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Ein nie enden wollender Albtraum

 

Es erdrückt mich. Dieser Raum. Die Enge. Alles ist kalt. Schlicht. Weiße Wände, grauer Teppich, ein unbequemes, durchgesessenes Ledersofa. Vor allem aber die Größe macht mir zu schaffen. Ich fühle mich, als ob ich ersticke.

"Oliver, wir müssen darüber reden. Bitte erzähl mir mehr. Wenn ich nicht weiß, was mit dir los ist und was dich bedrückt, kann ich dir nicht helfen. Erzähl mir doch was passiert ist und wir finden dann heraus, was dich so verstört."

Mein Herz fängt an zu rasen, wenn ich daran zurückdenke. Meine Panik schnürt mir die Kehle ab. Keine Luft mehr zum Atmen. Eigentlich ist das nur gerecht. Wenn ich jetzt sterbe.... Ich war schuld daran!
Ich halt es hier drinnen nicht mehr aus. Ich kann das nicht. Ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen, stürme ich aus dem Behandlungszimmer meines Psychologen.

 

Seit dem Tag sehe ich sie immer vor mir. Stille Albträume suchen mich heim. Niemand weiß davon. Es ist mein persönliches Geheimnis. So grausam. Ich stelle mir vor, wie sie mir die Schuld gibt und weint, weil es niemals mehr so sein wird wie früher. Alle glauben zu wissen, was passiert ist, doch in Wahrheit wissen sie nichts. Sie kennen nur die halbe Wahrheit. Ich habe nie jemandem davon erzählt.

Gerade weil ich nie etwas von diesem Tag erzählt habe, schickt man mich jetzt zum Psychiater.

Ich hätte nie gedacht, dass ich für den Rest meines Lebens an sie denken würde. Sie war so unscheinbar und mir fremd.

 Ich laufe durch die mit Schnee bedeckten Straßen und folge den Tannen am Wegrand. Mein Atem kommt in hektisch ausgestoßenen Schwaden zum Vorschein. Die Kälte bohrt sich in meine Knochen und mein ganzer Körper fühlt sich taub an. Aber dennoch nicht zu vergleichen mit der Kälte, die sie gefühlt haben muss...

Der Tag schien so perfekt. Alle waren glücklich. Ich dachte es würde ewig so weitergehen....

Ich weiß noch wie ich sie völlig ignoriert habe, als ich sie zum ersten Mal sah. Mein bester Kumpel hat sie mir vorgestellt und erzählt, dass sie gerade erst neben ihm eingezogen ist. Eine neue Nachbarin na und? Sie war etwas älter als wir und ziemlich zurückhaltend. Wir sind auf den Weihnachtsmarkt gegangen. Es war am Heiligabend. Es ist schon so lange her und ich erinnere mich trotzdem ganz genau daran. Es war in der Weihnachtsnacht vor vier Jahren. Schon längst vergangen aber trotzdem krallt es sich in mein Bewusstsein. Früher wie heute.
Mein Freund wollte einen guten Eindruck machen, sich ein bisschen einschleimen. Ich glaube er mochte sie. Jedenfalls hat er dann beim Dosenwerfen einen überdimensional großen Teddy für sie gewonnen. Sie sah so glücklich aus. Sie hat sich darüber gefreut und ihn den ganzen Abend mit sich herumgeschleppt.

 Niemand hätte ahnen können, dass wir am Ende des Abends nur noch zwei sein würden.

