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Prolog


Open your eyesssss, darling...


Winnfield schwamm aus der Bewusstlosigkeit hervor. Er öffnete die Augen zu schmalen Schlitzen.
Wake up...


Fuck, wollte er brüllen, doch was heraus kam, war nur der rasselnde, röchelnde Laut eines Sterbenden. Es war noch immer nicht vorbei und sein

dröhnendes Flüstern hatte Winnfield geweckt, damit er es allen anderen gleichtat und es selbst zuende brachte.
KILL YOURSSSELF!


Ein stechender Schmerz schoss durch Winnfields Kopf und schon konnte er nicht mehr klar denken. Die Bilder, die ihm seine Phantasie lieferte, schimmerten albtraumhaft vor seinen Augen. Es ist nicht real

, versuchte er, zu denken, doch... KILL YOURSSSELF!

... es

ließ es nicht zu. Mit geballten Fäusten presste Winnfield die Augen zu, doch der Schmerz verschlimmerte sich nur, weil es

wollte, dass er sah.
Er sah nackte, kalte Stahlwände. Vor sich, neben sich, über sich. Den Bunker, ihr Gefängnis, in das sie sich selbst eingesperrt hatten. Wie lange war es her, dass er mit Charlie hierhin geflüchtet war? Und wie lange würde er diese Hölle noch ertragen müssen? Hörte es überhaupt jemals auf? Winnfield hielt die Luft an. Er wollte nicht mehr atmen, wollte den Geruch des Verderbens nicht weiter in sich aufnehmen. Er war jetzt bereit, aufzugeben. Eine Minute ohne Luft und der Kopfschmerz wurde langsam zarter. Zwei Minuten und seine

Stimme säuselte nun nur noch, anstatt bestialisch zwischen seinen Gehirnwindungen zu wüten.
Wonderful, darling

, ermutigte sie ihn. Jusssst a little more...


Winnfields Kopf wurde rot, seine Augen traten panisch aus ihren ausgemergelten Höhlen hervor. Seine Adern pulsierten vor seinen erschlaffenden Gesichtszügen.
Jussst a little more, darling. I believe in you!


Die Welt verdunkelte sich vor Winnfields Augen und machte, wie die untergehende Sonne, Platz für eine Millionen Sterne. Er kämpfte gegen sein Leben an, doch verlor keuchend. Draußen schepperte ein infernalisches Gewitter und sein Kopfschmerz explodierte im Donner.
Oh, darling. I musssst punishh you, darling!


Ein ungeheurer Schmerz schoss durch seinen gesamten Körper und hielt eine Ewigkeit lang an. Winnfield konnte nur noch leise keuchen, obwohl ihm zum Schreien zumute war. Er war am Ende. Ihm war warm und kalt gleichzeitig, er konnte nicht mehr denken oder hören oder sehen. Nur noch spüren. Den Schmerz fühlen. Erschöpft kroch er den erdigen Boden des Bunkers entlang. Am anderen Ende des kleinen Raumes angekommen umarmte er Charlies regungslosen Körper. Der hatte das Unmögliche geschafft und sich selbst umgebracht, indem er einfach die Luft angehalten hatte. Einmal, zweimal, zwanzigmal, dann hatte er den Kampf um den Tod gewonnen. In den letzten Sekunden seines Bewusstseins hatte er die Arme wie zum Jubel gen Himmel gereckt. Sie lagen nun erschlafft auf einem bleichen Kopf, dessen Haare längst ausgefallen waren. Zwischen Winnfields Armen war Charlie nur noch die Silhouette eines Menschen, und es würde nicht lange dauern, bis er alles Menschliche verlieren und Winnfield nur noch sein Skelett umklammern würde. Er dachte an die glücklichen Tage, an denen Charlie hin und her gesprungen war, mit diesem breiten Grinsen auf dem Gesicht, stumm, aber glücklich. Wimmernd legte Winnfield seine Hände an die eigene Kehle. Denn wenn selbst Charlie, der stumme, optimistische, lebensfrohe Charlie, sich gebeugt hatte, wie in Gottes Namen sollte Winnfield es schaffen?
Seine dürren, schwarzen Finger krochen an seinem ausgedörrten Hals entlang und bekamen ein Stück Haut zu fassen. Er drückte zu. Eine Träne entkroch seinen roten Augen und er ließ sie genüsslich seinen Gaumen herunterlanglaufen. Winnfield drückte weiter, immer weiter zu und die Sterne kamen dieses Mal früher, fielen vom Himmel weit über Winnfield, weit über der Stahldecke, viel weiter oben in seinem Bewusstsein. Dann schoss ihm plötzlich eine Erkenntnis durch sein sauerstoffarmes Gehirn und er ließ wie vom Stromschlag getroffen los. Keuchend wartete er auf den Schmerz. Als dieser tatsächlich ausblieb, krächzte er: Fuck, yeah...

Es war mehr Frage als Ausruf. Die Aufforderung, dass es

sich zeigte, wenn es

noch da war. Doch Winnfield dachte eigenständig. Da war kein Säuseln mehr, kein Donnern in seinem Kopf ... und auch draußen: Er horchte auf und hörte nichts. Er konzentrierte sich, doch er fühlte auch nichts mehr. Dieses Nichts war das Schönste, was er je gehört und gespürt hatte und er fiel wieder auf Charlies sinnlos verwesenden Körper, weinte wieder, doch dieses Mal aus purem Glück. Denn er spürte es: Es

war verschwunden.

Winnfield lag lange da, Stunde um Stunde, bis er sich endlich imstande fühlte, aufzustehen. Seine nackten, schwarzen Beine waren nass vom Schweiß der letzten Tage und gaben fast nach. Winnfield musste sich an der Stahlwand abstützen. Dann trottete er Schritt für Schritt am kalten Metall entlang, bis er in der Mitte des quadratischen Raumes stand, unter einem kreisförmigen Loch im Stahl, durch das silbernes Mondlicht schien.
Wie am unteren Ende eines tiefen Brunnen stehend starrte er gebannt nach oben. Die Leiter, die zur Oberfläche führte, fing nur einen halben Meter über Winnfields Kopf an. Er holte tief Luft, bevor er sprang und sich an der ersten Sprosse hinaufzog. Ein stechender Schmerz fuhr durch seine Glieder. Winnfield lachte nur, so harmlos war er. Dann begann er den Aufstieg, Stufe um Stufe dem Mond entgegen. Seine dunklen Arme schimmerten und seine hageren Muskeln rebellierten gegen die ungewohnte Belastung.
Doch Winnfield überstand den Kampf gegen sich selbst, der so viel leichter war als alles, was schon hinter ihm lag. Ein kühler Luftzug umgarnte seine schweißbenetzte Haut und er lachte Tränen.
Schließlich war er an der Oberfläche angekommen. Es war nicht mehr viel übrig von ihrer Welt und plötzlich überkamen Winnfield die erschütternden Wahrheiten:
Erstens: er war alleine auf dieser Welt.
Zweitens: er war noch alleine auf dieser Welt, denn drittens:
Es

legte nur eine Pause ein.
Winnfield ließ sich ins feuchte Gras hinter Charlies Strandhaus fallen, das sie selbst vor gerade einmal zwei Wochen geschaffen hatte und betrachtete den Himmel. Zwei Meter neben ihm führte ein Loch in die Tiefe der Welt und der Erinnerung an die schlimmste Zeit seines Lebens.
Die Sichel des neuen Mondes überspannte den gesamten Horizont, wachte über Winnfield wie ein launischer Gott. Er überlegte lange, ob es überhaupt etwas nutzte, dass er überlebt hatte. Dieses Mal würde er angreifen, sagte er sich dann, ob er starb oder nicht. Er musste den Teufel aus dem Paradies vertreiben. Das war seine Aufgabe.
Winnfield schloss die Augen und döste vor sich hin.
Bevor er dann wirklich einschlief, wünschte er sich, aufzuwachen.

1



Theo Schmidt starrte in den Spiegel.
Die Clownsvisage starrte zurück. Eine einsame Träne lief ihr aus dem rechten Augenwinkel. Sie schlug eine Schneise in das Weiß ihrer Wange, fiel dann auf ihre rotgetünchte Backe und zog den künstlichen Mundwinkel mit sich bis zum Kinn. Theo wischte die Träne weg, atmete ein und aus. Das, was ihm von der anderen Seite des Spiegels entgegenblickte, war er nicht. Er konnte es nicht sein. Nein!
Panisch fuhr er herunter, unter den eiskalten Strahl Wasser, der ins Waschbecken schoss. Wie vom Teufel besessen schrubbte er sich über den Mund. Das Grinsen, das verdammte Grinsen, es klebte an ihm und er war sich sicher, dass es dieses Mal nicht mehr abgehen würde. Er kratzte, fester und fester.
Weiße Tropfen liefen sein Gesicht herunter, sprenkelten ins Waschbecken wie die Gischt fallenden Wassers. Langsam, ganz langsam, bekamen die Tropfen einen rosafarbigen Stich und wie in Ekstase kratzte Theo weiter, immer weiter, bis er nicht mehr sicher war, ob das, was von seinem Kinn tropfte, Blut oder Farbe war.
Dann fuhr er hoch und sah in den Spiegel und sah endlich sich selbst. Neue Tränen wuschen die letzten verkrusteten Reste des Anderen weg, dann stoppte Theo das Wasser. Er blickte auf die rosane, dickflüssige Brühe im Becken und bekam erneut eine Panikattacke.
Die Flüssigkeit stand bis knapp unterhalb des Randes und schien unwillig, abzufließen, endlich zu verschwinden. Theo wollte schreien. Dann bildete sich ein leiser Strudel in der Mitte und der Wasserstand sank Millimeter um Millimeter.
Zuletzt zirkulierte es um den Abfluss, bäumte sich ein letztes Mal auf, indem es immer schneller seine Runden drehte, bevor es mit einem lauten Gurgeln endlich in der gähnenden Schwärze verschwand. Theo riss den Stöpsel hinter dem Wasserhahn hervor und steckte ihn mit zittriger Hand und einiger Mühe in das Loch.
Er holte tief Luft und schaute noch einmal in den Spiegel. Rot, fuhr es ihm durch den Kopf und er schrie laut auf, doch es waren bloß die Kälte des Wassers und das Kratzen seiner Fingernägel, die seine Wangen hatten rot werden lassen.

Einige Stunden später schüttete Theo den Alkohol in sich hinein, als wäre er eine Pflanze, die mit Bier gegossen werden muss. Seine Beine wurden vom feuchten Griff des Meeres umgarnt, losgelassen und aufs Neue erfasst, im ewigen Rhythmus der Wellen, die in die Bucht von S'Amarador schlugen. Theo saß mit dem Rücken zum Meer, ließ die Wellen seinen Rücken massieren und betrachtete die schmale Mondsichel, die über den Baumkronen am Rande des Strandes thronte und den Ort wie ein schwacher Bühnenscheinwerfer in silbernes Licht tauchte. S´Amarador, das war Mallorcas Gegenentwurf zum Ballermann, eine Ruheoase in dieser Wüste aus Party, Alkohol und Sex. Theos Rückzugsort, wo er trank und mit jedem Schluck einen Schritt weiter in die Vergangenheit wanderte, bis alles wieder gut war. Das Meer war klar und wohlig kalt, der Sand unter und vor seinen Füßen weiß und fein, bevor er sich etwa vierzig Meter weiter in einem Wald aus Pinienhainen verstreute, der die Szenerie definierte.
Am Tag war der Strand so hoffnungslos überlaufen wie jeder Ort in Mallorca, doch in der Nacht gehörte er Theo ganz allein.
Theo - und seinen Bierflaschen, die um ihn herum verstreut lagen und in der Strömung des Wassers klimperten wie ein schauriges Windspiel. Er nahm einen tiefen Schluck, ließ den Alkohol durch sich hindurchlaufen und wartete darauf, dass er ihn reinigte von der Gegenwart und die Vergangenheit in seine Venen pumpte. Noch war das nicht geschehen. Seine Gedanken hingen in den letzten Stunden fest, in der schlechten, neuen Zeit, und nicht in der guten Alten. Theo klammerte sich an seiner Flasche fest, aber er fand keinen Halt.
Er war wieder angemalt, das fette rote Etwas klammerte sich an seine Backen und strahlte Glück aus, wie ein Magnet angezogen vom Gegenpol, der Depression, in Theo. Kleine Jungen und Mädchen mit roten Bäckchen und Schweißperlen auf der Stirn umringten ihn und wie eine Marionette tanzte er mit ihnen zu den immergleichen Songs mit der immergleichen Melodie:
Seht euch den Gorilla an,
wie er Mambo tanzen kann.
Ja er tanzt so elegant,
mit Sybille an der Hand.
Clownie!, riefen sie und nahmen ihn an die Hand, als sei er der Gorilla. Er ließ sich treiben in dem Strom aus kindlicher Freude und schlechten Liedern, setzte lustige Grimassen auf, fiel ein paar Mal auf die rote Knubbelnase und nach einer Ewigkeit war die halbe Stunde auch schon wieder vorbei und ein ganzer freier Tag lag vor ihm, in dem er nichts weiter tat, als auf den nächsten Albtraum zu warten.
Theo hasste es.
Er hasste es, seit sie weg war, und mit jedem Tag ein Stückchen mehr. Sie war das einzige Puzzlestück, dass ihm von der glücklichen Vergangenheit fehlte, doch plötzlich machte das ganze Spiel keinen Sinn mehr. Es hatte eine Zeit gegeben, da war das breite Clownsgrinsen ein Teil von ihm gewesen, als er die Kinder geliebt und die Musik ertragen hatte. Zu dieser Zeit war er glücklich gewesen, im Reinen mit sich selbst.
Es schien, als hätte er sich gefunden, aber wieder irgendwo verloren, liegengelassen, als er sie verloren hatte.
Sie.
Die Vergangenheit. Theo spürte, wie sich etwas von ihm löste - vielleicht war es die Traurigkeit oder einfach nur die Realität – und mit einem Mal hielt er sie wieder in den Armen, schnupperte an ihren braunen Locken, die für ihn immer ein bisschen nach Honig gerochen hatten, küsste sie, liebte sie, wurde ein Teil von ihr. Theo, wisperte sie ihm ins Ohr. Mein Theo. Ihre langen Wimpern zogen wie ein Vorhang vor ihre Augen, als sie ihm den Zeigefinger auf die Lippen legte. Sag nichts. Ihr Mund weitete sich und sie beide lachten. Natürlich würde er nichts sagen.
Plötzlich zerbrach die Erinnerung vor Theos Augen und ließ nichts als die Wirklichkeit zurück, und diese zermürbende Frage, die Theo sich in letzter Zeit immer öfter stellte:
Ist das wirklich passiert?
Hatte es sich je so ereignet? Es waren nur noch wenige Bilder in seiner Erinnerung, die ihm von ihr geblieben war. Allzu viele waren verbrannt im Feuer der Zeit. Was, wenn er nicht mal denen, die noch da waren, trauen konnte? Hatte sie ihn je wirklich geliebt?
Theo trank, um die Fragen zu verscheuchen. Er schmiss die leere Flasche zu den anderen und ließ sich in den Sand sinken. Eine Welle fuhr durch seine blonden Haare, durchsetzte sie mit tausenden Sandkörnern und verschwand wieder. Die Nächste überspülte ihn, legte sich über ihn wie die warme Bettdecke eines Kindes, das sich vor den Monstern in seiner Fantasie versteckt. Sanft wiegte sie Theo in einen unruhigen Schlaf.

