Cover

Prolog

 

Hallo, ich bin Damian Mayr und mein Leben verlief bisher ziemlich unkompliziert.

 

Meine Schule habe ich ohne mich großartig anzustrengen beendet und bin seit geschlagenen drei Jahren mit meiner Freundin zusammen. Das ist für meine achtzehn Jahre erstaunlich. Davor war ich ein ziemlicher Weiberheld, was ich natürlich großzügig ausgenutzt habe.

 

Der Anfang unserer Beziehung verlief sehr ruppig, denn so leicht ließ ich mich nicht zu einem Schoßhündchen erziehen. Naja, jedenfalls lenkte ich nach einigen Seitensprüngen dann doch ein und bin seitdem die treuste Seele für meine kleine schüchterne Maus. Warum ich so viel über sie erzähle? Na, weil ich ihr mein gesamtes späteres Leben verdanke. Ich lebe nun bei ihr, der nettesten und niedlichsten Person, die ich je gesehen hab. Ok, zugegeben, vielleicht sehe ich sie noch immer durch meine rosarote Brille...

 

Seit ich aus der Schule raus bin, arbeite ich in dem Betrieb ihres Vaters, was ziemlich viel Kohle abwirft. Meine Prinzessin und ich leben sozusagen wie Könige. Mein Job ist klasse, denn ich bin der Schwiegersohn des Chefs, womit auch mir Autorität entgegen gebracht wird. Was ich mache? Ich bin Autoverkäufer, arbeite aber auch als Mechaniker in Rolfs Werkstatt. Das hört sich bestimmt voll arm an, aber nur solange, bis man die Autos, mit denen ich arbeite, gesehen hat. Bei Rolf geht es heiß her, damit meine ich, wir arbeiten ausschließlich mit den edelsten Luxuskarren. Alles, was ein Millionärsherz begehrt, haben wir da. In den Verkauf kommt man nur mit Anzug.

 

Jetzt erwecke ich bestimmt den Eindruck, dass mein Schwiegervater ein spießiger, verklemmter Schnösel ist, der seinen Schwiegersohn schön unter seine Fittiche nimmt, damit er ihn immer im Auge hat, doch dem ist nicht so. Er ist alles andere als spießig, was den Rest betrifft, das ist mir ziemlich egal, denn sein Schwiegersohn zu sein ist einfach toll. Naja, aber um auf den Punkt zu kommen; er hat ein Hobby. Ein Hobby, in das er mich gerne mit einbindet. Ein Hobby, von dem sein kleines Töchterchen nichts weiß. Ein Hobby, von dem fast alle Männer nicht mal zu träumen wagen.

 

Er dreht Pornos, und damit meine ich nicht irgendwelche dreckigen Filmchen von ihm und einer Tusse im Schlafzimmer, sondern richtig seriöse. Er besitzt einen luxuriösen kleinen Pornofilmschuppen. Eine prima Hütte, in der er die geilsten Schnecken einlädt und beachtliche “Werke“ zaubert. Nein, keine Angst, ich spiele in keinem mit. Auch mein Schwiegervater nicht. Aber es ist einfach der Hammer dabei zu sein und alles zu filmen. Rolf vermarktet die Dinger dann professionell und die sind sicher nicht unschuldig daran, dass wir so sorgenlos leben können.

 

Um ganz ehrlich zu sein, ist es auch das, was mich in meiner Beziehung hält. Dieses sorgenlose Leben und tun können, wonach mir lieb ist. Wie schon gesagt, mein schüchterner blonder Engel ist die netteste und niedlichste Person der Welt, jedoch nicht mehr. Sie führt ein ziemlich zurückhaltendes und langweiliges Leben. Ihren Charakter hat sie ganz sicher nicht von ihrem Vater. Ihre Mutter habe ich nicht mehr kennengelernt. Die ist abgehauen, als Rolf sich in seine Firma gekniet und sein Lebenswerk aufgebaut hat. Anscheinend wollte sie, dass Rolf sich mehr Zeit für sie nimmt, statt immer am Arbeiten zu sein. Aus meiner Sicht war die Entscheidung Rolf zu verlassen und auf die Unterstützung des Jugendamtes zu hoffen, damit sie ihre Tochter mitnehmen kann, ziemlich unüberlegt und kurzatmig. Immerhin waren die beiden nie verheiratet, wodurch sie letztendlich ohne Geld und ohne Heim auf der Straße stand. Rolf macht sich seitdem immer über sie lustig, auch wenn man Schmerz in seiner Stimme ausmachen kann. Mir tut diese Frau irgendwie Leid; auch wenn sie etwas töricht war. Sie hat Rolf und ihr Kind über alles geliebt und am Ende steht sie mit nichts da. Nachdem sie abgehauen war, hat Rolf beim Jugendamt alles geregelt. Er hat ziemlichen Einfluss und ist überzeugungsfähig, weswegen er letztendlich alleiniges Sorgerecht, sowie das Aufenthaltsbestimmungsrecht bekam. Er hat seine Ex als unzumutbar dargestellt, weswegen sie kein Recht dazu bekam ihre Tochter zu sehen. Traurige Geschichte, wie die Familie meiner Herzblüte zersprang.

 

Ihr fragt euch was mit meiner Familie ist? Bei mir ist es etwas einfacher. Ich bin Einzelkind und sobald meine Eltern mich los waren, haben sie entschlossen alle Orte dieser Erde ansehen zu wollen. Ihrem Glück fehlte also immer nur ein altes Wohnmobil. Ob ich sie vermisse? Nein, ich fühle mich in Rolfs Obhut pudelwohl und werde sie schon irgendwann wiedersehen...

 

Ich liebe mein perfektes Leben!

 

Eins

 

„Kim? Was soll das heißen? Das kannst du doch nicht machen!“

 

„Doch das kann ich sehr wohl! Und das werde ich! Verschwinde aus meiner Wohnung und aus meinem Leben! Ich will dich nie wiedersehen. Ich habe echt kein Bock auf einen Freund, der gar keine Gefühle für mich hat!“

 

Meine bezaubernde Freundin schmeißt mir voller Wut meine Sachen entgegen und versucht mit ihrem zierlichen Körper mich aus dem Zimmer zu drängen.

 

„Verdammt, bitte Kim! Ich liebe dich! Ich will dich nicht verlieren!“

 

„Falsch! Du willst deinen momentanen Lebensstil nicht verlieren. Das ist das Problem!“

 

Wow, so sauer habe ich meine Kleine noch nie erlebt. Was ist nur in sie gefahren?

 

„Verschwinde endlich Damian! Bitte geh.“

 

Jetzt weint meine Süße. Ein richtiger Heulanfall hat sie gepackt und ihr ganzer Körper bebt. Ich will sie trösten, sie in den Arm nehmen, doch sie schubst mich weg.

 

„Nein! Damian es ist vorbei und das ist mein letztes Wort.“

 

Entschieden drückt mir mein stures Mädchen eine Tasche mit den nötigsten Klamotten in die Hand und schiebt mich durch die Tür. Mit ihrer ganzen Wut, knallt Kim mir diese vor der Nase zu, sodass es wahrscheinlich die Leute aus dem Nachbarhaus gehört haben. Mist, dieses Geräusch tut vielleicht in den Ohren weh!

 

Wie kommt sie nur darauf, dass ich sie nicht liebe? Ich habe es ihr doch bestimmt tausendmal gesagt und ich habe sie jedes Mal geküsst, wenn ich sie gesehen habe. Ja ok, vielleicht hätte ich mit ihr mehr Zeit verbringen sollen, als mit ihrem Vater, aber trotzdem! Es ist doch schön, wenn ich mich mit ihrer Familie verstehe, oder nicht? Ich habe ihr immer das Gefühl gegeben, sie sei das Wichtigste in meinem Leben, aber das war ihr anscheinend nicht genug.

 

Fuck, drei Jahre für nichts? Meine ganze Jugend habe ich ihr geschenkt, aber das interessiert sie anscheinend nicht. Egal, erstmal muss ich schauen, wo ich fürs Erste bleib.

 

Damit ich nicht weiter hier so dumm rumstehe, laufe ich die Treppen runter und trete auf die Straße, dabei pfriemle ich mein Handy aus meiner Hosentasche.

 

„Hey Ethan, kann ich heute bei dir pennen?“, frage ich in den Hörer.

 

„Nein, sorry Bro, das geht nicht.“

 

„Wie das geht nicht? Komm schon. Kim hat Stress gemacht und jetzt weiß ich nicht wohin!“

 

„Geh doch ins Hotel oder so.“

 

„Geht nicht, hab meine Kontokarte noch in der Wohnung. Ich habe noch, warte...“

 

Genervt wühle ich meine Hosentaschen durch.

 

„Achtundfünfzig Euro und einen Flaschenöffner, das reicht nicht mal für eine Nacht.“

 

„Tut mir Leid, doch ich kann dir nicht helfen. Frag jemand anders, oder geh zelten.“

 

„Ach danke bester Freund! Wir sehen uns, ich lad dich ein zu meiner Einweihungsfeier unter einer angepissten Brücke!“, fahre ich Ethan patzig an und drücke ihn weg.

 

Shit, ich schätze ich muss wirklich zelten gehen. Naja, warm genug ist es ja....

 

Frustriert schleife ich mich zum nächsten Laden, in dem es Zeltzubehör gibt.

 

Für ein kleines Zelt und ein Schlafsack bezahle ich dort dreißig Euro, wodurch sich mein verfügbares Budget um gut die Hälfte schmälert.

 

Ach was soll´s? Eine Nacht in der Natur zu verbringen ist doch auch mal was Schönes. Okay, vielleicht mach ich mir ja jetzt was vor, aber das ist auch egal. Mein allerbester Kumpel hat mich abblitzen lassen, um es mal so zu sagen und ich kann es meiner arroganten Art der letzten Jahre verdanken, dass ich keine anderen habe. Ich kann nicht glauben, dass Ethan mich sitzen lässt. Ich kenne ihn schon seit der Grundschule. Er hat es mir zu verdanken, dass er so beliebt war in der Mittelstufe, immerhin war er der beste Freund des heißesten Typen auf der Schule. Und wie bedankt er sich? Indem er mich in meiner Not stehen lässt. Dieser Idiot.

 

Während ich in meinen Gedanken hänge, laufe ich zu dem Ort, an dem ich anscheinend gezwungener Maßen die Nacht verbringen werde. Eine nette Wiese vor dem Wald. Der Sommer hat gerade erst angefangen, weswegen sicherlich noch nicht viele auf die Idee kommen zu zelten.

 

Mittlerweile bin ich nahe genug, um das Fleckchen zu überblicken und tatsächlich; keine einzige Seele zu sehen. Ich werde der einzige Depp sein, der die Nacht hier in einem Zelt verbringen wird.

 

Nicht gerade begeistert über diese Aussicht; ich könnte gerade gut ein wenig Ablenkung und Gesellschaft gebrauchen, schlage ich schnell meine Übernachtungsmöglichkeit auf und pfeffere meine Tasche und den Schlafsack hinein. Mein Handy vibriert, ich habe eine Nachricht. Schnell geöffnet, lese ich das, was ich schon erwartet habe.

 

„Du hast meiner Tochter das Herz gebrochen! Glaub ja nicht, dass du noch eine Zukunft bei mir hast! Sieh es als deine offizielle Kündigung, mein Freund.“

 

Ja toll. Jetzt habe ich “offiziell“ keine Arbeit mehr. Es ist zwar schon ein paar Stunden her, dass Kim mich vor die Tür gesetzt hat, doch dass sie sich jetzt schon bei ihrem Vater ausheult...

 

Ich tippe eine schnelle Antwort zurück:

 

„Rolf, beruhige dich. Wir hatten nur einen kleinen Streit, das kriege ich wieder hin. Tut mir echt Leid. Ich weiß nicht mal, warum sie mir die Hölle heiß macht. Bitte beruhige sie erst einmal, ich werde morgen mit ihr reden.“

 

Oh man, ich hoffe doch, dass ich sie morgen beruhigen kann! Wenn nicht, dann bin ich genau da, wo ihre Mutter war, als sie Rolf verlassen hat. Außer, dass ich keine Kinder mit Kim hab, die sie mir wegnehmen könnte.

 

Wieder empfange ich eine Nachricht.

 

„Das glaube ich nicht! Du brauchst morgen nicht vorbeizukommen, Kimi will dich nicht sehen!“

 

Ich stöhne laut auf. Ist das ihr Ernst? Oh Gott, muss sie sich jetzt hinter ihren Vater verstecken? Wir könnten doch einfach über unsere Probleme reden und dann ist wieder Friede, Freude, Eierkuchen. Ich brauche jetzt wirklich eine Ablenkung. Also schlurfe ich zu der günstigsten, mir bekannten Kneipe in der Nähe. Dort an der Theke sitzend, kippe ich einen nach den anderen weg. Mal Bier, mal hartes Zeug. Hauptsache Alkohol. Ob meine Laune sich bessert? Nicht wirklich, doch durch das Trinken verblassen meine Probleme ein bisschen.

 

Ein schwarzhaariger, muskulöser Typ kommt herein und setzt sich neben mich an die Theke. Er will gerade etwas bestellen, als ich ihn an lalle.

 

„Na? Erfreust du dich deinem super Leben? Ich bin richtig depri, also falls du gleich irgendwas von unserer duften Welt erzählen willst, verschwinde bitte von diesem Platz und pflanz dich woanders hin .“

 

Ohne irgendeinen Ausdruck im Gesicht sieht er mich an. Lange. Und forscht in meinem. Ich nippe wieder an mein Glas Bier, um ihm danach entschlossen entgegen zu glotzen.

 

„Es ist gesünder über sein Leid zu reden, als es einfach mit Bier herunterzuspülen und zu verdrängen.“, meint er schließlich tonlos und wendet sich der Kellnerin zu.

 

„Achja? Dann erzähl ich dir mal was. Ich war drei lange Jahre mit meiner verficktn Freundin zusamm, hab sie auf Händen getragn und alles gemacht, was sie wollte! Und sie schießt mich ab! Einfach so! Ohne einen einzigen Grund. Dabei hätt ich viel bessere bekommen können. Und ihr dummer Vater lenkt ein. Dieser arrogante Sack. Erst vollkommen begeistert von seinem perfekten Schwiegersohn sein und ihn in seine verdammtn Geschäfte miteinbeziehn und dann bei dem ersten kleinen Streit einfach meinen ich wäre für beide gestorben, ohne seiner Tochter irgendwie einredn zu wolln, dass alles wieder gut wird. Jetzt steh ich da ohne Geld, ohne Arbeit, ohne Heim und ohne jemand, der mich aufnehm würd. Mein bester Freund hat mich nicht haben wollen! Einfach weggeschickt und gemeint, ich solle jemand anders fragen. Tze, das nenn ich einen Freund. Ein scheiß Kumpel ist das, sag ich dir. Dieser dumme Heuchler. “

 

„Und was ist mit deinen Eltern?“, unterbricht mich tatsächlich mein Zuhörer.

 

Ich lache laut auf.

 

„Die sind auf Weltreise. Haben sich einen dummen Wohnwagen gekauft und sind abgehauen. Was aus ihren Sohn wird, ist denen doch egal. Ich könnte jetzt verschwinden oder sterben, die würden es nicht mitkriegen. Niemand würd es mitkriegen, denn anscheinend liegt niemandem etwas an mir.“

 

„Junge, ich glaube du hast schon zu viel getrunken. Vielleicht solltest du hier raus und schlafen gehen.“

 

„Vielleicht...“, meine ich angesäuert.

 

Trotzdem befolge ich seinen Rat und klatsche das Geld für meine Getränke auf die Platte. Desorientiert stehe ich auf und schwanke unsicher aus der Kneipe.

 

 

Wo musste ich nochmal hin, um wieder zu meinem Zelt zu gelangen? Ich drehe mich verwirrt hin und her, doch trotzdem bleibe ich ahnungslos. Obwohl ich nicht weiß wohin, schlendere ich los. Einige Male biege ich nach links um. Blöderweise stehe ich aber nach einigen Minuten wieder vor dem Gebäude, welches ich zuvor verlassen habe. Stur drehe ich mich um und laufe in die andere Richtung.

 

„Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?“, ruft eine Stimme.

 

Der Typ mit den schwarzen Haaren kommt auf mich zu.

 

„Weißt du, wo mein Zelt ist? Es steht auf einer hübschen Wiese vor dem Wald.“, beschreibe ich überdeutlich den Lageplan.

