ihn wieder.
Mit einem Aufschrei hieb Robb die Faust gegen einen jungen Baum. Es folgte Blätterrauschen und ein leises Geräusch, das er nicht zuordnen konnte. Das kleine Etwas, das wie ein flügelloser Käfer vor seinem Gesicht herunterfiel, wischte er mit einer wütenden Handbewegung zur Seite.
„Du grobklotziger Rüpel, du!“


Erschrocken fuhr der Mann herum, stolperte über einen Stein und lag plötzlich rücklings auf einer Lichtung. Gleich darauf traf ihn etwas schmerzhaft in die Rippen und landete unsanft auf seiner Brust.
Als er noch etwas benommen den Kopf hob, erstarrte er sofort wieder. Er blickte direkt in das pelzige Gesicht eines Hasen. Während Robb noch versuchte zu begreifen, was er da sah, tauchte ein weiteres Gesicht zwischen den langen Löffeln auf. Es funkelte ihn kurz wütend an, dann kletterte das Wesen, nicht einmal doppelt so hoch wie sein Zeigefinger lang, vom Hasenrücken herunter. Die Arme in die Seiten gestemmt marschierte es über seine Brust. Es trug etwas Kleiderähnliches aus rotem Stoff, die kurzen goldenen Haare standen wirr vom Kopf ab und auf seinem Rücken zitterten schillernde, fast durchsichtige Flügel.
Direkt vor ihm blieb es stehen und bohrte einen winzigen Finger in seine Nasenspitze.
„Hast du noch alle Goldstücke im Kessel, du übergroßer Trampel?“,

fauchte das Ding ihn mit hoher Stimme an.
Robb öffnete den Mund doch kein Ton kam heraus.
Schnaubend sprang das Wesen in die Luft und schwirrte knapp über dem Gras davon. Mit einem Satz sprang auch der Hase wieder in die Wiese und Robb setzte sich auf.
Weiter vor sich hin schimpfend wühlte das kleine Etwas im Laub, bevor es mit einem Ruck ein weiteres Glitzerding in die Höhe zog. Das zweite an der Hand hinter sich her schleifend kam es zurückgeflattert und baute sich in seiner ganzen Winzigkeit vor dem Mann auf.
„Du wirst dich auf der Stelle bei ihr dafür entschuldigen, dass du sie vom Baum geworfen und ihr eine geschmiert hast!“,

befahl es schrill.
„Es- es tut mir Leid. Ich wusste nicht, dass du auf dem Baum gesessen bist.“ Robb war überrascht über die Worte, denn eigentlich war er immer noch sprachlos.
„Ach, ist nicht weiter schlimm“

, trillerte die Kleine. Wie ihr Gewand schimmerte ihr Haar im Schein ihrer Flügel in einem blassen Fliederton. „Genau genommen hat es sogar richtig Spaß gemacht!“

Ihre Freundin warf ihr einen vernichtenden Blick zu, doch sie beachtete es gar nicht. „Wie heißt du?“


„Robb.“ Etwas umständlich kam er wieder auf die Beine. Die beiden Winzlinge flatterten in die Höhe.
„Oh, hallo Robb. Ich bin Krokusknospe und das da ist Mohnkäfer. Oder auch Gähnkäfer“

, erklärte die Fliederfarbene kichernd. Mohnkäfer verschränkte beleidigt die Arme.
„Was bitte seid ihr?“, wollte Robb in der kurzen Pause wissen, obwohl er die Antwort kannte. Er konnte sie nur nicht begreifen.
„Wir sind Elfen, was denn sonst?“

, erwiderte Krokusknospe und drehte mit einem glockenähnlichen Lachen drei Pirouetten in der Luft. „Und was bist du?“


„Dichter.“
Neugierig hielt sie inne und musterte ihn genau. „Dichter? Was macht ein Dichter mitten in der Nacht ganz allein im Wald?“

