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Es war niemals still auf den Straßen dieser Stadt. All diese Bewegung, das ständige Kommen und Gehen, das Hetzen von Ort zu Ort, ohne dass einer von ihnen von besonderer Bedeutung gewesen wäre, erzeugte ein nicht enden wollendes Brummen.
Allein die Bushaltestellen entzogen sich diesem Automatismus. Sie waren eine Institution des Stillstandes, Inseln des Wartens und Innehaltens. Freilich hatte dieses Innehalten nichts zu tun mit der meditativen Gemütsruhe, die man diesem Gemütszustand gemeinhin zuschreibt, denn es war erfüllt von Ungeduld und schlechtem Gewissen.
Das schlechte Gewissen, nicht tätig zu sein, ein Phänomen dieser Stadt, ein weiteres Gesetz, dass sich aus dem Zwang der ununterbrochenen Bewegung ergab.
Doch sie scherte sich nicht darum. Denn sie erinnerte sich noch wie es war, als die Stadt noch nicht war und ihre Regeln sich noch nicht in das Bewusstsein der Menschen gegraben hatten.
Und so genoss sie es, in dem kleinen Unterstand zu hocken, auch wenn es dreckig war dort und ihr Rücken schon nach wenigen Augenblicken schmerzte, weil das Plastikbänkchen so hart und niedrig war. Hier war es ihr noch gestattet die Augen zu schließen und dem Müßiggang zu frönen, ohne dass schiefe Blicke sie verurteilten, straften und mahnten.
Sie war alt, das wurde ihr bewusst, als sie die Augen wieder öffnete, um sich nach dem Bus umzusehen, den sie besteigen würde, obwohl sie es nicht wirklich wollte. Es lag nicht einmal so sehr an dem knirschenden Drücken in den Gelenken oder dem müden Brennen der Augen, sondern eben daran, dass sie die einzige zu sei schien, die nicht voll Ungeduld auf die Fortsetzung des hektischen Treibens wartete.
Sie seufzte still und ahnte nicht, dass es wohl jemanden gab, der ähnlich wie sie einfach nur ein Plätzchen zum da Sein suchte, ohne weitergehen zu müssen. Wobei jemand vielleicht der falsche Ausdruck ist, denn es handelte sich um eine einfache Taube.
Ja, sie hatten viel gemeinsam, die alte Frau an der Bushaltestelle und die Straßentaube zu ihren Füßen. Beiden war es freilich nicht bewusst, aber der aufmerksame Beobachter konnte es ihnen Ansehen:
Es war der Ausdruck stillen Duldens und Ertragens, der sie nach außen hin verband. Ein wenig traurig waren die beiden Augenpaare, das eine von verblichenem Blaugrau, das andere tiefschwarz und puppenhaft. Sie hatten es nicht gewählt, das Leben in der Stadt, und doch flüchteten sie nicht, denn ihr gemeinsamer Zufluchtsort bot ihnen jeden Tag ein wenig Trost, gerade genug, um sie dort festzuhalten und doch zu wenig, um die Bedrückung zu lindern:
Eine schäbige Bushaltestelle in all ihrer Anonymität von den anderen Hunderten nicht zu unterscheiden, grau wie das Federkleid der Taube, verschmutzt, gerade so weit, dass es noch nicht anstößig war und doch mehr zu Hause als all die anderen Plätze, die unterdrückt wurden vom Diktat der Beschäftigung.
Ihre Aufmerksamkeit glitt nur kurz zu dem unscheinbaren Tier, nur am Rande wurde sie ihm gewahr. Es war ihr mehr ein Ärgernis, als dass sie die wahrliche Verbindung erkannte. Sie mochte die Tauben nicht, denn sie waren mit der Stadt gekommen, und mit der Stadt war alles Übel gekommen, davon war sie überzeugt.
Die einzig verwandte Seele betrachtete sie mit Verachtung.

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Tag der Veröffentlichung: 17.08.2008

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