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Zur See


Das Telefon klingelte. Er nahm den Anruf entgegen und meldete sich ordnungsgemäß: „Lommatzsch.“ Am anderen Ende war die Leitung des Pflegeheims, in welchem der Großvater seit nunmehr fünf Jahren ansässig war. „Herr Lommatzsch, ihr Großvater hatte einen neuerlichen Herzinfarkt. Wir bitten sie, in die Intensivstation der Uniklinik zu kommen. Er wird dort ständig betreut“, sagte die Frauenstimme in einem kümmerlichen Versuch der Beruhigung. Lommatzsch wusste instinktiv, dass damit das Ende seines nun fast 92-jährigen Großvaters nahen würde. Zwei Infarkte hatte er schon überstanden und das Pfeifenrauchen doch nicht aufgegeben. Genauso wenig, wie das abendliche Gläschen Cognac, das er vor dem Personal des Pflegeheims versteckte, obwohl es durchaus nicht verboten war. Es war der Arzt, der dem Alten den Alkohol und die Pfeife verwehren wollte. Den jungen Lommatzsch interessierte das Verbot nicht. Er brachte seinem Großvater alle zwei Monate eine Flasche Courvoisier Imperial und rechtfertigte sich, in dem er zu sich sagte: „Er hat ein langes und schweres Leben gehabt. Ich werde bestimmt nicht derjenige sein, der ihm nun die letzten Freuden verwehrt.“ Und so lag in seinem Wohnraum im Pflegeheim der feine, aber dichte Qualm von Vanille-Tabak während der alte Lommatzsch mit seinem Schulfreund, dem ebenfalls 92-jährigen Anton über die alten Zeiten schwadronierte. Enkel und Großvater verband eine tiefe Zuneigung. Sein Vater Johann fuhr jeher zur See und Lommatzsch wuchs bei den Großeltern auf, nachdem die Mutter sich mit einem Autoverkäufer absetzte und ihm zwei weitere Söhne gebar. Folglich blieb nicht viel Zeit für ihren Erstgeborenen und der Kontakt zu seiner Mutter versiegte mit Beginn des Achtzehnten Geburtstages vollends. So richtig verzieh der Sohn ihr diese Schwäche nie und war trotz alledem in gelegentlicher Weise darum bemüht, ein gewisses Maß an Verständnis für seine Mutter und ihre Entscheidung aufzubringen. Für wahr, ertrug sie doch die Einsamkeit nicht, mit der eine Frau, die einen Seemann heiratet, ausgestattet sein muss. Also kam der Enkel zu seinen Großeltern aufs Land, während der Vater die Weltmeere bereiste. Der Großvater lehrte seinen Enkel aufrecht zu sein und nicht mit dem Herzen zu handeln, sondern sich des Denkens zu bemächtigen, bevor man beherzt handelt.

„Johann! Anruf für dich. Von Land“, plärrte der Funker durch den Bordfunk zu dem 55-jährigen Lommatzsch, der gerade in der Kombüse beschäftigt war und die Kartoffeln kochte. Das hatte er sich einst gewünscht und schließlich auch erreicht. Es war ihm ein reichliches Vergnügen für die Frachtermannschaft zu kochen und in den freien Stunden von Deck aus auf das jeweilige Weltmeer blicken zu dürfen. Auch heute noch, nach zahlreichen Jahren zur See entfachte sich die endlose Sehnsucht nach der Ferne und es ergriff ihn eine eherne, niemals enden wollende Melancholie, die sich ihm in der Suche nach der eigenen Seele offenbarte. Als ob er sie in der tosenden Gischt, die gegen den Stahlkoloss schlug, finden könne. Diese ewige Suche machte ihn zum Seemann. Er gab die Arbeiten mit einem Kopfnicken an den Küchenhelfer weiter. Der wusste sofort, was zu tun war, war er doch schon seit einigen Jahren der Untergebene von Johann Lommatzsch und quittierte den Auftrag ebenfalls mit einem Nicken, denn der Lärm in der Küche war nicht zu gering. Am Telefon war sein Sohn, die Funkverbindung war nicht immer stabil, aber es genügte um das Wichtige, was zu sagen war, zu erfassen. „Großvater stirbt. Er hatte wieder einen Herzinfarkt und liegt auf der Intensivstation. Ich habe ihn heute besucht. Es sieht nicht gut aus“, sagte sein Sohn einigermaßen abgeklärt in das Telefon und der Seemann Lommatzsch musste sich sodann in den engen Funkersessel setzen. „Es ist also soweit. Keine Chance, dass es wieder aufwärtsgehen kann?