„Das ist allerdings eine sehr interessante Frage“, mischte sich eine neue Stimme ein.
Wieder zuckte Robb erschrocken zusammen. Er musste zweimal hinschauen, um den hochgewachsenen schlanken Mann vor den Bäumen zu erkennen. Sein schwarzes Haar und die graue Rüstung ließen ihn Eins werden mit den Schatten.
„Ich- ich hab- mich verlaufen“, stotterte Robb.
„Dann hast du dir einen ungünstigen Tag ausgesucht, um dich zu verlaufen, Mensch.“
„Meine Güte, Darion. Lass den armen Jungen doch in Frieden und hör auf, ihm Angst einzujagen“, unterbrach ihn die sanfte Stimme einer Frau, die eine zierliche Laterne in der Hand trug. Robb musste sich zwingen, sie nicht unverhohlen anzustarren, denn ihre Haut war graubraun wie die Rinde eines Baumes. Ihr Haar und ihre Augen dagegen waren von einem tiefen Grün.
Der Mann fühlte sich zunehmend unwohl inmitten der immer größer werdenden Menge von Feenwesen. Obwohl er sie nicht wirklich sah, wusste er, dass sie da waren. Umherhuschende Schatten, hier ein Aufblitzen von Augen, dort ein Rascheln im Gebüsch.
Darions Stimme holte seine Gedanken mit einem Schlag zurück.
„Wir sollten ihn trotzdem töten. Er hat den Kreis überschritten.“
“Ts, ts, ts, was du nur immer hast. Außerdem hast du

das nicht zu bestimmen.“
„Und du braucht nicht einen der größten Ritter der Feen zu belehren, Nymphe.“ Er wollte noch weiter sprechen, doch zwei kleine Mädchen drängten sich an ihm vorbei, einander fest an den Händen haltend. Sie glichen sich wie Bild und Spiegelbild. Makellos und barfüßig, mit rotblondem Haar, in weißen Kleidern. Nur ihre Augen unterschieden sich. Dunkelgrau wie die stürmische See und tiefblau wie ein klarer Sommerhimmel.
„Du bist wirklich ein Dichter?“, fragte die eine leise und schielte zu ihm hinauf.
„Ja, das bin ich.“
„Dann kannst du also Lieder singen?“, bohrte sie weiter.
„Ja, kann ich.“
„Und du kannst Geschichten erzählen?“, ergänzte ihre Schwester.
„Auch das, ja.“ Beunruhigt fragte Robb sich, wohin das wohl führen würde.
„Und jetzt wird er verschwinden“, unterbrach Darion das Gespräch.
„Nein! Dürfen wir ihn nicht mitnehmen?“
Einen Moment lang glaubte Robb sich verhört zu haben. Dann öffnete er den Mund, um zu protestieren. Er war schließlich kein Haustier.
Doch Krokusknospe ließ keine weiteren Einwände zu. „Larenna hat Recht, du kannst gar nichts bestimmen!“