***



Auch Winnfield war am Meer, nunmehr in seiner eigenen Villa am anderen Ende der Insel. In der Ferne hörte er die Wellen brechen wie riesige, ausladende Knochen, während er sich auf seiner Hängematte vom Wind hin und herschaukeln ließ, als König dieses verlassenen Paradieses. Er hatte die Hängematte eigenhändig zwischen zwei Palmen auf dem riesigen Garten hinter seiner Villa gespannt. Links und rechts war sie von allerlei Heckentieren - Elefanten, Löwen, Tigern und Affen aller Arten und Größen - umgeben. Manchmal glaubte Winnfield, im Augenwinkel ein Zucken dieser Tiere - einen Elefanten, der mit dem Ohr wackelte, einen Löwen, der die Mähne schüttelte oder einen Affen, der eine Pfote hob - wahrzunehmen, aber die niederschmetternde Erkenntnis, dass er alleine war, ganz alleine, für immer und immer und ewig, ließ sämtliche Wünsche zerbersten.
Winnfield selbst hatte sich schneller erholt, als er es für möglich gehalten hatte. Abgesehen von seiner unendlichen Müdigkeit fühlte er sich gut - nichts schmerzte mehr wirklich, wenn man seinen Schmerz einmal gespürt hatte - und auch die Müdigkeit war, wenn man das bedachte, geradezu lächerlich.
Das Schlimmste waren die Narben, die er davongetragen hatte, die überall in seinem Gehirn saßen und ihn vom Schlafen abhielten. Immer, wenn er die Augen schloss, eiterten sie schreckliche Bilder an die Oberfläche: da war die Frau, die sich ins Feuer stürzte, als springe sie in einen Pool und in die Flammen eintauchte, bis ihre Asche sich mit der des Holzes vermischt hatte; da war seine dröhnende, körperlose Stimme, deren Nachklang noch immer durch seine Gehirnwindungen echote, waren all die dunklen Gedanken und Gefühle, die er unten im Bunker gehabt hatte; und da saß Charlie, die knochigen Finger triumphierend in die Höhe gestreckt, ein irres Lächeln im Gesicht und dieser eine Moment, in dem das Licht aus seinen Augen trat und durch die Luke im Bunkerdach schwirrte wie ein winziges Glühwürmchen.
Winnfield vermied es, die Augen zu schließen.
Sein Blick war auf die Wellen gerichtet, die hunderte Meter vor ihm in den Sand schlugen, als wären sie echt. Winnfield kniff die Augen zusammen - und starrte dann mit geweiteten Augen auf den See im Meer. Fast hatte er ihn vergessen: Etwa hundert Meter von der Küste entfernt unterbrachen sich die Wellen plötzlich, um weiter hinten am Horizont genauso spontan wieder anzufangen. In dieser Zone von etwa dreißig mal neunzig Metern war das Wasser still, ja bewegungslos, als steckte es in der Zeit fest.
Charlie und Winnfield hatten diesen See im Meer, wie Winnfield ihn mangels eines besseren Bildes getauft hatte, am zweiten Tag nach ihrer Ankunft gefunden. Kein Gesetz der Natur war imstande, ihn zu erklären und doch war er da, stach aus dem Wellengebirge hinaus wie ein Zwerg unter Riesen.
Auf einmal erkannte Winnfield die Wahrheit. Auf einmal machte alles Sinn.

Winnfields nackte Füße flogen durch den staubigen Sand des Strandes.
Der See war vorher da gewesen, natürlich. Und wer auch immer diesen Ort erschaffen hatte, er hatte es nicht geschafft, ihn zu verdrängen. Weil der See, genau wie der Brunnen voll Lava, ewig war.
Winnfield erreichte das Meer, das auch am hellichten Tage im silbernen Glanz des Mondes am Himmel stand. Ohne zu zögern stapfte er durch das unruhige Wasser, das sich sträubte, ihn durchzulassen und ihn immer wieder zurückwarf. Winnfield lief unbeirrt weiter, zehn Meter, dann zwanzig, bis ihm plötzlich sämtliche Glieder seines Körpers einzufrieren schienen. Etwas flüsterte in Winnfields Innerem, samten und bedrohlich, sodass sich seine Haare aufstellten wie Eiszapfen.
K i l l, strömte die Stimme durch seinen Kopf. K i l l.
Es war seine Stimme, schwach und brüchig zwar, doch allgegenwärtig in diesem See. Es war hier bei ihm.
Und alles hatte jetzt seinen eigenen, grausamen Sinn: Das Rauschen, das sie in jener Nacht ihrer Flucht verfolgt hatte; das allgegenwärtige Plätschern über ihren Köpfen, als sie im Bunker festsaßen; die Tatsache, dass die ganze Welt in einen feinen, feuchten Schleier gehüllt war. Es war ganz offensichtlich: An jenem Tag seiner Ankunft war die Welt überflutet worden mit seinem Wasser, seinem Wesen und seinen Gedanken.
Und so wie Winnfield damals aus dem Brunnen gestiegen war, entsprang es den Tiefen dieses Sees.

***



Sie wachte nicht mehr auf. Sofia wusste das, wie sie wusste, dass der Samstag auf den Freitag folgt. Sie schaute noch einen Moment länger auf das Kinderbett an der anderen Seite des Zimmers. »Aurora!« , schrie sie ein letztes Mal. Es war zwecklos - das Mädchen rührte sich nicht. Sofia rutschte an der Wand, an die sie sich bis eben noch gelehnt hatte, um ein bisschen Haltung zu bewahren, herab und zog die Knie an ihren Körper. Ihre glatten, blonden Haare fielen ihr vors Gesicht und sie weinte ein bisschen. Früher hatte ihr das immer geholfen. Es half schon lange nicht mehr.
Die Zeiten waren vorbei.
Als sie sich wieder einigermaßen gefangen hatte, fiel ihr Blick auf das kleine, schwarze Telefon, das sie die ganze Zeit über mit beiden Händen umklammert hatte. Natürlich, es war skurril. Es war verrückt, daran zu glauben. Und es war gefährlich, diese Tür zu öffnen. Aber es war ihre einzige Perspektive. Mit tränenfeuchten, zittrigen Händen wählte sie die schwedische Nummer. »Viggo?«, flüsterte sie. »Ich bin soweit.«

***



Theo träumte schlecht. Ein riesiger, rot geschminkter Mund schwebte vor ihm. Sonst war alles in undurchdringliche Dunkelheit getaucht. Die nach oben gezogenen Winkel des Mundes verliefen in Unendlichkeit, Blutstropfen strömten von seiner Unterlippe.
Im Hintergrund donnerte ein infernalisches Lachen, das Theos Trommelfelle platzen ließ.
Unaufhaltsam näherte sich dieses Grinsen nun Theo, der seinerseits in der Schwärze festgenagelt war. Das Rot pulsierte vor seinen Augen, wuchs immer weiter, bis es unten und oben aus Theos Sichtfeld verschwand. Er war jetzt im Körper des Grinsens, flog schnurstracks auf seinen Gaumen zu. Das donnernde Lachen glich einem Kanonenfeuer, das direkt neben Theo einschlug und nicht mehr nur sein Trommelfell, sondern all seine Organe zerfetzte. Theo stieß Blut auf, das sich vor seinen Augen in hunderte jener grausamen Münder verwandelte. Jetzt fühlte Theo auch seine eigenen Mundwinkel nach oben schießen. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, das Kichern aufzuhalten, doch es kroch aus ihm hervor, bevor es an der Oberfläche in einem Laut explodierte, der so gigantisch war, dass der Traum verblich.
Einige Minuten verbrachte Theo in einer Welt ohne Licht, ohne Geräusche und er suhlte sich in diesem Frieden wie ein Schwein im Dreck.
Dann erschien weit über ihm ein leuchtender, pulsierender Punkt. Kurz meinte Theo, aufgewacht zu sein, doch weder hörte er die Wellen, noch schmeckte er ihr Salz auf seinen Lippen. Nein, er war an irgendeinem anderen Ort in den Tiefen seines Unterbewusstseins. Wie gebannt starrte er auf die fremde Welt, die sich vor seinen geweiteten Augen entblätterte. Denn langsam entwickelten sich Konturen in der Dunkelheit:
Erste gitterförmige Linien krochen vom Himmel herab und schlossen Theo in ein enges Gefängnis ein. Er hob einen Fuß und es plätscherte schwerfällig. Gleichzeitig umgab ihn ein irrationales Gefühl von Wärme und Glück.
Das Licht eroberte nun Zentimeter um Zentimeter und langsam entwickelten sich Farben. Unter Theo flackerte es zum Beispiel orange - er sah, dass er in einem kleinen, dicht geflochtenen Korb stand, der seinerseits in blubbernder Lava schwamm.
Das Gitter um ihn herum entpuppte sich als Steinwand eines Brunnenschachts. Und dann, plötzlich, kam Bewegung in die unwirkliche Szenerie:
Der Eimer wackelte hin und her und mit einem lauten Schmatzen wurde er aus der Lava gestoßen - Theo wurde emporgehoben.
Mit jedem Zentimeter, den er in die Höhe gehievt wurde - von wem auch immer? - wurde es ein bisschen kälter, wurde das Glück, das Theo umgeben hatte, ein wenig unbedeutender. Ein seltsamer Schein kroch an den Wänden entlang und Theo sah, dass ein riesiger, silberner Schleier am Firmament über dem Brunnen stand.
Ein eisiger Windstoß durchfuhr seine Eingeweide und es war nicht nur Kälte, die ihn biss, sondern noch etwas Anderes: Angst. Das Gefühl wurde schnell schwächer, ganz verschwand es jedoch nicht. Derweil näherte Theo sich dem Ende des Brunnenschachts. Zuerst bemerkte er, dass der riesige, silbrige Schleier in Form eines Tellerrandes in Wirklichkeit der neue Mond war, der über dieser Welt aufgegangen war. Er konnte jeden einzelnen Krater in diesem überdimensionalen Himmelsgebilde erkennen, das so nah war, als hätte jemand ein Lasso herum geworfen und es einige Lichtjahre herangeholt, bis kurz vor die Atmosphäre.
Ein neuerlicher Windstoß packte Theo und sämtliche Haare seines Körpers stellten sich knisternd auf. Dann tauchten in einiger Entfernung Wolkenkratzer wie U-Boote aus der Schwärze hinter dem Rand des Brunnens auf - besser gesagt das, was von ihnen übrig war. Was Theo in der silbrigen Dunkelheit ausmachen konnte, zeugte von verheerender Zerstörung. Die Dächer waren fast allesamt eingestürzt; hier und da schien es, als wären ein oder zwei Geschosse aus der Mitte hinausgerissen worden und die Stockwerke darüber wären auf die unteren geplumpst. Es wirkte beinahe postapokalyptisch, wie nach der Detonation einer alles vernichtenden Atombombe.
Als Theo genauer hinschaute, erkannte er zudem, dass die Häuserfassaden das Mondlicht beinahe unnatürlich reflektierten... wie Wasser. Ja, Theo war sich sicher: die Fassaden waren feucht. Als wären sie einmal in ein riesiges Wasserbecken gedippt, und dann wieder hinausgezogen worden. Theo erkannte jetzt, dass jene riesigen, modernen Gebäude tatsächlich in weiter Entfernung lagen; neue Häuserfronten schoben sich vor ihre Trümmer. Diese waren viel älter, sie muteten viktorianisch an und auf den ersten Blick war die Zerstörung bei ihnen weitaus weniger fortgeschritten. Hier und da fehlten zwar Fenster und auch das ein oder andere Dach war lückenhaft, doch das hier waren eher die Folgen eines Sturms als die einer Atombombe. Theo schaute sich um, die viktorianische Häuser bildeten einen Kreis um den Brunnen, umlagerten und, ja, beschützten ihn.
Oder war es andersherum?
Theo wusste nicht genau, wie er auf diesen Gedanken kam. Er war jetzt an der Oberfläche angekommen und nahm nur beiläufig wahr, dass niemand neben dem Brunnen stand, er also anscheinend von einer anderen, unsichtbaren Macht emporgezogen worden war, sondern sprang flugs aus dem Eimer hinaus auf das Kopfsteinpflaster dieses an einen Marktplatz erinnernden Ortes.
Dieser Marktplatz war etwa hundert Meter breit und lang, der Boden an mehreren Stellen aufgerissen und verquollen und an den restlichen mit einer etwa zehn Zentimeter hohen Wasserschicht bedeckt. Theo fiel erst jetzt auf, dass es regnete - ein feiner Schleier besprühte ihn mit Verzweiflung - aber er bezweifelte, dass der Regen für diese Überflutung verantwortlich war. Nein, das alles erinnerte ihn jetzt eher an eine Flutkatastrophe.
Und er bekam langsam auch sprichwörtlich kalte Füße: Diese verstörende Szenerie, und dazu das seltsame Gefühl in seinem Bauch: Irgendetwas stimmt hier nicht!, schrie es.
Und: Lauf!
Nur wie lief man vor einem Traum weg? Theo gefiel das alles nicht - einerseits.
Andererseits hatte auch eine seltsame Abenteuerlust von ihm Besitz genommen; da war diese fremde Welt in seinem Kopf - und er musste sie entdecken:
Wo befand er sich? Was war das hier und was wollte sein Unterbewusstsein ihm damit mitteilen? Was lag hinter den Wolkenkratzern am Horizont?
Theo spürte, wie Aufregung durch seinen Körper fuhr, und Ehrfurcht in seine Nasenspitze, als er den Mond am Himmel ins Visier nahm, den Herrscher und König dieser dunklen Welt.
Und auf einmal verschwand dieser König vor Theos Augen, verschwanden Theos Augen von seiner Welt.
Denn Theo erwachte erneut - und dieses Mal wirklich.

