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Abstellgleise



von Fred Thiele



Meine Eltern leben mehr oder weniger zufrieden, wie ich annehme, in ihrem Plattenbau in Leipzig in den Tag hinein. Dort haben sie sich seit mittlerweile 33 Jahren festgesetzt und werden mit Sicherheit auch dort enden. Mit dem Umzug in die Platte bin ich Mitte der Siebziger zur Welt gekommen. Im Familienbuch wurde mein Name auf „Hans Nikolai Reimer“ festgelegt, doch alle nennen mich „Niko“. Meine Eltern Hans und Martha Reimer, geborene Reichelt, heirateten in den späten Sechzigern, wenige Wochen bevor die Schwangerschaft meiner Mutter endgültig sichtbar wurde. Meine große Schwester wurde Maria genannt. Wenn ich die Schwere und Bedrückung der grauen Blöcke heute sehe, frage ich mich, wie ich diesem Dunst schließlich entrinnen konnte. Jedes Mal atme ich bei Besuchen auf, wenn ich von dort wieder verschwinden kann. Es war nicht nur die monolithische Architektur dieser Honneckerschen „Arbeiterprunkbauten“, nicht nur das enges Beiander. Es war auch das seltene Miteinander. Mein Vater schlug zu, wenn er einen Grund dafür hatte. Solche Gründe fanden sich häufiger. Ich konnte lange nicht sagen, ob es verhältnismäßig war oder nicht. Die Mutter schwieg. Ich sagte mir immer, dass es sicher nicht die schlechtesten Eltern sind, die man haben kann. Betrüge ich mich mit diesem Gedanken selbst? Ich weiß es nicht, schon möglich. Vater schwärmte von seiner Armeezeit in der NVA und der Mischung zwischen Disziplin und Kameradschaft. Dort hätte es ebenso geduldete inoffizielle Maßregeln gegeben, um die Disziplin aufrecht zu erhalten und die Kameradschaft zu befördern. Ordnung war im Haus allgegenwärtig und es galten klare Regeln bei unserer Aufgabenteilung. Diese war traditionell, für DDR-Verhältnisse. Vater ging arbeiten, Mutter machte den Haushalt und ging ebenfalls arbeiten, zeitweise unterbrochen durch die Geburt von meiner Schwester und mir. Es gab immer gut und reichlich zu Essen, manchmal sogar Besonderheiten, derer sich nur die wenigsten meiner Mitschüler brüsten konnten: Milka-Schokolade, Bananen oder Apfelsinen, den die Mutter aus dem Delikatess-Laden mitbrachte oder irgendwo tauschte. Den schärfsten Terror der frühen Ehejahre meiner Eltern hatte wohl meine ältere Schwester erleiden müssen. Einst erzählte sie mir aus ihrer Kindheit, dass mein Vater auch bei seiner jungen Ehefrau keine Rücksicht nahm und ihr seine unanzweifelbare Meinung mit verbaler und körperlicher Gewalt aufzwang. Ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie das ablief. Schreien, Brüllen, Schlag auf den Tisch, dass das Geschirr im Schrank noch nachklirrte und dann – das Schütteln meiner wimmernden Mutter oder auch die Hand, die ihm natürlich nur „ausrutschte“ und wofür er sich im Nachgang durchaus zu entschuldigen vermochte. Wenn er sich entschuldigte, indem er ihr ihre Verantwortung für seinen Zorn vorwarf, dann war ihre „heile Welt“ wieder intakt. Warum sie dies ertrug, erscheint mir im Lichte ihres eigenen strengen Elternhauses plausibel. „Wenn der Vati zurückkommt, wird alles gut“, sagte ihr die Großmutter. Oder maßregelte sie, wenn sie etwas nicht so machte, wie sie wollte, mit Hinweis auf den Vater: „Da würde der Vati aber traurig sein!