“, fragte er seinen Sohn. „Er wird künstlich beatmet und klemmt an allerlei Maschinen. Ich habe seine Hand gehalten und es schien, als ob er sie ebenfalls drückte“, sagte der Sohn zu seinem Vater, in dessen Augen sich unmerklich Tränen zu sammeln begannen. „Doch die Ärzte sind sich uneins. Ich werde mich um ihn kümmern, verlass dich auf mich“, fügte der junge Lommatzsch hinzu, denn er spürte an der besonderen Schweigsamkeit seines Vaters, dass es ihn gepackt hatte. „Ja, bitte mach das. Ich bin erst in drei Monaten wieder zurück“, sagte der Seemann, als er nach einem Räuspern wieder zu seiner Stimme gefunden hatte. „Ich weiß. Ich kümmere mich“, antwortete sein Sohn. Der Seemann Lommatzsch blickte noch einige Minuten auf den peitschenden Nordpazifik und kehrte dann zu seinen Kartoffeln in die Kombüse zurück.

Der junge Lommatzsch schloss die Tür des Büros hinter sich. „Hallo Peter. Ich muss mich um meinen Großvater kümmern. Weißt du, er hatte wieder einen Infarkt, ist aber mittlerweile aufgewacht. Ich habe beschlossen, ihn erstmal bei mir zu Hause zu lassen. Ich brauche drei Wochen, kannst du mir die genehmigen?“ Peter Klein, der Abteilungsleiter in jenem Software-Unternehmen, in dem der junge Lommatzsch seit drei Jahren arbeitete, verzog das Gesicht: „Das mit deinem Großvater tut mir sehr leid. Aber du weißt doch, ich habe dich für die Entwicklung des Security Moduls eingeplant. Ich kann jetzt nicht auf dich verzichten. Ohne dich wird das nichts. Das weißt du doch.“ Lommatzsch atmete tief ein und sagte dann: „Peter, ich habe dich selten um etwas gebeten. Das weißt du. Das hier aber ist sehr, sehr wichtig für mich. Ich muss mich jetzt um den Großvater kümmern!“ Klein antwortete wie eine Maschine: „Negativ. Du bist eingeplant, wir haben die nächste Iteration im Releaseplan und ich kann jetzt nicht alles umstoßen, was wir geplant haben. Ich brauche dich in dem Projekt, ganz besonders während der nächsten drei Wochen.“ Klein blickte vor sich hin, druckste herum und kam dann mit seinem Angebot heraus: „Ich könnte dir eine Sonderzahlung für den Abschluss deiner Arbeiten am Modul herausschlagen. Das muss aber unter uns-“ Lommatzsch unterbrach ihn: „Nein, Peter. Ich sage es dir nochmal: Ich brauche jetzt diese drei Wochen und kein Geld der Welt kann das ändern.“ Seit Monaten ging der Projektstress nun schon und nie war Zeit für irgendetwas anderes als die permanenten Meetings und Aufgabenumverteilungen. Die Überstunden und die Probleme mit dem Programmdesign haben ihre Spuren in den Abteilungen hinterlassen. Zwei Software-Architekten haben schon das Handtuch geworfen und der Aktuelle, von allen hinter vorgehaltener Hand als „Nummer Drei“ bezeichnet, beginnt bereits damit, dieselben Fehler wie seine Vorgänger zu machen. Einige Mitarbeiter spielten schon häufiger mit dem Gedanken wegzugehen, aber letztlich ist das wie mit dem Frosch im Wasserglas. Wirft man ihn in kochendes Wasser, springt er sofort hinaus. Setzt man ihn in kaltes Wasser und erhöht langsam die Temperatur des