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Vom Ende der Leere




Adrian mochte die Vorstellung, sein Gehirn sei eine riesige Bibliothek. Es mochte es, sich vorzustellen, seine Gedanken seien die Sätze eines Romanes, niedergeschrieben von unsichtbaren Federn und einer unbekannten Hand.
Abwegig war dieser Gedanke nicht, denn oft war Adrians Denken einem Buch ähnlicher als ihm lieb war. Wenn er sich konzentrierte dann klang das Arbeiten in seinem Kopf wie ein neues Kapitel aus dem Buch, das er gerade las.
Adrian las viel. Konsumieren, das konnte er. Produzieren, das fiel ihm schwer.
Er wollte schreiben. Er wollte die Worte, die so schön klangen in seinen Gedanken, zu Papier bringen. Aber er scheiterte ein ums andere Mal.
Im Moment war Adrian einmal mehr im Scheitern begriffen. In einer Hand die angerauchte Zigarette, die andere verkrampft wartend auf die Tastatur des Laptops gelegt, saß er in einem Café und... nichts und.
Genau das war das Problem- Die Seite auf dem Monitor war leer. Der kleine schwarze Balken blinkte einsam und vorwurfsvoll auf einem komplett leeren Dokument.
Adrian zog erneut an seiner Zigarette. Ihm waren die Raucherdebatten egal. Es war ihm gleichgültig, nikotinabhängig zu sein, zumindest solange er seine Sucht problemlos befriedigen konnte. Es wäre ihm auch gleichgültig gewesen, heroinsüchtig zu sein, würde das nicht weitaus mehr Komplikationen mit sich bringen.
Die Sucht hatte etwas dramatisches, theatralisches. Vielleicht lag sie Adrian deshalb so nahe. Deshalb gefiel ihm der Gedanke daran sogar gar nicht schlecht. Ja, Adrian hatte etwas übrig für melodramatische Selbstinszenierungen.
Das war auch der Grund, wieso er sich nicht in seinem Zimmer einschloss mit seinen verzweifelten Schreibversuchen, sondern diese stets in der Öffentlichkeit zur Schau stellte: in Cafés, Parks, U-Bahnen.
Die Menschen um ihn herum nahmen freilich wenig Notiz davon – Banausen, dachte Adrian, die Menschen haben verlernt, sich von dem bisschen Interessantem in ihrem Alltag faszinieren zu lassen – aber es bestand immerhin die Möglichkeit, dass sich irgendwann ein weniger ignorantes Augenpaar auf ihn richten werde, seine Situation begreifen werde und dann...
Adrian wusste selbst nicht, was er sich davon erhoffte.
Mit Daumen und Zeigefinder rieb er sich die schweren Lider. Müde vom Nichtstun, schalt er sich selbst, und zwang sich, wieder auf den Bildschirm zu starren.
Leere. Er hatte kein Konzept, keine Geschichte, die er erzählen wollte. Den unbändigen Drang zu schreiben: ja. Eine Idee: nein.
Das hieß, manchmal, da erahnte er wohl so etwas wie den vagen Anflug von Ideen, doch sie alle kamen ihm bekannt vor, schlimmer noch: verbraucht, ausgelaugt, Klischee-beladen, fad.
Hatte er zu viel gelesen? Zu wenig womöglich? Adrian konnte es so wenig sagen, wie er alle Bücher, die er bereits in sich aufgesogen hatte, hätte aufzählen können.
Die Liebe zum geschriebenen Wort ist ein zweischneidiges Messer.

Es muss etwas geschehen, dachte er.