“ Ihr Vater siechte bis weit in die fünfziger Jahre in russischer Gefangenschaft dahin, überlebte das Lager jedoch. Die Großmutter erkannte den Vergrämten und Verbitterten allerdings nicht mehr wieder. Als 20-jähriger junger Mann zog er in den Krieg und kehrte als 38-jähriger Opa zurück. Die Haare grau, das linke Ohr ertaubt, der Körper ausgemerkelt und ein unverheilter Bruch des Beines ließ ihn zeitlebens hinken. Sowohl die Erinnerungen an Krieg und Gulag als auch die regelmäßigen Schmerzen führten oft zu übermäßigen Zorn. Die Freude über den Heimkehrer währte folglich nicht lange. Für meine Mutter begann mit der heißersehnten Rückkehr des „lieben Vati“ das dämonische Joch der Unterordnung, das sie als Wiederkehr einer bis dahin vermissten „Führung“ begriff. Sie wusste gar nicht, dass sie missbraucht wurde. Das hatte sie gelernt und dieselbe Unterordnung erwuchs irgendwann auch ihrem „lieben“ Ehemann gegenüber, als sie sich endgültig ihrer unvermeidlich scheinenden Bestimmung ergab. Sie deckte den Tisch immer erst, wenn der Alte sich gesetzt hatte. Dann musste es allerdings zügig gehen und wehe, jemand war unpünktlich. Wie fuhr mir der Schreck in die Knochen, als ich als ich einmal – ich befand mich in der dritten Klasse – die Zeit für das Abendbrot verpasste, weil ich auf dem Bolzplatz Tor um Tor schoss. Die Kirchturmglocken schlugen sieben Mal. Während meine Mannschaft mich noch feierte, stieg mir die Übelkeit hoch. Floh, Heini und Rico kamen auf mich zu und fragten was los sei. „Ich muss nach Hause“, antwortete ich. Die Bleiche überschattete mein Gesicht und ich hetzte los, so schnell ich konnte. Es ist das Geräusch des durch die Luft pfeifenden Gürtels meines Vaters und das klatschende Auftreffen auf meinen Rücken und mein Gesäß, der brennende Schmerz, was ich heute noch spüre. Ich schrie und bettelte: „Ich mach es nicht wieder, bitte, ich mach es nicht wieder!“ „Du wirst schon noch lernen, pünktlich zu sein“, rief der Alte. Ich lernte es in der folgenden Nacht, in der ich vor Schmerzen gepeinigt, nur noch auf dem Bauch liegen konnte. Meine Mutter hatte sich in diesem autoritären Treiben eingerichtet, mithilfe ihrer anerzogenen Resignation. Sie kam am Abend zu mir und glaubte mich zu trösten, indem sie weich flüsterte: „Du musst auf den Vati hören.“
Meine Schwester Maria, jetzt etwas über Vierzig, das Haar vermutlich schlaff am Kopf hängend, die Schultern gesenkt und dabei ihre Hände der Schwerkraft übergeben und lose und aktionslos am Körper baumelnd. Mittlerweile sitzt sie nach zwei Selbstmordversuchen, unzähligen Männerbekanntschaften, einer gescheiterten Ehe, kinderlos, in München in ihrer vollbesetzten Wohngruppe bestehend aus ehemaligen Psychiatriepatienten, zu denen sie selbst gehört. Hin und wieder kehrt einer zurück in die geschlossene Abteilung und ein Neuer kommt. Das ist nichts Besonderes. Man arrangiert sich eben mit der Situation, so gut es geht, akzeptiert sein unumstößlich geglaubtes Schicksal, gibt den Kampf präventiv auf, dessen man ohnehin überdrüssig ist. Sonst säße man nicht dort. Wir haben uns vor siebeneinhalb Jahren das letzte Mal gesehen, als sie mit ihrem Rocco, einem relativ großen, schlanken und überaus behaarten Italiener aus Neapel, der in Passau und München