2



Aurora wog in ihren Armen kaum mehr als eine Kiste Wasserflaschen - und war fast ebenso lebendig. So wie das Wasser prickelte und an der Oberfläche Bläschen schlug, nahm Sofia nur das leise Atmen Auroras an ihrer Brust wahr. Sie öffnete die Tür ihres Leihwagens, eines sportlichen Viersitzers aus Deutschland, und legte Aurora in ihren Kindersitz, wo sie sie behutsam anschnallte. Eine blonde Strähne fiel ihrer Tochter ins Gesicht und Sofia strich sie ihr zärtlich hinter das blasse Ohr. Sie betrachtete ihr unschuldiges Gesicht - die kleine Stupsnase, die spröden Lippen, die Sommersprossen an ihren Wangen und die Narbe an ihrem Kinn, von deren Ursprung Aurora ihr bis heute nichts erzählt hatte. Gott, sie war doch erst sechs! Wie konnte das Schicksal so skrupellos sein? Wieder schluchzte Sofia, ohne jedoch zu weinen. Sie war leergeweint.
Sofia rutschte hinüber zum Fahrersitz und ließ sich stöhnend ins Polster fallen.
Hinter der Frontscheibe ging gerade die Sonne auf. Sofia hoffte, dass sie ihr Ziel erreichten, bevor sie das zweite Mal wieder untergegangen war.
So oder so, lange Tage lagen vor ihr, lang und einsam und vollgestopft mit Sorgen. Wieder blickte Sofia auf den Beifahrersitz, auf die dürre Gestalt, die alles war, was sie jemals geliebt hatte. Seit sie vor zwei Jahren in Sofias Leben getreten war, war es gefüllt gewesen mit Leben und Freude. Bis zu jenem Tag...
Sofia schüttelte sich und wandte energisch den Blick von Aurora ab. Sie drehte den Schlüssel im Zündschloss um und machte sich auf nach Schweden.

***



So echt. Theo schritt durch die lange, mit Ledersesseln übersäte Eingangshalle des Mondragó Hotels am gleichnamigen Naturschutzgebiet, hinein in den hoteleigenen Aufzug an seinem Ende. Alles, wirklich alles erinnerte ihn an seinen Traum. Natürlich, versuchte er sich zu sagen, während sich die Stahltüren vor ihm schlossen wie eine Zwangsjacke. Träume sind nichts weiter als die Verarbeitung der Realität. Doch Theo wurde diese eigenartige Ahnung nicht los: So echt. Die Ereignisse im Traum hatten sich so echt angefühlt, als seien sie tatsächlich passiert. Und er sah sie derart deutlich vor sich, als passierten sie gerade eben vor seinen Augen, sah den Brunnen und die Lava, sah die zerstörten Häuser, sah sogar die Flutwelle, die sie unter sich begraben hatte. Und diese Ahnung - so echt - war groß in Theo; sie war so groß, dass er doch tatsächlich geglaubt hatte, seine Haare wären feucht vom Regen des Traumes, als er sie nach seinem Erwachen berührt hatte.
Theo drückte die große 4, die wie aus Freude über seine Berührung rot aufleuchtete und merkte, dass er alleine im wackelnden Aufzug stand. Plötzlich hatte er wieder die eigentlich längst abgelegte, fast kindliche Angst, dass der Aufzug gleich gen Abgrund stürzen, und ihn mit sich in die ewige Dunkelheit reißen würde. Vielleicht war das ja auch der Sinn seines Traumes gewesen: Theo vor seinem Tod zu warnen. Welch Ironie es wäre, hier zu sterben, dachte er sich - hier, wo sein Leben im Prinzip auch angefangen hatte.
An jenem wunderbaren Tag vor etwas mehr als fünf Jahren war Theo, wie jetzt auch, alleine mit dem Aufzug in Richtung Obergeschoss gefahren, als plötzlich Nina eingestiegen war. Nina war einundzwanzig, kam wie das gesamte Personal des Mondragó aus Deutschland und arbeitete dort zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem halben Jahr als Animateurin. An jenem Tag trug sie die braunen Haare in einem engen, mit mehreren Haarbändern fixierten Pferdeschwanz und ihre blauen Augen leuchteten mit den Zahlen auf der Anzeige um die Wette. Nina gehörte zu der Handvoll Menschen, die verstanden hatte, dass Theo, obwohl er seit seiner Geburt kein einziges Wort gesagt hatte, trotzdem verstehen konnte, was die Anderen sagten.
Nina war anders. Sie störte es nicht, dass er stumm war - und meistens redete sie einfach für ihn mit. Als sie ihn an diesem Tag im Aufzug erkannte, bildeten sich sofort diese feinen Grübchen in ihren Wangen, die immer auftauchten, wenn sie ihr Strahlen aufsetzte. »Theo.«, begann sie. »Schön, dich zu sehen!«
Er versuchte, ihr Lächeln zu imitieren, kam sich dämlich vor und nahm sie schnell in den Arm. »Hattest du einen schönen Tag?«, fuhr sie fort, ohne Luft zu holen. »Ach, was frage ich, du hast doch sowieso den schönsten Job von uns allen, aber das weißt du ja auch.«
Er sah ihr tief in die Augen und suchte nach einem Zeichen.
»Hör mal, Theo, ich hab das Buch, das du mir gekauft hast, durch. Das war ja vielleicht ein Scheiß. Man sollte meinen, wenigstens mit geschriebenen Worten würdest du dich auskennen...« Ihre Augen weiteten sich, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. »Verdammt, das klang jetzt so.. blöd. Sorry... ist alles...?« Sie nahm Theos Gesicht zwischen ihre buntlackierten Fingerkuppen. »Es tut mir so...«
Theo seufzte leise. Verdammt, jetzt oder nie! Er war es Leid, zu warten. Jahrelang hatte er auf die Richtige gewartet und jetzt, wo er sie gefunden hatte, wartete er seit Monaten auf ein Zeichen von ihr. Ungelenk drückte er seinen rotgeschminkten Mund an ihren - und dann kam das Zeichen, auf das er so lange gewartet hatte: ihre Zungenspitze auf seiner spröden Oberlippe.

Die Aufzugtür glitt auf und mit der einen Welt, die sich vor Theo öffnete, schrumpfte die Andere in seiner Erinnerung zu einem Gefühl von Liebeskummer in der Magengegend zusammen. Er trat aus dem Fahrstuhl hinaus - und stand schon vor der Holztür, hinter der das mickrige Büro des Hotelbesitzers lag. So groß, modern und glamourös sein Hotel auch war, Edwin Mertzer selbst hatte es lieber klein und gemütlich, was auch auf sein eigenes Erscheinungsbild zutraf. Mertzer war ein gedrungener Mann, dessen riesiger Kopf wie eine Bowlingkugel auf seinem Stiernacken saß. In seinem winzigen Reich, wie immer auf dem Stoffsessel sitzend, den er sich statt eines Bürostuhls hinter den groben Schreibtisch aus Holz geklemmt hatte, sah Mertzer aus wie ein eingepferchtes Tier. »Theo!«, tönte er und deutete gönnerhaft auf einen Holzschemel auf der anderen Seite des Schreibtisches. Irgendetwas lag in seinem Blick, Theo wurde mulmig. Mertzer beugte sich vor und stützte seinen Kopf auf seine Hände. »Theo, Theo, Theo.« Er versuchte wohl, den Kopf zu schütteln, es gelang ihm in seiner Position nicht wirklich. »Was soll ich nur mit dir machen?«
Mertzer seufzte laut. »Seit Nina uns - und dich - verlassen hat, ist das...« Er deutete auf Theo wie auf ein Ausstellungsstück im Museum. »... ist das einfach nicht mehr der Mann, den ich eingestellt habe. Bist du der böse Zwilling?«
Er zwickte Theo in eine Wange und kramte sein schallendes Altherrenlachen heraus. Theo lächelte müde, und Mertzer wurde mit einem Schlag wieder ernst.
»Du musst aufwachen! Du schläfst schon seit einem halben Jahr vor dich hin. Und von der anderen Sache will ich gar nicht anfangen. Über so etwas rede ich nicht, weil ich so etwas nicht dulde.«
Theo runzelte die Stirn. Ein halbes Jahr schon? Waren nicht bloß ein paar Tage vergangen? Er konnte sich an keinen dieser Tage erinnern. Seit Nina weg war, lebte er von Tag zu Tag. Alles, was von der Zeit zwischen ihr und der Gegenwart geblieben war, waren blasse Schemen und Gefühle - das Prickeln des Alkohols auf seinen Lippen, eine Polonaise aus kleinen Kindern mit ihm an der Spitze, und dieses scheußliche aufgemalte Lächeln. Es waren unwichtige Kleinigkeiten, so wie sein Leben. Ansonsten hatte Theo an die letzte Woche, den letzten Monat oder gar das letzte halbe Jahr keine Erinnerung mehr.
Und was hatte es mit dieser anderen Sache auf sich, von der Mertzer geredet hatte?
»Du musst die Kleine endlich hinter dir lassen. Das ist deine einzige Chance, aus diesem Sumpf herauszukommen. Noch einmal wirst du nicht so ein Glcük haben. Und glaub mir, mein Junge: Sie ist es nicht wert!«
Theos Mund zog sich zusammen, verschwand fast. Mildernd hob Mertzer die Hände und sprach weiter, langsam und deutlich, als weihe er Theo in einen geheimen Plan ein.
»Hör zu, Junge. Ich kann keinen depressiven Clown gebrauchen. Depressive Clowns sind was für Stephen King. Und ich möchte nicht, dass die Gäste meines Hotels Albträume bekommen. Sie sollen eine schöne Zeit hier verbringen, sie sollen Spaß haben. Die Kinder sollen Spaß haben. Und in deinem Zustand kannst du das einfach nicht mehr garantieren. Vor allem nicht, wenn...« Der Hoteldirektor brach den Satz abrupt ab und schüttelte energisch seinen roten Kopf. Dann strich er sich die wenigen Haare, die ihm noch geblieben waren, über den sonst kahlen Schädel. »Worauf ich hinauswill, Theo: Wie lange arbeitest du jetzt hier? Fünf Jahre? Ich glaube, es sind fast sechs. Hast du schonmal über eine... Veränderung nachgedacht?«
Theo zuckte die Achseln. Er wusste, worauf das hinauslief.
Mertzer zog seine schwarzen, buschigen Augenbrauen zusammen und faltete die Hände. »Ich will dich hier zwei Wochen lang nicht sehen, mein Junge. Danach schauen wir, wie es weitergeht.«

***



Tick. Tock. Tick. Tock. Ticktockticktocktick.
Auroras Puls war wie eine Uhr, die die Zeit bis zu ihrem eigenen Tod herunterzählte.
Bis zum letzten Schlag.
Sofia nahm ihren Finger vom Hals ihrer Tochter und atmete erleichtert auf. Sie hatte den Wagen an einer kleinen Raststätte kurz hinter der schwedischen Grenze geparkt und sich dann sofort in Richtung des Beifahrersitzes gebeugt, um die grässliche Ahnung, die immer und immer in ihrem Kopf herumschwirrte, dieses jetzt-ist-es-vorbei-endgültig, zu überprüfen. Noch war sie nicht wahr geworden.
Nach ihrer allabendlichen Routine versuchte Sofia nun, es sich im weichen Leder ihres Sitzes bequem zu machen. In dieser milden Sommernacht konnten sie problemlos draußen im Auto übernachten, bevor es morgen galt, halb Schweden zu durchqueren, bis tief hinein in die Wälder von Umeå. Sofia musste Kraft tanken und den Schlaf irgendwie dazu überreden, sie mitzunehmen.
Nach einiger Zeit hatte sie eine gute Position gefunden; schlafen konnte sie trotzdem nicht. In den Bäumen rund um die Raststätte gurrten Heerscharen von Tauben, und vom Toilettenhäuschen, das nur einige Meter von ihrem Parkplatz entfernt war, trug der Wind Geräusche und Gerüche durch die geöffneten Autofenster, die den Schlaf immer dann verscheuchten, wenn er sich gerade angeschlichen hatte.
Sofia versuchte, an etwas Schönes zu denken, doch alles, was länger zurücklag als Auroras Krankheit war versteckt unter einem Mantel aus Sorgen und Ängsten. Die Erinnerung, die noch am weitesten zurücklag, war die kaum vier Wochen alte Erinnerung an
Abend Nummer Eins.

Abend Nummer Eins war das Ende des letzten Frühlingstages gewesen, der den Sonnenuntergang an das Fenster von Sofias kleinem Bungalow in den Ausläufern von Bergen gemalt hatte. Sofia selbst saß gerade im Kerzenschein am Wohnzimmertisch und verzweifelte an einem dieser Sudokus, die sie immer hervorkramte, wenn Aurora oder ihr Job als Krankenschwester einmal Langeweile zuließen. Der Tag neigte sich dem Ende zu, Aurora war schon im Bett und der morgige freie Samstag stellte ihr ein spätes Aufstehen in Voraussicht. Trotzdem hatte sie sich vorgenommen, nach diesem Rätsel ins Bett zu gehen. Bloß machte sie irgendetwas falsch, so schien ihr und sie war kurz davor, das verdammte Heftchen in die Ecke des Zimmers zu schmeißen - und den kleinen, abgenagten Bleistift gleich hinterher.
Sie musste doch in der Lage sein, ein paar blöde Zahlen herauszufinden, verdammt noch mal! Wieder kaute Sofia ruhelos auf dem Ende des Bleistiftes herum, fuhr sich mit dem Handrücken über ihre dunklen Augenbrauen, die von der Rage, die in ihrem Innerem brodelte, feucht geworden waren und fluchte leise vor sich hin.
Als sie ein Geräusch hinter sich hörte, fuhr sie zuerst aggressiv herum, bereit, denjenigen anzubrüllen, der sie vom Lösen des Sudokus abhielt. Selbst einen Einbrecher hätte sie in diesem Moment fertiggemacht. Nicht jedoch Aurora, die in ihrem strahlend weißen Nachthemd in der Wohnzimmertür stand, mit merkwürdig zerzaustem Haar und Tränen im Gesicht. Sofia sprang auf und nahm das kleine Ding in den Arm. Aurora klammerte sich an sie, ohne jedoch ihr Stofftier, das Krümelmonster aus der Sesamstraße, loszulassen. »Was ist passiert?«, flüsterte Sofia und streichelte Aurora beruhigend über den zarten Rücken. Wahrscheinlich ein schlechter Traum, dachte sie. Es war Vollmond.
»I..i...ich...«, begann Aurora zitternd. »Ich habe geträumt, aber es war wahr.«

