Gedankenverloren betrachtete sie die Verwirbelungen der Rauschschwaden, das ständige Aufwallen und wieder in sich Zusammenfallen. Sie liebte das gräuliche Blau von Zigarettendunst, die harmonischen Formen, die der Qualm in die Luft zeichnete.
Eigentlich fror sie fürchterlich, selbst die feinen Härchen, die ihren Schwanenhals bedeckten standen ihr zu berge. Aber gleichzeitig mochte sie nicht hineingehen in die vermeintlich gemütliche Wärme des Restaurants, weil die Nacht gerade so nahe am Gefrierpunkt ihre Schönheit offenbarte.
Der Himmel war klar und weit, gesprenkelt von Sternen, ungestört deren kühles Funkeln vom Licht des Mondes, dessen Sichel nur zu erahnen war. Irgendwo in der Ferne durchbrachen die Rufe einer Eule die Stille, kurze, klagende Schreie, aneinandergereiht in regelmäßigen Abständen wie die Perlen auf einer endlosen Kette.
Sie atmete tief und ruhig, zog hin und wieder an ihrer Zigarette, die sie so lange wie möglich genießen wollte, denn eine weitere würde sie sich heute nicht gestatten. Eine eisige Windbö rang ihr ein Zittern ab, das sie zu unterdrücken suchte. Das Kleid, das sie trug, war zu dünn für die kürzer werdenden Tage, aber der feine Stoff fiel schmeichelhaft und zeichnete eine lebendige Kontur um ihre hagere, knabenhafte Gestalt.
Deshalb hatte sie es schweren Herzens aus dem Schrank gezogen und übergestreift, obwohl sie schon ahnte, dass es sie darin frieren würde. Es war nur ein schwacher Widerwille, den sie dabei empfand, der gleiche, den sie ohnehin für den gesamten Abend hegte: Der Mann, mit dem sie verabredet war interessierte sie nicht sonderlich, dennoch wollte sie ihm gefallen, wollte, dass er sie begehrte. Denn sonst wäre es nicht so befriedigend ihn am Ende abzuweisen.
Mit dem leichten Lächeln derer, die wissen, was geschehen wird, kehrte sie in das Lokal zurück. Er hatte es ausgesucht – wohl um sie zu beeindrucken. Ein teures, namenhaftes Restaurant, horrende Preise für exklusive Speisen, die sie kaum angerührt hatte.
Er nahm ihre Rückkehr mit einem Strahlen zur Kenntnis, das ihr vielleicht ein wenig Mitleid entlockt hätte, wäre es nicht das gleiche, das schon so viele Männer vor ihm auf dem Gesicht gehabt hatten, wenn sie glaubten, sie verführt zu haben.
Doch bis zum heutigen Tage hatte sie sie alle Narren geheißen und die Hoffnungen, die sie in ihnen während der langen Abende geweckt hatte, mit einem furiosen Schlag zertrümmert hatte.
Die einzige Freude, die sie sich gönnte war die eines Kindes, das den Turm aus Bauklötzchen, den es gebaut hatte, mit einem leichten Stups zum Einsturz brachte. Die Freude aber an einer Beziehung, einer Verliebtheit, eines sexuellen Abenteuers aber verwehrte sie sich, weil sie den faden Beigeschmack der Lüge fürchtete und noch mehr die Enttäuschung eines Endes, das nicht sie herbeigeführt hatte.
Ebenso rigide ging sie mit all den kleinen Freuden des Lebens um: Sie gestattete sich fünf Zigaretten am Tag und eine genau bemessene Menge an Essen und Alkohol. Viel größer als die kurze Befriedigung aufwallender Gelüste war die Furcht vor Enttäuschungen und Kontrollverlust.
Ihr Begleiter begann erneut zu sprechen, doch sie hörte ihm nicht zu. Wohl nahm sie die Bewegung seiner Lippen zur Kenntnis, doch nur das schummrige Kerzenlicht, von dem sie wusste, dass es auch ihr einen schmeichelhaften Teint verlieh, machte den Anblick seines Gesichtes für sie erträglich. Nicht, dass er nicht als attraktiv gelten konnte: Die wenigen Falten um Auge und Mund waren das, was man markant nannte, sein Haaransatz war voll, die Kopfform symmetrisch ohne künstlich zu wirken, doch sie sah nur das Gesicht ihres Vaters vor sich. Und da war die verschleiernde Wirkung der Kerzenflamme eine willkommene Ablenkung von schmerzhaften Erinnerungen.