 

„Ich glaub, ich weiß wo du meinst. Komm, ich habe ein Auto, ich bringe dich hin.“

 

 

Ohne weiter drüber nachzudenken, folge ich ihm zu seinem großen Wagen, dessen Farbe ich durch meinen schleierhaften Blick nicht einmal mehr genau ausmachen kann. Die ganze Zeit habe ich es in der Dunkelheit hier draußen übersehen, vielleicht ist es ja in Tarnfarbe, wie die Fahrzeuge der Bundeswehr? Es steht an der Straße und ist, so denke ich zumindest, das Einzige weit und breit.

 

Ohne zu überlegen lass ich mich an der Beifahrerseite ins Auto fallen und haue mir sogleich den Kopf an. Fluchend setze ich mich vernünftig in meinen Sitz.

 

 

Man, die sind echt bequem! Ich habe noch nie auf einen so bequemen Sitz gesessen!

 

Wir fahren eine ganze Weile und ich kämpfe unentwegt gegen meine Übelkeit an. Letztendlich beschließe ich, dass ich müde bin und kuschel mich in meinen Sitz. Der Schlaf packt mich tatsächlich, nachdem ich endlich dieses Schwindelgefühl losgeworden bin, welches sofort, wenn ich meine Augen geschlossen habe, zum Vorschein kam.

 

Als ich wieder aufwache, habe ich keine Ahnung mehr, wo ich bin, geschweige denn, wer da gerade das Auto parkt. Es ist mir aber auch egal.

 

„Gott, Kleiner du hast dich vollgekotzt.“, ist das erste, was ich nach dem Wachwerden höre.

 

Ich blicke an mir herunter und sehe, dass der Typ wohl Recht hat. Mein Shirt ist mit einer alkoholisch-säuerlich riechenden Flüssigkeit durchnässt und auch der Sitz hat Einiges abbekommen.

 

„Ich werde dir was von mir geben.“, meint der Typ neben mir.

 

Er steigt aus, geht ums Auto und macht mir die Tür auf. Mit einem kräftigen Griff packt er mich am Arm und schleppt mich mit in irgendein Haus, was plötzlich vor meinen Augen erscheint. Drinnen setzt mich der Fremde auf ein Sofa und verschwindet für einen Augenblick. Als er wiederkommt, hat er ein neues, fein säuberlich zusammengelegtes und wahrscheinlich gebügeltes Shirt bei sich und reicht es mir. Ich ziehe mir mein altes Shirt ungeachtet über den Kopf und schlüpfe in das neue. Als der Mann mit meinem alten Shirt den Raum nochmal verlässt, lege ich mich auf das Sofa und schlummere wieder sofort ein.

 

 

 

Zwei

 

Mein Kopf tut weh! Mein Rücken tut weh! Mein ganzer Körper tut weh....

 

Als ich am nächsten Tag aufwache, überrollt mich erst einmal erbarmungslos eine Welle aus Schmerzen. Nicht nur körperlich, denn die Trennung von meinem Fels in der Brandung macht mir doch mehr zu schaffen, als ich es wahrhaben wollte.

 

Meine Gedanken verschwinden aber, als ich meine Augenlider aufschlage. Ich bin verwirrt und geschockt. Was ich sehe, ist nicht das Innere eines Zeltes. Auch nicht irgendeine Straße, auf der ich vielleicht besoffen eingeschlafen bin. Nein, ich bin in einem Raum. Ein Raum, der nicht gerade gemütlich aussieht. Auch nicht so, als ob er als Gästezimmer, oder irgendein anderes Zimmer, verwendet wird. Aber man sieht, dass er Gäste gewollt beherbergen soll. Allerdings nicht gewollt meinerseits oder sonst einem, der hier drin ist.

 

Schwaches Licht dringt von der Tür aus in den Raum. Das ist die einzige Beleuchtung, da es kein Fenster gibt. Jedenfalls nicht mehr, denn es ist zugemauert. Ich fühle mich in dieser weiß-verputzten Kammer nicht wohl. Alles, was sich hier befindet, ist eine abgenutzte, vollgeschwitzte Matratze und eine Eisentoilette. Irgendwie erinnert die an Raststätte....

 

Ich glaube da würde ich mich jetzt aber tausendmal wohler fühlen, auch, wenn da ein lebensbedrohlicher Keim ausgesetzt worden wäre!

 

Ich kann nicht glauben, dass das wahr ist! Was ist denn gestern passiert? Dummerweise hilft mir mein Hirn aber nicht auf die Sprünge. Könnte daran liegen, dass ich gestern sternhagelvoll war...

 

Hätte ich mir doch bloß eine teurere Kneipe ausgesucht! Aber zwei Kurze für einen Euro waren einfach so verlockend... Bier ein Euro, Mischgetränke ein Euro.... Genau das brauchte ich in meiner Situation, doch wenn ich hier herauskomme, dann schwöre ich, dass ich nie wieder irgendetwas anfassen werde, was mir mein Gehirn vernebelt, sodass ich nicht mehr bei Sinnen bin!

 

Warum hab ich das verdient? Was habe ich gemacht, damit ich in so einem kerkerartigen Gemach lande? Ich kann ja gerne mal zu der dicken Stahltür hin laufen und schauen ob sie offen ist, aber irgendetwas sagt mir, dass ich da nicht viel Erfolg haben werde... Achja: Die vielen übertriebenen Schlösser wahrscheinlich!

 

Trotzdem probiere ich es aus und kämpfe gegen ein unheimlich starkes Schwindelgefühl an. Wie vermutet hat die Person, die mich hier hineingebracht hat, die Tür nicht offen gelassen.

 

Verdammt, was habe ich gemacht? Ich lasse alles, an das ich mich erinnern kann, Revue passieren.

 

Ich bin rausgeworfen worden, habe mir ein Zelt besorgt und bin dann in diese Kneipe gegangen.....

 

Aber, wann bin ich gegangen? Wen habe ich getroffen? Was habe ich danach gemacht.... Vielleicht sitze ich ja in einem brutal wirkenden Knast?

 

Diese Vorstellung gefällt mir besser als meine eigentliche Befürchtung. Doch wenn ich mich so umschaue, wird mir klar, dass diese Hoffnung wohl nicht zutreffen kann...

 

Die verputzten und massiven Wände weisen Macken auf, überall findet man Blutflecken und die Matratze spricht Bände....

 

Ja, ich wäre jetzt wirklich lieber in einem Gefängnis, egal aus welchem Grund und egal in welchem! Da wäre mir Sicherheit garantiert... Zumindest solange ich nicht mit den anderen Häftlingen in Konflikte gerate, aber so etwas als größte Sorge zu haben wäre schön.

 

Ich hingegen wurde hier eingesperrt. Entführt und in diese vier Wände eingeschlossen. Keine Ahnung warum und keine Ahnung von wem.

 

Plötzlich huscht ein Schatten durch das Zimmer, jemand läuft den Flur entlang. Entschlossen hämmere ich gegen die Tür.

 

„Lass mich raus! Was soll das? Warum sperrst du mich hier ein?“, brülle ich demjenigen entgegen.

 

Das große Fenster in der Tür, das die ganze Zeit einen Spalt offen stand und wodurch das einzige Licht fiel, wird aufgeschoben und entblößt dicke Eisenstäbe. Vermutlich sind die da, damit sich auch wirklich niemand dort hinaus zwängen kann.

 

Ein muskulöser Mann mit schwarzen Haaren schaut hinein.

 

„Ach, unser Kleiner ist wach! Hast bestimmt einen richtig schön dicken Schädel vom Alkohol!“, merkt er nur spottend an.

 

„Wer bist du?“

 

„Erkennst du mich nicht mehr?“

 

Mit großen Augen schüttele ich vorsichtig den Kopf.

 

„Wundert mich nicht, so blau wie du warst.“, meint er nun abfällig.

 

„Ich bin Emko.“

 

„Warum bin ich hier? Was soll dieser Scheiß?“, schreie ich jetzt stinksauer.

 

„Nana Prinzessin, nicht so unhöflich! Du bist freiwillig mitgekommen.“, meint er zuckersüß und schließt die einzige Öffnung nach draußen wieder, bevor ich noch etwas erwidern kann.

 

Scheiße, was meint dieser Kerl damit? Niemals bin ich freiwillig mit ihm gekommen und habe mich auf das hier eingelassen! Oder? Ganz sicher nicht, wenn ich gewusst hätte, was er mit mir macht! Auf so einen Scheiß stehe ich nun wirklich nicht!

 

Mein Verlies ist nun stockfinster und ich kann überhaupt nichts sehen. Achtsam taste ich die Tür ab und finde die Stelle, in der die Eisenstäbe eingelassen sind. Mit sachten Fingern schiebe ich die Luke wieder auf.

 

Erschrocken lausche ich. Ich höre etwas. Einen Typen, der wimmert, keucht und aufschreit. Die Geräusche dringen nur gedämpft an mein Ohr. Verwundert schiebe ich die Eisenplatte wieder zu und tatsächlich; ich höre gar nichts mehr. Dieser Verrückte hat die Zelle gedämmt.

 

Schockiert über diese Aussicht öffne ich wieder das Fensterchen und höre, wie etwas metallenes klirrt. Dann ein leises Lachen. Es klingt... vergnügt! Unverkennbar das, von dem, der sich Emko nennt. Dann höre ich, wie eine Metalltür zugestoßen wird. Kaum einen Augenblick später huscht wieder ein Schatten durch meine persönliche Hölle und ich trete schnell zurück. Ich will nicht, dass dieser Emko sieht, wie ich ihn beobachte. Wer weiß, was er sich darauf einbildet! Außerdem habe ich schon ein wenig Muffensausen davor, dass er dasselbe mit mir macht, wie mit seinem Opfer von eben. Ich will wissen, was der wohl getan hat, damit ihn dieser Emko so zurichtet...

 

Ich denke gerade darüber nach, als vor mir plötzlich wieder die Lichtquelle erlischt. Die Klappe wurde mit Wucht wieder zugeschlagen.

 

Verzweifelt suche ich mir den Weg zu der abartigen Matratze und hocke mich darauf.

 

Panik und Angst wechseln sich permanent ab und ich schaffe es nicht meine Atmung zu kontrollieren. Ein Schauder durchläuft mich immer wieder. Ein Zusammenzucken kommt auf, wenn ich mir die verschiedensten Dinge ausmale, die Emko gerade mit dem Kerl gemacht haben könnte.

 

Ich muss diese Gedanken irgendwie loswerden, irgendwie verdrängen. An etwas Hoffnungsvolles denken. Ich werde hier sicher bald raus kommen! Irgendwem wird auffallen, dass ich weg bin. Irgendwer wird mich vermissen. Oder? Okay, ein Chef wartet jedenfalls nicht auf mich. Auch keine Freundin... Aber mein bester Freund! …Wird sich wahrscheinlich auch nichts denken, denn wir haben uns gestritten und er weiß, was für ein Sturkopf ich bin... Das wäre nicht die einzige Freundschaft, die ich wegen solch einer banalen Sache abbreche...

 

Gott! Wie dumm bin ich eigentlich? Okay, vermutlich wäre ich nicht hier, wenn er mich aufgenommen hätte, aber er ist die einzige Chance mich hier rauszuholen! Irgendwie.

 

Wieder ergreift mich Panik. Mein Herz rast und mein Atem geht schneller. Eine Hitzewelle überrollt mich und ich vergrabe mein Gesicht in meine Hände.

 

Das kann doch nicht wahr sein!

 

Okay, vielleicht gibt es ja einen Weg selbst hier herauszukommen...

 

Wo bin ich hier eigentlich? Erst jetzt fällt mir auf, dass es ziemlich kühl dafür ist, dass draußen wahrscheinlich die Sonne vom Himmel knallt. Vorausgesetzt es ist jetzt zwischen späten Vormittag und frühen Abend... Man, hier hat man wirklich überhaupt kein Zeitgefühl!

 

Ich stehe langsam auf und schleiche dahin, wo ich die Tür vermute. Leider muss ich mich erst wieder an der Wand lang her tasten, um den Stahl der Tür zu finden. Vorsichtig schiebe ich die Luke wieder auf, bedacht darauf, auf keinen Fall die Aufmerksamkeit meines Entführers - darf ich ihn überhaupt so nennen? - auf mich zu ziehen, wenn er noch auf den Fluren herumschleicht. Ich spähe hinaus und sehe nur noch mehr weiße, glatte Wände. Ein langer Gang zieht sich von links nach rechts vor meiner Tür entlang. Keine Menschenseele ist zu sehen oder zu hören. Die Türen verlaufen vermutlich versetzt voneinander, denn an der gegenüberliegenden Seite sind links und rechts je eine in die Wand eingelassen. Ich kann nicht sagen, wie es an meiner Seite aussieht, aber ich denke hier gibt es noch mehr Räume wie meinem. Und das heißt soviel, dass wohl alle zei Meter eine neue Tür kommen muss, denn genau so breit ist dieses Verlies. Zwar ist es dafür etwas länger, doch groß kann man dieses Loch nun nicht nennen.

 

Was hat Emko nur mit mir – oder uns? - vor?

 

Drei

 

Ich bin todmüde! Keine Ahnung wie viel Zeit vergangen ist, seit ich hier aufgewacht bin aber eins weiß ich; ich habe verdammt Angst davor einzuschlafen! Das letzte Mal als ich schlief, wurde ich in dieses dunkle kleine Loch gebracht. Jedes Mal, wenn mir die Augen zufallen, laufen abscheuliche Dinge ab, die passieren könnten während ich schlafe und mir klarmachen, dass ich wach bleiben sollte - was in dem Moment sowieso kein Problem ist, da die Bilder mich wachrütteln. Dieser Irre könnte alles mit mir machen, ohne dass ich davon etwas mitbekommen würde.

Außerdem glaube ich nicht, dass ich eine Nacht auf dieser verseuchten Matratze überleben würde.

 

Aber wenn ich es mir recht überlege, könnte Emko sicherlich auch so einen bewusstlosen Zustand bei mir hervorrufen – ob mit Betäubungsmitteln oder mit Schlägen ist ihm überlassen.

Diese Erkenntnis macht die Situation zwar noch beklemmender aber wenigstens ist der Gedanke an Schlaf dadurch denkbar.

Ich kann nicht sagen wie lange es her ist, dass Emko mit mir gesprochen hat, geschweige denn, wann dieser andere Typ vor Schmerzen gewimmert hat, doch ich habe auf dem Gang noch ein paar Mal jemanden lang laufen gehört.

Wie lang dieser Gang wohl ist? Wenn ich die Luke öffne, höre ich die Schritte eine Ewigkeit hallen.

 

Oh Gott! Wenn ich hier nicht bald herauskomme, dann werde ich verrückt!

Meine Müdigkeit ist an dem Punkt angekommen, an dem ich die dümmsten Ideen habe. Gerade denke ich daran, dass ich ja die Matratze durch die Luke schieben kann und dann auf der anderen Seite weich lande, wenn ich hinausklettere. Oder, dass ich ja einfach die Ziegelsteine im Fenster kaputt schlagen könnte.

Meine Wahrnehmung ist wohl etwas verändert.

Ich sollte wirklich aufhören mich mit irgendwelchen kranken Fantasien in Panik zu versetzen und endlich ein Auge zumachen, sonst habe ich bald ein anderes Problem. Eins in Richtung Psychologie.

Gut... Ich werde mich jetzt hinlegen. Ich werde gar nicht weiter darüber nachdenken, was passieren wird. Ich werde meine Augen schließen und alles verdrängen, verdrängen wo ich grade bin.

Mein Entschluss steht fest! Vorsichtig streiche ich über die Matratze.

Lieber nicht! Ist ja ekelerregend! Wenn ich hier auf diesem versifften Polster schlafe, kann ich mir sicher sein, dass ich nicht wieder aufwachen werde.

Ich breite mich der Länge nach auf dem Steinboden aus und warte darauf vom Schlaf übermannt zu werden. Nur blöd, dass ich jetzt nicht mehr schlafen kann. Gedanken schleichen sich in mein Verstand, mein Blick starrt an die nicht auszumachende Decke und dummerweise kreist mir mein Kopf. Von dem Schwindel bekomme ich das Bedürfnis mich zu übergeben. Der Geschmack von Galle erfüllt meinen Mund. Und das erinnert meinen Magen wieder daran, dass ich seit dem Rauswurf nichts mehr gegessen habe.

Gibt es für schmerzhaftes Magenknurren eigentlich einen schlechteren Zeitpunkt?

Starrköpfig schalte ich alle Gedanken aus und zwinge mich einzuschlafen. Ich versuche mich zu beruhigen und nicht mehr an den Hunger zu denken. Meine Lider sind geschlossen und ich höre nur noch meinen Atem, keinen einzigen Gedanken lasse ich in mein Schädel.

Irgendwann packt mich der Schlaf unbemerkt und hält mich fest.