***



Als es begann, saß Winnfield gerade in Charlies Garten und wärmte sich an einem großflächigen Lagerfeuer auf. Er hielt seine dunklen Hände nah an die Flammen und schloss die Augen, so gut tat es. In den letzten Tagen war es immer kühler geworden, so als gingen die Jahreszeiten an diesem Ort wöchentlich ineinander über; ein feiner Regen schwebte in der Luft und eiskalte Windstöße fegten durch sie hindurch. Winnfield bekam plötzlich stechende Kopfschmerzen, während er Charlies Haus in Augenschein nahm. Es war gerade eben fertig geworden. Mit bloß einem Stockwerk war es kaum mehr als ein Bungalow mit einer knallroten Backsteinfassade und sah fast verloren aus in dem riesigen Garten ringsherum, der zu allem Überfluss auch noch in den Strand und das ewige Meer überging.
Bis heute morgen noch hatte Charlie in Winnfields weitaus geräumigerer Villa gewohnt und Winnfield hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, aber Charlie hatte mit einem Mal darauf bestanden, etwas Eigenes zu haben. Mit vor Schreck geweiteten Augen hatte er auf den Ozean gestarrt und wollte plötzlich so weit weg von dort wie es ihm nur möglich war.
»Gut.«, hatte Winnfield gesagt. »Die Welt ist groß genug.«
Und so waren sie heute bei Mondaufgang losgegangen, ans gegenüberliegende Ende der Insel, und jetzt, da der volle Mond genau in der Mitte des Horizonts stand, waren sie auch schon fertig. Alles war soviel einfacher, seit Gedanken wahr wurden, dachte Winnfield.
Dann fuhr er plötzlich zusammen, als Schmerz in einer Wehe durch seinen Kopf strömte. Was zum Teufel war das?
Charlie kam aus seinem Haus gestürmt und rannte wild schnaufend auf das Lagerfeuer zu. Seine Augen waren weit aufgerissen, die Pupillen murmelgroß. In der Nähe des Feuers schien es ihm jedoch schnell besser zu gehen. Winnfield deutete auf seinen Kopf. »Hast du auch auf einmal solche Schmerzen?«
Charlie nickte ungestüm.
»Was ist hier los?«
Der kleine Mann zuckte mit den schmalen Schultern. Da hörte Winnfield es zum ersten Mal. Es war kaum mehr als ein Flüstern, wie der Wind, der durch einen Haufen abgefallener Blätter weht. Wieder und wieder - und auf einmal war es ein Wort: Kill.
K I L L.
Winnfield zuckte zusammen und suchte Charlies Blick. »Hörst du das auch?«
Wieder nickte der Junge. K I L L - und da war noch etwas Anderes, ein Rauschen in der Ferne, dann ein Plätschern – und immer wieder: K I L L!
Der Wind wurde lauter und mittlerweile war es fast, als spräche er mit Winnfield.
Er stand auf und merkte, dass seine Beine weich wie Gummi waren.
»Lass uns gehen!«, sagte er, um Stärke und Selbstsicherheit in seiner Stimme bemüht.
Erst reagierte Charlie nicht. Angestrengt lauschte er jener körperlosen, anderen Stimme und zog dabei seine dünnen Augenbrauen soweit zusammen, dass sie nur noch ein einzelner, feiner Strich waren. Winnfield lief ein Schauer über den Rücken.
Was passierte mit dieser Welt? Was passierte mit ihnen?
»Komm, Charlie.«, dachte er dann. »Wir müssen zu den Anderen.«
Noch immer trafen sie sich jeden Abend am Brunnen, kamen aus allen Ecken der Insel zusammen, um sich zu beratschlagen, auszutauschen und sich Gesellschaft zu leisten. Nicht, dass Winnfield besonders scharf darauf war - auf die eine oder andere Art wirkten alle außer Charlie falsch auf ihn -, aber die Situation gebot es: sie waren zu sechst auf einer Insel in der Ewigkeit gestrandet, sie waren alleine hier und sie würden es bleiben. Zumindest hatte Winnfield das bis eben gedacht. Jetzt wurde er das Gefühl nicht los, dass ein siebter dazugekommen war. Einer, der durch und durch falsch war.
Charlie rappelte sich endlich auf und riss Winnfield aus seinen schlechten Gedanken. Er nickte mit wild entschlossener Miene.
»Okay!«, meinte Winnfield, obwohl er das komplette Gegenteil ahnte und wandte sich dem Feuer zu, um es zu löschen, da ...
K I L L Y O U
Die Stimme entfachte den Schmerz in Winnfields Kopf aufs Neue. Sie zischte und dröhnte gleichzeitig. Und dann trug der fegende Wind andere Geräusche zu ihnen: Schreie. Schreie? Entgeistert schaute Winnfield auf Charlie. War das das Ende des Traumes?
Das Tosen in ihrem Nacken war stärker geworden, und noch etwas war da - jemand rannte auf sie zu. Winnfield fuhr herum und erkannte die Spanierin, deren kurzes, schwarzes Haar sich im Wind zu zwei hörnergleichen Büscheln aufgestellt hatte. Ihr Gesicht leuchtete so rot wie das Feuer in Winnfields Rücken und Wahnsinn glühte in ihren schwarzen Augen. Schützend stellte Winnfield sich vor Charlie, als die Frau keuchend stehenblieb. Sie schnappte nach Luft, als bräuchte sie sie zum Atmen und öffnete den Mund, als spräche sie mit ihm. »Sie sind tot.«
Aus irgendeinem ihm unerfindlichen Grund lachte sie. »Der Teufel hat sie. Alle.«
Charlie und Winnfield standen regungslos da, bewegten sich nicht, sagten nichts, dachten höchstens.
»Er wird uns alle kriegen!« Die Frau ging an den beiden vorbei und stellte sich vor die mannshohen Flammen. Eine Welle des Verlangens durchfuhr ihren Körper und sie stöhnte laut. »Wir werden in den Flammen der Hölle verrotten, auf ewig und ewig und ewig und ewig...«
Als Winnfield merkte, was sie vorhatte, war es schon zu spät. Die Frau ließ sich nach vorne fallen und glitt in die Flammen wie in einen Pool. »...und ewig und ewig und ewig...« Sie tauchte im Feuer unter und alles, was von ihr übrig blieb, waren jene zwei Worte, die zusammen mit dem Rauch aus den knisternden Flammen stiegen. »Und ewig und ewig und...«
Das letzte Wort strich an ihnen vorbei wie eine Sommerbrise.

***



Nina stöhnte unter Michaels Berührung. Sanft strich er ihr über den festen Unterleib. Sie legte ihre Hand auf seine und lächelte.
Jetzt waren sie Eltern. Sie hätte ihr Angst machen müssen, die grundverschiedene Bahn, die ihr Leben innerhalb eines halben Jahres eingeschlagen hatte. Noch vor wenigen Monaten war sie eine jener Animateure gewesen, die sorgenfrei in den Tag hineinlebten und Spaß hatten, anstatt sich Gedanken über irgendetwas zu machen, was außerhalb des Spaßes und außerhalb dieses Tages lag.
Nina hatte einen Freund gehabt, aber keinen Mann. Sie war glücklich gewesen, aber planlos. Dann, vor sieben Monaten, war Michael gekommen, ein Mann mit einem Plan und hatte alles auf den Kopf gestellt.
»Hör zu.«, hatte er nach ihrer ersten Nacht gesagt, im selben Ton, in dem er sonst zu seinen Geschäftspartnern sprach, als sie sich reuselig an seiner Schulter ausgeweint hatte.
»Wie kann ich ihm das nur antun?«, hatte sie geheult. »Ich bin eine Fremdgängerin, verdammt! Eine Schlampe.« Und er: »Hör zu. Ich liebe dich.«
Auf der Stelle hatte sie aufgehört, zu weinen. »Ich will den Rest meines Lebens mit dir verbringen. Mein Urlaub dauert noch zwei Wochen. Es wäre der schönste Tag meines Lebens, wenn du mit mir nach Hause fliegen würdest.«
Und so hatte es festgestanden. Nina hatte alles aufgegeben, was sie sich jahrelang aufgebaut hatte, ihren ganzen Kindheitstraum liegen gelassen und war mit diesem Mann, diesem fremden Mann, den sie erst ein paar Wochen lang kannte, ins Ungewisse gestiefelt. Sie war in seine Wohnung gezogen, hatte sich einen neuen Job gesucht und lebte ihr neues Leben, als hätte es das alte niemals gegeben. Letzten Monat hatten sie im kleinen Kreis geheiratet, und jetzt war sie auch schon schwanger – und das erfuhr sie gerade in ihren Flitterwochen, in denen sie mit Michael an den Ort zurückgekehrt war, an dem alles begonnen hatte: Mallorca.
Eine Liebe im Schnelldurchlauf, dachte Nina sich dann. So viel konnte schiefgehen, so vieles war anders und seltsam, aber trotzdem war sie glücklich. Sie wusste zwar weder, wie Michaels Kindheit gewesen oder was seine Lieblingsmusik war, noch, wie man seinen Beruf nannte oder was genau er dabei tat, aber sie wusste diese eine Sache: Er war derjenige, mit dem sie den Rest ihres Lebens verbringen wollte.
Ein Klingeln zerschnitt ihre Gedanken und sie rappelte sich auf. Michael war schon aufgesprungen und rannte die Treppe hinunter, während Nina dasaß und sich sein Gesicht in Erinnerung rief. Seine stechend blauen Augen unter den dunklen Brauen. Seine langen, zurückgegelten Haare. Und seine leicht schiefe Nase mit dem Leberfleck unter dem rechten Flügel. Jedes Detail.
Dann stand der echte Michael wieder vor ihr. Er sah gehetzt aus und redete noch schneller als gewöhnlich. »Da ist ein kleiner Mann mit Hawaiihemd an der Tür.« Zerstreut strich er sich durch die Haare, die, obwohl es Mitternacht war und er schon bettfertig, noch immer perfekt saßen. Theo, fuhr es Nina durch den Kopf. Was wollte er hier?
»Ich würde ihn ja hereinbitten, aber er ist bewusstlos.«

3



Der Traum war vorbei. Winnfield war sich sicher, dass sie sterben würden. Eiskalter Wind peitschte in seine Ohren und ließ sein Gehirn erfrieren, sodass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Keinen außer diesen Einen: K I L L
Winnfield stürzte auf das Feuer zu, in dem die Reste der Latina sich kaum noch von der Asche des Holzes unterschieden und nahm sich einen lodernden Ast. Das Feuer war ihr Freund. Es ließ die schlechten Gedanken ein wenig abklingen und den Wind ein wenig wärmer werden. Es gab ihnen Kraft, wo keine mehr war und Mut, wo niemals einer gewesen war. Und schon wusste Winnfield, dass er zumindest kämpfen musste, wenn er schon starb. Denn der Wind trug noch etwas Anderes außer Kälte und Verzweiflung in seine Ohren - und das waren die Schreie der Anderen. Winnfield rannte los, den Schreien entgegen, unwissend, welch Schrecken ihn dort erwartete, bis er einen Schrei hörte, der ihn abrupt stehen bleiben ließ. Es war die Stimme eines Stummen, krächzend und leiernd, aber von einer solchen Intensität, dass Winnfield schauderte. Panisch fuhr er herum und sah, dass Charlie angerannt kam. Er schüttelte den Kopf, immer und immer wieder, bevor er sich mit seinem knochigen Zeigefinger über die Kehle fuhr. Winnfield verstand nicht und das sagte er auch. Charlie hielt sich eine Hand wie eine Muschel ans Ohr, dann vollzog er mit der Anderen eine Wellenbewegung und deutete in die Ferne. Winnfield hatte keine Lust mehr auf diese Spielchen.
»Wir müssen die Anderen retten, Charlie!«, sagte er bestimmt und wollte wieder los, als Charlie erneut schrie. Da verstand er.
»Du willst, dass wir hierbleiben. Die Wellen... eine Flut?«
Und jetzt hörte Winnfield es auch: Ein leises Brodeln in der Ferne, das sich kaum vom Feuer in seinem Rücken unterschied. Charlie nickte ungestüm, dann kniff er die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, lag der Bunker vor ihren Füßen; der Ort, an dem sie die schlimmsten - und in Charlies Fall letzten - Wochen ihres Lebens verbringen würden. Dieselbe Leiter, an der Winnfield zwei Wochen später wieder hochklettern würde, führte jetzt in die Tiefe und sie nahmen Stufe und Stufe hinab in jene schummrige Dunkelheit des stahlumhüllten Raumes. Und mit jeder Stufe verflachte der Wind und damit auch jene seltsame, körperlose Stimme, bis beide nur noch kaum mehr waren als ein leiser Luftzug, der ihnen eine Gänsehaut bescherte.
Gerade, als sie am Boden des Bunkers angekommen waren und den Eingang mit einer dicken Tür verriegelt hatten, kam die Flut.
Winnfield nahm Charlies länglichen Kopf zwischen beide Hände und küsste ihn auf die Stirn. Er hatte sie vor dem sicheren Tod bewahrt - zumindest vorerst.

***



Theos Traum begann dort, wo sein letzter geendet hatte. Er stand auf dem Marktplatz, den Blick gen Himmel gerichtet, als wären bloß ein paar Sekunden und nicht ein ganzer Tag vergangen. Schon bald bemerkte er, dass sich seit dem letzten Mal doch einiges getan hatte: Zunächst einmal hatte sintflutartiger Regen das leichte Nieseln des letzten Traumes ersetzt. Unnachgiebig prasselte er auf das schwarze Kopfsteinpflaster und vereinigte die Pfützen darauf zu einem rauschenden Fluss. Das Wasser stand knöcheltief und war kälter, als es sein sollte. Gischt sprang Theo ins Auge und für einen Moment war er blind, fuhr ein Schmerz in seine Stirn wie die Spitze eines Messers. Doch dann war der Moment vorbei und Theo blickte sich in dem Chaos genauer um. Denn es gab noch eine weitere, eine ungleich größere Veränderung: Vier andere Menschen, die wie Theos Spiegelbilder träge um sich blickten und sich langsam auf den nassen Boden fallen ließen. Vier Menschen wie Theo, die sahen, was er sah und handelten, wie er es tat. Theo fragte sich, ob sie in seinem Traum waren - oder er in ihrem. Stumm beobachtete er sie und spürte seinerseits ihre Blicke auf sich. Ob sie auch dasselbe dachten? Dachten sie?
Theos Blick fixierte eine Frau, die fünf Meter entfernt von ihm im tosenden Wasser kniete, die knochigen Hände zum Gebet gefaltet. Allem Anschein nach war sie Latina. Sie hatte die braunen Haare adrett zu einem Dutt gesteckt, der wie ein Stecknadelkopf auf ihrem Schädel saß und in ihrem unter dem Kinn zugeknoteten, bis zu den Waden reichenden Sommerkleid, sah sie jünger aus als die Falten in ihrem sonnengebräunten Gesicht vermuten ließen. »Allmächtiger im Himmelsreich«, sang sie enthusiastisch und akzentfrei. »So hole mich zu Dir als eine der Deinen. Geleite mich durch die Pforten des Himmels, so bin ich bereit die Welt in Richtung des ewigen Friedens, Deines ewigen Friedens zu verlassen. Nur sage mir, wieso Du mich brachtest in diesen Vorhof zum Himmel, denn ich bedarf keiner Prüfung, um Dir zu zeigen, wie stark meine Liebe zu Dir ist. So geleite mich aus diesem Abschaum, als eine der Deinen. Ich habe Dir immer gedient, als eine der Deinen und jede Sünde mit Deinem Zweck geheiligt. So geleite mich aus diesem Abschaum als eine der Deinen. Eine der Deinen.«
Sie stockte und begann, zu weinen. Angeekelt schaute Theo weg. Er bemerkte, dass einer der vier, ein junger, breitschultriger Mann mit kurzen schwarzen Haaren, aufgestanden war und in einiger Entfernung durch das Wasser stiefelte, als sei er auf der Suche nach etwas. Theo versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern, das er ganz zu Beginn des Traumes nur für einige Sekunden hatte erhaschen können. Alles, was ihm in Erinnerung geblieben war, waren Sommersprossen, die eine gekräuselte Stirn sprenkelten und ungewöhnlich große Tränensäcke unter zusammengekniffenen Augen.
»Nein!« Jemand hatte das beinahe vibrierende Schweigen gebrochen. Theo sah, dass es der Rentner gewesen war, ein drahtiger, glatzköpfiger Mann am Ende seines Lebens. Er schlug sich mit den Handballen gegen seinen von Venen durchzogenen Schädel. »Wach auf! Wach auf!«
Er schrie laut und heiser auf. Verzweifelt. Auch das Mädchen, das bisher stumm und bewegungslos an der Brunnenwand gelehnt hatte, begann jetzt, sich zu regen. Es vergrub die kleinen Hände in seinen blonden Locken und weinte leise vor sich hin. In seinem strahlend weißen Schlafanzug sah es aus wie ein Engel und irgendetwas an diesem Bild... kam Theo bekannt vor. Leise köchelte diese Erkenntnis in seinem Inneren: Er kannte dieses Mädchen. Er kannte sie alle.
Nur erinnerte er sich nicht an sie. Sie waren vergraben in der hintersten Schublade seines Gehirns, die sonst alten Kindergartenfreunden oder flüchtigen Hotelbekanntschaften vorbehalten war.
Theo stand auf und ging. Ein seltsamer Traum, dachte er sich.