zwei Ristorante führt, zum Geburtstag unserer Mutter aus den Flitterwochen zurückkehrte. Die Kerle, mit denen sie sich bis dahin herumtrieb, waren allesamt Vollidioten, die sie nach Strich und Faden ausnutzten. Doch jeder war für sie gottgleich. Und sie diente ihnen. Bedingungslos. Selbstverständlich stand sie jedes Mal wieder bei den Eltern vor der Tür mit dem Koffer in der Hand und den Tränen in den braunen Augen. Das Knarren der Eingangstür, das Schluchzen in der Küche, die tröstende Stimme meiner Mutter – alles ist in meinem Kopf unauslöschlich gespeichert. Dann lernte sie ihn kennen, ihren Italiener, bei einem Besuch auf dem Oktoberfest in München. Rocco, der war natürlich anders. „Er liebt mich wirklich. Wir werden bald heiraten. Die Hochzeit machen wir in Neapel mit der ganzen Familie“, sagte sie. Sie schien ziemlich glücklich und aufgeweckt. Sie lief zur Mutter und küsste sie auf die Wange und umarmte den Alten. Der sagte nur: „Erst mal sehen, was das für einer ist“ und tätschelte ihr abwehrend auf das Schulterblatt. „Papa“, nannte sie den eisernen Vater, das macht sie noch heute, „ich liebe ihn sehr. Er ist der Richtige!“ Als meine Schwester mit der Mutter kurz darauf spazieren ging, fragte mich der Alte, ob ich wüsste, wie die „Kneipen“ des „Itakers“ denn liefen. Ich antwortete: „Naja, es sind immerhin zwei!“ Das genügte ihm, stillzuhalten. Zur Hochzeit reisten dann tatsächlich auch die Eltern in Neapel an, wobei ich sie natürlich chauffieren durfte. Die Feierlichkeiten schienen chaotisch geplant und die Durchführung noch undurchschaubarer. Roccos Bruder, der ebenfalls ganz gut Deutsch sprach, versicherte uns, dass dies nicht „durcheinander“ wäre, sondern lediglich „italienisch“. Während der Trauung, die selbstverständlich katholisch praktiziert wurde, sah ich den Alten fortwährend mit dem Kopf schütteln, als alle „Amen“ sagten. Immerhin hielt er sich bis zur Rückfahrt im Zaume. In tief-empfundener Zuneigung aber, das konnte man ihren feinen, beinahe mädchenhaften Zügen ansehen, blickte meine Schwester den Südländer an, ein waschechter Unternehmertyp mit breitem Berlusconi-Lächeln. Als es darauf ankam, lachte sie erst ihm ein „Si“ zu, dann dem Priester. Wir kannten sie so nicht. Auf dem Rückweg erfuhr ich mehr über Verbrechen der Kirche, als in meinem ganzen Leben zuvor. „Ausgerechnet eine katholische Hochzeit. Wofür haben wir im Kommunismus eigentlich gekämpft?“, wütete der Alte. „Ja, wofür habt ihr eigentlich gekämpft?“, dachte ich bei mir. Die Mutter schwieg ebenfalls und kochte ihr eigenes Süppchen. Ich weiß, dass sie von ganzem Herzen das Beste für ihre Tochter hoffte. Eines Tages betrog Rocco meine Schwester mit einer jüngeren Frau, einer Touristin aus Frankreich, ausgerechnet beim Oktoberfest in München. Banale Ironie. Die Eheleute, kaum ein Jahr verheiratet, stritten sich ausgiebig. In der Folge erklang ein paar Tage später bei meinen Eltern an der Wohnungstür das prägnante Klingeln, jenes „Ding-Dong“, das das unauslöschliche Geräusch unserer Kindheit war und ist. Sie trug einen Koffer in der Hand und hatte Tränen in den Augen. Nichts Neues also. Einige Wochen vergingen. Dann beruhigte sich scheinbar für alle Beteiligten die Situation. „Ich verzeihe ihm“, sagte sie überzeugt