Mein Unterbewusstsein ist jedoch immer noch mit all meinen Fantasien beschäftigt, wodurch ich jeden Gedanken hautnah miterleben darf und letztendlich, nach unzähligen grausamen Foltermethoden und Ereignissen, aus dem nie enden wollenden Albtraum erwache.

Ich schrecke auf und atme hastig, meine Augen starren an die Wand vor mir. Als ich bemerke, dass ich geträumt habe, entrinnt mir ein lautes Stöhnen. Erleichtert bin ich jedoch nicht. Immerhin könnte das alles wahr werden, und auch wenn nicht, dieser Ort ist so schon schrecklich. Ich hasse es eingesperrt zu sein!

Als ich ein Klappern höre, wird mir eins klar; die Öffnung in der Tür ist offen! Mein ganzes Zimmer wird von diesem sanften Licht des Flurs erleuchtet.

„Na Prinzessin. Ausgeschlafen?“, hallt eine Stimme in mein Zimmer, als Emko die Gitterstäbe von der Luke hinabsenkt und mir dadurch ein Tablett reichen kann.

Ich schaue skeptisch auf das Plastikding. Darauf befinden sich eine Plastikflasche und ein Plastikteller mit Brot, Reis und etwas Fleisch. Dazu noch eine Suppe in einem genauso kindgerechten Gefäß.

„Nimm schon! Sonst komm ich rein und füttere dich.“, meint Emko mit einer mordlustigen Stimme und zusammengekniffenen Augen.

Zögernd stehe ich auf und trete langsam auf ihn zu. Direkt vor der Tür bleibe ich reglos stehen.

Eigentlich ein nettes Angebot, oder? Dass er reinkommt und mir mein Essen hierher bringt. Die Tür dafür zuerst öffnen muss...

Emko lässt das Tablett los und dreht sich um. Hastig halte ich meine Arme unter das Plastiktablett, was mit einem solchen Ruck landet, dass mir die Suppe über die Arme läuft. Sie ist noch verdammt heiß!

„Bin ich im Kindergarten oder bekommst du Rabatt auf Plastikartikel?“, brülle ich ihm wütend hinterher.

Sofort steht Emko wieder vor dem Fenster und starrt mich an.

„Warum? Brauchst du nochwas? Du glaubst doch nicht, dass ich euch Glas oder Porzellan gebe! Eine viel zu große Verletzungsgefahr.“, kontert er nur zwinkernd.

„Für wen? Für dich oder uns? Ich wette alle träumen davon, wie dir dein scheiß Blut aus der Kehle läuft. Eine schöne Schnittwunde durch deine Visage würde dir Ampeldrücker auch echt geil stehen. Oder hast du Angst, dass deine süßen Haustiere sich selber umbringen? Alles ist besser als dich Mistkerl noch einmal ansehen zu müssen.“

„Fuck, red nicht so mit mir!“, donnert er Wut unterdrückend und schlägt mit seiner Faust hart gegen die dicke Stahltür.

Nicht einmal ein leichtes Zucken deutet auf Schmerz hin. Seine Augen glitzern und man sieht förmlich das Glühen, was ich ausgelöst habe. Ich kann mir ein spöttisches Lächeln einfach nicht verkneifen. Auch wenn der Typ mir irgendwie Angst macht, Respekt werde ich diesem Idioten sicher nicht entgegenbringen. Darüber hinaus werde ich auch nicht auf lieb tun und ihn denken lassen dieser Scheiß gefällt mir.

"Tze.. Mir doch egal. Ich werde mir von dir sicher nicht vorschreiben lassen, was ich zu sagen hab! Schlimm genug, dass du kranker Kätzchenschläger über meine Freiheit entscheidest! Fuck, du Sauhund! Lass mich hier raus! Diese verfickte Scheiße kannst du gerne mit jemanden anders machen!"

Emko fummelt an der Tür herum und reißt sie keinen Moment später auf. Ein, zwei große Schritte und schon ist er da, doch bevor ich die Situation überhaupt realisiere, kracht mein Körper schon gegen die nächste Wand. Dadurch darf ich jetzt nicht nur den donnernden Schmerz von Emkos stählernen Schlag am Kopf verkraften, sondern darf zudem noch erfahren, wie es ist mit einer enormen Wucht gegen eine Betonmauer zu krachen, sodass mein Schädel sich anfühlt, als wäre er aufgebrochen. Mein Blick wird unklar. Alles verschwimmt und färbt sich langsam schwarz. Ich fühle wie etwas Warmes auf meine Hände tropft, mit denen ich meinen Körper über den Boden halte. Ein unerträgliches Piepen ertönt in meinen Ohren. Nur, um mir noch einmal klar vor Augen zu führen wie hilflos ich bin, tritt Emko mich in den Bauch, sodass auch mein letzter Halt schwindet und ich auf den Boden endgültig zum Liegen komme.

Vier

 

Keine Ahnung wie lange ich hier schon hocke. Ich sitze hier an die Wand gelehnt, ohne Gedanken. Nur mit der schlechtesten Laune, die man haben kann. Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt noch lebe, denn zwischendurch durchfahren mich meine Gefühle – Hass, Wut, Verzweiflung, Angst – so stark, dass ich das Gefühl habe, irgendetwas in meinem Inneren würde platzen.

Was würde ich jetzt für ein Gummiband tun, damit ich es mir an mein Handgelenk machen kann und dann so lange an ihm ziehen und loslassen, bis die inneren Gefühle verschwinden und alles was mich nur noch belastet, dieser unangenehmer Schmerz vom Gummi ist?

Unentwegt schließen und öffnen sich meine Fäuste aus Wut. Meine Lungen bersten schon fast wegen meiner stoßweise, unregelmäßigen Atmung. Ein stechender Druck baut sich in meiner Brust auf. Wird immer beißender, bis ich mich letztendlich etwas beruhige, damit es gleich danach wieder von vorne beginnen kann und noch heftiger wird.

 

Auf einmal dringt aus der quälenden Stille ein Geräusch an mein Ohr. Die Öffnung in der Tür ist nicht offen, doch trotzdem höre ich es. Eine extrem dunkle, raue Stimme schreit irgendetwas. Man kann nicht verstehen was. Ich gehe und öffne die Luke einen kaum merkbaren Spalt, der aber schon ausreicht, um die Geräusche um ein vielfaches lauter werden zu lassen. Obwohl auch die Tür des anderen geschlossen zu sein scheint, höre ich ihn. Diesen Mann, der gerade wohl einen seiner schlimmsten Albträume durchleben muss und mit zitternder, bald auch heiseren Stimme fleht. Pure Qual ist in seine Stimme zu hören und jeder normale Mensch hätte Mitleid bekommen. Schuldgefühle.

„Hör auf wie ein Weichei zu quengeln! Bist du ne Pussy oder was?“

Ein kaum hörbarer, dumpfer Ton ist zu hören und dann ist alles still. Die Tür wird aufgezogen und etwas Metallenes fällt auf den Boden. Ein Klicken, als die ganzen Schlösser wieder schließen. Ich schleiche mich schnell zur Tür und spähe aus meine winzige Öffnung hinaus. Emko läuft wutentbrannt den Flur entlang. Wahrscheinlich kam er aus dem Zimmer, das schräg gegenüber von meinem liegt. Er hat Blutspritzer am Hals und sein Shirt ist auch versaut. Nach einigen Metern bleibt er stehen. Er ist gerade noch in meinem Sichtfeld. Dort lehnt er sich an die Wand und hat ein merkwürdiges Grinsen auf dem Gesicht. So als ob er gerade einen Marathon gelaufen wäre, als Erstes in Ziel gekommen ist und es einfach nur genießt die Erschöpfung hinter sich zu haben und jetzt Erholung zu bekommen. Dieser grenzenloser Genuss, diese Freude oder was auch immer er gerade empfindet, widert mich an. Ich wende mich von diesem Ekel ab und setze mich wieder an meine Wand.

Diese Abscheu ist aber nicht das einzige, schlimmste, was ich für ihn empfinde. Da ist noch Angst. Eine riesengroße Angst. Die Furcht davor, dass er das auch mit mir machen könnte.

Sein Opfer gerade klang stark. Stärker als ich. Und trotzdem hatte es keine Chance.

 

Emko meinte, ich wäre freiwillig mitgekommen. Bisher hatte ich immer noch einen Fünkchen Hoffnung, dass das hier eine ganz schräge Methode sei, auf die ich mich, so besoffen wie ich war, eingelassen hatte, um meinen besten Freund, meiner undankbaren Freundin und ihrem heuchlerischen Vater eins auszuwischen und ihnen Schuldgefühle zu machen. Dass das hier nur Theater für sie sei. Doch irgendetwas schreit in mir, dass es nicht so ist. Etwas löst in mir Panik aus und lässt eine Kugel in meinem Magen entstehen. Etwas hat diese Hoffnung erlöschen lassen und stattdessen nur noch einen einzigen Wunsch in mir übrig gelassen: Dass ich das hier überlebe!

Alles was ich jetzt noch fühle, ist, dass ich überleben will. Mein Überlebensinstinkt. Mein Selbsterhaltungsprozess. Ob der andere das jetzt auch noch fühlt? „Du glaubst doch nicht, dass ich euch Glas oder Porzellan gebe! Eine viel zu große Verletzungsgefahr.“ Anscheinend denken nicht alle so.

 Ob Emko das nur aus Lust macht? Ist er verrückt? Oder hatte sein Opfer das “verdient“? Wenn das der Fall ist, bin ich wahrscheinlich auf dem besten Weg selbst herauszufinden, was Emko immer mit seinen Gefangenen anstellt. Vielleicht sollte ich weniger herausfordern und mich mehr wie ein perfekter Gefangener benehmen... Aber sind die das nicht immer, die für Ewig eingesperrt bleiben? Naja gut... Wenn man so überlegt. Aber die Rebellen sind immer die, die zuerst sterben! Ich denke, vorerst sollte ich mich zurückhalten.

Fünf

 

Erschrocken blinzele ich, als ich durch eine Zuckung im Bein aus einem Albtraum erwache. Ich habe nicht mal bemerkt, dass ich eingeschlafen bin. Ich bin mir jedoch sicher, dass ich noch ziemlich lange nach Emkos Besuch bei meinem Nachbarn wach war. Irgendwann bin ich wohl eingenickt und im Sitzen eingeschlafen. Naja, nicht dass ich jetzt noch sitzen würde. Mein Körper hat eine sehr unbequeme, verrenkte Position eingenommen und ich spüre jetzt schon, wie unerträglich meine Wirbelsäule schmerzt. Ächzend richte ich mich auf und versuche meinen Rücken so zu biegen, dass sich meine Wirbelsäule beruhigt. Dabei nehme ich einen würzigen Geruch wahr und schaue mich in meinem durch Flurlicht erhellten Zimmer um. Hinten in der Ecke entdecke ich ein Tablett. Darauf befindet sich wieder meine Tagesration. Eine große Flasche Wasser, ein Plastikgefäß mit einem heißen Getränk, eine Schüssel leicht dampfender Suppe, ein Apfel, eine Brezel und zwei Körnerbrötchen. Passend zum Essen zieht sich mein Magen schmerzhaft zusammen und gibt ein unnatürlich lautes Grummeln von sich.

„Meine letzte Fütterung ist wohl schon etwas her!“, denk ich mir nur scherzhaft und mache mich über mein Essen her. Die Suppe ist doch nicht mehr so warm, wie ich gehofft hatte. Das Tablett steht hier wohl schon ein paar Minuten. Das warme Getränk entpuppt sich als undefinierbare Früchteteesorte mit tödlicher Menge Honig.

Die Brötchen und den Apfel hebe ich mir für später auf, immerhin gab es diesmal ja genug um nicht sofort alles zu verschlingen.

Kaum bin ich fertig mit meiner Mahlzeit, da höre ich Emko auf dem Flur herum poltern. Wahrscheinlich beliefert er gerade seine letzten Insassen. Einige Minuten später steht er auch vor meiner Tür.

„Dornröschen? Schon erweckt worden?“, wundert er sich mit einer zuckersüßen Stimme.

Ich schaue nur zu ihm und weiß nicht, was ich tun soll. Ich würde so gerne mit einem netten Kommentar meinerseits kontern, doch damit würde ich gegen meinen guten Vorsatz verstoßen.

Stattdessen gähne ich, nicke und meine nur: „Ja. Hab fast gut geschlafen.“

Er scheint verwundert, fast erschrocken von meiner Antwort. Offenbar hat er mit was anderem gerechnet. Dann deutet er auf die hintere Ecke meiner Zelle.

„Bring das Geschirr mal her.“

Ich folge seiner Anweisung, bringe ihn alles, nur die übergebliebenen Nahrungsmittel und die Wasserflasche lasse ich auf dem Boden liegen. Emko senkt die Gitterstäbe in der Tür wieder hinab und nimmt die Sachen entgegen. Dann verschwindet er, seine Schritte hallen zu mir herein. Keinen Augenblick später steht er wieder da und schiebt ein relativ großes, tiefes Gefäß durch die Luke, die gerade noch groß genug ist. Als ich es entgegen nehme, sehe ich, dass es mit Wasser gefüllt ist. An der Oberfläche schwimmt Schaum und ein Schwamm liegt darin.

„Wasch dich.“

Ich starre ihn ungläubig entgegen.

„Willst du lieber von mir gebadet werden?“, erkundigt er sich verächtlich.

„In einer Wanne angebunden und von mir abgeschrubbt?“

Ohne auf eine Antwort zu warten wendet er sich ab und tritt an die Tür, hinter der ich sein letztes Opfer vermute.

„Waschlappen steh auf!“, faucht er verärgert durch die Luke.

Mit einen Ruck zieht er die Tür auf. Keine Ahnung, warum die nicht verschlossen war oder wann und wie er die Schlösser geöffnet hat. Emko hat einen grünen Schlauch in der Hand.

„Schau wie du dein schönes Zimmer eingesaut hast! Außerdem riechst du bestialisch.“

Ein Handgriff und schon schießt ein harter Strahl in die Zelle meines Nachbarn.

Oh mein Gott? Wie muss es denn da drin aussehen? Emko wirkt gerade wie ein Killer.

„Hör auf wegzulaufen!“

Er sieht überhaupt nicht mehr sanft aus. So aufgebracht und schlechtgelaunt er jetzt, wo ich ihn hier beobachte, wirkt, habe ich ihn noch nie gesehen. Dabei dachte ich, ich hätte ihn schon zur Weißglut gebracht aber hiergegen waren seine Launen bei mir ja ein Zuckerschlecken. Mein Gott! Was für ein Typ muss denn da in der Zelle hocken?

Anscheinend hat dieser Vollidiot von Zellennachbar nicht gehört, denn diese Verkörperung von Wut stapft in die Zelle hinein und ich kann hören, wie er ihn dazu bringt sich nicht mehr zu bewegen. Ich vermute er hat ihn mit Wucht gegen eine Wand – vielleicht auch auf den Boden – geschmissen und ihn dann festgenagelt mit Händen und Beinen. Das Spritzen vom Wasserschlauch aus nächster Nähe auf nackte Haut verursacht einen unangenehmen Ton. So als ob er ihm gerade die Haut vom Körper reißt. Ein Zischen ist zu hören, was vermutlich von dem Festgehaltenen kommt, als er vor Schmerz die Luft einsaugt.

Ich sollte wohl besser das machen, was er gesagt hat, denn ich habe keine Lust darauf dieselbe Dusche zu bekommen und so heftig, wie Emko darauf reagiert, wenn man nicht das tut, was er sagt.... Wer weiß was er sonst noch machen würde?

Schnell ziehe ich mein T-shirt über den Kopf und wasche mich. Verwundert schaue ich nebenbei das Kleidungsstück an, welches ich bis gerade eben anhatte. Ich bin mir sicher, dass das keins meiner Kleidungsstücke ist.

Seltsam... Hatte ich das schon die ganze Zeit an? Wann ist das passiert? Hat mich dieser Tyrann etwa umgezogen, als ich geschlafen habe? Wie auch immer... Ab nun kann ich ja darauf achten, ob ich plötzlich mit etwas Neuem aufwache.

Ich höre, wie Emko aus der gegenüberliegenden Zelle stapft und die Tür zuschmeißt. Allein seine Atmung strahlt pure Wut aus. Liegt seine schlechte Laune wirklich nur an dem Typen oder hat er tatsächlich irgendwelche Probleme in seinem Leben außerhalb seines Privatgefängnisses? Vielleicht hat er aber auch nur extreme Stimmungsschwankungen... Ich weiß es nicht, doch es würde sicherlich viel darüber aussagen, mit was für einen Menschen ich es zu tun habe.