Wassers, wird er so lange sitzen bleiben, bis es für ihn zu spät ist. Menschen sind Frösche, überwiegend. Sie sind zur Änderung nur schwer fähig, manche behäbig und faul und wollen lieber unter den ihnen bekannten Problemen weiter ausharren, als sich mit der Unsicherheit des Neuen zu konfrontieren. „Nimm Jeschinski für das Security Modul, die Datenbank-Anbindung kann noch warten. Oder nimm den Rieger, der kommt nächste Woche aus dem Urlaub zurück. Der ist auch mit dem Thema befasst gewesen“, versuchte Lommatzsch Gegenvorschläge für seinen Ersatz zu machen. Klein schüttelte mit dem Kopf: „Du machst mir echt Kopfschmerzen. Ich habe es dir gesagt: Ich kann nicht auf dich verzichten. Punkt“, sagte der Abteilungsleiter und verschränkte die Arme. „Dein letztes Wort?“, fragte Lommatzsch. „Ja“, presste Klein beinahe zornig zwischen den Lippen hervor. „Gut“, sagte Lommatzsch und verließ wortlos und ruhig das Büro. Dann fuhr er mit dem Fahrstuhl in die dritte Etage und bat bei Josefine, der 24-jährigen Sekretärin mit dem langen schwarzen Haar und dem perfekten Körper, um eine „Audienz“ beim „König“. „Will sehen, was sich machen lässt“, lächelte Josy ihn an und griff zum Hörer. Jeffrey König ist als Sohn eines US-Soldaten und seiner deutschen Mutter aus der Lüneburger Heide oft für sich allein gewesen, und musste sich als einsamer Wolf durch seine Kindheit und Jugend schlagen. Letzteres konnte man durchaus wörtlich nehmen. Jeffrey Königs Lebensmotto war, dass man an körperlicher Härte seinen Geist am Besten trainiert. Einverstanden sein, wenn ihm das Verständnis fehlte oder sich zu ducken - das war niemals seine Sache und so beschritt er in zahlreichen, querdenkerischen Ausbrüchen stets neues Terrain. Er eckte in sich beständig wiederholender Weise in den Firmen, in denen er später als Ingenieur tätig war, mit den Vorgesetzten oder der Geschäftsleitung an. Eines Tages wurde er selbst Geschäftsführer in seiner ersten, eigenen Firma. Inzwischen, nach über fünfzig Lebensjahren, war er mit allen Wassern des Business gewaschen. Lommatzsch durfte zu König rein, denn der Chef hätte gerade „etwas frische Luft nötig“, wie Josefine sich ausdrückte. Lommatzsch dachte nicht selten an dieses Mädchen, doch hatte sie ihm bereits dreimal einen Korb gegeben. Er stellte die Versuche, ihr näher zu kommen, schließlich ein. Das Gespräch mit König dauerte weniger als zehn Minuten. Als Lommatzsch das Büro verließ, hatte er sogar vier Wochen Urlaub, davon eine Woche Sonderurlaub, und darüber hinaus die Versicherung seines Chefs, dass Peter Klein die anstehenden Aufgaben von Lommatzsch selbstverständlich auch durch andere Mitarbeiter durchführen lassen könne. Überhaupt sei man schon seit Längerem auf den jungen Lommatzsch aufmerksam geworden, der durch sein ruhiges Naturell und seine außerordentliche Konzentrationsfähigkeit schon manchen klugen Schritt zur Weiterentwicklung des Standardproduktes habe beitragen können. Ihm, König, sei dies zu Ohren gekommen. Nach seiner Rückkehr werde man eine höher angesetzte Position für ihn in Erwägung ziehen. Er solle sich dann gleich bei König melden, wenn er wieder da ist. König sagte es nicht wortwörtlich, aber deutete an, dass Lommatzsch auch seinen Urlaub vorher abbrechen konnte, und wieder an die Arbeit gehen. Nur wenn er es möchte, versteht sich, oder wenn die Umstände es möglich machten. Mit soviel Verständnis hatte der junge Lommatzsch nicht gerechnet. Das Verhalten seines Chefs nahm ihm mit