und wiederum voll Hoffnung meiner Mutter, die ihr zuvor die allabendlichen Anrufe des Restaurantbesitzers lächelnd mit den unvergesslichen Worten „dein Rocco ist dran“ weiterreichte. Mutter atmete auf und die Tochter fuhr zurück nach München. Noch einige Male erscholl das Klingeln an der elterlichen Wohnungstür auf diese Weise. Zum Schluss wendete sich jedoch das Blatt. Nicht mehr er bettelte nun bei ihr, sie solle zurückkommen, „Lass es uns nochmal versuchen. Ich verzeihe dir“, schluchzte sie stattdessen jeden Abend in den Hörer. Es wirkte verzweifelt und erbärmlich. Sie fuhr schließlich, ohne eine Zustimmung erhalten zu haben, nach München. Dort war Rocco längst ausgezogen aus der 120qm-Wohnung, die er ihr samt Inventar überließ. Sauber hatte er all seine persönlichen Gegenstände eingesammelt und abtransportieren lassen. Das gerahmte Hochzeitsbild der Beiden auf der Anrichte in der Wohnstube hatte er auf den Kopf gestellt - eine Symbolik, wegen der meine Schwester ihren Kreislauf nicht länger aufrecht erhalten konnte. Abends rief sie alle möglichen Leute an, auch mich: „Er hat mir einen Brief geschrieben. Er wolle die Scheidung. Aber ich liebe ihn doch so. Ich weiß nicht wie es weitergehen soll. Ich habe solche Angst.“ Sie magerte auf 55kg ab und wurde schließlich mit einem Nervenzusammenbruch eingeliefert und unter Drogen gesetzt.
In ihrer Jugendzeit bei den Eltern wurde sie immer gebraucht. Sie half im Haushalt, kümmerte sich um mich und trank heimlich mit ihren Freunden den Kristall-Wodka vom Alten. Sie fuhr auf die Datsche und pflegte den Garten, goss die Blumen, Radieschen und den Porree, entkäferte die Kartoffeln, beseitigte Unkraut und ließ sich an einem heißen Augustnachmittag in der Gartenlaube von einem blonden Jungen namens Chris entjungfern, wobei sie der Alte, auf polizeilicher Stippvisite in der Nähe, ertappte. Beide, kaum fünfzehn Jahre alt, waren vollkommen besoffen und nackt eingeschlafen. Chris hatte die Couch und meine Schwester vollgekotzt. Der Gestank muss widerlich gewesen sein. Das alles ist vielleicht fünfundzwanzig Jahre her. Damals wurde meine Schwester für so ziemlich alles benutzt, man nannte es, wie schon gesagt, gebraucht. Einkaufen, Katze füttern, die Großmutter besuchen und für sie einkaufen. Als die nimmermüde Oma ihre Krebserkrankung endlich behandeln lassen wollte, war es für jede Art von Therapie längst zu spät. Es scheint ein typisches Verhalten der Alten, wenn nicht sogar der meisten, auch jüngeren, Menschen zu sein, sich endlich zu entschließen etwas zu tun, wenn die Chancen dafür bereits vollständig verunmöglicht worden sind. Meine Schwester aber war für sie da. Jeden zweiten Tag lief sie die sechs Treppen nach oben. Ich kannte den Weg, bin ihn selbst ein paar Mal gegangen. Die Oma kam zunächst nicht mehr aus der Wohnung, dann nicht mehr aus dem Bett. In dieser Phase weigerte ich mich beizeiten, zu ihr zu gehen. Oh Je, manchmal nachts wache ich auf und denke an die Oma, wie sie da lag. Vielleicht hätte ich sie auch besuchen müssen, damals, als es schon zu spät war. In den letzten Wochen, bevor sie ins Krankenhaus „zum Sterben“, wie sie gebrochen aushauchte, eingeliefert wurde, stank es schon zwei Treppen vor der Wohnungstür nach Urin. Nur selten unterstützte jemand meine Schwester, die den elenden Verfall meiner Großmutter Woche für Woche beobachten musste. An einem Freitag Morgen im April, es war gerade Osterzeit und die Schneeglöckchen erwehrten sich des letzten Frostes, wollte meine Schwester der Oma wieder einen Besuch abstatten. Sie hatte sich pflichtbewusst ihre Reise-Brote geschmiert und ich erinnere mich des Zettels auf dem Küchentisch, auf den sie schrieb: „Bin bei Oma im KH.