Über die unsichtbaren Grenzen seines Platzes hinweg suchte seine Hand die ihre, geschickt umging er dabei den Fuß des Kerzenständers. Sie entzog sich der zärtlich gemeinten Geste, indem sie sich scheinbar ahnungslos das Haar richtete. Aber in seine Augen trat der Anflug von Enttäuschung, die milde Vorahnung, dass er am Ende des Abends kein Auf wiedersehen sondern lediglich ein Ciao hören würde.
Da begann er vom Jugendstil zu sprechen und das erstaunte sie, denn woher sollte er ahnen, dass sie geradezu vernarrt in die japanisch inspirierte Reinheit der Formen war? Oder sollten sie gar etwas gemeinsam haben, es ihm wirklich ein Bedürfnis sein, von der Schönheit der kunstvoll gerahmten Buntglasfenster zu erzählen?
Nein, sie schüttelte de Kopf mit nachsichtigem Selbsttadel, sie würde sich keine falschen Hoffnungen machen. Dennoch oder gerade deshalb gestattete sie ihm, weiterzusprechen und unterbrach ihn nur, um ihn dazu aufzumuntern, noch ein kleines Detail zu schildern, ein lebendigeres Bild von den Kunstwerken, die er hatte sehen dürfen, zu zeichnen. Denn solange all dies nicht ihrer Verführung diente, was konnte es ihr schaden?
Er bestellte den Nachtisch, sie Espresso, obwohl sie sich eigentlich vorgenommen hatte ihm die Freude einer Verlängerung nicht zu gönnen. Nichtsdestoweniger musste sie sich eingestehen, gerne zu hören, was er über die Jugenstilhäuser in Brüssel zu berichten wusste, dass es ihn schmerzte, wie sie von kubistischen Neubauten eingekesselt wurden, wie sie immer seltener wurden, wie manche von ihnen verfielen.
Sie ließ sich ein wenig treiben in seinem kleinen Monolog, schwamm mühelos auf den Wellen seiner tiefen Stimme, die den Raum nicht durschnitt, sondern schwerelos durchquerte. Dabei wurde ihr Geist ruhig und in ihrem Inneren breitete sich eine wohlige Wärme aus, ein fremdes Gefühl, dass sie zunächst nicht erkannte, so lange hatte sie nichts ähnliches empfunden.
Mit umso größerem Entsetzen schrak sie dann aus diesem träumerischen Zustand auf, als sie das Restaurant verließen und ihre Seele von der Kälte der Nacht von einer weichen Glückstrunkenheit zurück in die scharf umrissene Nüchternheit gezerrt wurde.
Sie realisierte mit unsicherem Schaudern, dass sie den Abend nicht mit der erwarteten Langeweile zugebracht hatte, dass sie nicht wie sonst von einem ständigen seichten Unwohlsein durch die Verabredung getragen worden war, sich im Gegenteil wohl gefühlt hatte, es genossen hatte.
Nun hätte jeder andere sich darüber gefreut, hätte gelächelt und eine möglichst baldige Wiederholung eines solchen Beisammenseins herbeigesehnt, doch sie empfand blanke Furcht. So war das nicht geplant gewesen, so hatte sie sich das nicht ausgemalt. Das war schlecht, falsch, unwahr. Das musste eine Lüge sein.
Wie konnte dieser Mann ihre fein säuberlich geordnete Welt, in der alles vorhersehbar war, in der sie stets wusste, was als nächstes geschehen würde, nur so durcheinander bringen? Wie konnte er es wagen, die Kontrolle an sich zu reißen. Wie hatte er es geschafft, den Fortgang des Abends selbst zu bestimmen und ihr die Machtposition zu stehlen?
Der verklärte Blick und das milde Lächeln, mit dem er sie nun zum Abschied belegte machten sie wütend, denn es lag eine unschuldige Friedfertigkeit in ihm, die sie ihm nicht zugestehen wollte. Eine Unverschämtheit war es in ihren Augen, dass er sich nicht schämte, sie so gedemütigt zu haben.
Es trennten sich nun ihre Wege und es ward Zeit, sich zu verabschieden. Sie setzte bereits zu einem vernichtenden Urteil über den Abend an, wollte alles wieder in gewohnte Bahnen lenken, indem sie ihm dieselben kleinen Grausamkeiten zukommen ließ wie all den anderen davor, doch er wagte es, auch dieses Ritual zu verhindern.
Er riss die Kontrolle ein letztes Mal an sich, indem er ihr zuvorkam:
„Ich nehme nicht an, dass wir uns wiedersehen…“, sagte er mit derselben Stimme, die zuvor die Schönheit moderner Kunst zum Leben erweckt hatte. „Wieso hast du nur solche Angst davor, glücklich zu sein?“
Tag der Veröffentlichung: 22.08.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
All jenen, denen das Glück versagt ist.
Was auch immer die Gründe sein mögen.