Bevor Emko weitere Häftlinge bedient, steht er wieder vor meiner Tür. Ohne irgendwas zu sagen, reiche ich ihm das Plastikwaschbecken zurück. Er scheint seine Stimmung wieder im Griff zu haben.

„Du schläfst zu wenig.“, murmelt er abwesend, während er in die Leere starrt.

Das verwirrt mich. Wie meint er das? Ich bin doch gerade erst aufgewacht! Außerdem schlafe ich jede Nacht! Glaub ich.... Hier drin hat man wirklich gar kein Zeitgefühl...

„Wie... Warum?“, stammele ich derangiert.

„Du warst die letzten zwei Tage fast vollständig wach. Du schläfst zu kurz und deine Wachphasen sind viel zu lang.“

Aus irgendeinem Grund schockiert mich diese Information. Mir kam es kürzer vor. Ist das nicht eigentlich genau andersherum? Man ist eine Stunde eingesperrt und fühlt sich, als ob schon Tage vergangen wären? Ich bin ratlos, was ich darauf jetzt antworten soll. Ich werde versuchen mehr zu schlafen? Ich werde darauf achten nicht so lange wach zu bleiben? Wie soll ich das machen, wenn ich nie weiß, wie lange etwas ist? Ich weiß nicht mal wie lange ich schon hier bin! Es könnten zwei Tage sein, vielleicht aber auch eine Woche. Soll ich mich daran orientieren, wann er uns Essen bringt? Wer garantiert mir, dass wir überhaupt täglich etwas bekommen? Denn daran kommen mir ehrlich gesagt Zweifel. Warum? Ganz einfach: Bisher hatte ich zwei Mahlzeiten, also müsste man demnach davon ausgehen, dass ich zwei Tage hier bin. Jedoch sagt mein Gesicht was anderes. Meine Bartstoppeln kann man schon fast gar nicht mehr Stoppeln nennen. Drei-Tage-Bart? Naja! Dazu muss ich aber klarstellen, dass ich einen ziemlich schnellen Bartwuchs habe. Normalerweise rasiere ich mich jeden, bis jeden zweiten Tag. Klappt nur leider nicht mit Plastikbechern... Wie mein Zellennachbar wohl aussehen mag? Ich wette ein paar Weihnachtsmänner sind schon unter uns!

"Der frühe Vogel fängt den Wurm.", weiche ich statdessen schulterzuckend aus.

"Hier gibt es aber keine Würmer für dich zu fangen.", meint Emko nur trocken.

Will er mit dem Satz nur meinen sinnlosen Kommentar abtun oder haben seine Worte nun eine tiefere Bedeutung? Frühes Aufstehen nutzt mir hier gar nichts. Meint er das? Oder vielleicht, dass ich es auf einen Ausbruch beziehe? Und dass ich gar keine Chance habe? Vielleicht vermutet er, dass ich mich nun einschleimen will und ihn jeden "Morgen" anquatsche. Oder ihn überwältigen will, wenn er mir Essen bringt... Es könnte so viel und doch nichts hinter diesen Worten stehen. Ich kenne ihn nicht und weiß nicht wie und was er denkt. Und ich glaube genau das ist der Punkt. Sobald ich das herausfinde, verstehe ich ihn auch. Und sobald ich ihn verstehe, klappt das hier besser.

Meine gefassten Vorsätze:

1. Nett sein!

2. Verstehen...

 

Als ich nichts weiter antworte, verschwindet der Einzige, den ich in den letzten Tagen zu Gesicht bekommen habe und mir so viele Rätsel aufwirft, wieder und versorgt seine anderen Arrestanten.

 

Ich schätze heute ist so etwas wie Putztag oder so, denn ich höre Emko noch eine ganze Weile auf den Fluren umherwandern.

Nehme ich mir doch gleich den Rat zu Herzen und lege mich wieder hin, oder? Ich habe ja sonst nichts Besseres zu tun. Meine Möglichkeiten an Aktivitäten kann man an einer Hand abzählen und um ehrlich zu sein, will ich gar nicht wissen, womit sich meine Leidensgenossen die Zeit vertreiben.

Sechs

 

Mein Aufwachen wird von einem merkwürdigen Gefühl in meinem Gesicht begleitet und ich fühle mich seltsam benebelt. Als ich schließlich wach werde und mein Blick sich klärt, kann ich kaum fassen, was ich sehe. Vollkommen irritiert starre ich ihn an. Habe den Drang ihn anzubrüllen.

„Was..?“, beginne ich empört, doch werde unterbrochen.

„Ich mag es nicht, wenn meine Boys aussehen wie Werwölfe.“

Ich schaue an mir runter und bin vollkommen schockiert, was er macht.

Mit einem scharfen Rasiermesser fährt er mir über das Gesicht.

Selbst meine Brusthaare hat er abgeschnitten!

Wütend zappele ich und ruckle nach vorn.

„Hör auf, beweg dich nicht, sonst gibt es womöglich noch unschöne Narben.“, meint er unbewegt und sein Griff um mein Kinn wird fester. Mühelos drückt er mich auf die Matratze und ich habe gar keine Möglichkeit mich zu wehren. Das kann doch nicht sein Ernst sein! Sind wir für ihn Barbiepuppen, die er frisieren kann? Ich gebe mich nicht geschlagen, auch wenn ich hier eindeutig der Schwächere bin. Ich zucke weiter und versuche Emko wegzustoßen, doch das ist gar nicht so einfach, wenn man an ein Bett gefesselt ist.

Halt! Warte! Bett? Wo bin ich?

Verwirrung lähmt mich. Meine Muskeln schmerzen und ich habe keinen Nerv mehr dazu mich weiter zu sträuben. Hat eh keinen Sinn. Umso ruhiger ich werde, desto lockerer wird der Griff um mein Kinn. Trotzdem interessiert mich, in was für einem Zimmer ich hier gefesselt liege und wie er mich hergeschafft hat. Das letztere geschah vermutlich genauso, wie er mich in mein Verlies aus Stahl, Beton und einer Siffmatratze gebracht hat.

Hier sieht es zwar genauso aus wie in dem anderen Raum, also weiße Betonwände, kein Bodenbelag, kein Fenster nach draußen, jedoch denkt man sich bei diesem Anblick nicht sofort, dass hier jemand umgebracht wurde. Es erinnert eher an ein Zimmer im Keller aus einem Psychothriller, in das der Vater seine Tochter einsperrt, wenn sie etwas "Böses" getan hat. Aber es ist hier größer, als in meinem kleinen Loch.

Ein Seufzen kommt von Emko, als er fertig ist und von dem Bett steigt. Er hätte sich die Arbeit ziemlich vereinfachen können, wenn er das Bett nicht an die Wand geschoben hätte, denn dann hätte er sich hinter mich stellen können. So wäre es einfacher gewesen gegen den Strich zu rasieren. Vermute ich jedenfalls, denn so macht das mein Friseur. Ich persönlich habe bisher immer nur mein Gesicht rasiert und nicht das anderer, daher habe ich da nicht so viele Erfahrungen gesammelt.

Ohne etwas Weiteres zu sagen sammelt Emko seine Sachen wieder ein und verschwindet durch die Tür am Fußende. Alles was zurückbleibt sind ich und eine verdächtig nach Betäubungsmittel wirkende Flasche, unter der ein Tuch ausgebreitet ist.

Ungeduldig warte ich darauf, dass meine einzige Kontaktperson wieder durch die Tür kommt und mich endlich von dem Bett befreit. Es dauert mehrere Minuten, bis ich unruhig werde. Noch ein paar, bis ich verzweifle und nach weiteren Augenblicken fühle ich mich so hilflos, dass ich nach ihm rufe.

Irgendwann wird mir klar, dass es sinnlos ist und ich ihm völlig ausgeliefert bin. Er entscheidet, wann ich wieder los komme. Ich habe da keinen Einfluss drauf.

Ich versuche mich wieder zu beruhigen. Meinen Herzschlag auf einen normalen Rhythmus zu reduzieren. Wieder eine regelmäßige, tiefe Atmung zu bekommen. Die unvorhergesehene Panikattacke hat eine starke Müdigkeit mit sich gebracht, die ich innerlich verfluche. Mein Muskelkater macht sich wieder bemerkbar, der noch von meinem schiefen Schlaf am Morgen herrührt. Die Rückenschmerzen hingegen verabschieden sich langsam. Mein Körper genießt die ausgebreitete Lage. Leider dehnt sich dafür ein neuer, unangenehmer Schmerz in mir aus. Die unnachgiebigen Stofffesseln an meinen Handgelenken sorgen nicht nur dafür, dass ein Krampfgefühl in meinen Armen entsteht, da sie die ganze Zeit in der Luft hängen und dass der Blutfluss gestört wird, sondern schneiden mir zudem erbarmungslos in die Haut. Das ist wahrscheinlich eine Lappalie, im Gegensatz zu allem Anderen, doch dieser Schmerz lenkt mich ab. Dass Emko mich erneut in einer mir völlig fremden Umgebung bewegungsunfähig zurückgelassen hat, ist wie weggeblasen. Auch alles andere. Dass ich eingesperrt wurde. Dass der einzige Freibewegende überaus gewaltbereit ist. Alles scheint im Moment unwichtig, denn dieser kleine Schmerz zieht meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Das Wichtigste ist, diese Fesseln bald losgeworden zu sein. Auch wenn die Möglichkeiten begrenzt sind und die Aussicht noch so gering, vor allem, weil meine Füße am anderen Ende befestigt sind, habe ich das Bedürfnis meine Hände frei zu bekommen. Meine Finger erreichen die Textilfetzen nicht und auch entwirren oder herausziehen sind unmöglich, doch wenn ich nicht weiter diesen hoffnungslosen Kampf führe, müsste ich meine Aufmerksamkeit auf diesen krankenhausähnlich beleuchteten Raum richten. Da fällt mir der wahrscheinlich größte Unterschied zwischen diesem Raum und meinem vorigen Aufenthaltsort auf. An der Decke ist eine Neonröhre mit weißem Licht befestigt, die das Gefühl, in einem nicht gut endenden Psychothriller zu sein, bestärkt. Vor meinem Auge spielt sich eine Szene ab, wie hier ein verrückter Doktor auf einem Behandlungstisch mit seinen lebenden Opfern spielt. Ihnen die Körper aufschneidet und ihnen irgendetwas einsetzt.

Bei diesen Horrorgedanken bin ich schon fast glücklich, dass ich bei Emko und nicht bei so einem Psycho gelandet bin. Wenn ich ehrlich sein darf, hat er mir mit der Rasur nur einen Gefallen getan. Ja, erwischt. Ich sehe gerne gut aus. Auch, wenn ich in einer Situation wie dieser bin. Wie katastrophal wäre es denn, wenn uns jemand findet und ich dann aussehe wie ein Obdachloser vor seinem Penner-Lagerfeuer? Falls uns jemals jemand findet...

Das unnatürliche Licht ist für meine Augen mittlerweile so ungewohnt, dass alles verschwimmt. Es war wohl nicht die intelligenteste Idee von mir die ganze Zeit die faszinierende Erkenntnis über mir anzustarren. Man sollte meinen Freude kommt auf, wenn man plötzlich wieder alles sehen kann, doch so ist es nicht. Es ist eine Lüge. Es heuchelt einem Geborgenheit und Grund zur Hoffnung vor, echte Sonne, doch im Endeffekt ist es nur eine hierhin verlegte, genutzte Stromleitung. Warum sollte das irgendein gutes Zeichen sein? Auf den Fluren sind ebenfalls Lampen. Doch auch die haben mir nicht das geringste genützt. Dieser kalte Schein vermag dasselbe, wie alles andere hier in Emkos Privatgefängnis. Ein beklemmendes Gefühl bereiten und zeigen, dass man selbst nichts ausrichten kann. Ich habe ja nicht einmal die Möglichkeit dieses Hell im Zimmer auszuknipsen. Ich bin gefesselt in einem großen, leeren Raum, in dem mich niemand hört, niemand findet, man kein Kontakt zur Außenwelt hat. Der ausschließlich von einer deprimierenden Neonröhre beleuchtet wird. Meine Situation ist aussichtslos. Genauso wie vorher. Genauso wie im Dunkeln.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, - mein Bein jedenfalls ist mittlerweile eingeschlafen - als ich endlich etwas höre. Angespannt lausche ich. Hab ich es mir vielleicht nur eingebildet? Ein Kratzen an der Tür schließt meine Zweifel aus und erweckt in mir eine kribbelnde Freude gemischt mit Nervosität. Langsam wird die anscheinend ziemlich schwere Stahltür aufgezogen und Emko betritt das Zimmer. Er schaut mich nichts sagend an und tritt an mein Bett.

"Möchtest du freiwillig laufen und dich benehmen oder machen wir es auf die gewohnte Art?", fragt er mich mit seinem klaren Blick fest auf mich gerichtet.

Ich brauche einen Moment, bis die Frage in mein Bewusstsein sickert und mir klar wird, was sie bedeutet. Ob Emko mich testen will? Prüft er meine Vertrauenswürdigkeit? Ein kleines, überlegenes Schmunzeln erscheint auf Emkos Lippen und ein skeptischer Blick legt sich auf sein Gesicht.

"Ich mein dein Betäubungsmittel wiegt mich jedes mal schön wie ein Baby in den Schlaf und entspannt aber ich glaube ich bevorzuge gerade ein bisschen Bewegung."

Emko zieht ein Tuch aus dickem, dunklen Stoff und einen langen Lederriemen aus seiner hinteren Hosentasche und deutet mir den Kopf anzuheben. Mit enormer Kraft bindet er mir das Baumwolltuch um den Schädel, sodass es nicht nur verhindert, dass ich etwas sehe, sondern mir der Kopf zu zerbersten droht. Emko lässt das unbeachtet. Ohne zu zögern schwingt er ein Bein über mich hinüber und setzt sich auf meinen Körper. Sein Gewicht lastet schwer auf mir und drückt mich in die Matratze. Nicht gerade zimperlich zerrt er die Fesseln von meinen wunden Handgelenken. Ein kalter, ziehender Schmerz durchzuckt meine Nerven bei jeder Berührung. Als er beide Hände entfesselt hat, bindet er sie mir wieder mit dem Riemen vor meinem Körper zusammen. Dann macht er sich, nachdem er mich endlich von seinem eigenen Gewicht erlöst hat, an meinen festgebundenen Füßen zu schaffen. Eine Taubheit fährt mein Bein hinauf, als Emko dort genauso grob vorgeht. Als ich schließlich losgebunden bin, hilft er mir mich aufzurichten und hinzustellen. Mein eingeschlafenes Bein knickt weg und unangenehmes Kribbeln setzt ein. Ich versuche irgendwie auf den Füßen zu bleiben und stoße den Anderen beinahe um. Meine Augenbinde verrutscht, als sie an irgendetwas von Emko hängen bleibt. Ein Schlag trifft mich in meiner Magengrube, der mich letztendlich zusammenklappen lässt, und ein fester Griff krallt sich in meinen Nacken.

"Alles okay Kumpel. Mein Bein ist nur eingeschlafen.", keuche ich leise vor Schmerz.

Emko hat sich bereits die Flasche von dem Tisch geschnappt, hält jedoch in der Bewegung inne, als er versteht, dass ich gar nicht versucht habe ihn zu überwältigen. Einen kurzen Augenblick richtet er seinen schwer zu deutenden Blick einfach nur auf mich und hält daran fest, dann stellt er das Betäubungsmittel wieder ab und kniet sich hin. Unsanft schubst er mich zurück auf das Bett. Willensstark und gleichzeitig etwas unschlüssig schnappt er sich meinen Fuß, platziert ihn auf seinem Knie und knetet vorsichtig auf meinen Muskeln herum. Das grausame Kribbeln erreicht mich wieder und rollt mit einer extremen Heftigkeit über mich hinweg, doch so schnell wie es jetzt wieder da war, ist es auch wieder weg. So plötzlich bin ich ein eingeschlafenes Gliedmaß noch nie losgeworden und wenn man ehrlich ist, ist es wohl auch die angenehmste Weise. Kurzer, heftiger Schmerz, der schnell vorüber ist...

 Mein Gegenüber richtet sich wieder auf und zieht mich an der Schulter hoch.

"Komm endlich!", brummt er angesäuert.