“ Dann fuhr sie eine halbe Stunde mit der Eisenbahn zur anderen Stadt mit der Klinik, in der die Großmutter lag. Sie saß gerade in einem dieser roten Triebwagenabteile, indem es immer so muffelig nach Kunstleder roch, als ein gewisser Doktor Urban bei uns zu Hause anrief. Die Mutter kaufte gerade ein und Vater war beim Dienst. Ich schluckte, als die Worte aus dem Hörer in mein Ohr quollen: „Ich habe eine traurige Mitteilung zu machen.“ Ich merkte wie meine Augen anfingen zu brennen, daher schloss ich sie. Die Tränen quetschten sich dennoch zwischen den zusammengepressten Lidern hindurch. Ich spürte den Puls im Hals schlagen. Meine Schwester kehrte dann am Nachmittag völlig aufgelöst zurück. „Ich stand vor ihrem leeren Bett und die Schwestern fragten mich, wen ich suche.“ Dieser Tag riss sie für Jahre nieder. Sie weinte tagelang. Selbst der Alte hielt sich uns gegenüber in dieser Zeit auffallend zurück. Es war seine Mutter. Ihr Verhältnis war nie das Beste.
Für meine Schwester stellte sich bald wieder der „normale“ Zustand ein. Ihre Aufgaben wurde nach Großmutters Tod nicht weniger. Sie vervielfachten sich. Wehe ihr, wenn sie etwas verkehrt machte oder vergaß, oder in der Schule eine unter einer Zwei liegenden Note erhielt. Die Schläge, die sie dann trafen, waren möglicherweise etwas schwächer als die, die unser Vater für mich übrig hatte. Scheinbar machte er da doch Unterschiede zwischen mir und meiner Schwester. Ansonsten war bei uns beiden klar, dass wir dereinst nichts werden würden, da wir ja so ungehörig, faul und großmäulig waren.
Seine Schläge erhielten wir manchmal begründet, aber meist einfach so, wenn er missmutig und schlecht gelaunt von seiner Polizeidienststelle gekommen war. Er galt zum einen als zuverlässiger, ehrbarer Abschnittsbevollmächtigter und zum anderen als ein Kettenhund, ein übertreibender Fanatiker, der von denen „Oben“ gebremst werden musste und von denen „Unten“ möglichst umgangen wurde. Obwohl er seine Arbeitswelt, ja sein ganzes Dasein im tiefen Innern verabscheuen musste, verband ihn ein selbst auferlegtes Pflichtbewusstsein mit diesem Posten, den er streng und unerbittlich bis zu seinem lange überfälligen und erzwungenen Eintritt in die Arbeitslosigkeit im Oktober 1991 ausführte. Sonst bestand die Ausfüllung seiner Zeit darin, zweimal die Woche mit seinen Polizeigenossen bei Korn und Bier Skat zu klopfen oder einfach so Geschichten aus der Nachbarschaft und der „großen Politik“ auszutauschen. Dazwischen war er in den wärmeren Jahreszeiten auf der Datsche zu finden, in den kälteren vor dem Fernseher. Es gab nur wenige Freunde, mit denen meine Eltern sich trafen und gemeinsame Zeit verbrachten. Unter ihnen waren Hajo, ein ehemaliger Kampftaucher der NVA und seine Frau Rosi, eine Schwimmsportlerin, ein besonders eng befreundetes Pärchen.
