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Verwandlung

 

Graue Wolken hängen über den menschenleeren Straßen. Vereinzelte Passanten huschen vorbei. Eingepackt in Handschuhen und Schal. Die Kälte lässt ahnen, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die ersten weißen Flocken fallen.
Ein Mädchen tippt barfuß über den kalten Asphalt. Ihr blondes Haar wird von Windstößen durchkämmt und das weiße Kleid bewirkt ein so irreales Aussehen im kalten Dunst.

Eine Mutter zerrt ihr Kind hinter sich her. Es starrt und staunt und lässt seinen Blick auf der Porzellanhaut des Mädchens.

"Mama, schau! Guck mal! Das ist doch ein...", doch weiter kommt der Kleine nicht.

"Komm jetzt. Glotz das Gör nicht so an! Typisch für die heutige Jugend. Suchen sich einen Anlass, um den kürzesten Rock aus dem Schrank zu kramen." 

Vor Unglauben lässt er sein Teddy fallen, doch die unbarmherzige Mutter interessiert das nicht. Ohne sich umzudrehen, zieht sie ihren Sohn weiter die Straße hinunter. Tränen rinnen dem Kleinen über das Gesicht, als der Bär aus seinen Augen verschwindet, doch schon einen Augenblick später erkennt er ihn auf den Armen des mit Flügeln bestückten Mädchens. Mit einem wunderschönen Lächeln übergibt sie ihm den Teddy und verschwindet wieder in der eisigen Kälte.

 

 

 

Die Mädchen kichern und stecken die Köpfe zusammen, als sie sich zu ihnen stellt.

"Jedes Jahr! Jedes Jahr muss sie sich in irgendein Kostüm werfen und sich lächerlich machen.", meint die Eine.

"Ach... Die will doch eh nur Aufmerksamkeit.", murmelt die Zweite verachtend.

"Ich finde es gruselig. Sie wirkt so abwesend! Aber eine süße Idee ist es schon...", fügt die Dritte hinzu und erntet hasserfüllte Blicke.

"Na also Kinder. Dann sind wir ja vollzählig. Bereit etwas Gutes zu tun?", trällert der einzige Erwachsene in der Runde und führt die Bande zu dem Eingang des großen Gebäudes hinter ihnen.

"Als Erstes werden wir ein bisschen Stimmung hierher bringen und dekorieren."

Der dunkelhaarige, junge Mann deutet auf eine riesige Kiste, die zum Bersten gefüllt ist mit Dekoartikeln. Weihnachtskugeln, Lametta, Lichterketten. Alles, was über die Jahre für dieses Fest zusammen gekommen ist.

Ohne lange zu zögern macht sich das Mädchen in dem weißen Kleid an das dekorieren der kleinen Tannen, die um das gesamte Gebäude herum verstreut stehen. Jede bekommt eine Vielzahl an Kugeln angehängt.  Geländer werden mit Lichterketten umwickelt und in jede Tür wird ein Mistelzweig gehängt.

Das Interesse der anderen drei Mädchen liegt eher daran sich mit dem Lametta zu vergnügen und den jeweilig anderen beiden so viel wie möglich anzuhängen.

Gerade noch ein karges, langweiliges Haus und jetzt ein Paradis der Winterzeit.

"Mädchen kommt rein. Die Familien trudeln gleich ein und ihr müsst euch vorher noch vorstellen.", schallt die Stimme des Dunkelhaarigen über das weihnachtliche Grundstück.

Eine nach der anderen tritt den Versammelten entgegen und nennt ihren Namen. Eine kleine Vorstellungsrunde und schon erscheinen, wie erwartet, die ersten Gäste an der Tür. Mütter und Väter mit ihren Kindern betreten das Idyll und begrüßen ihre eigenen Eltern. Ein erfreutes Wiedersehen und ein vergnügtes Pläuschen beim Tee.

Die Kleinsten der Familien bestaunen die angenähten Plastikflügel des blonden Mädchens. Eine Scharr bildet sich und ein kleiner Junge tritt näher heran und zupft an ihrem Kleid. Er hält ein dickes Buch in der Hand und streckt es ihr entgegen. Eine Weihnachtsgeschichte. Alle Kinderaugen strahlen und wieder wunderschön lächelnd schlägt die Größste es auf, setzt sich zu den Kindern auf den Boden und liest ihnen vor.

Die Zeit vergeht, die Nacht wird dunkel und langsam leert sich der große Raum. Die Kinder sind eingeschlafen, die Eltern sehr müde. Sie verabschieden sich wieder und machen sich auf den Rückweg nach Hause. Auch die Bewohner sind sehr geschafft. Erschöpfung steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Die Kerzen werden ausgepustet, die Lichter erlöschen. Leise verlassen die fünf Helfer das Altersheim und schleichen durch die sternenklare Nacht.

Das Fest ist vorbei, das Mädchen zuhause. Etwas Gutes getan, am Heiligen Abend.
Das Kleid wird abgelegt. Das Mädchen vom Vortag erwacht.

Impressum

Bildmaterialien: http://eclipsy.deviantart.com and http://jaymasee.deviantart.com
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Natürlich jedes Mal eine für dich

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