 Als es anfing zu dämmern, sind wir zum Hafen gegangen. Er ist nicht weit weg von der Innenstadt und einer unserer Lieblingsorte gewesen. Es war ein schöner Anblick. Eine glitzernde Wasseroberfläche durch das restliche Licht. Der leichte Wellengang plätscherte leise gegen die Eisenwände der Anlegerstellen. Alles war menschenleer und wir saßen am Rand, gut acht Meter über der Wasseroberfläche, und schauten schweigend auf das Wasser hinaus. Als wir gehen wollten, fingen wir an rumzualbern. Ich schubste meinen Freund neckisch und er stieß wiederum gegen seine neue, schweigsame Nachbarin. Sie stolperte über einen Poller, schlug sich den Kopf an und fiel in das tiefe Wasser. Ohnmächtig schwamm sie an der Wasseroberfläche. Langsam drohte sie zu versinken. Mein Freund sprang hinterher, doch in seinem Eifer schien er vergessen zu haben, dass er nicht schwimmen kann. Ich war wie erstarrt und beobachtete alles. In dem Augenblick ging mir gar nichts durch den Kopf. Der Schock verhinderte es. Eine Reaktion war undenklich. Beim Versuch wieder hinauszugelangen, indem er ein an einem Poller befestigtes Tau hochklettert, verhedderte er sich darin und es wurde für ihn immer schwerer oben zu bleiben. Er konnte seinen Kopf kaum über Wasser halten, fing an zu hyperventilieren und ich will mir gar nicht vorstellen, wie kalt das Wasser gewesen sein musste. Als ich endlich zur Besinnung kam und wieder Herr meines Körpers wurde, versuchte ich ihn herauszuziehen, doch es ging nicht. Als ich das einsah, rannte ich zu dem nur noch teilweise beleuchteten Weihnachtsmarkt und holte Hilfe. Die Leute haben erst nicht verstanden, was ich von ihnen wollte aber nach wenigen tödlichen Minuten kamen sie hinter mir her und schafften es irgendwie meinen mittlerweile bewusstlosen Freund aus dem Wasser zu fischen und von dem Tau zu befreien. Ein Krankenwagen kam und er wurde weggebracht, doch das habe ich gar nicht mehr mitbekommen. Ich starrte auf das Wasser hinaus und sah zu, wie auch die letzte Pfote von dem Riesenteddy versank.

Ich bin ein Mörder. Ich bin schuld daran, dass sie tot ist. Nur wegen mir konnte sie den Tag darauf nicht mit ihren Eltern die Geschenke auspacken. Nur wegen mir würden ihre Eltern sie nie wieder sehen. Sie ist tot und ich bin schuld!

Mein Freund konnte sich nach dem Unfall an nichts mehr erinnern und wir haben mittlerweile keinen Kontakt mehr. Vielleicht war es die Bewusstlosigkeit, vielleicht der Schock, vielleicht ein Selbstschutzmechanismus oder Verdrängung. Jedenfalls ist ihm nie wieder eingefallen, was wirklich passiert ist. Der gesamte Abend war wie ausgelöscht. Er wusste nur das, was man ihm erzählt hatte. Und ich glaube er hat mir Vorwürfe gemacht.

Seine neuen Nachbarn haben ihre Tochter vermisst gemeldet und sind schließlich wieder weggezogen. Wahrscheinlich hatten sie dieselben Probleme wie ich: Erinnerungen an ihre Tochter, die sie Tag und Nacht verfolgen. Alles erinnert einem an sie, selbst wenn ich sie gerade mal ein paar Stunden kannte. Und Schuldgefühle. Ob sie sich auch vorwerfen schuld daran zu sein? Ich konnte einfach nichts sagen. Ich konnte nicht zur Polizei gehen. Es ging nicht. Tue ich den Eltern damit nicht einen Gefallen? Sie haben noch die Möglichkeit zu hoffen. Ich nicht. Würde ich es wirklich wissen wollen, ob mein Kind tot ist? Wollen ihre Eltern das? Würde sie es wollen, dass ihre Eltern es erfahren? Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht. Es ist mein Geheimnis, was mich jedes Weihnachten aufs Neue verfolgt.

 

 

Impressum

Bildmaterialien: refinnej & die Ladys von DeviantArt: http://meltys-stock.deviantart.com/ and http://midnightstouchstock.deviantart.com
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
vielen Dank an die Gestalter dieser tollen Cover, die uns im Rahmen dieses Wettbewerbs zur Verfügung gestellt wurden! Ein lieber Dank geht auch an dich, da ich dich einfach in jedem Buch erwähnen muss. Immer eine für dich... :D

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