einem Schlage den kraftvollen Wind aus den Segeln, mit dem er vom Abteilungsleiter in die Chefetage getragen wurde. Er wusste sozusagen nicht, wie ihm geschah. Vor allem aber wusste er nichts von Königs Großvater in New Orleans und wie der jugendliche Jeffrey einst auch ein paar Ferienmonate bei ihm lebte und dem Bluesgitarrenspiel des Afro-Amerikaners auf dessen Veranda lauschte. Lommatzsch wusste nichts davon, dass der junge Deutsche namens Jeffrey einst von seinem amerikanischen Großvater auf den „Fat Tuesday“ mitgenommen wurde. Mit den Masken auf dem Gesicht hatten sie zum Karneval in der Hauptstadt des Blues ausgelassen gefeiert. Am Abend gab es Barbecue-Schrimps und eisgekühltes Zitronenwasser. Einige Jahre später starb der Großvater aus Amerika bei einem Autounfall, als Jeffrey König gerade für die Abiturprüfungen auf dem humanistischen Wilhelm-Gymnasium in Braunschweig büffelte. Man enthielt ihm die Nachricht bis nach den Prüfungen vor, hatte offenbar die nicht unbegründete Befürchtung, der bis dahin ohnehin notenschwache aber sonst so durchsetzungsfähige Jeffrey könnte sich den Abschluss verbauen. Jeffrey König kehrte niemals nach New Orleans zurück. So oft er es sich vornahm, so oft ließ er den Gedanken der ausstehenden Spurensuche und des endgültigen Abschiednehmens wieder fallen. Ein Wirbelsturm namens „Katrina“ hat inzwischen den Friedhof verwüstet, auf dem der Großvater beerdigt lag. Ashes to ashes and dust to dust. Lommatzsch sollte es anders ergehen, entschied sich König, und so geschah es.

Seit einigen Tagen war der alte Lommatzsch nun schon in der Obhut des Enkels, der sich in rührseligster Weise um seinen Ahnen zur Erledigung jeglicher Notwendigkeiten und Besorgungen veranlasst sah. Mit einer Selbstverständlichkeit und besonderen Hochachtung umsorgte er den alten Mann, der sich im Grunde infolge des Herzinfarktes kaum noch rühren konnte. Eine halbseitige Lähmung und eine Schwächung des muskulären Gewebes insgesamt sorgten dafür, dass dem Enkelsohn auch die unangenehmsten Notwendigkeiten der Pflege nicht vorenthalten blieben. Doch jedes Mal, wenn er in die von schwachem Leuchten heimgesuchten Augen des Alten blickte, erkannte er die ungeheure Bedeutung seiner gegenwärtigen Taten. Das, was er hier erlebte, was er hier tat, würde ihm niemand nehmen können. Wenn er morgens um sechs Uhr aufstand, galt sein erster Blick dem Großvater. Er musste ihn windeln und etwas im Bett bewegen. Wie dies ging, zeigte ihm eine Pflegerin, die beiden einmal täglich einen Besuch abstattete und Verbände wechselte, Blutdruck maß und ähnliche Tätigkeiten verrichtete. Aus einer altgedienten Porzellantasse führte er seinem Großvater etwas Tee zu. Manchmal verschluckte sich der Alte heftig und Lommatzsch bekam es mit der Angst zu tun, denn er befürchtete schon, etwas falsch gemacht zu haben. Doch dann beruhigte sich der Großvater wieder. Am siebenten Tag in der Obhut seines Enkels, konnte der junge Lommatzsch zum ersten Mal und mit großer Freude wieder ein paar Worte seines Großvaters vernehmen. Er sagte: „Mein Junge. Du gibst dir ja kolossale Mühe um mich. Das bin ich alter Narr doch gar nicht mehr wert.“ Lommatzsch freute sich über alle Maßen über die wiedergefundene Stimme seines Großvaters und antwortete mit ruhiger Begeisterung: „Du sollst das nicht wert sein? Red' nicht solchen Unsinn!