 Mit einem Handgriff sorgt er wieder dafür, dass mein Sehorgan vollkommen nutzlos ist und schlendert mit mir aus dem Raum. Unsicher stolpere ich neben ihm her und werde unsanft weitergezerrt. Der Instinkt vorsichtig zu sein, da man bei jedem Schritt vermutet irgendwo gegen zu laufen, macht mich beinahe verrückt. Hierbei habe ich keine andere Wahl als Emko zu vertrauen. Hierbei.. und bei allem anderen...
Wir laufen immer und immer weiter. Ich hätte nie vermutet, dass es so weit sein wird. Naja, wahrscheinlich kann ich meinem Einschätzungsvermögen sowie nicht trauen. Diese Orientierungslosigkeit ist ungewohnt und die warme, starke Hand um meinen Arm beruhigt mich irgendwie. Sie zeigt, dass jemand da ist und ich nicht alleine bin. Irgendwann bleibt Emko endlich stehen und ich kann hören, wie Schlüssel klappern und Riegel verschoben werden. Kaum einen Moment später schwingt die Tür beinahe geräuschlos auf und ich werde in den Raum hinein begleitet. Wieder wird an meinen Handgelenken herum geknibbelt, von denen ich nur hoffen kann bald keine Entzündung daran zu bekommen.

"Danke", flüstere ich ihm so leise und heiser entgegen, dass ich mir nicht sicher sein kann, ob er es gehört hat.

Als ich auch von meinem Sichtschutz befreit werde, kann ich erkennen, dass einzelne Blutstropfen bereits den Weg aus meinen Wunden gesucht haben. Emko deutet mir, dass ich mich in meiner wiedererkannten Zelle hinten in der Ecke hinsetzen soll. Ohne Widerrede befolge ich seine lautlose Bitte und beobachte, wie er die Zelle mir zugewandt verlässt und die Tür zuschmeißt.

Ich musste ihm einfach zu erkennen geben, dass ich dafür dankbar bin, dass er mir so viel Vertrauen entgegen bringt. Wenn ich hier schon wirklich festsitzen muss, dann sollte es wenigstens etwas zivilisierter ablaufen. Ich habe keine Lust mich wie ein Tier zu fühlen. Wie ein Zootier, was jedes Mal betäubt werden muss, wenn der Tierarzt kommt...

 

Sieben

 

Ich werde von etwas Lautem, Schleifenden geweckt.

Ich hatte meine Klappe in der Tür offen gelassen, damit ich wenigstens ein bisschen Licht hier drinnen habe, denn so nutzlos dieses Licht auch in meinen Augen ist, eins vermag es immer zu erreichen: Ich fühle mich nicht so angreifbar.

Ein langes, anhaltendes Geräusch, so als ob man etwas Schweres über rauen Boden zieht, hallt über den Flur. Will ich wirklich nachgucken, was Emko macht? Will ich wissen, ob es nur ein Müllsack oder eine dreckige Matratze ist? Oder eine Blutige... Ein Mann? Ich beschließe es wieder zu vergessen und weiter zu schlafen. Ich denke, dass es besser ist nichts zu wissen, als Klarheit zu haben, die mich vollkommen irritiert. Und meine Vermutung sagt, dass es mich schockieren wird. Lieber spreche ich in meinem Kopf ein Mantra, in dem ich wiederhole, dass es etwas Harmloses war. Kaum der Rede wert und erst recht nicht die Mühe um aufzustehen. Irgendwann werde ich es mir selbst schon glauben und mich besser fühlen. Es gibt keine Beweise, dass es nicht so war. Alles nur Einbildung.
Nach einer Ewigkeit mir etwas vorzumachen, schaffe ich es tatsächlich wieder einzuschlafen.

 

Als ich wieder aufwache, durchfluten mich immer noch die Bilder meiner grauenhaften Albträume. In diesem Zustand kann ich mir erzählen was ich will, doch im Traum kann ich meine Gedanken nicht kontrollieren. Wie mittlerweile so Vieles verdränge ich nun auch die mitgebrachten Bilder und orientiere mich erst einmal in der wirklichen Welt. Meine Kleidung ist durchnässt und von draußen ist nichts mehr zu hören. Zu meinem Glück befindet sich wieder eine anschauliche Portion Lebensmittel in meiner Zelle. Schon seit der erwünschten aber unfreiwilligen Rasur habe ich jämmerliche Bauchschmerzen.

"Der frühe Wurm wird vom Vogel gefangen, was?", ertönt plötzlich die raue Stimme von Emko hinter mir von der Tür, sodass ich zusammenzucke.

"Und was ist mit dir?", frag ich in meiner Verwirrung, um nicht dumm zu schweigen.

"Mein Wurm ist schon gefangen."

Die Anspielungen auf mein Sprichwort find ich echt gut. Jetzt weiß ich, dass er sich an mich erinnert und behält, was ich zu ihm sage. Das ist vielleicht nicht immer etwas Positives, doch es sagt Einiges über  ihn aus, oder nicht? 

"Ich würde ja gerne zu einer angemessenen Zeit schlafen gehen und aufstehen, doch das ist hier drinnen echt schwierig... Kannst mir ja eine Uhr aufhängen.", neck ich ihn mit einem süffisanten Lächeln zurück.

"Hat der Herr auch noch Wünsche? Was kann ich sonst noch für Sie tun?", spottet er.

"Der Kunde ist König oder nicht?"

Emko will sich gerade umdrehen und mich hier wieder mit meinem Essen alleine sitzen lassen, aber dieses Alleinsein bringt mich noch um. So unrealistisch es jetzt auch klingen mag, aber ich genieße die Gegenwart von ihm. Zwar ist er hier wohl die größte Gefahr - wenn man mal meinen Seuchen verbreitenden Schlafplatz außer Acht lässt - und allgegenwärtig ist die Bedrohung, die er ausstrahlt, doch diese kurzen Momente, in denen ich ihn zu Gesicht bekomme, zeigen mir, dass ich nicht vergessen und allein gelassen wurde...

"Halt! Emko? Könnte ich Wasser oder einen sauberen Lappen bekommen? Meine Handgelenke eitern ein bisschen..."

Ich schiele etwas verlegen auf meine wunden Handgelenke, aus denen Sekrete hinaus fließen, die Unheilvolles versprechen. Nicht nur mein Blick hat den Weg zu meinen Fesselverletzungen gesucht... Ich vermute, dass sie sich entzündet haben, denn schon seit ein paar Stunden pocht es unangenehm an den betroffenen Stellen, welches von immerzu beständigen Schmerz begleitet wird. Würde mich nicht wundern, bei den ganzen Bakterien, die sich in diesen Raum befinden. Emko schätzt es ab und verschwindet. Ob er wiederkommt? Jedenfalls wenn, dann lässt er sich reichlich Zeit! Nach einer endlosen Stille der langsam aufflauenden Verzweiflung in mir höre ich ihn wieder. Wohin ist er denn ganz gegangen? Ein wenig begann ich schon zu zweifeln, dass er gar nicht wiederkommt.
Ohne Umschweife oder Erklärungen kommt er in die Zelle, schließt die Tür und schnappt sich meine Arme.

"Das ist besser.", lautet seine karge Erklärung.

Ich realisiere, dass es kein Wasser ist, was er mir mitgebracht hat und bevor ich ihn danach fragen kann, spüre ich es bereits auf meinen Wunden. Stumpfsinnig kippt er mir die Flüssigkeit über die Arme, die sich in mein Fleisch einbrennt und ich die Zähne zusammenbeißen muss, um nicht vor Schmerzen aufzuschreien.

"Was ist das?", presse ich hervor, möglichst meine Gefühle unterdrückend.

"Alkohol."

Als er endlich aufhört mir mit dieser stechenden Flüssigkeit die Wunden auszuwaschen, schaue ich mir meine Hände noch einmal an und tatsächlich sieht es deutlich besser aus, wenn man mal die leichte Rötung missachtet.

 Emko ist wieder auf dem Weg nach draußen, doch ich bin noch nicht dazu bereit wieder in die Einsamkeit zurückzukehren und versuche erneut das Gespräch aufrecht zu erhalten.

"Hey? Ich fühl mich hier wie im Gefängnis, wobei dies hier in einer Hinsicht echt schlimmer ist! Und damit meine ich jetzt nicht diese Virenschleuder, auf der vermutlich schon ein Dutzend Leute verreckt sind. Im Gefängnis muss man wenigstens Etwas tun, hier hat man wirklich gar nichts, mit dem man sich beschäftigen kann.", versuche ich ihm möglichst vorsichtig klar zu machen.

"Bettelst du gerade um Arbeit? Du spinnst doch! Andere Leute würden morden, um mit dir zu tauschen!", beendet er mal wieder mit nur ein paar Worten das Gespräch, beim letzten Satz ironisch lächelnd, und haut ab.

 

Acht

  

Stunde um Stunde. Ich bin alleine und dieses Gefühl frisst mich von innen auf. Es ist ein schmerzendes, drängendes Gefühl, als ob irgendetwas in meinem Inneren meine Magenwand durchgebissen hat und sich jetzt quer durch alle meine Organe einen Weg in meine Brust sucht. Grauenhaft. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas jemals spüren würde... Oder das ich mich so sehr nach irgendeinem anderen Menschen sehnen würde! Selbst eine tollwütige, verseuchte Ratte wäre mir jetzt lieb. Es kommt mir vor wie ein ganzes Jahr, seit ich Emko nicht mehr gesehen habe. Ich kann mittlerweile nachvollziehen, warum ich keine scharfen oder gefährlichen Gegenstände bekomme. Falls es jetzt noch nicht so weit ist, wäre es kein langer Weg mehr bis zu dem Punkt, an dem ich lieber den Tod bevorzuge, als noch länger diese quälenden Gedanken und Gefühle zu haben. Ich fühle mich wie eine vergewaltigte, emotionale Tussi! Ich habe es immer gehasst, wenn sich Weiber bei mir ausgeheult haben. Sie haben Sachen gefühlt, von denen ich früher keine Ahnung hatte und die mich nie sonderlich interessiert haben. Ich dachte immer die stellen sich nur an und brauchen Aufmerksamkeit! Aber jetzt fühle ich mich genauso...
Ich habe das Bedürfnis mich das nächste Mal, wenn ich Emko sehe, an ihm festzuklammern und ihn dadurch zu hindern zu gehen. Das Blut durch seine Adern pumpen zu spüren und den Atem zu hören, den er ausströmt, nur um zu wissen, das noch ein Mensch hier ist. Vielleicht bin ich umgeben von Menschen und vielleicht wäre das der größte Fehler, den ich machen könnte, aber das ist vollkommen egal. Wahrscheinlich ist Emko die brutalste und sadistischste Person, der ich je begegnet bin aber nichts desto trotz ist er ein Mensch und denkt und fühlt genauso wie jeder andere auch. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich mir jetzt lieber meinen ganzen Körper von irgendwelchen strammen, scharfen Fesseln aufschneiden lassen und Emko schaut zu, als noch weitere Stunden alleingelassen mit meinem Kopf zu verbringen.

 

Ich kauere neben der kalten Stahltür und lausche auf jedes kleinste Geräusch aber im Endeffekt ist alles, was ich höre nur mein eigener Gedankenstrom, der mir hin und wieder einredet, dass draußen ein Geräusch war, nur um mich zu enttäuschen, wenn ich nachgucke. Diese Verzweiflung, dieses Erwarten pulsiert in mir und wird immer stärker. Bringt meinen Körper zum Zittern. Am liebsten würde ich jetzt los schreien, um diese Anspannung loszuwerden. Die Gedanken verschwinden nicht aus meinem Kopf! Ich will sie nicht mehr hören! Warum hört mein Gehirn nicht auf mir irgendwelche unerträglichen Gedanken und Gefühle zuzuflüstern? Ich will, dass es aufhört!

Hart schlage ich meinen Kopf gegen die Wand, immer stärker, aber die Gedanken bleiben. Verzweifelt mache ich weiter und fühle nicht einmal, wie einzelne Tränen mein Gesicht herunter laufen. Kein Schmerz schafft es meine  Mauer zu durchbrechen. Ich spüre nur Leere und dieses beißende Gefühl im Inneren.

 

"Wow, wow, wow! Hör auf!", höre ich jemanden brüllen, aber vor meinen Augen ist nur ein schwarzer, wirbelnder Schleier, der einem Müdigkeit und Übelkeit verspricht.

Eine Hand legt sich zwischen meinem Kopf und der Betonwand. Das ist das Letzte, was ich spüre, bevor alle Funktionen meines Körpers ausfallen und der schwarze Schleier zu einer Endlosigkeit wird.

 

 

 

Ein grelles, unerträgliches Licht weckt mich und mein Kopf pocht, als wäre ein LKW drüber gerollt. Ich versuche meine Hand zu heben, doch sie rührt sich nicht. Leicht panisch zucke ich mit meinem ganzen Körper, aber ein Aufstehen oder irgendeine andere Bewegung ist unmöglich.

"Hör auf. Das wird nichts.", grummelt eine Stimme weit weg.

Ich zwinkere und presse meine Lider aufeinander, in der Hoffnung, dass mein Blick klarer wird. Ich erkenne das Zimmer, in dem ich mich befinde, wieder und realisiere, dass ich auf demselben Bett festgeschnallt bin, wie ich es schon einmal war. Nur das mich diesmal breite Lederschnallen fest an das Bettgestell ketten. Ich brumme leise vor Schmerz.

"Kannst du das Licht ausmachen? Das brennt in den Augen.", bitte ich mit wackeliger Stimme.

Klick - und der Raum wird nur noch sanft von dem Licht erleuchtet, das durch den Türspalt hereinscheint. Emko befreit meine Hände von den Schnallen.

"Du solltest hoffen, dass es nur eine Platzwunde ist, denn falls es eine Fraktur ist, würdest du dir wohl wünschen gleich gestorben zu sein."

Ich versuche die schmerzende Stelle an meinem Schädel zu berühren, doch Emko schnappt sich meinen Arm in der Bewegung und schleudert ihn zurück auf die Matratze.

"Was ist denn? Was hast du gemacht?", nuschel ich müde mit dem Gefühl gleich wieder weggetreten zu sein.

"Was ich gemacht habe? Deine Wunde ausgewaschen, einen Druckverband angelegt, damit die Blutung stoppt und die Wunde mit Klammerpflaster versorgt. Das habe ich gemacht! Vollidiot! Ich kann dich gerne in Ketten legen, wenn dir das lieber ist."

"Und woher kannst du so etwas?", fiepse ich vorsichtig und übergehe die schnippische Bemerkung.

"Ich  hatte genug Chancen zu üben. Zu deinem Glück."

"Ich werd es überleben! Ich habe es das letzte Mal auch überlebt!", meine ich und kneife die Lider zu einen Spalt zusammen, denn Emko übertreibt sicherlich, immerhin war sein Schlag gegen meinen Kopf auch nicht sanft.

 Emko steht auf und räumt ein paar Sachen rum.

"Das war hiermit nicht zu vergleichen! Und du warst selbst schuld.", zischt er angesäuert.

"Und jetzt?", frage ich ihn darauf bezogen, wie ich unsere bisherige Beziehung beeinflusst und verändert habe.

"Und jetzt lasse ich dich mit deinen Kopfschmerzen, die du auch nur dir zu verdanken hast, alleine.", alles an ihm strahlt Kälte aus und ich habe keine Möglichkeit ihn zurückzuhalten, sodass ich zusehe, wie er mit einem vollgepackten Tablett voller Verband und Ähnlichem aus der Tür verschwindet.

"Nein bitte!", flehe ich leise.

Emko hat meine Hände nicht wieder festgebunden, sodass ich mich von den Schnallen befreien kann, doch meine Füße sind noch immer am Bettgestell befestigt mit Seilen, dessen Knoten kaum aufzubekommen sind. Ich klettere über das Fußende und robbe samt Bett Richtung Tür, wobei ein unschönes "Metall-schleift-über-Stein-Geräusch" entsteht. Das Ding ist unheimlich schwer und ich bin längst nicht wieder bei Kräften, doch die Tür ist noch einen Spalt offen und das bedeutet eine klitzekleine Chance. Ich schaffe es gerade noch die Tür aufzuschubsen und meinen Oberkörper soweit aus diesem Raum herauszuziehen, bis das Bett im Türrahmen hängen bleibt. Was ich sehe ist ein endloser Gang zu beiden Seiten, der irgendwann abknickt und man nur auf eine weiße Betonwand schaut. Alles erinnert einem an einen kargen, kalten Kellergang. Emko läuft gerade auf einem der abknickenden Gänge zu, wahrscheinlich wollte er erst das Tablett wegstellen, bevor er meinen Raum verriegelt. Panik steigt wieder in mir auf, denn die Einsamkeit rückt immer näher. Mit jedem Schritt, den Emko macht.

"Bitte!", schallt meine Stimme kraftlos über den Flur.

Emko dreht sich um und erstarrt, als er realisiert, dass ich auf dem Flur und nicht auf dem Bett, auf dem er mich zurückgelassen hat, liege. Er stellt das Tablett ab und kommt schnell auf mich zu.

