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Weiße Leinwände

Fünfhundertsiebenundreißig. Beeindruckend, die Masse an Menschen, die an mir vorbeigelaufen ist. Das aber ist schon das einzig bemerkenswerte an ihnen. Denn ihre Gesichter sind leer und ihre Augen ausdruckslos.
Sie sehen einander so ähnlich, scheinen alle das gleiche zu tragen, das gleiche zu tun, zu sagen, zu denken. Ich erkenne keinen Unterschied zwischen den Leuten, die mir einer wie der andere einer Schaufensterpuppe gleich kommen.
Dabei glaube ich gar nicht, dass es so sein muss. Wenn ich den Kaffee vor mir beiseite lasse und mich mit aller Kraft konzentriere, dann kann ich wundervolle Einzelheiten und Kleinigkeiten erkennen, individuelle Details, die aber so geschickt kaschiert werden von der angepassten Einheitsmode und Schichten von Make-Up, dass ich Mühe habe, sie auszumachen.
Ach, wie gerne wäre ich einer von ihnen und ach, wie sehr würde ich mich dann doch selbst verachten müssen. Die Nonchalance mit der sie ihr Leben nach den Geboten und Erwartungen richten finde ich ebenso beneidens- wie verachtenswert. Den Luxus einer solchen Fremdbestimmtheit, ich würde ihn mir nur allzu gerne gönnen, um Abstand zu gewinnen von der Anstrengung, ich selbst zu sein.
Einmal niemand sein, einmal auch nur als grauer Schemen unter all den anderen wandern, ich stelle es mir erholsam vor: sich treiben lassen vom Strom der Masse, die Arme ausbreiten und sich vom Wind der Modeerscheinungen tragen lassen und freie Angriffsfläche bieten für all die vorgefertigten Meinungen, die Tag ein Tag aus auf die Menschheit darnieder prasseln.
Ich kann das nicht und ich bin dankbar dafür, auch wenn der Kopf manchmal schmerzt von den Bemühungen des eigenständigen Denkens. Ein Niemand zu sein wäre vielleicht weniger kräftezehrend, aber das eben wäre es: WENIGER.
An meinen guten Tagen, wenn ich der Welt wohl gesonnen bin und ein beinahe kindlicher Optimismus meinen Realismus und meine Urteilskraft zu trüben vermag, dann stelle ich mir die Menschen um mich herum als unbemalte Leinwände vor. Ja, ich räume ihnen dann die Möglichkeit ein, sich noch weiterzuentwickeln. Es spricht in jenen Stunden wohl die verzweifelte Suche nach letzter Hoffnung aus mir, genau so, wie ich eben die winzigen Spuren von Individualität auf ihren Gesichtern suchte.
Im krassen Gegensatz dazu fühle ich mich vom Leben mit Farbe überladen, als hätten all die prägenden Ereignisse sich in Litern über mir ergossen und meine Seele Stück für Stück verfärbt, bis ich ihre eigentliche Gestalt nicht mehr ausmachen konnte.
So kämpfe ich mich also durch das, was sie Leben nennen. Ächzend und Röchelnd bahne ich mir einen Weg durch die verstopfte Einbahnstraße moderner Lebensführung – und zwar entgegen der Fahrtrichtung. Wieso? Weil ich weiß, dass mein Ziel nicht in Fahrtrichtung liegt.
Sie gehen auf die glitzernden Lichter der Großstadt zu, auf die Betonsilos, in denen sich die Menschen stapeln wie gezüchtetes Schlachtvieh. Wie die Motten werden sie von der verführerisch warmen Ausstrahlung des Lichts angezogen. Doch ich weiß, dass die Neonröhren hinter den Glasfenstern keine Wärme spenden.
Ich hingegen eile der Wüste entgegen. Einer kargen, einsamen Landschaft auf den ersten Blick, auf den oberflächlichen Blick derjenigen, die sich mir in den Weg stellen.
Doch mit ein wenig Zeit du Hingabe entdeckt man große und kleine Wunder in der unwirtlichen Landschaft, die gerade deshalb umso schöner, prächtiger und spektakulärer hervortreten, da sie sich in der Einöde versteckt halten.
Es ist ein Niemandsland, auf das ich zustrebe, denn niemand scheint dort auf mich zu warten und niemand geht an meiner Seite mit dort hin. Ob es das ist, was mich daran reizt, oder das letzte, das in mir ein Zögern hervorruft, kann ich nicht sagen.
Sicher aber weiß ich, dass auch die Welt, die ich damit verlasse, ein Niemandsland war. Zwar eines, in der die Fata Morgana des blühenden, unbeschwerten Lebens in der Sonne flimmert, aber genau deshalb eines, das sich selbst verleugnet.
Ich will nicht in einer Lüge leben. Mein Geist hat aufgehört, sich von Illusionen einlullen zu lassen. Trotz seiner Sehnsucht nach diesem traumlosen Schlaf strebt er nun rastlos einer ehrlichen Kargheit entgegen, einer Entbehrung, die sich nicht als Opfer verkleidet und einem Leiden, das sich nicht als Märtyrertum ausgibt.


Impressum

Texte: Titelbild: "Blick in die Zukunft" (Aenne Brielmann alias Fubuki)
Tag der Veröffentlichung: 28.11.2008

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