“ Und dann gab er ihm etwas zu trinken aus der Tasse aus dem Service, dass er von den Großeltern übernommen hatte. Die Stimme des Alten kräftigte sich in den folgenden Tagen sogar und so verwendeten sie nicht wenige Stunden, um über die alten Zeiten zu reden, in denen der Enkel mit dem Großvater an den Seen der Müritz zum Angeln war oder wie sie den Bungalow auf der Datsche zusammen aufgebaut hatten. Lommatzsch war ehedem mit seinem Großvater und seiner Großmutter allein, und das war durchaus nicht das Schlechteste, was ihm im Leben widerfuhr. Der Vater des jungen Lommatzsch fuhr damals schon zur See und galt gemeinhin als Eigenbrötler, Spätversucher, gar als besonders zuverlässig im Nachentscheid. Als ob ihm etwas fehlte, zwängte er sich durch das Leben auf Schiffen, die immer noch weitere Strecken zurücklegten, immer noch länger auf hoher See blieben. Das Leben auf dem Schiff, auf dem Meer bot ihm den Rahmen, den seine suchende Seele forderte, ja ihm wahrlich aufzwang und ihn niemals wirklich glücklich gedeihen ließ. Unglücklich jedoch war er auch nicht, zumindest solange er seinem unüberwindlichen Verlangen nach der Ferne nachgab. „In drei Monaten kommt der Vater zurück“, sagte der junge Lommatzsch zu seinem Großvater und fügte hinzu: „Dann werden wir die Rückkehr mit einer Flasche Imperial feiern.“ Der Alte lag im Bett und schaute plötzlich zum Fenster hinaus, wo ein heftiger Regensturm die alte Linde vorm Haus in stärkste Bewegungen versetzte und begann zu seufzen, als er sich wieder dem Enkel zuwandte: „Ja, mein Junge. Das wäre schön. Vielleicht schaffe ich es bis dahin, vielleicht aber“, sagte er leise, während sich in sein knöchernes, faltiges Gesicht mit den eben noch leuchtenden Augen eine aschfahle Bleiche legte. Er räusperte sich und fuhr fort: „Es könnte vielleicht aber auch sein, dass es dann zu spät ist. Weißt du, Junge, ich habe mit deiner Großmutter - der Herrgott habe sie selig - eine Abmachung getroffen. Und es ist wohl an der Zeit, mit dir, meinem einzigen Enkel, eine ähnliche Abmachung zu treffen. Es ist nicht einfach für mich.“ Der Alte stockte und hielt inne. Der Enkelsohn lachte: „Mensch, Opa! Raus mit der Sprache. Was willst du mir sagen? Sprich!“

„Deine Großmutter schrieb mir, als wir noch im Osten gegen den Russen anstanden. Es war die letzte Post, die ich an der Front bekam. Sie verkündete mir, dass unser Max gestorben sei. Lungenentzündung. Der Kleine war kein Jahr alt und starb. Einfach so. Von einem Tag auf den anderen. Ich war außer mir vor Schmerz. Nichts konnte mich trösten, nicht einmal der allgegenwärtige Tod in meiner Umgebung. Kamerad um Kamerad fiel, dann später die Leichen in den Trecks aus Osten“, sagte der Alte und begann zu zittern. „Max? Du hast nie von einem Onkel erzählt“, zeigte sich der junge Lommatzsch vor großer Überraschung noch näher an das Bett des Großvaters gerückt. „Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ich habe Max ein einziges Mal, kurz nach seiner Geburt gesehen, später nur noch seinen Grabstein. Mit diesen Gedanken kämpfte ich ums Überleben. Kann sein, dass mir mein Leben deswegen geblieben ist, weil ich keine Angst mehr hatte, es zu verlieren. Keine Angst vor dem Tod. Wozu auch? Und so zogen wir uns Angriff um Angriff der Russen zurück. Unser kleiner Endsieg war, wenn wir was zu Fressen fanden. Ich habe niemals darüber gesprochen, aber die Zeit ist nun reif. Es ist höchste Zeit zu reden.