"Du bescheuerter..... Das kann doch nicht wahr sein!"

Ich bilde mir ein seine Schritte auf dem Steinboden zu spüren, während ich schläfrig und kraftlos meinen Kopf auf meine Hände lege. Als er da ist, zieht er mich unsanft an meinem blutverschmierten Shirt hoch und schmeißt mich zurück auf das Bett. Grob schiebt er es zurück an seinem Platz, wobei ein quietschendes Schleifen entsteht, was meine Kopfschmerzen extrem anfeuert. Kaum zu glauben, dass er das gerade, als ich es verursacht habe, nicht gehört hat.

"Du willst mich ärgern oder?", murmelt er mit einer seltsamen, hellen Stimme, während er versucht seine Wut zu unterdrücken.

Er quetscht meine Unterarme, als er sich wieder auf mich setzt, um sie an den Bettrahmen zu binden. Der Schmerz ist höllisch und es fühlt sich an, als würden sich meine Knochen deformieren aber ich genieße es. Die Stimme, warme Hände, ein unruhiges, laut pochendes Herz. Ich bin nicht alleine und das ist alles was zählt.

Die Schnallen werden wieder über meinen Körper gespannt. Emko zieht sie so fest, dass ich kaum noch atmen kann, aber das ist gut so.

"Du machst mir nur Ärger! Du kleiner, verwöhnter Scheißkerl!", murmelt er dabei vor sich hin.

"Ich konnte nicht anders... Genieße es so wie ich.", säusel ich leise im Halbschlaf.

Neun

  

Als ich schließlich aufwache, muss ich mit Bedauern feststellen, dass ich wieder alleine bin. Die Dunkelheit umgibt mich und schließt mich ein in seiner bedrückenden Leere. 

So stelle ich mir die Hölle vor. Ein ewiges Warten, ein kleiner Hoffnungsschimmer und schließlich der Moment, in dem man fallen gelassen wird und man wieder mit dem Warten beginnt.

Momentan bin ich eher dankbar für meine mörderischen Kopfschmerzen. Der körperliche Schmerz lenkt mich ab und verdrängt einen Teil meiner innerlichen Schmerzen.

Nicht nur mein Kopf erinnert mich an eine Kollision mit einem Auto, sondern auch die kleinste Bewegung in meinen Fesseln an den Handgelenken ist unerträglich und mein Oberkörper fühlt sich an, als hätte sich das Leder bald zu meinen gequetschten Lungen durchgekämpft. 

Ich genieße dieses überwältigende Gefühl mit einem tiefen Atemzug und verfolge das Blut, das sich schwer durch meine Adern pumpen lässt. Der Puls, der hart gegen die Ader am Arm und Hals drückt. Dazu noch das Gefühl der aufsteigenden, schwindelerregenden Hitzewallung, die ausgelöst wird durch unerfindliche, unterdrückte Emotionen. 

Ich bemerke erst gar nicht, dass das Licht angeht und erschrecke, als mich etwas an der Seite berührt. Durch einen Reflex versuche ich meine Beine anzuziehen, um meinen Körper zu schützen.

Emko steht still neben mir und beobachtet mich mit einem undefinierbaren, aufmerksamen Blick. Was ihm wohl durch den Kopf geht? Überlegt er, warum ich so zufrieden aussah, als er rein kam oder warum ich so panisch reagiere? Ich hoffe nicht, denn das wären genau die falschen Signale, die ich ihn übermitteln würde.

Als niemand etwas sagt, macht er mich auf das Mitgebrachte aufmerksam.

"Essen ist da. Heute gibts Apfelmus. Ich hoffe mal du hast keine Allergien."

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung, die ihn nicht besonders zu interessieren scheint. Er bindet meine Hände los und löst die Schnalle über meiner Brust.

Ich betrachte meine Handgelenke, die restlos lila gefärbt sind. Als ich mein T-Shirt hochziehe, kann ich auch auf meiner Brust ungesund aussehende Hämatome entdecken. Unbeeindruckt wende ich mich wieder Emko zu.

"Für extra Vitamine oder wie komme ich zu der Ehre?", frage ich belustigt, als ich nach dem Löffel und der Schüssel greife, die eher nach Babybedarf aussehen, als nach Erwachsenenzubehör.

"Eigentlich hatte ich vor dich das durch einen Strohhalm saugen zu lassen, aber ich bin heute mal nicht so."

Ich schaufel das Zeug in mich rein, als wäre es mein Lieblingsessen, das mir seit Jahren verwehrt war. 

"Wie fühlst du dich?", fragt Emko beim Zuschauen.

"Hmh.Hmh. Recht gut, seit die blaue Fee mir Aspirin herbeigezaubert hat", schmatze ich mit vollem Mund und grinse ihn mit Apfelmus-beschmierten Zähnen an.

Er schaut mich nur mit hochgezogenen Augenbrauen an und wartet, bis ich endlich die Schüssel leer habe.

"Zeit für dich wieder dein Apartment zu beziehen. Und wehe du wiederholst diesen Mist nochmal. Wenn ich dich erwische...! Ich verspreche dir, das ist längst nicht das schlimmste Zimmer, was ich hier bereit halte!", droht er, nachdem er mir die leere Plastikschüssel abgenommen hat.

"Das macht mir nichts.", plappere ich leichtsinnig, woraufhin mich sein fester Griff am Hals packt.

"Ist ok! Da..... Ich werde das nicht wieder machen. Versprochen. Das war nicht so gemeint."

"Das will ich auch hoffen.", schnaubt er, bevor er mich wieder los lässt.

"Hast du dir mal überlegt, ob ich endlich was zu tun kriege?", frage ich, als er auch den Rest meines Körpers los bindet.

"In deinem Zustand? Und nach dem, was du gemacht hast?"

Ich nicke eifrig, wofür ich ein spöttisches Lachen und einen Schwindelanfall ernte.

"Schauen wir mal!"

"Emko bitte! Ich kann nicht einfach in der Ecke rumsitzen und warten! Das schaff ich nicht! Das halte ich nicht aus!"

Er verzieht nur seinen Mund und zieht mich vom Bett hoch. Mit Trauer im Magen lasse ich mich in mein altes Zimmer mitschleppen, nachdem ich wieder eine Augenbinde verpasst bekommen habe. 

 "Bitte..... Ich mache dir dann auch ganz sicher keine Probleme mehr!", flehe ich, bevor Emko die Tür hinter sich zuknallt und für weitere, quälende Stunden verschwinden kann.

 

 

 

Wann genau ich Emko das nächste Mal vor meiner Tür höre, ist schwer zu sagen. Seit er mich zurück gelassen hat, sitze ich in meinem Zimmer auf dem Boden und starrte die Wand an. Irgendwann gelang es mir alle meine Gedanken auszublenden, meine Gefühle zu ignorieren und mich vollends nur auf die leicht beleuchtete Wand zu konzentrieren. Den Blick starr auf mein Gegenüber gerichtet und alle anderen Körperfunktionen auf Sparflamme gestellt. Es macht einfach keinen Sinn sich Gendanken zu machen. Alle Sorgen oder Hoffnungen ändern letztendlich doch nichts.

Jedenfalls dringen irgendwann Schritte durch die Stille und wecken mich aus meiner Starre. Erst jetzt bemerke ich, dass meine Augen brennen und mein Körper kaum noch aufrecht sitzen kann. Ich lausche dem Öffnen und Schließen irgendwelcher Luken meiner Nachbarn und warte, bis auch ich einen Besuch von "ihm" bekomme. Gegen meine Erwartung wird meine Tür aufgerissen und die Silhouette des einzigen Bekannten hier wirft mir etwas zu. Es ist die Augenbinde, die immer zum Einsatz kommt, wenn ich "Ausgang" bekomme. 

Was hat er jetzt vor? Habe ich ihn wieder wütend gemacht und er macht seine Drohung jetzt wahr? 

Ohne Fragen zu stellen, binde ich mir den Stoff um und folge ihm. Mit vorsichtigen Schritten tapse ich vor ihm her ins Ungewisse und begebe mich durch ein Labyrinth aus abzweigenden Gängen. Hin und wieder schubst mich Emko zur Seite, damit ich nicht gegen irgendetwas laufe. Nach gefühlten eintausend Kilometern sind wir endlich dort angekommen, wo Emko mich haben wollte. Meine Beine sind es nicht mehr gewohnt so viel zu laufen und fühlen sich schon beinahe taub an.

"Nimm sie ab!", höre ich die ruhige Stimme von ihm.

Ich folge seiner Anweisung und sehe mich um. Ich hatte mich auf Schlimmes vorbereitet, aber das hier überrascht mich jetzt. Ich befinde mich in einem normal großen Raum, mit einer akzeptablen Matratze und einer Toilette mit eigenem Raum. Über der Tür sind Fenster eingelassen, sodass das Licht vom Flur ungehindert hineinströmen kann.

"Du hast meine in letzter Zeit gute Laune extrem auf die Probe gestellt. Ich denke das hier ist ein guter Kompromiss! Du hälst dich mit deinem überaus nervigen Charakter zurück und dafür darfst du für das, was du eh schon bekommst, arbeiten. Und falls du einen Versuch starten solltest - in was für einer Hinsicht auch immer-, dann verspreche ich dir, dass es dein letzter Tag gewesen ist, an dem du dir gewünscht hast, dass du am Leben bleibst!"

"Ist das.... Ist das dein Ernst? Das...! Danke!", antworte ich nur stotternd, da ich nicht weiß, was ich sagen soll oder wie ich meine Dankbarkeit am besten ausdrücken sollte.

"Du darfst gleich anfangen und danach heißt es für dich still halten. Hast du Haarwuchsmittel genommen? Du siehst aus wie ein Werwolf!", deutet Emko ungläubig auf mein Gesicht.

"Vielleicht bin ich ja einer!", munkele ich geheimnisvoll, als ich meinen erschreckend langen Bart kraule.

"Ach ja? Dann hast du dich am Vollmond aber ziemlich zurück gehalten!", antwortet mir der Große, bevor er vor die Tür tritt.

"Ich hol dich gleich. Pack doch schonmal deinen Koffer aus.", meint Emko zu mir schmunzelnd, als er die Tür zuschmeißt. 

Dieser Raum strahlt auf irgendeiner Weise Behaglichkeit aus und ich fühle mich sofort besser. Vermutlich liegt das aber weniger an der neuen Umgebung als an der Gewissheit, dass Emko gleich wieder kommt. 

Ich bin gerade dabei zu versuchen mich an dem Fensterrahmen hoch zu ziehen, um herauszugucken, als ich einen Schlüssel im Schloss höre. Brav trete ich ein paar Schritte zurück und betrachte die drei Sicherheitsschlösser, die in der Tür eingebaut sind. Langsam gleitet die Tür nach dem dritten Klick auf.

Emko zieht mich am Shirt aus der Tür und stellt mich neben einen Wagen voll Tabletts. 

"Du sprichst nicht, sondern reichst sie nur rein.", weist mich Emko an, als er auf die Türen deutet, die gegenüber von uns liegen.

"Vorne an der Stahltür fängst du an und arbeitest dich weiter. Wenn du durch bist, kannst du wieder dort anfangen das Geschirr einzusammeln. Falls sie es nicht freiwillig bringen, dann merk dir wer es war und sag mir später Bescheid. Dann werde ich mich darum kümmern. Fang erst mal an."

Wie befohlen schnappe ich mir fürs Erste zwei Tabletts und laufe den geraden Gang hinunter, bis ich an der großen, verschlossenen Stahltür ankomme. Dieser Teil unterscheidet sich zu den alten Gang, in dem ich untergebracht war, nur darin, dass hier absolut alles mit mehreren Sicherheitsschlössern verriegelt ist und sich in diesen Türen Bodenluken befinden. Ich öffne die Klappe der ersten Tür, ziehe den Hebel für die Gitterstäbe, schiebe das Tablett hindurch und trete zweimal gegen die Tür, um sicherzugehen, dass der Insasse es auch gehört hat, falls er schläft. Das geschieht etwa dreißigmal, immer im Zickzack mit Ausnahme einiger Türen ohne Luke und der meiner. Emko steht währenddessen an den Essenswagen gelehnt und behält mich im Auge. Nachdem die letzte Auslieferung durch die Tür durchgerutscht ist, starte ich wieder vorne und wie von einem abgerichteten Hund wird mir beim erneuten Öffnen der Luke das gesamte Tablett wieder entgegen geschoben.

Sprachlos starre ich das Plastikgeschirr an. Irgendetwas stimmt hier doch nicht. So etwas wäre in meinem alten Abteil undenkbar gewesen, oder nicht? Sind das hier so eine Art Elite-Opfer? Durch gute Führung hier? Oder bedurfte es bei ihnen eine extra Ladung Emko-Charme, bis sie vollends verängstigt waren? Dieses Verhalten kommt mir so irreal vor...

"Probleme?", fordert mich Emkos Stimme auf weiter zu machen.

Mit einem leichten Kopfschütteln fahre ich damit fort das Verteilte wieder einzusammeln.

"Lust auf mehr?", fragt mich der Große, nachdem ich nach erstaunlich langer Zeit geendet habe.

Mit großen Augen schaue ich ihn an. Das ist keine Frage für mich. Entweder weiterarbeiten oder wieder alleine, tatenlos in einem Zimmer herum hocken. Da ist die Antwort doch klar, oder? 

"Natürlich!"

Emko öffnet die Tür neben ihm und zum Vorschein kommt ein Raum, in dem sich eine Küchenzeile mit zwei großen Spülbecken und ein Tisch befindet. Außerdem zwei deckenhohe Schränke und eine Tür an der Hinterwand. Natürlich genauso verriegelt, wie alles andere auch. 

"Viel Spaß, Kleiner."

Mit riesengroßer Motivation schiebe ich den Tablettwagen in den kleinen Raum und mache mich an die Aufgabe.

"Wohin damit?", frage ich bezüglich dem Geschirr.

"Schau dich um. Die Schränke sind voll davon. Stell es einfach dazu."

Ich schwinge gerade die Klappen der großen Schränke auf, als Emko mich auch schon wieder alleine lässt und die Tür hinter sich abschließt. Egal. Eine Aufgabe zu haben ist besser als die Wand anzustarren oder nachzugrübeln. In dem Schrank befindet sich bereits ein kniehoher Stapel Plastikteller. Große und daneben Kleine. Auf der Hälfte der Höhe ist ein Brett angebracht und darauf finden alle anderen Kleinteile Platz. Becher, Löffel und viel anderes stumpfes Zubehör. Die Tabletts sind in dem anderen Schrank eingestapelt.

Zehn

 

Ich bin schon seit einer ganzen Weile fertig mit dem Spülen, sitze aber in dieser Küche fest. Emko hat auf mein Klopfen nicht reagiert. Wahrscheinlich befindet er sich auch gar nicht mehr hier in der Nähe. Da hilft nur Warten. Warten und warten bis er so gnädig ist, um mich hier wieder raus zu lassen. Ich finde es gar nicht so schlimm, denn diese eine Aufgabe und diese klitzekleine Freiheit, die er mir dadurch gewährt, haben es geschafft aufgestaute Emotionen abzubauen. Im Laufe der Zeit hat sich langsam aber sicher ein Druck in meinem Inneren aufgebaut, der mich von innen heraus aufgefressen hat, ohne dass ich wusste was nicht stimmte oder fehlte, doch diese alltäglich anfallende Aufgabe bringt mir den Frieden zurück und lässt den Druck verschwinden.

Ich denke so in etwa fühlt sich ein Tiger, der sonst immer in einen Zirkuswaggon eingesperrt ist und dann ausnahmsweise in der Manege herumlaufen und tollen darf. Ein befreiendes Gefühl, was das natürliche Bedürfnis stillt. Wenn ich so darüber nachdenke, fühle ich mich momentan wirklich wie ein gezähmtes Raubtier. Aber solange zwischen uns weiterhin Frieden - wenn man es denn so nennen darf - herrscht, spiele ich gerne sein Schmusekätzchen. Es hat schon so seine Vorteile und im Hinblick darauf, was er mit schnappenden Tigern macht...

Emko ist gar nicht so schlimm, wie ich angenommen hatte. Er ist einfach nur unser strenger Dompteur, der zu harten Mitteln greift. Um jetzt mal von der Zirkusnummer weg zu kommen - Ich denke Emko ist kein von Grund aus schlechter Mensch.  Ich meine, das sieht man doch! Er hat Gefühle und mag es einfach nicht herausgefordert zu werden. Falls es doch vorkommt, kämpft er immer wieder gegen seine Wut an. Ich hätte nie geglaubt, dass er ein so zurückhaltendes Wesen hat. Das ist als würde sich Slenderman in den verrückten Hutmacher verwandeln... Ich fürchte ich habe ihn von Anfang an zu stark verurteilt. Ich kann nicht genau sagen was in ihm vorgeht, aber es sieht in ihm längst nicht so schwarz aus, wie vermutet. Warum er das macht, was er macht, weiß ich auch nicht, doch ich denke es hat irgendeinen Sinn. Etwas, was eine große Bedeutung für ihn hat.

