Mein
Blick schweifte unruhig über die Steilküsten, suchte die aufgehende Sonne über der verschwommenen Grenze zwischen Meer und Horizont. Der kühle Wind, der vom Meer herüber wehte und salzgewschängerte Luft herantrug, zerrte mir an Haar und Kleidern. Braune Strähnen klebten in meinem Gesicht, machten mich Blinzeln und wollten neu geordnet werden.
Ich aber war wie versteinert, stand da an den Klippen wie der vergessene Rest eines Leuchtturms, und konnte mich nicht regen, nicht einen Finger bewegen. Die Vollkommenheit der Landschaft, die mich umgab, ließ mich innerlich Zittern, meinen Körper aber erstarren.
Um mich herum hingegen war alles bewegt von diesem Wind, den ich in solcher Form nicht kannte. Ein kraftvolles Wogen in der Luft, ein ständiger Umschwung und Austausch unsichtbarer Teilchen, ein Tanz, dessen Schrittfolge ein Geheimnis blieb.
Die Gicht über den Wellen türmte sich auf, so hoch, als wolle sie zu einem Teil des Wolkenbandes werden, dass sich sanft zwischen das von ersten Sonnenstrahlen erleuchtete Band am Horizont und den noch dunklen Rest von Nachtimmel legte.
Ich konnte nicht mehr sagen, wie lange ich dort bereits gestanden hatte, nur, dass es noch düster und kalt gewesen war, das Gras noch feucht und die wahre Schönheit der Natur sich schlafend gestellt hatte unter der Decke der Nacht.
Ich war so ruhelos gewesen, nicht fähig, die Augen geschlossen und meinen Körper auf der Matratze liegend zu halten, deshalb hatte ich den langen Weg vom Hotel an diesen verlassenen Ort auf mich genommen. Seine Ruhe wollte ich in mich aufnehmen, in der Hoffnung, sie möge meiner von den Erschütterungen der letzten Tage gebeutelten Seele Frieden bringen. Denn es hatte Krieg geherrscht in meinem Inneren, zwischen zahlreichen Parteien, die ich nicht zu benennen vermochte und die doch alle Teil von mir waren, so fremd sie sich auch anfühlten.
Und es war ein lauter Krieg gewesen, ein rastloses Durcheinanderrufen von etlichen Stimmen, deren Ursprung sich nur erahnen ließ. Deshalb wohl hatte mich dieser Platz so angezogen, seiner Stille wegen.
Selbst der Wind hier war geräuschlos. Doch er barg in sich ein Geheimnis, das ihm gleichzeitig eine tiefgreifende Kraft gab. Jene, die die Wellen zwang, sich ihr zu beugen, die mit der Zeit selbst die Bäume hier nach ihrem Willen geformt hatte.
Die knorrigen Äste der Zedern wiesen aufs Meer hinaus, als deuteten verknöcherte Finger auf die brausende See.
Ja, wahrlich, in diesem Moment empfand ich es als einen Fingerzeig. Es reifte der Gedanke in mir heran, mich in die Fluten zu stürzen, deren stetes Wogen mich so faszinierte. Doch ebenjene gleichmäßige Harmonie in ihrer Bewegung ließ mich erneut innehalten.
Es war so friedlich um mich herum. Was also gab mir das Recht, diesen Frieden zu stören, den ich selbst gesucht und gefunden hatte? Ein sanftes Lächeln schlich sich auf meine Lippen, ich wusste nicht, woher es kam, ahnte aber wohl dass der geheimnisvolle Wind es dorthin gezaubert hatte.
Die Reglosigkeit meines Körpers begann sich aufzulösen, wie es auch die Wolken taten. Sie hatten nun die Form, wie man sie von den alten Tuschezeichnungen kannte: ein liegender Tropfen, Fragment des Wassers.
Ich atmete tief durch. Wasser und Wind waren allgegenwärtig, umflossen mich, drangen in mich, meinen Geist. Irgendwie, nicht irgendwo, sondern genau hier, verschmolzen die beiden Elemente ineinander, die Trennung wurde undeutlich, so vielfältig waren die Wechselwirkungen zwischen den beiden.
Meine Gedanken flossen auseinander, wurden Meer und Wind, wurden weich und neblig. Wolken? Das Wort hallte durch mich hindurch, ohne dass ich das Gefühl hatte, es wirklich zu denken, nein, es erfüllte meinen Geist.
Ich spürte mich selbst nicht mehr.
Ich brach zusammen, sagten andere mir später, aber das klang so negativ, das war falsch. Ich fiel auseinander, ja, aber nur, um mich neu zusammenzusetzen. Es war kein Zerfall, nur ein vorübergehendes sich Auflösen.
So, wie Teile des Meeres zu verschwinden scheinen, wenn sie verdampfen und sich in den Wind mischen. Doch sie bilden Wolken, irgendwann, wenn die kleinsten Teilchen von Wasser dem Tanz mit jenen der Lüfte müde werden. Und als erinnerten sie sich an jene Zeit, als sie nur kleine Tröpfchen waren, so formten sich dann auch die Wolken zu jenem Gebilde. Und irgendwie war es dann auch ein Blick in ihre Zukunft…
So war alles eins.
Dieser Morgen an der japanischen Küste, an dem ich mich selbst wiederfand, indem ich mich vollkommen in der mystischen Landschaft verlor.
An dem alles sich in ein großes Ganzes fügte, ich mich selbst hinein fügte.
An dem ich mich mit der Stille unterhielt.
Und sie gab mir Antworten, die mich mit ihrem Geist erfüllten. Ich war erfüllt von Stille. Und der Krieg in meinem Inneren schwieg.
So rettete mich das Gespräch mit der Stille.
In den Dämmerstunden an der kiefernbewachsenen Steilküste Japans.
Und alles war eins.
Texte: Cover: Aenne Brielmann, 2008 (Acryl auf Leinwand)
Tag der Veröffentlichung: 27.08.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die Suchenden und Rastlosen