„Nein, aber-“
Den Zwillingen reichte das. Sie stürmten vor, packten Robb an den Händen und zogen ihn über die Lichtung bevor er sich fragen konnte was mit ihm geschah. Als er aufblickte war er sich sicher zu träumen.
In der Mitte der Lichtung erhob sich ein Hügel auf dem einige Bäume in einem perfekten Kreis wuchsen. Ein seltsames warmes Licht schien von ihnen auszugehen. Vogelgezwitscher erfüllte auf einmal den Wald, obwohl es finstere Nacht war. Eine Gruppe Rehe stand am Rand der Lichtung, Wölfe saßen friedlich unter ihnen und ein Bär döste im goldenen Schein.
Lachend, tanzend und singend folgten ihnen die anderen Feen über die Lichtung auf die andere Seite des Hügels. Dort führte zwischen ein paar Felsen eine Treppe in die Erde hinab. Keinen Moment zögerte Robb, wie in Trance stieg er die Stufen hinab, angezogen von dem Lichtschein und der Musik, die heraufdrangen.
Die Treppe wand sich mit einem sanften Schwung einmal im Kreis und die irdenen Wände wichen immer weiter zurück. Schließlich öffnete sich vor ihnen eine riesige Halle, deren Ausmaße man nur erahnen konnte.
Der festgestampfte Boden war mit duftenden Gräsern bedeckt. Die unzähligen Säulen waren mit Girlanden aus Blättern und Blumen, die längst verblüht sein sollten, geschmückt. Erst als die Feenmädchen ihn direkt an einer dieser Säulen vorbeiführten erkannte Robb, dass es mächtige Wurzeln waren, die die Halle abstützten. An kleineren Wurzeln, die aus der Decke und den Wänden ragten, hingen zahllose kleine Laternen. Allerdings schienen diese Lichter nicht notwendig zu sein, denn alles glühte wie von selbst golden und silbern.
Als Robb seine Aufmerksamkeit den Anwesenden zuwenden konnte, war er einfach nur noch überwältigt. Es waren viel zu viele verschiedene Wesen, als dass er auch nur eines hätte beschreiben können, bevor seine Augen bereits vom nächsten angezogen wurden.
Nur einige ähnelten in ihrer Gestalt Menschen, aber sie konnten klein sein, wie die beiden Elfen auf seiner Schulter, oder stolze Krieger in glänzender Rüstung. Immer wieder schillerten Flügel in allen Formen und Farben auf. Makellose Schönheit blitzte einem überall entgegen und selbst gebeugte Kräuterweibchen oder Zwerge, die ihre Ausgelassenheit vergeblich hinter griesgrämigen Masken versteckten, konnte man nicht anders beschreiben.
Manche Gestalten musste man sehr genau anschauen, um sagen zu können, welchem Tier sie ähnliche sahen, wenn sie es überhaupt taten. Aber auch Tiere selbst waren zu finden. Eine Wildkatze beobachtete das Geschehen von erhöhter Position auf einem Wurzelknoten aus, ein Biber mit Strohhut flitzte über eine der reich gedeckten Tafeln und auf einem Schemel saß ein Fuchs mit zwei prächtigen grünen Federn hinter dem Ohr.
Die Tische bogen sich unter der Last der Platten mit frischem Obst, Eingelegtem, Küchlein und anderen Süßigkeiten.
Und überall wurde gesungen, wurde musiziert. Noch viel lauter und überschwänglicher als die Gesellschaft, die eben eingetroffen war, doch trotz allem war es kein chaotischer Lärm sondern ein mitreißendes Gesamtwerk.
Robb wusste nicht, wie lange er so dagestanden und gestaunt hatte, als die Schwestern ihn weiterführten. Zu zwei Thronen die auf einem Podest standen, von wo aus man den gesamten Saal überblicken konnte. Wie alles andere leuchtete das mit Schnitzereien und Girlanden geschmückte Holz von innen heraus. Doch noch strahlender waren die beiden Gestalten, die auf den Thronen saßen.
„Das sind Neleth und Ameragh. Gebieter und Gebieterin über das Volk der Feen“