Ich höre den Schlüssel im Schloss schaben.

"Na Prinzessin? Würden Sie sich jetzt dazu herablassen den Tanzsaal zu verlassen und sich in das Turmzimmer zu begeben?", spricht Emko mit einer künstlichen Stimme und macht einen Knicks vor mir, bevor er den Weg frei macht und sein kalter Blick alles andere als spaßig aussieht.

Ich folge seiner Anweisung und gehe mit einem ungewöhnlich zufriedenen Gefühl in mein neues Quartier.

"Du hast dich vorhin bei der Verteilung ausgelassen. Solltest du in Zukunft nicht, sonst heißt es für dich hungern, verstanden? Jedenfalls für heute hast du dir aber was verdient.", meint er, als er die Tür ins Schloss schmeißt.

Kurz darauf kommt er mit meinem Tablett ins Zimmer und reicht es mir.

"Beeil dich. Wir haben ja noch was vor!"

Meine Belohnung besteht aus einer Schale leckerer Früchte. Ein Berg kernloser Trauben, kleingeschnittene Ananas und Bananenstücke. Wahrscheinlich ziemlich banal, wenn man es bei normalen Umständen betrachtet, doch für mich ist es gerade so, als ob man einem Kind den Weihnachtsteller voller Schokolade in die Hand drückt.

Noch bevor ich mir irgendetwas vom Tablett schnappe, ist Emko auch schon wieder weg. Für mich ist das im Moment eher zweitrangig, denn mein Magen sagt gerade entweder ich gebe ihm jetzt dass, was er haben möchte oder er fügt mir innere Verletzungen zu. Das lasse ich mir nicht noch einmal befehlen. Noch bevor der Große wieder vor meiner Tür aufkreuzt, habe ich mein Essen auf. Als er rein kommt, hat er ein Handtuch, sowie eine Schüssel mit Wasser auf dem Arm.

"Wollen wir es diesmal auf freiwilliger Basis probieren? Setzt dich auf deine Hände."

Verdutzt darüber, dass er diesmal keine Fesseln benutzen will, starre ich ihn wie ein Hundewelpe an und mache das, was er gesagt hat. Er kommt zu mir zur Matratze und setzt sich vor mich. Als er das Handtuch aufklappt, kommt wieder das altbekannte Rasiermesser, eine silberne Dose und ein Pinsel zum Vorschein. Er taucht das Handtuch in das Wasser und legt es auf mein Gesicht, wo es eine angenehme nasse Wärme verteilt. Dabei legt er meinen Kopf nach hinten, damit er es nicht die ganze Zeit festhalten muss. Danach trägt er mir mit dem Pinsel die Rasierseife aus der Dose auf.

"Warum nur Männer?"

Als Emko meine Frage hört, hält er inne und schaut mich schockiert an.

"Ich hab noch nie eine Frau gehört und du nennst uns deine "Boys". Also warum nur Männer?"

Er versucht gelassener zu werden und macht weiter.

"Frauen sind zu.... empfindlich. Nicht zu vergessen ist, dass sie einfach mehr Arbeit bereiten. Sie wären viel zu kompliziert. Eine Frau hält das hier nicht aus. Dabei vergeht einem die Laune, wenn sie den ganzen Tag nur rumheulen."

 Er lässt die weiße Schicht einwirken und guckt mir skeptisch mit seinem durchdringenden Blick in die Augen.

"Und warum machst du das hier? Was hast du mit uns vor?"

"Was ich mit euch vorhabe? Nichts! Ihr seid meine Spielzeuge!", lacht er gehässig.

"Und wofür?"

"Stell nicht so viele Fragen. Neugier ist eine schlechte Angewohnheit."

Er will gerade anfangen mein Gesicht mit dem Messer zu enthaaren, als ich seinen Arm mit meiner befreiten Hand greife.

"Emko, warum sind wir hier?", fahre ich ihn ungeduldig an.

Er schnappt sich mit der anderen Hand meinen Arm und drückt so feste zu, dass ein Blutstau entsteht und sich meine Knochen beinahe anfangen durchzubiegen.

"Ich mag es, Menschen Schmerzen zuzufügen. Ich liebe es, ihren Widerstand zu brechen und die kämpferische Natur in ihren Augen sterben zu sehen. Eure Augen verraten alles. Ein windender Körper in meinen Händen und ein Paar leblose Augen vor mir, in denen der ganze Schmerz widergespiegelt wird, den ich euch zufüge, ist etwas Wunderschönes! Es macht süchtig, gleich nach dem ersten Mal. Und danach will man immer mehr davon, man kann nicht mehr ohne…!", flüstert er mir zu und sein Blick scheint jetzt so fern.

"Ich verspreche dir, wenn du deine Hand noch einmal Richtung meiner oder in der Nähe des Messers bewegst, dann wirst du meine nächste Lustquelle sein, Kleiner.", meint er verärgert, als er wieder aus seinen Gedanken erwacht.

Bis zum Schluss halte ich ab nun still, denn auf eine Auseinandersetzung möchte ich dann doch verzichten. So sehr er sich es jetzt vielleicht wünscht, er jagt mir damit keine Angst ein. Auch wenn es wahr ist, Furcht verspüre ich deswegen nicht. Allein die Tatsache, dass er mich gerade mit einem extrem scharfen Messer rasiert und dabei nicht einmal die kleinste Wunde hinterlässt, zeigt doch schon wie sanft er ist. Er behandelt mich wie ein Neugeborenes. Ist es das, was mich von den anderen unterscheidet? Glaubt er ich bin zu zerbrechlich? Sieht er mich eher als Frau an, die mit Fingerspitzen angefasst werden muss, damit sie nicht weint? Irgendwie finde ich meine bevorzugte Lage erniedrigend. Es kann doch nicht sein, dass alle hier, die auf das kleinste Fingerschnippen von Emko hören, sich mehr als ich geleistet haben!

Elf

 

Die Tour ist mittlerweile zur Routine geworden. Tabletts austeilen, Tabletts einsammeln und alles spülen. Bei den ersten beiden Punkten hilf Emko sogar meistens, statt wie beim ersten Mal tatenlos in der Ecke herumzustehen und zuzuschauen.

Ich weiß zwar nicht, wie viel Zeit zwischen jedem Besuch liegt, doch immer, wenn er mich wieder alleine zurück lässt und in meinem neuen, größeren Raum einschließt, weiß ich, dass er bald wieder da ist. Dazwischen ist es weniger ein Warten, als die Vorfreude darauf wieder herauszuspazieren ihn zu sehen und meine Nachbarn zu verpflegen.

Das Schloss meiner Tür knackt, als der Schlüssel in ihm gedreht wird und es entriegelt. Langsam schwingt die Tür auf und läd dazu ein hinauszutreten.

Jedes Mal, wenn er wieder kommt, erfüllt mich eine unbeschreibliche Glückseligkeit. Es fühlt sich an, als würden alle meine Wünsche und Bedürfnisse erfüllt und im Grunde genommen ist das so. Ich bin nicht mehr alleine. Nebenbei bekomme ich natürlich auch alles, was man braucht. Nahrung, Schlaf und Bewegung. Aber vorallem seine Gesellschaft zählt. Diese Aufgabe war ein Geschenk.

Ohne zu zögern, nutze ich mein Privileg und trete aus meiner Tür auf den Flur. Emko ist bereits dabei die ersten Mahlzeiten zu servieren. Es ist kaum zu glauben wie viel Vertrauen er mir dadurch entgegenbringt. Wie viel Vertrauen es ausstrahlt, dass er mir einfach den Rücken zukehrt, ohne mich vorher irgendwo angekettet zu haben. Im Genuss dieses Gefühls schnappe auch ich mir ein paar Tabletts und starte an der anderen Seite, sodass wir uns in der Mitte begegnen werden, wenn wir uns den Gang entlang gearbeitet haben. Als wüssten nicht schon alle, dass Emko hier wäre und das es wieder Zeit zum Essen ist, klopfe ich an die Tür und schieb die Essensplatten durch die Klappen. Tür für Tür dasselbe Spiel, bis zum Ende. Dann wieder alles von vorne, nur mit dem Unterschied, dass es andersherum abläuft. Klappe auf, Tablett raus. Doch bei der dritten Tür passiert gar nichts.

"Tablett?", frage ich mit dünner Stimme, doch als Antwort bekomme ich nur einen harten Schlag von innen, der aber eindeutig beweist, dass der Insasse wach ist.

Das ist das erste Mal, dass er nicht reagiert wie ein Süßigkeitenautomat. Das ist generell das erste Mal, dass irgendetwas nicht so läuft wie erwartet. Warum behindert er jetzt diese alltägliche Prozedur? Warum jetzt, wenn er vorher doch auch kooperativ war? Alle machen das, was von ihnen gefordert wird. Warum hört er jetzt auf? Damit will er Emko nur hinausfordern! Ihn verärgern aus einem undefinierbaren Grund. Warum macht er soetwas Sinnloses?

"Emko? Ich schätze wir haben jemanden, der Probleme bereitet.", meine ich, während ich auf ihn zu komme.

Er folgt mir zurück zu der Tür.

"Komm schon Rufus, du hast da was, was ich wieder haben will!", spricht Emko mit einer bedrohlichen, ruhigen Stimme, in der furchteinflößende Kälte mitschwingt.

Diese versteckte Drohung lässt mich eine Gänsehaut bekommen. Dem Bewohner hinter dieser Tür scheint es jedoch nichts auszumachen. Er reagiert nicht. Aber Emko bleibt ruhig und wendet sich wieder ab.

"Rufus? Ist das sein richtiger Name? Wer bitteschön nennt sein Kind Rufus?", frage ich verdutzt, um diese stille Spannung um mich zu lösen.

"Ist das dein Ernst? Rufus ist ein römischer Sklavenname!"

Sein erschrocken-fragender Blick und dazu seine aufgebrachte Frage lassen mich fast glauben, dass meine Unwissenheit viel schlimmer wäre, als die Tatsache, dass es hier einen rebellierenden Idioten gibt. Ist ja nicht so, als würde man mit solchem Wissen groß gezogen werden.

"Und wie heißt er wirklich?"

"Woher soll ich das wissen? Ich habe schon lange aufgehört mir soetwas zu merken!"

Diese Aufgebrachtheit erschreckt mich irgendwie ein bisschen. Ich hebe meine Hände, um klar zu stellen, dass ich es verstanden habe und aufhöre solche dummen Fragen zu stellen.

Schweigend sammeln wir die restlichen Tabletts der anderen ein und befördern sie schließlich in die Küche.

Emko ist gerade im Gehen und will die Tür hinter sich schließen, um mich alleine zurück in der Küche lassen, als ich es einfach nicht mehr zurück halten kann.

"Wie bist du so geworden?"

Meine Frage paralysiert ihn. Er stoppt und starrt vor sich hin.

"Ich hatte mal eine Schwester.", murmelt er letztendlich, bevor er ohne mich anzusehen verschwindet.

Irgendwann, eine Ewigkeit nachdem ich fertig bin, höre ich ihn wieder durch die hellhörigen Türen in diesem Teil seiner Zellenansammlung herumschlurfen. Diesmal bin ich mir sicher, dass es nicht nur eine gefühlte ganze Weile war, sondern eine zeitliche, wahre. Emko öffnet die Tür und lässt mich zurück in mein Zimmer tappen. Er würdigt mich keines Blickes, als hätte ich durch meine Frage alles versaut.

"Erzählst du mir von ihr?", bitte ich, als ich zurück in meinem Tigerkäfig bin.

Jetzt schaut er mich an und in seinem Blick liegt so viel Gefühl. Ausdrücke, die ich von ihm nicht kenne und die mich dazu veranlassen mir zu wünschen, dass ich auch nur dieses eine Mal in seinen Kopf schauen könnte.

Er sagt gar nichts. Ich sage nichts. Ob er jetzt mit sich ringt? Falls ja, dann hat er entschieden nicht mit mir zu sprechen, denn im nächsten Moment inmitten des Schweigens dreht er sich um und schließt die Tür. 

 

 

 

Ich werde durch das hereinfallende Licht wach, was direkt in mein Gesicht scheint.

"Guten Morgen liebste Prinzessin! Sagt mir, wie habt Ihr geschlafen?", flötet Emko in einem herausfordernden Ton, als er sieht bei was er mich stört.

 "Oh, entsetzlich schlecht! Ich habe fast die ganze Nacht kein Auge geschlossen! Gott weiß, was in meinem Bett gewesen ist. Ich habe auf etwas Hartem gelegen, so dass ich am ganzen Körper ganz braun und blau bin! Es ist ganz entsetzlich!", zitiere ich die Prinzessin aus dem Märchen mit der Erbse schrill.

Mit diesen Worten ringe ich dem gnadenlosen Wecker ein Schmunzeln ab. Vorfreudig hopse ich hoch und komme zu Emko auf den  Gang, um meine Arbeit zu verrichten. Entgegen meiner Befürchtungen benimmt Emko sich zumeist normal. Aus diesem Grund läuft alles so ab, wie gehabt. 

"Da nicht.", befiehlt Emko, als ich bei der Tür angekommen bin, hinter der unser Rebell protestiert hatte. 

"Warum? Macht er nun Diät?"

"Sagen wir, wir hatten eine kleine Auseinandersetzung...", blitzt er mich an.

Auseinandersetzung? Im richtigen Sinne oder eher in seinem? Ist wohl egal, denn Nachfragen steht nicht zur Debatte, solange Emko dann wieder schweigend weg rennt. Also arbeite ich weiter und erspare mir die nächste Zwickmühle. 

 

Zwölf

 

Ich habe so das Gefühl, dass Emko die Zeit nicht nur mit dauerbeleuchteten Gängen und klimatisierter Luft verschleiern will, sondern auch mit Mahlzeiten in variierenden Abständen, denn mein Bauch grummelt so schmerzhaft, dass mir schon wieder übel ist. Und dieses Gefühl habe ich nicht erst seit fünf Minuten.

Als hätte Emko genau jetzt meine Gedanken gelesen, kommt er auf dem Gang angestapft und öffnet meine Tür.
Auch wenn ich momentan das Gefühl habe wie ein 3.Welt-Mensch zu verhungern, folge ich meinem Vorsatz. Die beste Methode sein Gegenüber dazu zu bringen sich auszuziehen, ist ihm zuerst sich selbst zu zeigen.

"Weißt du? Vor ein paar Jahren - es war noch in meiner Schulzeit - kam dieser Neue auf die Schule. Eugen. Er war ein ziemlicher Athlet. Ein recht erträglicher, ruhiger Mensch mit einem verdammt guten Körperbau. Jedenfalls kam er dann in unsere Klasse. Im Laufe der Zeit ist uns aber aufgefallen, dass er nicht ganz so ist wie wir. Er war Schwul. Was nicht schwer zu erkennen war, als er überhaupt gar kein Interesse an den heißesten Mädels unserer Schule gezeigt hatte, im Gegensatz zu denen. Selbst die aphrodisierende Mutter eines Kumpels, bei dem wir zufälligerweise immer lernten, die nicht besonders viel von weiten oder langen Klamotten hielt oder gar dem Verlangen etwas zu tragen, hatte überhaupt keine Wirkung auf ihn. Spätestens als er ständig mit mir abhängen wollte und mich in den Unterrichtsstunden anstarrte, musste es auch dem letzten Depp aufgefallen sein."

Emko macht einen Schritt in den Raum hinein, um nicht im Türrahmen stehen zu bleiben, und lehnt die Tür an.

"Jedenfalls nahmen wir ihn dann mit. Ich und meine Kumpels. Wir haben uns ein Spaß daraus gemacht. Ich habe ihn zu mir nach Hause eingeladen und es war eine Menge Alkohol im Spiel. Ihn abzufüllen war kein Problem. Der Anfang war schon getan, als ich ihn allein mit in die Küche genommen und ihn dann ein Glas Whiskey in die Hand gedrückt habe. Er folgte mir wie ein Welpe und tat was ich sagte.", ich stoppe und musste erst einmal durchatmen, bei dem Gedanken daran, wozu ich ihn getrieben habe.

Emko lehnte sich gegen die Wand und wartete darauf, dass ich endlich zum Punkt kam.