***



Theo tat ihr Leid, wie er in seinem Krankenhemd da lag und sich nicht rührte. Nina strich ihm ein abstehendes Haarbüschel glatt und ertappte sich dabei, dass ihre Hand beinahe liebevoll auf seinem Kopf verharrte.
Auf gewisse Weise hatte er ihr schon immer Leid getan und mehr war es an jenem Tag in der Enge des Aufzugs auch nicht gewesen, das sie seinen Kuss erwidern ließ. Nicht mehr als die Angst, die Hoffnung in seinen blaugrauen Augen sterben zu sehen, aus nächster Nähe, ohne die Möglichkeit einer Flucht. Es war mehr geworden als nur Angst und Mitleid, natürlich. Mit jedem Tag hatte sie ein bisschen mehr Zuneigung für ihn verspürt, sie hatte es lieben gelernt, wie er sie liebte, ohne ein Wort sagen zu müssen. Oder zu können. Ja, sie hatte ihn lieben gelernt. Obwohl er nicht konnte. Er schaffte es einfach nicht, keine Chance, nie, nie, niemals, nie, und sie hatten es so oft versucht. Aber es gelang ihm nicht.
Es, das war nicht etwa der Geschlechtsakt, der nie ein Problem und später sogar immer öfter die Lösung gewesen war. Nein, es war die Fähigkeit, zu sprechen.

Sie hatten sich nie gestritten, zumindest nicht richtig. Nina hatte es ab und zu versucht, aber ihre Wut war spätestens dann verpufft, wenn Theo seinen Notizblock herauskramte, um ihr seine Argumente mit krakeliger, aufgeregter Schrift aufzuschreiben statt zurückzubrüllen. Die ersten Male hatte sie ihn in den Arm genommen und die Wahrheit verdrängt, aber ab einem gewissen Zeitpunkt hatte sie einfach abgewunken, war aus dem Raum verschwunden und hatte Theo mit seiner unschuldigen - oder verständnislosen - Miene alleine gelassen. Und die Wahrheit verdrängt. Die Wahrheit...
Sie war größer und größer geworden, mit jedem Tag, der vergangen und jeder schweigsamen Nacht, die vorbeigekrochen war. Wie ein Luftballon, der immer weiter aufgepumpt worden war. Der immer mehr Risse bekommen hatte und dann, eines Tages, mit einem lauten Knall geplatzt war, nach dem nichts mehr so gewesen war wie vorher. Es war der Tag gewesen, an dem sie mit Michael geschlafen hatte. Der Tag, an dem sie es Theo ins Gesicht gesagt hatte, bevor sie für immer aus seinem - und irgendwie auch aus ihrem - Leben verschwunden war: »Ich krieg keine Luft mehr, die Stille erstickt mich.« Leb wohl und vergiss mich, denn ich bin der schlechteste Mensch, dem du je begegnet bist und es tut mir Leid, aber irgendwie auch nicht, weil ich endlich wieder atmen kann.

Auch Theo atmete noch, das beruhigte Nina. Flach, aber regelmäßig bäumte sich das Hemd auf seiner schmalen Brust auf, als wollte es Nina ein Stück der Hoffnung zusprechen, die sie immer mehr verlor. Klar, die Ärzte hatten gesagt, er würde jede Minute wieder aufwachen. Ihm fehle nichts und sie könnten deshalb nichts weiter für ihn tun.
Aber seit sie das gesagt hatten, war schon wieder fast eine Stunde vergangen. Und mit jeder Minute, mit der er schon wieder aufwachen würde, rechnete Nina mehr damit, dass er für immer einschlief. Und bäumte sich das Hemd nicht tatsächlich immer weniger auf?
Nina stand vom kleinen Hocker neben Theos Bett auf und ging ruhelos durch den Raum. Ab und zu blieb sie abrupt stehen und horchte auf, bis sie Theo wieder atmen hörte.
Dann blieb das Hemd steif auf seiner Brust kleben. Eine Sekunde lang und Nina stürzte sich auf Theo. Fünf Sekunden lang und sie schrie laut und heiser nach einer Schwester, oder nein, nach einem Arzt!
Zehn Sekunden und beide kamen reingestürmt.
Und dann, nach fünfzehn Sekunden, hustete Theo, spuckte die steckengebliebene Luft aus seinem Rachen wie ein totgeglaubter Vulkan seine glühende Lava. Nina umarmte ihn und die Ärzte ließen sie. Theo schaute sie mit jenem altbekannten Gesichtsausdruck, der zwischen Unwissen und Unschuld pendelte, an.
»Du warst zwei Stunden bewusstlos, Theo.«, sagte sie mit vor Erleichterung brechender Stimme. »Was ist passiert?«
Theo rappelte sich auf, um mit den Schultern zucken zu können. Dabei fiel ein Tropfen auf seinen Oberschenkel und lief langsam zur Seite herunter. Einige Sekunden beobachtete Nina diesen Vorgang bloß fasziniert, ohne zu wissen, warum er sie faszinierte. Dann kräuselte sich ein Fragezeichen auf ihre Stirn. Woher kam das Wasser? Die Antwort war, dass Theos Haare nass waren, als käme er gerade aus der Dusche und nicht aus den Tiefen der Bewusstlosigkeit, aber sie verwirrte Nina nur noch mehr.

4



Sofia hatte unterdessen ihr Ziel erreicht: Die undurchdringlichen Nadelwälder von. Meilenweit über ihr ragten die Fichten in den Himmel, als klopften sie bei Gott an und umgaben - oder umzingelten? - sie auf ihrer schmalen, holprigen Waldstraße. Manch einem hätte dies ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit gegeben, doch Sofia bedrückte es. Ja, sie fühlte sich von diesen Bäumen bedroht, die so viel älter, größer und mächtiger waren als sie und sie im Handumdrehen unter sich begraben konnten. Sofia fühlte sich klein, sie fühlte sich allein - und am allermeisten fühlte sie sich unbedeutend. In den letzten Wochen hatte sie zu verstehen begonnen, dass es eine Macht auf dieser Welt gab - und wahrscheinlich war jene die Welt selbst - die sie nicht beeinflussen konnte, aber von der Sofia dafür umso mehr beeinflusst, ja zerstört wurde.
Aurora entglitt ihr, von Tag zu Tag mehr - und Sofia konnte nichts dagegen tun.
Aber was sie auch nicht konnte, war, einfach dazusitzen und zu beobachten, wie es Aurora immer schlechter ging, wie das Leben aus ihr herausströmte wie die Luft aus einem undichten Luftballon, bis nichts als ihre Hülle mehr übrig blieb. Sofia musste kämpfen, also kämpfte sie. Das letzte Aufbäumen eines verletzten, an den Rand gedrängten Tieres, das jeglicher Logik und jeglichem Verstand trotzt. Es war zweifelsohne ein Akt der Verzweiflung, der sie hier in diesen abgelegenen Nadelwald in die Arme eines dubiosen Einzelgängers getrieben hatte – Viggo:
Sie war über das Internet auf ihn gestoßen. In jenen Tagen der ersten Verzweiflung, als ein Arzt nach dem Anderen, ja die ganze Medizin versagt hatte, was Auroras Krankheit betraf, hatte Sofia sich immer neuen Fachgebieten zugewandt, um zumindest zu verstehen, was ihrer Tochter fehlte, wenn sie schon nichts dagegen tun konnte. Eines dieser Gebiete war das Paranormale. Auf mythology.com, einer Webseite, die sich mit sämtlichen Verschwörungen dieser Welt befasste, hatte sie schließlich den Artikel eines gewissen Viggo Wallin gefunden, der sich mit einer Parallelwelt beschäftigte, die der Autor Mondland getauft hatte. Fast hätte Sofia den Artikel damals schon wieder weggeklickt, als sie neben ihm Verweise auf andere Themen der Seite fand (DAS ROSWELL-GEHEIMNIS: DIE ALIENS SIND LÄNGST UNTER UNS --- DIE MAJAS HATTEN TROTZDEM RECHT: DAS ENDE IST NAH), die auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität ihre heißgeliebten Außerirdischen sogar mit den Anschlägen des elften Septembers in Verbindung brachten (ISLAMISTEN AUS DEM ALL). Doch dann war ihr dieser eine Satz ins Auge gesprungen, der ihr Herz zum Rasen gebracht hatte:
Die Mondkinder träumen, aber es ist echt.
Waren das nicht genau Auroras Worte gewesen? Ich habe geträumt, aber es war echt.
Konnte das wirklich sein, war Aurora vielleicht genau das: Ein Mondkind?
Sie hatte Viggo kontaktiert und ihm die Symptome beschrieben – plötzliche Bewusstlosigkeit von zunehmender Intensität und Länge, spontane Schweißausbrüche (wobei Sofia zu zweifeln begonnen hatte, dass es wirklich Schweiß war), Schlaflosigkeit am Tag, ungewöhnlich lebendige Träume (Fieberwahn?). Ja, war seine Antwort gewesen. Aurora ist ein Mondkind.
Können Sie ihr helfen?
Ja, ich denke, das kann ich. Kommen Sie zu mir.
Und hier war Sofia und konnte noch immer nicht glauben, dass sie sich tatsächlich auf diese Reise ins Ungewisse begeben hatte.
Die Nacht brach langsam herein über Umeå und in Sofia regten sich erste ernsthafte Zweifel, während sich die Schatten der Bäume über die Fahrbahn bewegten wie riesige schwarze Fledermäuse.
War Viggo zu trauen? War er die Lösung oder nur ein verrückter, alter Mann... oder etwas noch Schlimmeres? Hatte er sie vielleicht reingelegt, sie umsonst in diese abgelegenste Ecke der Welt fahren lassen, wo nun niemand auf sie wartete außer den schwarzen Schatten, die bald in der Nacht verschwinden würden.
Sofia fuhr nun schon seit einer halben Stunde durch den Wald; die Straße wurde immer unwegsamer, würde bald eher als Trampelpfad tituliert werden können; und noch immer kein Viggo am Straßenrand. Um acht Uhr – vor einer Viertelstunde – hatte er irgendwo auf dieser Straße warten wollen, um ihr den Weg zum kleinen See inmitten dieses riesigen Waldgebiets zu zeigen, an dem er sein Haus gebaut hatte. Oder hatte Sofia sich einfach nur verfahren? Sie hatte keine andere Straße gesehen, die in diesen Wald führte, doch vielleicht hatte sie sie auch bloß übersehen in ihrer Aufregung, ihrer Panik, ihrer Müdigkeit und der heranbrechenden Dunkelheit.
Gerade wollte sie wenden, da sah sie jemanden am Straßenrand, der seine riesigen Hände so hoch hielt, als wollte er nach den Baumwipfeln greifen.
Viggo war ein Mann von geschätzten fünfundfünfzig Jahren, der sein langes, blondes Haar mit einem Haarband hinter einem sonnengebräunten Gesicht mitsamt grauem Vollbart fixiert hatte. Das war der Mann, der Aurora retten sollte. Naja.
Zumindest aber sah er freundlich aus und an seinem viel zu engen Pullover erkannte Sofia, dass er mit Sicherheit immer etwas zu essen im Haus hatte. Das war gut, denn Sofia hatte einen Mordshunger. Schlitternd kam ihr Wagen neben dem breit grinsenden Viggo zum Stehen.