“ Der junge Lommatzsch wollte die Hand seines Großvaters ergreifen, um ihn seines Beistandes zu vergewissern, doch der Alte entzog sich ihm, so gut er dies mit der gelähmten Seite durchzuführen vermochte. „Auf dem Rückzug überholten wir die liegen gebliebenen Trecks nach Westen. Mancherorts waren nur noch zerschossene Leiber, ausgebrannte Wagen, verwesende Pferdekadaver übrig. Junge, ich habe mein ganzes Leben versucht, diese Bilder nicht zu übermächtig werden zu lassen. Los geworden bin ich sie niemals. Schließlich beschlossen Schmidt und ich, dass wir abhauen wollten. Nach Westen, wollten uns den Amis ergeben. Wir nutzten ein Spähtruppunternehmen zur Flucht und ließen die Front hinter uns. Es war genauso gefährlich, denn die Kettenhunde und Nazifreunde waren überall. Wir überholten so manchen zerschossenen Treck. Eines Morgens wieder, es muss frisch nach dem Angriff der Russen gewesen sein, hatten wir wieder so einen Elendshaufen vor uns. Wir durchsuchten ihn nach Essen. Da fand ich unter einer toten Frau, vielleicht gerade Mal zwanzig Jahre alt ein kleines Bündel aus Stoff. In ihm atmete noch etwas. Ich war außer mir und Schmidt schrie herum, wie ein Verrückter. Ich solle es liegen lassen. Lommatzsch, lass das! Lommatzsch, lass es liegen! Ich konnte nicht, Junge - ich habe das Bündel schließlich mitgenommen. Vielleicht wusste ich nicht, was ich tat. Vielleicht dachte ich an unseren Max. Ich weiß es nicht. Aber ich habe es mitgenommen, einfach so. Schmidt musste sich fügen. Du bist verrückt, schrie er mich an. Du bist ja vollkommen wahnsinnig, und ich bejahte. Drei Stunden später hatten wir in einer alten Scheune Platz gefunden. Schmidt wollte etwas Essbares suchen und kam nicht wieder. Ich verließ die Scheune und schlug mich bis zu deiner Großmutter durch, das Wickel unter dem Arm. Ich fütterte es mit zerdrückten Maiskörnern und Obst, was ich eben so fand in Wald und Flur. Ich wusch es in Bächen und wir schliefen in Heuschobern und. Ich habe es irgendwie geschafft, den Kleinen durchzubringen, bis nach Leipzig. Der Treck lag östlich von Arnswalde, westlich von Stettin. Aber sie konnten natürlich noch von weiter ostwärts herstammen. Junge, das Kind, das ich dort fand, war dein Vater! Ich habe ihm niemals davon erzählt.“ Der junge Lommatzsch schluckte und sah seinen Großvater für einen längeren Moment fragend an. Dann murmelte er: „Wie sah die Frau aus?“ „Ich habe nur noch eine Erinnerung an rot-blondes Haar, das in Blut getaucht schien.“ Der Großvater schluchzte. „Es war richtig, dass du mir das erzählt hast“, sagte der junge Lommatzsch und die innere Aufregung fragte still aus seinen Augen: „Warum hast du so lang damit gewartet?“

Der Großvater, inzwischen ermüdet von den Anstrengungen seiner Erzählung, schlief nach einer Tasse Tee ein und der junge Lommatzsch legte sich selbst ebenfalls hin. Sein Vater war also ein Waise, adoptiert von einem Wehrmachtsdeserteur, aufgewachsen in einer Zeit des Untergangs und Neuanfangs. Er fiel nach stundenlangem Wachliegen in einen kurzen Erschöpfungsschlaf, wurde jedoch gegen fünf Uhr morgens wach. Da lag der Alte schon tot in seinem Bett.

Zwei Monate später kam Johann Lommatzsch auf einen längeren Landurlaub in das Haus seiner Kindheit. Vater und Sohn besuchten gemeinsam das Grab des alten Lommatzsch und am Abend saßen sie bei einer Flasche Curvoisier Imperial am Tisch. Da sprach der Sohn zum Vater: „Ich muss dir was erzählen.“


Impressum

Texte: Fred Thiele
Bildmaterialien: Fred Thiele
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2012

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