"Als er so dicht war, dass er ohne Weiteres jeden Mist abgezogen hätte, wozu wir ihn baten, sind wir los. Wir haben hier und da ein paar Streiche gespielt. Das Gartenhaus eines Nachbarn aufgebrochen und mit dem Benzin für den Rasenmäher Mist in die Wiese hineingebrannt oder die Scheibe vom Friseurladen eingeworfen, um den kleinen Jungen, den wir unterwegs aufgegabelt haben - der mag vielleicht zehn Jahre alt gewesen sein - und der unbedingt mit uns herumziehen wollte, die Haare ab zu rasieren. Den sind wir übrigends losgeworden, als der auf der Bank des Spielplatzes eingeschlafen ist, während wir ein paar Bretter von Klettergerüst schraubten und die Schaukeln aufwickelten. Irgendwann streiften wir dann im Park herum und wie es der Zufall wollte, streifte Rebecca genauso wie wir dort herum. Sie war eine Klasse über uns und ein ziemlich zurückhaltendes Mädchen. Ganz eindeutig kam sie von keiner Party und hatte auch nichts getrunken, denn wahrscheinlich hätte selbst der netteste Türsteher der Welt diese Jungfrau in diesem Outfit draußen stehen gelassen. Da kam mir dann die perfekte Idee für meinen neuen Kumpel. Wir haben den ganzen Abend schon Mutproben geschoben, wodurch das Anknüpfen überhaupt kein Thema war. Als Rebecca in unsere Richtung geschlendert kam, schubste ich alle tief ins Gebüsch und hockte mich hin.

'Ich finde Rebecca ist ein echt heißes Gerät, findest du nicht?', deutete ich Eugen süffisant lächelnd an.

'Meinst du die würde mit dir schlafen? Ich wette du hättest keine Chance bei der zu landen.'

Eugen sah mir nur fragend an, also musste ich deutlicher werden.

'Probier es! Los! Zeig ihr, dass du es wert bist ihr erstes Mal zu werden!'

Er zögerte, also begannen nun auch meine Freunde mich zu unterstützen und forderten ihn auf.

'Los, lass dich von ihr umpolen!', feuerte ich ihn mit den anderen an.

Damit er aber wirklich überzeugt war, musste ich andeuten, dass wir danach prüfen werden, ob sie es geschafft hat und... na ja.. grapschte ein bisschen aufmunternd.''

Ich mache eine kurze Pause um zu beurteilen, ob Emko mir noch folgen kann, aber sein fragender Blick soll wohl eher soetwas heißen, wie: "Worauf willst du hinaus?"

"Jedenfalls ging er dann zu ihr, aber statt herum zu schwafeln und eine Abfuhr erteilt zu bekommen, zog er sie in unsere Nähe ins Gebüsch und riss ihr und sich selbst die Kleider vom Leib. Sie hatte keine Chance sich zu wehren, denn wie gesagt, Eugen war sehr gut in Form. Er vergewaltigte sie mehr oder weniger direkt vor unseren Augen und wir saßen nur perplex da und starrten irritiert hinüber. Wir verschwanden als Eugen sie weinend am Boden liegen lasste und sich wieder bekleidete, noch bevor er zurück zu uns kommen konnte."

Keine Ahnung was Emko gerade dachte. In seinem Blick liegt überhaupt keine Regung oder Emotion. Nicht ein einziges Wort hat er während meines Vortrages hervorgebracht. Was soll mir das denn jetzt sagen?

"Keine Ahnung warum, aber zu der Polizei hat er gar nichts gesagt, als er festgenommen wurde. Vor der Verhandlung haben wir ihm aber trotzdem nochmal gedroht, dass er ja kein Wort über uns verlieren sollte. Dass das sein Problem sei.

Er wurde zu zwei Jahren Jugendknast verurteilt und musste danach in eine psychiatrische Klinik, um eine Therapie zu machen, damit er seine 'Triebe' unter Kontrolle kriegt. Ich weiß ehrlich gesagt noch nicht einmal wann oder ob sie ihn wieder entlassen haben.

Rebecca kam wochenlang nicht zur Schule und hatte sich zu Hause eingeschlossen. Blöderweise wurde gut drei Monate später festgestellt, dass sie schwanger war. Ihre zwölf Wochen waren um...
Und das alles nur wegen mir. Weil ich es irgendwie lustig fand.."

Noch immer scheint Emko nicht sonderbar an der Geschichte interessiert zu sein.

"Was für eine Geschichte, hm?"

"Und was für eine happige Strafe für einen Jugendlichen, der seiner Lust nicht wiederstehen konnte.", spottet Emko leichthin mit einer eiskalten, unberührten Stimme.

Seine Augen durchbohren mich, höchstwahrscheinlich auf der Suche nach dem warum habe ich ihm das erzählt. Er stößt sich von der Wand ab und hält mir die Tür offen und als wär nichts Außergewöhnliches passiert, gehen wir an die Arbeit wie jeden - Tag?

Ich habe nie dafür garantiert, dass mein Trick immer funktioniert.... Ein Verusch war es aber wert.

Also fange ich an - diesmal allein - die Mahlzeiten an alle Zellen, ausgenommen der, in dem unser Rufus rebelliert hatte, zu verteilen. Der Schall der Wände gibt dabei natürlich bereitwillig mein Magenknurren wieder, als ob er mich vor Emko bloßstellen wollte, der heute wieder Vergnügen dabei hat mir zuzugucken und mich durch ein Stirnrunzeln zu verunsichern.

Als ich soweit fertig bin, dass ich nur noch abspülen muss, schnappe ich mir meine Portion und verziehe mich in mein Zimmerchen, denn ein weiteres, schmerzhaftes Magenknurren könnte mittlerweile eine Ohnmacht hervorrufen. Emko kommt hinter mir her in das Zimmer geschlendert.

"Sag mal, können wir morgen wieder Suppe bekommen? Ich fürchte mein Körper besteht längst nicht aus so viel Wasser, wie er sollte und irgendwie habe ich Heißhunger auf Salz...", röchel ich hervor, als ich mein Essen ohne zu kauen vertilge.

Emko schnaubt nur vor sich hin und starrt vor sich hin. So abwesend und nachdenklich, wie er heute ist, habe ich ihn noch nie erlebt. Ist das nun etwas Gutes?

 

"Emko! Bitte! Erzähl mir warum du so geworden bist. Warum du so bist wie du jetzt bist? Was hat dich verändert?"

Er zögert. Ich bin mir nicht sicher, ob er gerade hier ist oder in Gedanken versunken, denn im ersten Moment wirkt es, als ob er mit seinem durchdringenden Blick gleich ein Loch in diesen Boden brennen wird, um im zweiten Moment zu einem verträumten Davonschweben zu werden, womit er durch den Beton hindurch zu einem kleinen schlummernden Engel schauen könnte.

 

 "Meine Schwester. Sie war für mich das Wichtigste auf Erden. Unsere Beziehung war etwas Besonderes, etwas Einzigartiges... Die meisten Leute denken Brüder hätten nur zu ihren kleinen Schwestern eine enge Beziehung. Dieses große Bruder Getue, doch bei uns war es anders... Wir haben als kleine Kinder alles zusammen gemacht und haben uns immer alles erzählt. Egal was passieren würde, sie wär für mich da, dachte ich immer."

"Und was ist nun anders? Warum hat sich das verändert?"

"Sie ist tot!", schnaubt Emko mit einem so aggressiven Ausdruck auf dem Gesicht und starrt vor sich hin.

Ich könnte fast meinen seine Augen glitzern zu sehen.

"Sie hatte diesen Freund... Er war dieser typische Nichtsnutz, der den ganzen Tag damit beschäftigt ist zu trinken oder ekelhaft zu sein. In gewisser Weise hattest du mich an ihn erinnert bei unserer ersten Begegnung... Jedenfalls hat Isabella mir am Anfang immer von ihm erzählt und mir vorgeschwärmt wie toll er sei, doch ich wusste schon da, dass dieser Typ meiner Schwester nur schaden würde. Sie verletzen würde... Sie bemerkte, dass ich ihm irgendwie abgeneigt war und hielt sich dann damit zurück. Ich erinnere mich noch an unsere erste Begegnung... Er war so überzeugt von sich! Eitel und hochmütig. Aus irgendeinem Grund dachte er, er wäre etwas Besseres als ich und könnte mir vorschreiben, was ich tun soll. Er schikanierte mich. Tyranisierte und unterdrückte, doch ich habe mich nicht gewehrt. Meiner Schwester zu liebe. Ich hätte es gekonnt, doch ich hatte einen starken Willen, der immer über mein Verlangen gewonnen hat. "

Offensichtlich war sein entferntes Wirken zuvor nur eingebildet, denn nun kann ich zusehen, wie Emko in seinen Gedanken versinkt. Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich nicht einmal mehr, ob er mir das noch erzählt oder nur seine Gedanken und Erinnerungen laut vor sich hin spricht und wiederholt, um sie nicht zu vergessen...

"Eines Abends hat er sie jedenfalls auf eins seiner Saufgelager mitgenommen. Irgendeine Party von einem seiner genauso assozialen, schmierigen Freunde, wo nur gesoffen und Scheiße gebaut wurde. Dank solchen Partys hatten schon einige Typen aus unserer Nachbarschaft Vorstrafen oder Anzeigen bekommen. Vandalismus, Einbruch, Diebstahl. Einfach nur weil ihm und seinen Freunden langweilig war und vermutlich ein paar Promille zuviel intus hatten. Es ist nicht so, dass er der Schlimmste aus seiner Clique war. Nein, er war nur ein weiterer. Alle, die in der Stadt tiefer sanken, kamen zu ihnen und halfen dabei all das zu machen, was nicht gut für sie war. "

"Wie alt wart ihr da?"

Emko braucht einen Moment um zu realisieren, dass meine Frage an ihn ging.

"Es war genau drei Tage vor meinem sechzehnten Geburtstag. Bel war siebzehn und ihr Freund war neunzehn. Er hatte an dem Abend wieder viel zu viel getrunken. So klischeehaft es auch ist, er musste natürlich fahren. Bella ist eingeschlafen und hatte sich nicht angeschnallt. Er ist von der Straße abgekommen und ist den Hang runtergestürzt. Das Auto ist nicht weit gefallen. Es wurde von einem Baum ausgebremst. Meine Schwester jedoch wurde durch die Scheibe geschleudert und fiel den Rest des Hanges runter. Vermutlich war sie schon durch den Aufprall tot, doch ihr Körper war ja noch nicht zerschunden genug, damit das reichen würde. Ihr ach so toller Freund hat natürlich unversehrt überlebt. Dabei war genau er der Grund für den Unfall. Er trägt die Schuld an den Tod meiner Schwester! Und was ist das Erste, was er nach dem Unfall machte? Er brachte sein verfickes Auto in die Werkstatt und ließ die Mängel beheben. Überall an der Unfallstelle waren noch Blutspuren und anstatt sich darüber Gedanken zu machen, was er da getan hat, kümmerte er sich darum sein Auto reparieren zu lassen."

Emko ist zum Schluss hin immer lauter geworden. Seine Aufgebrachtheit weckt in einem das Verlangen ihn in den Arm zu nehmen, wie einen kleinen Jungen, der gerade seinen Hamster tot getrampelt hat, doch genauso gut vermittelt sie diese Vorsicht, denn sein ganzer Körper strahlt diese Wut aus, die er vermutlich gerade genauso stark fühlt, wie an dem Unfalltag. 

"Mitten in der Nacht kam ein Anruf bei uns an. Unsere Eltern waren nicht da, wie so oft. Ich sah zu, wie sie meine Schwester in einen Plastiksack packten und sie zur Leichenhalle brachten. Ich sah zu wie meine Eltern in Tränen ausbrachen, als sie am nächsten Nachmittag erfuhren, dass ihre Tochter tot sei. Ich sah zu, wie die Beerdigung um mich herum organisiert und später abgehalten wurde. Mein Geburtstag versank unter all dem und wurde von den Planungen der Trauerfeier verdrängt. Man hat mir an diesem Tag das Herz aus der Brust gerissen. Etwas genommen, was niemals wieder ersetzt werden konnte. Ich war so traurig und wütend, dass es weh tat. Genau das Gefühl durfte aber auch unser Beerdigungs-Planer erfahren, als er so dreist war und sich darüber aufgeregt hatte, dass ein offenes Grab durch die Verstückelungen meiner Schwester unmöglich war. Sein Blut ergab eine große Pfütze auf unserem Rasen als ich mit ihm fertig war, doch das war mir und meinen Eltern egal. Letztendlich war die Beerdigung sowieso nur das standartmäßige Herunterleiern. Vollkommen unpersönlich und nur zur Show. Jeder Pastor sagt, dass er einen versteht und wünscht einem Beileid, aber in Wirklichkeit hat er keine Ahnung. Ich fühlte mich wie ein Schattenloser. Wie jemand, der das verliert, was gar nicht verloren gehen kann. Und das Schlimmste war, dass ihr Mörder nichts anderes zu tun hatte, als genau dieses Risiko des Unfalls nochmal heraufzubeschwören. Sein neues Hobby bestand darin, Straßenrennen mit seinem frisch aus der Werkstatt kommenden Wagen und genügend Alkohol im Blut, um ein kleines Kind von einem Pudel nicht mehr unterscheiden zu können, zu veranstalten. Ich habe ihn schon früher gehasst, doch Hass war für das, was ich für ihn seit seiner dummen, unüberlegten Fahrlässigkeit verspürte, kein Ausdruck mehr. Dieser Mensch hatte es nicht verdient weiterzuleben, wenn er jemand anderem, jemand unschuldigen, das Leben genommen hat. Ich habe ihn eines Nachts besucht. Er war wie erwartet draußen in seiner Scheißkarre und hatte getrunken. Ich wusste genau was ich tat. Ich ging zu ihm und eigentlich waren die zwei Vodkaflaschen gar nicht mehr nötig, die ich mitgebracht hatte, denn das Innrere seines Wagen hätte genauso gut als Schnappsladen durchgehen können. Er hat gebettelt und meinte, er mache sich enorme Vorwürfe. Zurecht. Er heulte los und feuerte meine Wut nur nochmehr an. Ich hab ihn und das Wageninnere mit meinem Vodka überschüttet, Papier von einer Packung Zigaretten zur Tarnung zwei Meter vor seine Fahrertür geschmissen und die alkoholische Flüssigkeit mit seinem Zippo in Brand gesetzt. Zu beobachten, wie er Schmerzen hatte, wie sich dieses Gefühl stufenweise gesteigert hat, war ein Genuss. Sein Leid hat meinen Schmerz gelindert und mir offenbart, wie gerne ich den Schmerz anderer Leute sehe. Die Polizei kam erst Stunden später, denn ich war nicht so blöd, das an einer nahegelegten, öffentlichen Straße zu machen. Er hielt sich öfters in irgendwelchen Feldern oder am See auf. Für die Polizisten war die Situation klar. Ein ganz normaler Unfall, verursacht durch eine Zigarette oder dem herumtergefallenen Feuerzeug. Niemand hat daran gezweifelt, dass er so dumm war und sich in seinem Zustand selbst abfackelt hat und es war ja nicht so, als würde irgendetwas dagegen sprechen. Er hatte Alkohol im Blut und überall im Wagen befanden sich brennbare Stoffe. Ich bezweifle sogar, dass damals irgendetwas untersucht wurde. Aber nicht diese Tat hatte mich verändert. Verändert hatte er mich. Indem er sie und damit ein Teil von mir umbrachte. Meine Zurückhaltung ist mit Isabella gestorben."

Jetzt bin ich heilfroh, dass ich keine Suppe hatte. Das, was sich auf meinem Tablett befand, hat sich langsam aber sicher einen Weg auf meine Sachen und auf den Boden gesucht. Ich bin nicht nur wortwörtlich überschüttet, sondern auch von den Empfindungen, die auf mich hinabbrechen. Emko hat den Menschen, der ihm früher wohl am Wichtigsten war, auf eine grausame Weise verloren und ihn tot und kaputt am Boden liegen sehen. Er war damals ein niedergeschlagener Fünfzehnjähriger und hatte niemanden, der ihn über seine Trauer hinweg helfen konnte.

Ich will gerade etwas sagen, ohne wirklich zu wissen, was wohl die richtigen Worte sind in einer Situation wie dieser, - nach einem Geständnis eines Mords aus Liebe - als Emko aufsteht und hinaus geht. Kaum einen Augenblick später sind die Schlösser verschlossen, doch das Weggehen von Emko ist erst nach Minuten zu vernehmen.

Impressum

Texte: Elisa Kirsch
Bildmaterialien: Nadine Pohler
Tag der Veröffentlichung: 23.07.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Danke, dass du mich immer wieder auf neue Ideen bringst.

Nächste Seite
Seite 1 /