, erklärte Krokusknospe ungewöhnlich ernst.
Für einen Schlag setzte Robbs Herz aus, als das Königspaar sich ihnen zuwandte.
„Nun, ihr beiden. Wen habt ihr denn heute mitgebracht“, fragte Ameragh die Mädchen mit sanfter Stimme, wie das Plätschern eines Baches. Sie übertraf selbst die übrigen Feen in ihrer Schönheit um ein Vielfaches. Es war unmögliche zu sagen, wo ihr silberweißes Haar endete und das gleichfarbige Kleid begann.
Ehrfürchtig sank Robb auf die Knie.
„Das ist Robb“, antwortete eine der Schwestern. „Er ist ein Dichter!“
„Meine Herrin.“
Ein klares helles Lachen perlte von Ameraghs Lippen. „Nur für diese eine Nacht“, erwiderte sie mit einem freudigen Blitzen in den hellblauen Augen.
Neleth neben ihr, in einem prächtigen goldenen und roten Gewand, das dunkle Haar mit einem schmalen Goldreif aus der Stirn gehalten, neigte zustimmend den Kopf und entließ die kleine Gruppe.
Die Zwillinge gingen wieder voran zu einem Tisch ganz in der Nähe und ließen Robb Platz nehmen. Jedes Wesen, dem sie begegneten, begrüßte sie ausgelassen und lachend. Jemand drückte dem Dichter einen Kelch in die Hand mit einem Getränk, von dem er noch niemals gehört hatte. Er konnte nicht einmal sagen wonach es schmeckte, doch es war besser, als alles, was er je getrunken hatte. Ebenso wie die Speisen, von denen er viele kannte, und die doch ganz neu schmeckten.
Irgendjemand begann damit, ihm Fragen zu stellen, über die Menschen, über ihn, über Dichter, und über Geschichten die er kannte, um sie mit denen des Feenvolks zu vergleichen und es entbrannten hitzige aber lustige Diskussionen.
Bald war Robb von einer riesigen Masse umgeben, doch er konnte sich nicht daran hindern, sich alle paar Minuten zur schönen Feenkönigin umzudrehen.
Schließlich verlangte jemand ein Lied. Robb zögerte. Er wagte es nicht an diesem Ort über Feen zu singen, denn nichts, was er sagte, konnte ihrem Glanz gerecht werden. Anderseits wusste er nicht, welche Lieder über Menschen dieser Halle angemessen waren. Endlich rang er sich zu einem lustigen Stück über einen König und seinen Diener auf der Jagd durch.
Der gesamte Saal schien die Luft anzuhalten, während er mit seiner schönen Stimme sang. Kein Ton war sonst mehr zu hören.
Als er geendet hatte blickte er sich unsicher um und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Aber einen Moment später brach der Lärm von Neuem los und jeder applaudierte begeistert und schrie jauchzend Beifall.
Sofort wurde nach einem weiteren Lied verlangt und wieder und wieder. Beinahe ununterbrochen sang Robb, nun immer mehr von der ausgelassenen Stimmung angesteckt, und erzählte Geschichten. Die Musiker begleiteten ihn auf ihren Instrumenten und die übrigen Gäste klatschten im Takt mit oder tanzten beschwingt.
Mit der Zeit war Robb immer überzeugter davon, genau hierher zu gehören. Die Feen behandelten ihn wie einen der Ihren und so fühlte er sich auch. Farben leuchteten immer intensiver und verschwammen zu phantastischen Kunstwerken. Seine Gedanken flogen leicht und wirr wie kleine Vögel. Bilder, von denen er nicht wusste, ob er sie sah, oder ob sie in seiner Einbildung entstanden, schwebten vor seinen Augen.
Immer mehr ließ er seinen Körper zurück, während sein Geist in einem wunderbar angenehmen Strudel aus gleißendem Licht und flackernder Dunkelheit zu versinken drohte.
Das letzte, woran er sich im Rausch der Farben und Gefühle erinnerte, war der kühle Hauch Ameraghs Lippen auf seiner Wange, als sie ihn am Ende der Nacht verabschiedete.

Die Sonne spitzte bereits über die Baumwipfel als Robb aufwachte. Millionen winziger Tautropfen glitzerten im Gras. Vögel zwitscherten und über ihm rauschten die Blätter einiger Bäume, die in einem perfekten Kreis auf einer Hügelkuppe standen.
Es dauerte einen Moment, bis er sich an die vergangene Nacht erinnerte.
Eine

Nacht?
Robb versuchte seine Gedanken zu ordnen, doch er konnte nicht sagen, ob dieser Traum nur einige Minuten oder ein ganzes Leben gedauert hatte.
Aber war es denn ein Traum gewesen?
Mit gerunzelter Stirn stand er auf und sah sich um. Die Lichtung war leer. An ihrem Rand war sie von einem zweiten, ebenso perfekten Kreis aus Steinen begrenzt. Von Feen und anderen übernatürlichen Wesen fehlte jede Spur.
Geräusche in der Ferne unterbrachen seine Überlegungen. Das dumpfe Trappeln von Pferdehufen und die Rufe ihrer Reiter.
„Die halten mich für verrückt“, murmelte Robb. Seine Stimme war heiser, er erkannte sie selbst nicht wieder.
Kopfschüttelnd stieg er langsam den Hügel hinab.
Auf ebenem Boden angekommen blickte er noch einmal zurück. An einem der unteren Äste eines der Bäume glänzte etwas. Eine kleine Laterne, zu zart und filigran, als dass ein Mensch sie geschaffen haben konnte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.09.2011

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