Das einzige aber, was sich in der nächsten halben Stunde ereignete, war, dass die Kellnerin Aschenbecher und Kaffeetasse abräumte und mit genervter, gespielter Hektik fragte, ob es noch etwas sein dürfe.
Adrian sah sich genötigt, noch einen Kaffe zu bestellen, den dritten mittlerweile, um nicht vor einem leeren Tisch zu sitzen, das dumme Gefühl im Nacken, kein Anrecht mehr auf diesen Platz zu haben.
Ob er nicht arbeiten müsse, fragte die Kellnerin, jetzt besser gelaunt, weil von einem älteren Herren mit großzügigem Trinkgeld entlohnt, als sie Kaffee Nummer drei servierte.
Adrian schüttelte den Kopf, nickte dann und sah dabei nicht von seinem Laptop auf. Tue ich doch, wollte er sagen, aber diese Lüge kam auch ihm nicht über die Lippen.
Na dann, murmelte die Kellnerin, halb beleidigt, halb abgelenkt von einem Wasserglas, das klirrend am Nebentisch zu Bruch gegangen war.
Das neunjährige Mädchen, das dort mit seiner Mutter saß, hatte es in den Ausschweifungen eines spontanen Wutanfalls vom Tisch gefegt. Die Mutter, peinlich berührt, entschuldigte sich mehrfach, auch bei Adrian, von dem sie fürchtete, er könne nass geworden sein.
Diesmal nahm Adrian die Ablenkung erleichtert an, wandte sich vom immer noch leeren Word-Dokument ab und versicherte lächelnd, alles sei in bester Ordnung.
Die junge Mutter gab ein gequältes Lächeln zurück, weil sie sich dazu genötigt sah, schielte aber mit einem Auge immer noch anklagend auf ihre Tochter.
Sie ist nicht ganz einfach, meinte sie dann entschuldigend und es klang wie der Beginn eines langen Leidensberichts.
Wer war schon einfach als Kind? Nur die Dummen und die Einfallslosen, erwiderte Adrian ohne Recht darüber nachzudenken, was er da eigentlich sagte. Ihm war nach Gespräch, Unterhaltung, Interaktion, nach etwas tun und nicht mehr auf blanke Seiten starren, in der irren Hoffnung, sie mögen sich füllen.
Wenn Sie selbst erst mal Kinder haben, gab die Mutter, die auf einmal zwanzig Jahre älter klang als sie war und mindestens doppelt so spießig, dann sagen Sie das vielleicht nicht mehr so lapidar daher.
Aber bestreiten tun Sie’s nicht. Dass es wahr ist, was ich gesagt habe.
Überführt: Sieg. Adrian grinste in sich hinein.
Oh nein, Sie haben vollkommen Recht, leider. Aber das ist auch nicht, was ich sagen wollte. Sophia ist ein intelligentes Kind, sehr aufgeweckt, aber gerade deshalb... na ja.
Die Mutter schnalzte mit der Zunge.
Das Mädchen grinste selbstgefällig. Adrian hätte nicht gedacht, dass Selbstgefälligkeit zu den Ausdrücken gehört, die ein Schulmädchen beherrscht.
Überhaupt, jetzt wo er sie einmal genauer betrachtete, fand Adrian das Mädchen interessant.
Sophia, das passte zu den großen dunklen Augen und der unkindlichen Blässe. Adrian liebte Menschen, die zu ihren Namen passten. Das gab ihnen etwas von den Figuren eines Romans, deren Namen stets bedeutungsschwer auf ihnen lasten.
Lieber so als andersherum. Ob Frage oder Feststellung kannst du dir aussuchen, setzte Adrian in Gedanken hinzu.
Die Kellnerin, die bis dahin auf dem Boden gehockt und so getan hatte, als wische sie den Boden, wurde der Unterhaltung an dieser Stelle überdrüssig und fragte Sophias Mutter nach ihrer Bestellung.
Es wurden ein Tee – Jasmin – und heiße Schokolade geordert, mit einem Seitenblick auf Adrian auch ein Stück Kuchen. Sophia lächelte ihm freundlich dankend zu, ehe sie einen triumphierenden Blick auf ihre Mutter warf. Sie wusste genau, wem sie den knappen Sieg im Streit um die Nascherei zu verdanken hatte.
Aus vollkommen irrationalen Gründen, oder vielleicht doch weil er sich von dem charmanten Lächeln einlullen ließ, begann Adrian das Mädchen langsam zu mögen. Dabei konnte er Kinder eigentlich nicht leiden, hielt sie schlicht für laut, aufdringlich und unmanierlich. Aber wieso sollte nicht ausgerechnet diese Kleine die rare Kostbarkeit einer erfreulichen Ausnahme sein?
Er würde gern eine Geschichte für sie schreiben, dachte Adrian bei sich, begleitet von einem tiefen inneren Seufzen. Doch was nutzte ihm eine schöne Widmung ohne etwas, dem man sie voranstellen konnte.