Ich traf Hajo zufällig, als ich mich auf einer Reise nach Dresden befand im Zug, vielleicht 1994. Ich freute mich wirklich ihn getroffen zu haben und begrüßte ihn herzlich, mit einem „lange nicht gesehen“. Er musterte mich wohlwollend und wir redeten eine Weile über die Eisenbahnstrecke, das Wetter und andere Nichtigkeiten. Nach einiger Zeit sagte er zu mir: „Du bist ein aufrechter junger Mann geworden. Dein Alter war das nicht.“ In mir keimte der Gedanke, den Alten verteidigen zu müssen. Doch unterbrach mich Hajo: „Ja, du hörst schon richtig. Dein Alter hat mein Leben und das von Rosi, meiner Frau, versaut. Du kennst sie doch noch?“ Ich nickte. „Ich wollte endlich raus, hatte lang genug den Arsch hingehalten für diese elenden Stalinisten, die unser Land zur Sau gemacht haben.“ Während er sich förmlich in Rage redete, errötete sein Kopf zunehmend. „Also plante ich einen Fluchtversuch, schwimmend durch die Ostsee nach Westen.“ Ich schwieg. „Am Tag tat ich meinen Dienst in der Kaserne, ich war längst wieder abkommandiert nach Leipzig in den Stab. Ich lebte mit Rosi im Musikerviertel. Kampftaucher wurden damals überall in der Republik als Ausbilder eingesetzt, wenn sie nicht mehr aktiv im Wasser waren. In der Nacht aber beschäftigte ich mich mit den Plänen, wollte ermitteln, wo die günstigste, kürzeste und am Wenigsten überwachte Durchbruchstelle ist. Hatte sogar schon die Neoprenanzüge aus den NVA-Beständen organisiert. Rosi zog mit. Wir trainierten das Schwimmen zweimal in der Woche. Weißt du noch, was sie für eine schnelle Schwimmerin war?“ Ich erinnerte mich an gemeinsame Tage am Kulkwitzer See und wie die beiden stundenlang zum Schwimmen draußen waren und erschöpft aber glücklich wieder anlandeten. „Ich könnte mich heute noch ohrfeigen, dass ich deinen Alten eingeweiht habe. Ich wollte ihn tatsächlich bitten, ein paar Gegenstände für mich aufzubewahren.“ Er erzählte mir, dass sie ihn nach zwei Wochen aus dem Schlaf rissen, ihn degradierten und in einem Militärgericht den kurzen Prozess machten. Er kam dann unmittelbar nach Schwedt, wo das berüchtigte Militärgefängnis der NVA stand. Er stockte beim Weiterreden, hielt inne und ich sah, wie seine Lider zunächst begannen zu zwinkern und dann zu zittern. Der ablaufende Bilderfilm sorgte dafür, dass seine Augen glasig wurden und er weichte meinem Blick aus. Was er dort erlebt haben musste, hat ihn zerbrochen; diesen Mann, der das härteste Ausbildungsprogramm des DDR-Militärs erfolgreich durchgestanden hatte. „Zur Wendezeit ließen sie mich endlich raus. Amnestie. Anfangs glaubte ich wirklich, Rosi wäre es gewesen. Ich dachte wirklich, meine Frau hätte unseren Plan verraten. Die Stasi aber hatte sie in der Zwischenzeit nach Hohenschönhausen verfrachtet. Keiner von uns beiden wusste, was mit dem anderen los ist. Ich wusste ja selbst nicht mehr, wo ich war, was ich war und wie lange ich am Leben bleiben würde.“ Er stockte, schluckte und setzte fort: „Rosi wurde ebenfalls verurteilt und saß ein im Frauenknast. So sah das Prinzip Freundschaft mit deinem Alten aus.“ Ich erinnere mich, wie in mir Worte zusetzten, als seien sie Schläge des Alten. Er sagte: „Nach der Wende habe ich Akteneinsicht bei der Gauck-Behörde verlangt und fand Papiere, in denen dein lieber Herr Vater; Oberleutnant des MfS, wochenlang Berichte über mich schrieb und schließlich auch einige meiner Aufzeichnungen über die Fluchtplanung abfotografierte. Ich habe es schwarz auf weiß. Dein Alter hat unser Leben zerstört. Über zwei Jahre dauerte das Martyrium. Dann kam zum Glück die Wende und mit ihr die Amnestie für alle Politischen.