***



Es tat Theo weh, Nina so zu sehen. Sie sah anders aus als noch vor einem halben Jahr, als er sie das letzte Mal gesehen hatte. Die langen, braunen Haare trug sie jetzt glatt und beinahe adrett gescheitelt. Die Sommersprossen auf ihrem Gesicht waren einer vornehmen Blässe gewichen und die Lachfalten waren von ihren Wangen in ihre Stirn gekrochen. Sie sah... erwachsen aus. Und so wie sie früher Enthusiasmus und Lebensfreude ausgestrahlt hatte, bestimmten nun eine beinahe überlegene Seelenruhe und tieferes Glück ihre Züge, als hätte sie eine höhere Wahrheit erkannt, die Anderen verwehrt blieb.
Sie sprach auch anders, weniger hektisch und weniger hoch, als sie Theos Brief vorlas, den er ihr zum Abschied geschrieben hatte.
»Nina!«, sprach sie ihren eigenen Namen aus, als rede sie mit sich selbst. Briefe waren schon immer die einzige Kommunikation von Theos Seite gewesen, da er für Zeichensprache stets zu faul gewesen war.
»Ich hab gestern gehört, dass du mit M. auf der Insel bist und ich bin sofort gekommen. Nicht, um dich zum Umkehren zu überreden, dafür ist es schon zu spät. Nein, ich bin gekommen, um mich zu verabschieden. Mir ist klar geworden, dass wir das nie wirklich hatten: einen Abschied. Du bist aus meinem Leben verschwunden und ich habe dich gehen lassen, ohne alles geklärt zu haben. Mir ist klar geworden, dass das das größte Problem war, wegen dem ich niemals mit dir abschließen konnte.«
Nina hielt sich krampfhaft am Türrahmen des Eingangs fest und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Theo blieb still vor ihrem Haus stehen und genoss diese letzten Minuten, die er jemals mit ihr verbringen würde.
Vor ein paar Stunden war er aus dem Krankenhaus entlassen worden. Die Ärzte hatten nichts Besonderes festgestellt und ihn frühzeitig gehen lassen, um Platz für einen der vielen Alkoholvergifteten zu schaffen, die Tag für Tag in Mallorcas Krankenhäuser rauschten, in einem Nebel aus Alkohol und Erbrochenem. Nun stand Theo vor Ninas Haus, vor seinem alten Leben, um, wie er geschrieben hatte, mit diesem alten Leben abzuschliessen und, wie er nicht geschrieben hatte, Mallorca bald hinter sich zu lassen, um ein neues Leben zu beginnen.
»Mertzer hat mich zwei Wochen beurlaubt und ich glaube, er wird mich feuern, wenn ich zurückkomme.« Nina schluchzte. »Fang jetzt nicht zu weinen an...« Sie verkniff sich ein weiteres Schluchzen. »... denn es ist das Beste so. Für das Hotel, denn ich war ein schrecklicher, übel gelaunter Clown, seit du weg warst. Und vor allem für mich, weil mich jeder Quadratzentimeter im verdammten Mondrigó an dich erinnert hat.«
Eine Träne lief Ninas Wange herab und blieb an ihrem Kinn hängen, und das war der Tropfen, der auch Theos Fass zum Überlaufen brachte. Frustration und Trauer überkamen ihn gleichermaßen, er begann zu weinen, sie stürzte in seine Arme und strich ihm wild über den Rücken. Theo sog die Luft tief in seine Kehle ein und wünschte, sie niemals wieder loslassen zu müssen, diesen Moment bis in alle Ewigkeit hinausdehnen zu können. Sie roch wie früher und glückliche Erinnerungen krochen vor Theos Augen. Seine Tränen wurden süßer und schufen ein Lächeln auf seinen Lippen, das man nur Glück nennen konnte. Ja, zum ersten Mal seit Monaten empfand Theo so etwas wie Glück.
Er löste sich aus ihrer Umklammerung und deutete auf den handbekritzelten Zettel in Ninas Händen. Als Nina sich ihrerseits gefangen, die Tränen aus dem Gesicht gewischt und die Haare hinter die Ohren gestrichen hatte, fuhr sie mit zittriger Stimme fort.
»Die nächsten Zeilen sind durchgestrichen.«
Natürlich waren sie das. Was hatte Theo nur gedacht, ihr auch noch diese Bürde aufzuladen? Seltsame Dinge passieren mit mir, hatte er geschrieben. Ich träume diese Sachen... ich glaube, ich verliere mich selbst.
Als Theo sich den Brief selbst noch einmal durchgelesen hatte, hatte er diese Sätze mehrfach durchgestrichen, hatte sie vergraben unter einer dicken Schicht aus schwarzer Tinte, die niemand jemals durchstoßen könnte.
»Okay, okay, da geht es weiter...«
Nina las die letzten Sätze vor, den (zu) rührseligen, aber doch irgendwie passenden Abschied, dann war es vorbei. Sie brach noch ein letztes Mal in Tränen aus, aber Theos Wangen blieben trocken. Er hatte abgeschlossen, endlich abgeschlossen. Ein weiteres, letztes Mal umarmte er sie - sie erwiderte es beinahe leidenschaftlich - dann wandte er sich ab und ging für immer.
Das Lächeln war noch immer in seinem Gesicht - ein echtes, kein Clownslächeln! Und er liebte Nina dafür, dass sie ihn mit keinem weiteren Wort gefragt hatte, wieso er bewusstlos vor ihrer Tür gelegen hatte, weil Theo es selbst nicht wusste.

***



»Wie ich auf das Mondland gestoßen bin? Nun, das ist eine lange Geschichte.«
Sofia saß mit Viggo am Küchentisch und genoss das Dinner.
Die Geschichte war wirklich lang: Viggo hatte vor vielen, vielen Jahren, als er noch in Stockholm lebte - »...als mein Bauch noch flach und mein Bart noch golden war...« - eine Junggesellenwohnung mit seinem Freund Peer bewohnt. Die zwei waren beste Freunde gewesen, da sie beide etwas anders als die anderen gewesen waren, beide ohne Freundin, dafür aber mit einem gewissen Hang zur Exzentrik, wie Viggo es ausdrückte.
»Das war auch alles schön und gut.«, erzählte er dann im Plauderton, bevor er den Riesenbissen in seinem Mund herunterschluckte. Dann wurde sein Gesicht plötzlich erst. »Bis er auf einmal zu exzentrisch wurde, zu anders.«
Viggo legte nach, während Sofia dankend ablehnte. Sie war satt.
Nach einer Kunstpause ging es weiter: »Eines Abends erzählte mir Peer, das er auserwählt wäre. Ich habe auf sein übliches, trockenes Lachen gewartet, aber der Typ in dem Sakko und der Anzughose - das waren die Schlafsachen, die er zu jener Zeit trug, wann immer er ins Bett ging - dieser Typ meinte es tatsächlich ernst. Er fuhr fort, dass er in einem Paralleluniversum landete, wann immer er einschlief, in einer perfekten Welt, in der er und die anderen Mondkinder, wie sie sich wohl selbst getauft hatten, wie Götter waren.« Sofia horchte auf. »Mondkinder... so wie Aurora?«
»Immer um Mitternacht holt mich der Mond zu sich, erzählte Peer. Seine Strahlen, sie fangen mich ein, tragen mich an jenen Ort und von Tag zu Tag bleibe ich dort länger.
Er hatte diesen irren Gesichtsausdruck, starrte mich aus riesigen Augen ohne Augenbrauen an und verpasste mir den Schreck meines Lebens. Ich hab echt nicht gewusst, ob ich lachen oder weinen sollte, doch an jenem Abend, in jener Nacht, bewies Peer mir, dass er Recht hatte.«
Sofia ahnte, was jetzt kam. Sie hatte es selbst erlebt, an der erschlaffenden Hand ihrer Tochter, gerade als die Uhr zwölf schlug.
»Er wartete mit mir bis Mitternacht. Er kippte weg, wie er es prophezeit hatte und er tat nicht bloß so, das schwöre ich. Jeden Tag scheint der Mond etwa eineinhalb Stunden länger, hat er gesagt. Ich werde um halb neun aufwachen und meine Haare werden nass sein.« Viggo hatte seinen Teller in beeindruckender Geschwindigkeit geleert und klatschte zum Showdown mit seinen riesigen Händen. »Peer wachte um Punkt halb neun auf und seine Haare waren nass. Es war ein Sommer wie dieser, furztrocken und ich hatte ihn seit Stunden beobachtet. Peer war nicht draußen gewesen. Peer war nicht kurz im Bad gewesen. Nein, Peer kam damals aus dem Mondland zurück.«
Viggo legte Messer und Gabel beinahe liebevoll auf den Teller und wischte sich den Mund ab. Seine Geschichte war vorbei, doch Sofia wollte mehr, mehr als nur das, was sie schon vorher gewusst hatte.
»Was das Mondland ist?« Langsam nervte es sie, dass Viggo jede ihrer Fragen in langgezogener, fast angestrengter und genervter Form wiederholte. Sie nickte bloß.
»Das Mondland ist... das Paradies. Hat Gott es geschaffen? Genausogut könnte man fragen, wer die Welt selbst erschaffen hat, und niemand hätte eine klare Antwort. Die eine Welt und die andere, sie hängen voneinander ab. Niemand weiß, wie lange das Mondland schon existiert. Nur eins ist klar: Das Paradies war einmal. Und dann kam die Schlange.«
Sofia dachte mit einem vor Angst geöffneten Mund an ihre Tochter, die still, stumm und bewegungslos in dem großen Doppelbett in Viggos Gästezimmer lag.
»Was passiert mit ihr? Was passiert mit meiner Aurora?«
Viggo wiederholte die Frage nicht. Er sagte gar nichts.
»Was kann ich für sie tun?« Sofias Ton wurde flehend, ja, verzweifelt. Doch Viggo blieb stumm. Er schüttelte nur den Kopf und dann, nach einiger Zeit, wandte er ihn nach rechts, in Richtung des Gästezimmers. »Kann ich sie sehen?«
Einem Impuls folgend wollte Sofia diese Bitte zunächst ablehnen, doch sie schüttelte bloß innerlich den Kopf ob ihrer Irrationalität und ließ ihn gewähren. Natürlich musste er Aurora sehen, schließlich ging es ja um sie. Und nur um sie.
Viggo strich Aurora eine blonde Strähne hinters Ohr, als sie an ihrem Bett angekommen waren. Und während er das tat, flog ein Glitzern in seine Augen, das Sofia ganz und gar nicht gefiel. Sie biss sich auf die Lippen, bis Viggo sich endlich von Aurora abgewandt hatte.
»Wie lange ist sie schon so?«, fragte er dann nachdenklich.
»Ein bisschen mehr als zwei Wochen.«
Aus irgendeinem Grund schien Viggo diese Antwort zu gefallen.
»Mehr als zwei Wochen.«, wiederholte er. »Mehr als zwei Wochen.«
Dann starrte er sie an, aus stechend blauen Augen, die in sie hinein zu sehen schienen, wie Taschenlampen, die all das Dunkel in ihrem Innern beleuchteten. Sofia erschauderte.
»Sagen Sie mir nur eins, Sofia.« Er kniff seine buschigen Augenbrauen zusammen, gleichzeitig legte er ihr den Arm eher kameradschaftlich als zärtlich auf die schmale Schulter. »Sie sagen immer ihre Tochter. Ihre Aurora. Kann es sein, dass sie bloß eine Tochter ist?«
Andere hätten vielleicht nicht verstanden, worauf Viggo hinauswollte, Sofia schon. Und sie überlegte sich, dass sie sowieso nichts mehr zu verlieren hatte.
»Ich habe Aurora adoptiert, als sie drei war. Ich...«
Ihre Stimme brach und Viggo hob beschwichtigend die Hand, die vorher noch auf ihrer Schulter geruht hatte. »Okay. Das reicht. Alles... okay.«
Ein Moment der Ruhe entstand zwischen ihnen, als sie wie gebannt auf Aurora starrten. Ihr kleiner Brustkorb hob und senkte sich und ein leiser Windzug entfächerte ihr Haar. Das zarte Gesicht zeigte einen angestrengten und sonderbar entschlossenen Ausdruck.
»Ja.«, sagte Viggo plötzlich und er schien mehr mit sich selbst zu sprechen, so als wäre Sofia gar nicht da. »Ja, das ist es.«

5



Kurz vor Mitternacht an ebenjenem Tag, an dem er das Mondragó und Nina für immer hinter sich gelassen hatte, saß Theo ein letztes Mal am Strand von S'Amarador. Den würde er vermissen, keine Frage. Es war, als tanzten die Erinnerung an seine Zeit hier - viele schreckliche, aber noch viel mehr wunderschöne - auf jeder Wellenspitze, die sich auf den menschenleeren Strand legte. Im fahlen Mondschein glänzte das Wasser so matt und geheimnisvoll, als wäre es aus einer anderen Welt.
Theos Gedanken schweiften nun weiter in die Vergangenheit ab, bis sie in einer Zeit ankamen, in der das Mondragó und Nina noch keine Rolle in seinem Leben gespielt hatten, doch sie blieben an diesem Ort, zwischen den Wellen von S'Amarador. Ein kleiner Junge spielte dort mit einem kleinen, roten Ball und kreischte vergnügt, ohne zu wissen, dass er schon bald für immer verstummen würde.
Die Mittagssonne eines heißen Sommertages strahlte unbarmherzig auf seine knochigen Schultern und der Wind kreischte mit dem Jungen um die Wette. Meterhoch trieb er die Wellen an den Strand, wo sie genau an der Stelle, an der der kleine Junge stand, brachen. Wieder kam eine dieser Wellen und vergnügt ließ er sich von ihr auf den festen Sandboden werfen. Als er sich wieder aufrappelte, um sich zu seinen Eltern umzudrehen, sah er einen Mann bei ihnen stehen. Hinter ihnen, um genau zu sein. Sie schienen den Mann nicht zu bemerken, stattdessen winkten sie dem Jungen zu, mit jenem etwas geistesabwesenden, aber ungemein liebenswürdigen Blick eines jeden Elternpaares auf dieser Welt. Der Junge kreischte vor Freude.
Dann gefror das Lächeln seiner Eltern, zerfiel gewissermaßen zu Staub und sie selbst fielen zu Boden wie Marionetten, deren Stränge losgelassen worden waren. Der Junge schrie vor Schmerz. Als der Mann, der gerade seine Eltern umgebracht hatte - später stellte sich heraus, dass es sein Onkel gewesen war - zu ihm hinübersah, tauchte der Junge ein in die nächste Welle, kauerte sich zwei Minuten lang auf den aufgewühlten Grund des Meeres und schwor sich, nie wieder einen Laut von sich zu geben. Nie wieder sollte ihn jemand auf diese Weise ansehen. Mit diesem einen Blick aus purem Hass und tiefer Verachtung. Einem Blick, der dir den Tod wünscht, koste es, was es wolle.

Theo riss sich aus seinen Erinnerungen heraus, schaffte es, den Kopf über ihren reißenden Fluss zu halten, bevor er noch in ihnen unterging. Die Vergangenheit war – spätestens seit dem heutigen Tag - genau das: Vergangen. Weiter in ihr zu leben, wenn auch nur für ein paar Sekunden, hinderte ihn daran, den Moment zu genießen, und die Zukunft zu planen.
Theo dachte lieber an die Gegenwart, doch auch hier lauerten Dinge, die er nicht verstand. Wieso zum Beispiel war er zwei Tage hintereinander um Punkt Mitternacht eingeschlafen und hatte von ein und demselben Ort geträumt? Warum zweifelte er immer mehr daran, dass es überhaupt ein Traum gewesen war? War es, weil seine Haare nass gewesen waren, weil die Anderen so echt gewesen waren, als hätte genauso gut er Teil ihres Traumes sein können? Weil es Dinge zwischen Himmel und Erde gab, die weder Theo noch irgendjemand sonst erklären konnte? Oder weil Theo langsam aber sicher in die Arme der Verrücktheit glitt?
Sein Blick richtete sich auf den Mond, so neu wie seine Träume, so undurchdringlich wie die Wahrheit und wie aus einer anderen Welt. Bald trafen sich alle Zeiger am Horizont, schon bald schlug es zwölf. Würde der Mond Theo dann wieder zu sich holen?
Das wäre der Beweis, auf den Theo wartete. Der Beweis dafür, dass die andere Welt echt war. Der Beweis dafür, dass er nicht verrückt war, zumindest nicht verrückter als diese Welt, und dass die Anderen genauso waren wie er. Theo schwor sich, mit ihnen zu reden. Ja, für einen Moment vergaß er seine Vergangenheit, vergaß er, dass er stumm war. Er fühlte sich als Teil von etwas Großem.
Dann trafen sich alle Zeiger am Horizont und der Mond glühte auf wie ein kosmisches Streichholz.

***



Angst. Das war das Gefühl, wenn sie sich einfach so tief in ihre Bettdecke einwickeln wollte, bis niemand sie mehr sehen konnte. Wenn sie die Augen zukniff und sich die Ohren zuhielt und hoffte, dass alles nur ein Traum war, aus dem sie bald aufwachen würde.
Früher, wenn das Mädchen einen Albtraum gehabt hatte, hatte es die Augen manchmal weit aufgerissen, so weit, dass sie die Grenzen dieser falschen Realität durchbrach und ihre Augen auch im echten Leben öffnete und erwachte.
Das Mädchen hatte Angst, weil es nicht mehr klappte. Sie wachte nicht mehr auf. Denn das hier war kein Traum.
Das Mädchen hatte Angst vor den Leuten, die mit ihr aufgewacht waren, hatte Angst vor dem Ort, diesem Wasser-Dings, neben dem sie aufgewacht war, nur dass es kein Wasser-Dings sondern ein Feuer-Dings war, Angst vor... allem.
Das Mädchen war die Angst. Das Mädchen war die Angst und die Angst war der Alb.