Das Blinken des kleinen schwarzen Strichs hatte nichts von seinem anklagenden Charakter verloren, seit Adrian ihn das letzte Mal betrachtet hatte. Es war sogar schlimmer geworden.
Was machen Sie da eigentlich, fragte die Mutter nach kurzer Betrachtung des zermürbten Gesichts zu ihrer Rechten, haben Sie viel zu tun?
Adrian gab ein unbestimmtes Brummeln zurück, das die Zeit überbrücken sollte, die er brauchte um sich eine Antwort, die gut klang, aber trotzdem nicht zu mitleiderregend war, einfallen zu lassen.
Ja und nein. Ich schreibe, das heißt, ich versuche es. Das heißt, ich komme nicht sehr weit mit meinen Versuchen.
Sie sind Schriftsteller? Die junge Mutter beeindruckt und aufgeregt, schließlich begegnet man nicht jeden Tag einem Intellektuellen – wo auch: vor dem Schultor, am Spielplatz, im Supermarkt bestimmt nicht.
Eben nicht, Adrian war sich seiner eigenen Bissigkeit nicht bewusst, auch nicht seiner Aggressivität. Ein Potential, das zwar tief unter der Oberfläche schlummerte, aber nicht besonders schwer zu wecken war.
Sie war verwirrt und wusste keine rechte Antwort. Deshalb schwieg sie, obwohl es ihr äußerst unangenehm war. Sie war die Stille nicht mehr gewohnt, seit ihre Tochter geboren worden war hatte es stets etwas zu tun gegeben oder anzukündigen, zu sagen oder zu planen. Ihr kleines, durchschnittliches Leben war ausgefüllt mit Geschäftigkeit.
Das Gegenteil davon war bei Adrian der Fall. Viele Tage verbrachte er schlicht damit, die Stunden mit kleinen Handgriffen und zwecklosen Tätigkeiten auszufüllen und darauf zu warten, dass sie vergingen. Zeit war für ihn nichts kostbares mehr, es gab zu viel von ihr, sie sollte vergehen und tat es doch nur widerwillig.
Gleichzeitig erfüllte ihn das sinnlose Verrinnen von Zeit mit einem schlechten Gewissen und er bekam Panik, sein Leben könne verrinnen, ohne dass er etwas geschaffen hätte, dass ihm einen Sinn gegeben hätte.
Adrian seufzte schwer über diesen inneren Konflikt, dieses Paradoxon, dass ihn seit seiner Jugend verfolgte und quälte.
Wenn ich doch nur endlich etwas zu Papier bringen könnte!, stieß er in seiner Verzweiflung hervor, ohne zu realisieren, dass ihn jemand hörte. Kein Wunder also, dass er ungebührlich heftig zusammenzuckte, als die Mutter ihn mit besorgtem Blick fragte:
Ja, was hindert Sie denn daran?
Wenn ich das wüsste! Wenn ich es benennen könnte, dann wäre mir ja schon geholfen. Aber so einfach ist das nicht, da ist einfach etwas oder eben auch nichts, nicht einmal das kann ich sagen, das hindert mich daran… ach, Sie verstehen es sowieso nicht.
Adrian gestikulierte wegwerfend mit seiner Hand Richtung Mutter-Tochter-Gespann und hielt sich mit der anderen die Stirn. Es waren abwertende Gesten und nicht zu Unrecht fühlte sich die junge Frau missverstanden und unterschätzt von dem Schriftsteller, der noch keiner war.
Das hat Papa auch immer zu mir gesagt, warf überraschend Sophia ein, die dabei die Backen aufplusterte. Eigentlich wollte sie damit wohl die Wichtigkeit ihrer Aussage unterstreichen, doch stattdessen löste sie nur amüsiertes Kichern bei den beiden Erwachsenen aus.
Vielleicht war das auch besser, als der Ernst, den sie der Situation hatte verleihen wollen.
Über das Lachen vergaß Adrian seinen Ärger und es entwickelte sich ein heiteres Gespräch zwischen der jungen Mutter und ihm, das in amourösen Pinten gipfelte. Es fiel ihm leicht, passende Themen und Antworten zu finden, die Sätze flogen ihm zu und die Reaktionen, die er sich erhoffte, trafen tatsächlich ein.
Selten war ein Mittag so schnell an Adrian vorbeigezogen wie dieser.
Sein sonst so schwerfälliges Gemüt wusste das zu schätzen, wusste um den Wert dieser Leichtfertigkeit und bewahrte die Erinnerung an diesen Mittag deshalb sorgfältig.

Als Adrian sich dann das nächste Mal mit einem leeren Textdokument konfrontiert sah – was freilich nicht lange auf sich warten ließ -, da erschien das Bild der kleinen Sophia vor seinen Augen. Er sah ihre Mutter lachen und sofort glitt seine Hand in die Hosentasche, um zu prüfen, ob sich der kleine Zettel mit Telefonnummer und e-Mail-Adresse noch an seinem Platz befand.
Auf einmal blinkte der kleine schwarze Strich nicht mehr einsam.


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Tag der Veröffentlichung: 16.08.2008

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