“ Ich fragte ihn nach Rosi und er antwortete: „Wir haben uns nach einem halben Jahr getrennt. Sie wohnt nun in Hamburg und trainiert dort junge Schwimmerinnen. Wir haben es miteinander nicht mehr ausgehalten. Wir sind zu zwei Steinen mutiert, die sich morgens einen „guten Morgen“ und abends eine „gute Nacht“ wünschten. Uns hat der Knast zerstört, dein Alter hat uns zerstört. Wir konnten nicht mehr zusammen leben, weil wir nicht mehr miteinander sprechen konnten. Insbesondere über die Jahre dazwischen.“ Der Knast hatte beide verändert. Sie traf dann bei einem Besuch ihrer Familie im Westen auf ihren zukünftigen Ehemann. Rosi wurde sofort schwanger und bekam ein Kind, eine Tochter. Hajo teilte mir diese Informationen so ohne Dramatik mit, sodass ich annehmen musste, dass der Verlust seiner Frau ihn endgültig zerstörte. Ich sagte zu ihm: „Es tut mir alles sehr leid“ und Hajo, der harte, ehemalige Kampftaucher unterdrückte die Tränen, quetschte ein „Danke“ hervor und setzte sich dann in Richtung WC ab. Die Reise treibt mir heute noch schmerzliche Erinnerungen in den Geist. Wir verabschiedeten uns in Dresden herzlich, obwohl wir beide emotional aufgewühlt waren und tauschten die Telefonnummern aus. Seit dieser Fahrt ist mein Vater für mich nur noch „der Alte“.
Wenn ich die Eltern heute notgedrungen, etwa durch Geburtstage oder sonstige größere Feiertage genötigt, besuche, reden wir nicht über die Vergangenheit. Das beruht auf gegenseitiger Einsicht. Unsere zwischenzeitlichen, kurzen Telefonate führe ich einsilbig und eilig. Es ruft grundsätzlich nur meine Mutter bei mir an, und auch nur dann, wenn mein Vater nicht zu Hause ist. Sie erzählt mir dann alles Mögliche, nur nichts, was mich im Entferntesten betreffen oder auch nur interessieren könnte. Zu meiner Schwester ist der Kontakt völlig abgebrochen. Ich denke, sie brütet nun sicher genau so beklommen wie meine schweigsame und stille Mutter im Dunst ihrer verlorenen Möglichkeiten vor sich hin. Beide sitzen ihre verbliebene Lebenszeit ab im Gefängnis ihrer Ehe oder ihres verkorksten Lebens. Die einzigen Freuden meiner Mutter sind Talkshows und Mensch-Ärgere-Dich-Nicht mit ihrem störrischen Alten sowie der obligatorische Tratsch beim Frisör. Da reden die Damen über die unglaublich verkommene, sie umgebende schöne neue Welt, in der doch früher auch nicht alles so schlecht war. Ostalgiesyndrom. Den Salon „Schmidt“ besucht die Mutter seit über vier Dekaden. Neuerdings gönnt sie sich den Auffrischungsversuch alle zwei bis drei Monate, wenn die braun-gefärbten Locken wieder ergraut in sich zusammengestürzt sind. Meine Schwester wird sicher irgendeinen Halt in ihren Psychogruppen gefunden haben, Mikado oder Rommé spielen und in ihren von selektiven Serotonin-Hemmern und Barbituraten zerpflügten Träumen mit ihrem haarigen Rocco durch Neapel tanzen. Ich fürchte, bei ihr ist nichts mehr zu machen. Ihr Leben ist genauso auf dem Abstellgleis angekommen, wie das meiner Mutter. Endstation.

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Tag der Veröffentlichung: 17.07.2011

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