Ein Augenblick
Wie lange dauert eigentlich ein Augenblick? Ist es wortwörtlich zu verstehen? Dieses eine Zwinkern? Augen auf. Augen zu. Fertig? Oder geht es danach erst los? Dann, wenn du diesen einen Augenblick, diesen einen alles entscheidenden Augenblick, immer und immer wieder in deinem Kopf abspulst.
Rewind.
Ich sitze in der S-Bahn, hüsteln, rascheln von Zeitungen, gleichmäßiges Kauen von Apfelstückchen, ich sehe gelangweilt aus dem Fenster, ignoriere das Knurren meines Magens. Kau nur ordentlich durch, denke ich. Ich atme tief ein. Es riecht wie im Obstgarten meiner Oma.
Und da sehe ich sie. Am Bahnsteig gegenüber. In der Gegenrichtung.
Sie ist nicht dick und nicht dünn. Sie ist nicht groß, aber auch nicht klein. Ihre braunen langen Haare haben goldene Strähnen und wehen ihr ins Gesicht. Ihre Hände stecken in den Taschen eines zu großen Parkas. Eine zu lange, unten ausgefranste Jeans verdeckt fast völlig ihre Schuhe, es schaut nur eine kleine rote Turnschuh-Spitze heraus. Mit einer dramatischen und sehr königlichen Kopfbewegung wirft sie ihre Haare nach hinten und ich sehe ihr Gesicht. Eine lange, schmale Nase, ein spitzes Kinn. Ihre großen Augen stehen eng beieinander. Sie lächelt nicht, versteckt ihre Lippen, presst sie aufeinander. Ist sie schön? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß mit hundertprozentiger Sicherheit. Sie ist es.
Sie, die ich schon seit Jahren suche. Sie, die ich schon eine Ewigkeit kenne. In meinem Brustkorb bläht sich ein Ballon auf und nimmt mir die Luft.
„Hackerbrücke. Bitte zurückbleiben.“
Und ich kann nichts tun. Nichts weiter tun, als ihr hinter her zu sehen. Doch nur einen Augenblick. Dann ist sie weg. Nur Gleise über Gleise. Verdorrte Grasbüschel. Firmengebäude. Der Ballon in meinem Brustkorb platzt, ich stöhne wie ein alter Mann, verbrauchte, schale Luft, die Frau gegenüber kaut bedächtig und langsam ihre mundgerechten Stückchen ohne Schale, der Typ neben ihr blättert die Süddeutsche um und murmelt „Entschuldigung“.
Das ist sie, das ist sie, sie ist es, sie ist es, rattern die Gleise. Kann nicht sein, kann nicht sein, sagt mein Verstand. Und überhaupt: was hätte ich tun können?
Rewind.
Immer wieder.
Rewind.
Immer wieder spule ich zurück.
Ich sehe mich im letzten Augenblick aus der S-Bahn springen. Für einen Moment bleibe ich in der Tür stecken. Ich drücke mit aller Kraft dagegen, und dann bin ich draußen im Wind, draußen bei ihr.
Ein anderes Mal ziehe ich die Notbremse. Mit einem fürchterlichen Quietschen kommt die S-Bahn wieder zum Stehen, es riecht nach verbrannten Gummireifen. Doch sie öffnet ihre Türen nicht. Mir bleiben alle Töne im Hals stecken, ich kann nur schauen und starren, wie sie sich umdreht, und in die einfahrende S-Bahn einsteigt. Endlich, endlich gehen die Türen auf und ich hetze über den Bahnsteig, schaffe es an ihre Tür, doch die grüne Lampe erlischt.
„Bitte zurückbleiben.“
Rewind.
Immer wieder.
Rewind.
Ich habe so viele Möglichkeiten durchprobiert.
Ich habe die Frau mit den Apfelstückchen ersetzt durch ihre beste Freundin, die mir selbstverständlich ihre Handy-Nummer gibt.
Der Mann mit der Zeitung ist ihr Bruder, der mir verspricht, dass er ihr meine Nummer gibt.
Einmal stellt sie fest, dass sie in der falschen Richtung steht, sie nimmt ihre Hände aus den Taschen und rennt, doch meine S-Bahn setzt sich in Bewegung und ich will, ich will ihr nachwinken, doch meine Arme gehorchen mir nicht.
Aber das nächste Mal schafft sie es. Sie steht schweratmend in meinem Abteil, hält sich ihre Seiten, ihre Haare fallen in ihr Gesicht und ich stehe langsam und bedächtig auf.
Das ist ein Augenblick.
Für mich.
Texte: Cover: Karl-Heinz Winter
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2009
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