Es war das dritte Mal, dass das Mädchen und die Anderen hier aufwachten, und wenn das zweite Mal noch als Zufall abgetan werden konnte, so war nun sicher, dass es mehr als das war. Und das Gegenteil von Zufall war Schicksal, das wusste das Mädchen schon.
Es war Schicksal, dass sie hier war, weil irgendwer sie nicht mochte. Auch den alten Mann mit den kalten Augen und die spanische Frau mit der Lügner-Kette mochte dieser Jemand nicht (was das Mädchen verstehen konnte), genauso wenig wie die beiden anderen Männer (was sie nicht verstand). Der kleine Mann mit dem Hawaiihemd sah lieb aus, genauso wie der ungemein größere Mann mit den Sorgenfalten, von denen jede ihn um ein Jahr älter schienen ließ, wie die Ringe eines Baumes.
Die Blicke der Vier waren weniger von der Verwirrung der letzten Nacht bestimmt als vielmehr von Angst, Verwunderung... und noch etwas Anderem. Das Mädchen war sich sicher, dass die Anderen gespannt waren, in freudiger Erwartung, wie die Zuschauer eines guten Films. Sie schienen nicht zu begreifen, dass dieser Traum mehr als ein Film war. Wenn überhaupt, dann war es einer, in dem sie selbst die Hauptrollen innehatten.
Ihre Unwissenheit zeigte sich auch daran, dass sie noch immer kein Wort miteinander gewechselt hatten, sondern bloß beobachteten, als wäre nichts an dieser Welt real. Das Mädchen glaubte, dass sie es wohl einfach nicht wahrhaben wollten.
Und er machte ihr Angst, der Alb.
Sie riss die Augen auf, bis sie tränten, dann kreischte sie einmal, um all dem, was in ihr war - Verzweiflung, Angst, Trauer, Einsamkeit - irgendwie Ausdruck zu verleihen. Ausgerechnet der alte Mann beugte sich zu ihr runter und in seinen Augen leuchtete eine Flamme auf, die vorher nicht da gewesen war, die die Kälte in ihnen zu mildern schien. »Es ist nur ein böser Traum.«, flüsterte er ihr in die blonde Locke neben ihrem rechten Ohr. Noch immer redete er aber vor allem mit sich selbst.
Und er machte ihr Angst, der Alb.
»Bist du echt?« Das war die Stimme des Großen, das wusste das Mädchen, ohne hinzusehen. Er sprach mit dem Hawaiimann, doch der Hawaiimann konnte nicht antworten. Das Mädchen erkannte es an seinem Mund, der nicht den Anflug einer Bewegung zeigte: Der Hawaiimann war stumm und er machte ihr Angst, der Alb.
»Jack ist mein Name.« Der Große, Jack, gab dem Stummen die Hand, auch wenn er nicht Jack hieß. Auch das wusste Aurora.
»Willst du nicht sprechen?«, fragte Jack ihn und natürlich schüttelte er den Kopf.
»Und ihr?« Jack blickte sich fragend in der Runde um, und es erinnerte das Mädchen an die Männer auf den Spielplätzen, die in Ermangelung einer besseren Tätigkeit untereinander Gespräche begannen. Auch diese Menschen wollten nicht hier sein. Doch es blieb ihnen keine andere Wahl und sie begannen, sich damit abzufinden. Das Mädchen sah das als gutes Zeichen.
Der Alte hieß Walter und die Frau Lucía, was sie jedoch nur mit widerstrebender Miene preisgab.
Jack fuhr fort: »Ich bin aus Melbourne, aus Australien, ihr auch?«
Walter lachte. »Ich hör deinen Koala-Akzent gar nicht.« Und nach einer kurzen Pause, in der alle, Jack eingeschlossen, ihn verständnislos anschauten: »England... ich komme aus England.«
»Seltsam.«, erwiderte Jack. »Sie klingen wie ich, vom Akzent her... was ist mit Ihnen, Lucía?«
Die Frau winkte ab, sie war in ein neuerliches Gebet vertieft. Das Mädchen ignorierte ihre geflüsterten Worte, denn die Worte formten Lügen und die Lügen waren scharf und kantig und man musste aufpassen, dass man sich nicht an ihnen verletzte.
Der Stumme ging drohend auf die Frau zu und aus irgendeinem Grund verstummte sie plötzlich, die Augen schreckgeweitet, der Mund zu einem Strich zusammengepresst.
»Das ist kein wirklicher Traum hier, habe ich Recht?« Jack entwickelte sich zu so etwas wie dem Anführer ihrer kleinen Gemeinschaft und Walter, der noch immer neben dem Mädchen stand, lachte wieder auf. Verbitterung echote in jedem einzelnen Laut.
»Was denn sonst?«
»Gestern... hab ich dort hinten...« Jack deutete in die Ferne, weit hinter den Fassaden dieses Dorfplatzes. »... hab ich dort hinten in der Erde gewühlt.« Er unterbrach sich, weil er sich wahrscheinlich selbst nicht ganz glaubte, nicht ganz glauben konnte und wollte. »Als ich aufwachte, war der Dreck noch da, unter meinen Fingern.« Er schüttelte den Kopf und Walter stimmte ein.
»Was denn sonst?«, wiederholte er, um einiges weniger belustigt.
Da brach es aus der Spanierin heraus: »Wir sind im Himmel!« Der Alb machte dem Mädchen Angst, aber am meisten Angst machte ihr das Gefühl, all das schonmal erlebt zu haben. Die hysterisch kreischende Frau, die sich im Himmel wähnte, wo sie auf keinen Fall war. Der Stumme, der sich wieder auf den Boden setzte und sogar das plätschernde Geräusch, das dabei entstand. Alles.
»Jetzt im Vorhof und bald an der Pforte! Eine letzte Prüfung noch!«
Das Mädchen wusste, was jetzt kam und tatsächlich baute sich Walter schützend vor ihr auf. »So, jetzt ist aber mal gut!«, sagte er bestimmt. »Du machst der Kleinen ja noch Angst.« Und dann, zu ihr: »Hör nicht auf sie. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Und auf einmal fiel ihr alles ein und sie hatte mehr Angst als je zuvor, und mehr Grund dazu. Sie wusste jetzt, was geschehen würde. Und sie fing an zu weinen.
Der Alb, er nahte.

***



»Du redest nicht viel, oder?«
Jack hatte es noch immer nicht verstanden, aber Theo vergab es ihm und beließ es bei einem Kopfschütteln. Wie oft hatte er das schon getan: Kopfschütteln, Nicken, Schulterzucken? Kopfschütteln, Nicken, Schulterzucken. Schulterzucken, Kopfschütteln, Nicken. Nicken, Schulterzucken, Kopfnicken. Immer, immer wieder.
Nach einer guten halben Stunde, als die Fünf gemerkt hatten, dass sie nicht sofort wieder einschliefen, hatten sie sich aufgeteilt und nun erkundeten Theo und Jack gemeinsam einen Teil dieser fremden Welt. Die Frau war alleine in Richtung des Mondes - sie vermuteten, dass das Norden war - gegangen, Walter und das kleine Mädchen in die entgegengesetzte Richtung und Theo und Jack hatten sich für den vermeintlichen Westen entschieden. Sie hofften, auf diese Art mehr über diesen seltsamen Ort zu erfahren, an dem sie alle aufwachten, wann immer sie einschliefen.
»Kannst du nicht oder willst du nicht?«
Aha. Theo hob einen Finger, wich so vom üblichen Ritus ab und Jack verstand es sogar: »Du kannst nicht?« Endlich durfte Theo wieder nicken.
Und das war der Zeitpunkt, an dem die Beileidsbekundungen begannen, im Traum genau wie in der echten Welt. Ja, vielleicht war diese typische Menschlichkeit sogar das, was Theo vollends davon überzeugte, es in seinem Traum mit echten Menschen zu tun zu haben. Was dann wiederum den Begriff des Traumes ausschloss.
»Das tut mir Leid.«, begann Jack tatsächlich. »Aber es macht mir nichts aus, glaub mir. Ich hab in meinem Beruf mit so vielen zu tun, die zu viel reden.«
Theo kräuselte die Stirn, bis Jack es sah.
»Ich bin Anwalt.«, erklärte der und Theos Stirn wurde wieder weichgespült. Stille entstand zwischen ihnen, und Theo beschloss, den Anwalt zu mögen.

Die andere Welt - Theo begann, sie Eden zu nennen, wie das Paradies - war eine Wundertüte. Als sie den mittelalterlichen Marktplatz hinter sich gelassen hatten, hatten sie sich auf einmal in einer riesigen Großstadt wiedergefunden. In einer riesigen, zerstörten Großstadt, um genau zu sein. Die Fassaden der Wolkenkratzer - diese künstliche Stadt bestand fast nur aus ihnen - waren noch zerstörter, als Theo beim letzten Mal angenommen hatte. Riesige Risse kletterten wie Efeu an den Wänden der Gebäude herauf und Schimmel bedeckte die verbliebene Fläche wie dessen blühende Blüten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein Gebäude nach dem Anderen in sich zusammenfiel wie ein schlecht gestapeltes Kartenhaus.
Theo fragte sich gerade, von wem die Stadt gebaut und, vor allem, von wem sie zerstört worden war, da entfaltete sich schon wieder eine neue Welt vor seinen Augen:
Hinter einer letzten Front aus einsturzgefährdeten Hochhäusern glitzerte das Meer in den Strahlen des allgegenwärtigen Mondes, der noch immer überdimensional über ihren Köpfen thronte. Obwohl dieser, wie in der echten Welt, neu und somit kaum mehr als eine schmale Sichel war, nahm er bereits die Hälfte des gesamten Himmels ein und tauchte die Welt darunter in jenes undurchdringliche Silber.
Theo und Jack ließen die Stadt hinter sich und standen so plötzlich am Meer, als wäre das nächste Haus Meilen - und nicht Meter - von ihnen entfernt. Hier war der Strand nur ein paar Meter breit, doch man konnte erkennen, dass er zu beiden Seiten immer breiter wurde, bis er der Unendlichkeit einer Wüste nahe kam. Theo rannte voraus wie ein kleines Kind, stellte sich staunend vor die tosenden Wellen und fühlte sich zuhause. Er drehte sich um und betrachtete die Skyline dieser verrückten Stadt, die nur etwa zehn Meter vor ihm in einer schmalen Promenade endete. Wieder fiel ihm auf, dass die Häuser feucht glitzerten. Ja, das Wasser war allgegenwärtig, war die Konstante in einer Welt der spontanen Veränderung. Alles war nass. Theo schaute nach links, wo der Strand unendlich war und entdeckte vereinzelte Villen, die wie riesige Sandburgen mitten in dieser gigantischen Wüste standen. Auch sie glänzten vor Feuchtigkeit, doch sie sahen weit weniger zerstört aus. Theo nahm sich vor, diese Häuser bald in Augenschein zu nehmen, da trat Jack neben ihn und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Seine Augen waren weit aufgerissen.
»Ich hab so einen Ort noch nie in meinem Leben gesehen.«, sagte er ehrfürchtig. »Er macht keinen Sinn.«
Dann fing er an, zu lachen und auch Theo musste grinsen.
Nein, dieser Ort ergab keinen Sinn - und trotzdem gab es ihn.

***



Zur selben Zeit saß Viggo in jener echten Welt, die nur einen Deut mehr Sinn ergab, mit seiner Traumfrau am Küchentisch und betrachtete die Sommersprossen auf ihrem sonnengebräunten Gesicht. Sofia war ein Engel und Gott hatte sie ihm als Antwort auf all seine Gebete geschickt.
Hier, hatte er gesagt.
Hier hast du sie. Viel Spaß!
Viggo dankte dem Herrn dafür, während er die Geschichte, die er am vorherigen Abend zu erzählen begonnen hatte, zu Ende brachte:
Peer hatte ihn von der Wahrheit überzeugt, doch was hatte das genutzt? Er war von Tag zu Tag mehr in jener anderen Welt versunken und Viggo hatte nicht daran teilhaben können. Und als das Schlimmste eintrat, hatte er ihm nicht helfen können. Als Peer schon längst verloren war, hatte Viggo dann endlich angefangen, auf eigene Faust zu recherchieren und war auf jenes Geheimnis fast biblischen Datums getroffen: Das Geheimnis des Mondlandes. Oder der Anderswelt, oder der Insel, oder wie auch immer man diesen Ort nennen wollte. Er war auf eine Sekte in Russland gestoßen, die das Geheimnis zu bewahren schien. Er hatte sie besucht und sie hatten ihn eingeweiht. Er hatte ein Buch geschrieben, doch niemanden hatte es interessiert, außer ein paar Buchkritikern, die es esoterischen Schwachsinn nannten und noch ärgerlichere Fehleinschätzungen tätigten.

Nein, Viggo war nicht-verrückt. Viggo war kein-Freak. Manchmal war er ein wenig einsam in seinem leeren Haus, aber auch diese Zeit war jetzt vorbei, so wie die Geschichte, die er zu erzählen hatte.
Sofia wirkte nicht zufrieden ob dieser wortkargen Kurzfassung, aber das war Viggo egal, denn sie stand ihr einfach zu gut, diese Enttäuschung.
»Erzählen Sie mir mehr von Aurora.«, forderte er sie stattdessen auf.
Aurora. Der zweite Engel Gottes, sein zweites Geschenk auf Viggos zweites Gebet. Er war nicht mehr einsam. Und mit Aurora war er auch nicht mehr verrückt.
Sofia seufzte und strich sich eine hübsche, leicht verklebte Locke von der erröteten Stirn - es war warm hier drin, Viggo hatte die Heizung extra ein bisschen höher gedreht als sonst. Dann begann sie ihre Geschichte mit Abend Nummer Eins, wie sie den Tag nannte, an dem Aurora auserwählt worden war. Es tat ihr gut, sich alles vom Leib zu reden, alle versteckten Sorgen und verdrängten Erlebnisse; das spürte und freute Viggo. Und er ließ sie gewähren:
»Ich hab das natürlich nicht ernst genommen.«, fuhr Sofia fort. »Wie kann man träumen und gleichzeitig leben?, hab ich mir gedacht. Und: Das sind doch nur die Fantasien eines kleinen, verschreckten Kindes. So wie das Monster unter dem Bett.
Doch dann kam der nächste Abend. Es war ihr Geburtstag, müssen Sie wissen, ein sonniger Frühlingstag und eine schöne, sternenklare Nacht. An ihrem Geburtstag durfte Aurora immer so lange aufbleiben, wie sie wollte und an diesem Tag weigerte sie sich, ins Bett zu gehen. Sie hatte Angst, wieder an jenem anderen Ort aufzuwachen, mit dem riesigen Mond und dem bösen Wind, von dem sie mir erzählt hatte. Wir näherten uns bald Mitternacht und ich nahm mir vor, sie spätestens dann mit zu mir ins Bett zu nehmen, um sie zum Schlafen zu kriegen. Doch das musste ich nicht.«
Sofia fuhr sich mit dem Handrücken über ihre langen, voluminösen Wimpern und blinzelte stakkatoartig. Aus ihren strahlend blauen Augen lief eine einzelne Träne.
»Ich versuchte gerade, sie vom Bein des Wohnzimmertisches zu lösen, an das sie sich wie verzweifelt geklammert hatte. Ich weiß noch, dass ich so etwas sagte wie ´Du brauchst den Schlaf, Aurora´, da leuchtete auf einmal silbernes Licht von außen durch unsere dicken Vorhänge. Und es klingt verrückt, aber für mich war es, als schiene der Mond hinein, als besuchte er uns, als würden seine Strahlen Aurora wie dicke Seile umschlingen und sie mir nehmen. Nun, Aurora ließ auf einmal das Tischbein los und fiel in einen tiefen Schlaf. Ich ignorierte das mulmige Gefühl in meinem Bauch, redete mir ein, dass Aurora aus Erschöpfung plötzlich weggekippt war und legte sie ins Bett, als wäre nichts geschehen.«
Viggo fand, dass es für ihn an der Zeit war, auch etwas zu sagen, etwas Gefühlvolles vielleicht. Leider fiel ihm nichts ein und er grinste bloß sein mitleidiges Seemannslächeln. Sofia fuhr indes fort: »Aurora erzählte mir am nächsten Tag, dass sie wieder an jenem Ort gewesen war, nur viel länger als beim ersten Mal. Es war beunruhigend, aber wenigstens hatte sie anscheinend die Angst davor verloren. Vielmehr wirkte sie aufgeregt. Jetzt wollte sie unbedingt schlafen und am Abend sollte ich zu ihr ins Bett kommen, um vielleicht mit ihr in die andere Welt zu reisen. Aurora versuchte an diesem Abend verzweifelt, einzuschlafen, doch immer, wenn sie es tat, wachte sie schnell wieder auf. Falscher Traum, sagte sie dann und schloss trotzig die Augen, als wäre sie sauer auf die eigene Fantasie, die sie nicht an jenen Ort zurückbrachte. Irgendwann war es wieder Mitternacht und siehe da - sie kippte weg und blieb diesmal in ihrer Traumwelt. Das war für sie vielleicht schön, mich beunruhigte es aber immer mehr.«
Viggo spürte, wie seine Konzentration nachließ - und seine stoische Selbstkontrolle ebenfalls. Immer öfter ertappte er sich selbst dabei, Sofia nicht zuzuhören und seinen Blick, wie er von Sofias Augen ein Stockwerk tiefer glitt.
»Ich hab sie zum Kinderarzt gebracht, am nächsten Tag. Doch der hat nichts gefunden und mir mitgeteilt, dass mein Kind bloß eine ausgefallene Phantasie hat. Vielleicht wird sie mal Autorin, hat er gesagt. Ich weiß noch, dass ich ihm nicht geglaubt hab. Ich war noch immer sehr beunruhigt und, mein Gott, ich hatte auch Recht, aber was hätte ich denn tun sollen?«
Sofia weinte jetzt, bedeckte ihre Augen hinter ihren zarten Fingern und Viggo erlaubte seinen Augen einen weiteren Blick in ihren wunderschönen Ausschnitt. Gestern Abend hatte er sie noch schlafen lassen, aber heute, ja, heute würde er einen Versuch starten. Er tastete in seiner Hosentasche und spürte das Aufnahmegerät zwischen seinen Fingern. Viggo war nicht-verrückt, er war kein-Freak und er würde es allen beweisen. Dafür war das Mädchen da. Und die Mutter war sein Mittel gegen die Einsamkeit und das Zucken in seinem linken Augenlid. Er tastete weiter.

6



Winnfield lag in der Hängematte vor seiner Villa und ihm war kalt. Er brauchte eine Decke, die ihm Wärme spendete, Geborgenheit und Sicherheit, und diese Decke nannte sich Schlaf.
Winnfield konnte nicht schlafen, seit Wochen nicht. Er überlegte, wann er das letzte Mal den Zustand des Eindösens verlassen hatte und kam zu dem Schluss, dass es mindestens zwei oder drei Wochen her gewesen sein musste. Nun, genau genommen war es der Tag vor seiner Ankunft gewesen, als er das letzte Mal unter die flauschige Decke des Traumes geglitten war.


T A G E I N S

Stille. Dunkelheit. Der Tod auf leisen Sohlen.
Die Ruhe vor der nächsten Sturmwehe und Winnfield kniff seine Augen zusammen. Wartete auf den Schmerz und es enttäuschte ihn nicht. Es kam.
KILL YOURSSSSELF!
Die Stimme in Winnfield wurde lauter und lauter...
KILL HIM!
... und mit jedem Wort, mit jeder flüsternd donnernden Silbe schien sich sein Gehirn zusammenzuziehen, als hätte er eine ganze Kugel tiefgekühlten Eises in den Mund genommen. Ein leichter Kälteschauer fuhr über seinen Rücken und elektrisierte seine Haare, bis...
Oh Darling!
... es sie wieder erschlaffen ließ.
Charlie stöhnte neben ihm und Winnfield war froh über einen Laut, der nicht in seinem Kopf war und nicht von ihm stammte. »Durchhalten, Großer.«, raunte er in die Dunkelheit des Bunkers, in dessen Ecken sie wie lichtscheue Tiere kauerten. »Es ist bestimmt bald vorbei.«
OH DARLING... you musssst not tell liesssss.
Winnfield fuhr zusammen. Er wusste selbst, dass er gelogen hatte. Er wusste selbst, dass es gerade erst begonnen hatte.
KILL!
Draußen tobte ein infernalisches Gewitter und Winnfield hörte, wie die Stadt, die sie selbst erschaffen hatten, in sich zusammenfiel, als hätte sie niemals existiert. Als hätten Charlie, Winnfield und die Anderen alle niemals existiert, ausgelöscht von einer Macht, die ihrem lächerlichen Können weit überlegen war.
That'sss sssso kind of you, DAR-LING!
Winnfield meinte, einen zerberstenden Donner zu hören, doch vielleicht war er auch nur in seinem Kopf. Dann war die Welle vorbei und es ließ sie für kurze Zeit alleine. Winnfield atmete aus, versuchte die Angst und den Schmerz aus seinem Körper zu pusten und kroch auf die hagere Gestalt Charlies am anderen Ende des Raumes zu, die leise Tränen vergoss.
Winnfield schloss sie in seine muskulösen Arme, besorgt, sie nicht zu zerdrücken.
»Wir schaffen das.«, ermutigte er seinen Freund. »Man hat uns nicht zum Sterben hierher geschickt, glaub mir. Da ist noch mehr.«
Charlie unterdrückte seine Tränen und tapfere Augen starrten Winnfield aus der Dunkelheit an. Er würde kämpfen, kämpfen bis in den Tod, das wusste Winnfield. Erleichtert lehnte er sich an die nackte Stahlwand neben Charlie und glitt herab auf den feuchten Boden. Er horchte auf und wartete darauf, dass es wiederkam, doch es ließ auf sich warten. Alles, was Winnfield hörte, war dieses Rauschen, das sich mit dem Wasser über die gesamte Welt gelegt hatte, wie das Störsignal seines Fernsehers, bei diesem einen Sender, der immer da und plötzlich weg gewesen war - wie hieß der noch gleich? Winnfield fiel es nicht ein und er ärgerte sich maßlos darüber; dann fragte er sich, wieso er sich überhaupt Gedanken darüber machte. Er hoffte, dass er nicht auch noch verrückt wurde. Oder war er es schon längst?
Wie als Antwort auf seine Frage schien der volle Mond durch den schmalen Schlitz der Luke des Bunkers und spendete ein wenig Trost, ein wenig Hoffnung und ein wenig Licht in dieser dunklen Zeit.
Dann war es zurück.


T A G Z W E I

Es wurde von Minute zu Minute stärker.
Es, das war die Stimme in ihnen, war der ewige Schmerz in ihren Köpfen und Gliedern und die unendliche Müdigkeit in ihren Knochen.
Es war der Schleier vor ihren Augen und die Wut in ihrem Bauch.
Es war alles, was sie nie gewesen waren. Es beherrschte sie, ihr Denken, ihr Fühlen – und ihr Handeln.
Winnfield war schon ewig hier und so langsam wurde er wirklich verrückt und er wachte nicht mehr auf, das war ihm gerade klargeworden, er wachte einfach nicht mehr auf und er hatte keine Ahnung wie lange genau er schon hier unten in diesem Bunker hockte mit Charlie und ihm und einfach nicht mehr aufwachte, genau wie Charlie, und deshalb langsam aber sicher verrückt wurde, weil die eine Ewigkeit in die nächste überging...
Winnfield versuchte, einmal nichts zu denken und sich zu entspannen ... einatmen, ausatmen, vielleicht eine Mütze voll Schlaf, nur eine kleine, winzige...
DARLING!
... doch es ließ das nicht zu.
Winnfield und Charlie hatten es sich so gemütlich gemacht, wie es nur ging. Sie lagen auf zwei kleinen Matratzen unter dicken Wolldecken, die sie mehr schlecht als recht gegen seine Kälte schützten, weil diese Kälte in ihnen war. Vor einigen Stunden hatten sie begonnen, Drei Gewinnt zu spielen und erst gerade aufgehört, als die Wände über und über mit den von ihnen gezeichneten Rauten, Kreisen und Kreuzen bedeckt waren. Und mit diesem einen Wort, das Charlie im Wahn geschrieben hatte, als es in seine Finger gekrochen war: T O D, stand da, blutrot und pulsierend, und erinnerte sie in jeder einzelnen Sekunde an ihr Schicksal.
Jetzt lagen sie auf ihren Matratzen und versuchten, die Augen zuzumachen. Winnfield war so müde, dass er zu zittern begonnen hatte - unkontrolliert schlugen seine Zähne aufeinander - doch noch immer hatte er keine Minute Schlaf gefunden. Wann immer er gerade in den Traum im Traum versank, züngelte es ihm die immergleichen Worte ins Ohr:
Wake up.
Darling, monierte es dann, bevor es ihm den Donner ins Gehirn schickte. Und dann echote dieser Schmerz wieder minutenlang durch seinem Körper, fand jeden Nerv und zwang ihn zu neuen Schmerzen, bis jeder Gedanke an Schlaf, ja generell jeder Gedanke vertrieben war und Winnfield sich zusammengekrümmt und wimmernd in der Ecke des Raumes wiederfand.
Draußen hatte das Gewitter aufgehört und auch die Flut rauschte nicht länger über ihre Köpfe hinweg. Es herrschte Totenstille in ihrer untergegangenen Welt, die jetzt ihm gehörte und dementsprechend ging es ihm auch prächtig - und mit jedem Augenblick prächtiger.
Das Gute war - bis auf zwei wimmernde Gestalten in den Ecken eines Bunkers - von dieser Welt vertrieben worden. Winnfield fragte sich kurz, was aus ihrer Stadt geworden war, aus den ganzen schönen Hochhäusern, die sie um den Marktplatz gebaut hatten, aus dem Meer und dem Strand und ihren Villen. Er ahnte es. Sein Wasser hatte die Welt unter sich begraben, abgespült, wie Dreck aus einem Waschbecken.
Auch Winnfield und Charlie würde dieses Schicksal bald ereilen und sie würden von dieser Welt gespült wie kleine Klumpen von Erde. Sie waren nicht mehr als lebendige Tote, das wurde Winnfield jetzt klar.
Und fast freute er sich auf den Moment, da sie sterben würden, für immer von jenem Schmerz befreit, den die flüsternde, dröhnende, zischelnde Stimme des Bösen in ihre Glieder trieb.


T A G V I E R

Es war noch immer nicht vorbei; es war noch da und Charlie war noch da und Winnfield war noch da - leider - und es gab keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht; das war alles eine Suppe, in der sie bei lebendigem Leibe gekocht wurden und darauf warteten, dass das Leben von ihnen abfiel, in sich zusammenfiel zu einer Handvoll Asche.
»Wie lange dauert das hier wohl noch?«, fragte Winnfield sich laut. Seit einer Weile redete er einfach vor sich hin, sprach die Gedanken aus, die hektisch durch seinen Kopf flogen, um sie zu ordnen, sie zu verstehen und zu überprüfen, ob sie einen Sinn ergaben. Am Anfang hatte er noch so getan, als würde er dabei zu Charlie sprechen, doch im Endeffekt redete er mit sich selbst.
»Geht es ewig so weiter?«, fragte er sich. »Und bringt es überhaupt was, dass wir hier unten sind? Schlimmer kann es oben ja wohl kaum sein.«
Auf einmal durchströmte Winnfield eine Welle des Hasses. Er riss die Augen auf und starrte wie wild auf Charlies sich windenden Körper am anderen Ende des Raumes. Seine Stimme verschwand für einen Augenblick und nahm den Schmerz mit.
Winnfield schrie mit heiserer Stimme, erst unartikuliert, dann in Worten: »Sprich!«, brüllte er Charlie an. »Sprich, verdammt!«
Jeglicher Schmerz in seinem Körper war verpufft und seine Stimme kroch wohlig in ihm umher.
Kill him, schmeichelte sie, und Winnfield ballte schon die Faust, doch dann verscheuchte er diese Gedanken aus seinem Kopf. »Es tut mir Leid!«, krächzte er stattdessen und stimmte in Charlies Heulen ein. Zwei einsame Wölfe unter dem riesigen Mond.
Dann kam der Schmerz zurück, stärker als je zuvor.
Oh, Darling.
Ein Donnern in Winnfield, explodierende Sterne vor seinen Augen.
I mussssst punishhh you!
Winnfield fiel zurück in das Chaos seiner Gedanken, während er sich an der Stahlwand zusammenrollte.
»Geht es ewig so weiter? Oder täusche ich mich? Und wieso donnert es in meinem Kopf, wieso nicht in deinem, Vater? Zusammen ertragen wir den Donner vielleicht, wenn ich dir nur ein bisschen was davon abgeben kann... ein Stückchen vom Kuchen nur... ja, Mama, danke, das reicht. Schmerz schmeckt gut, aber Kuchen schmeckt besser und wenn ich den Kuchen aufesse, darf ich sterben, oder?«


T A G F Ü N F

»Oh happy day, Oh happy day
When Jesus washed
Oh when he washed
He washed my sins away«
Winnfield hatte aufgehört, zu reden, als er aufgehört hatte, sich Gedanken zu machen.
Gedanken führten zu Panik und Panik führte zu Verderben; außerdem war es in seinen Gedanken und folglich konnte er sich nicht mehr auf sie verlassen. Also sang er, sang, was ihm in den Kopf kam, bis er vergaß, wer er war, wo er war und was er hier überhaupt machte.
»He tought me how
to watch, fight and pray
fight and pray
Oh happy day, Oh happy day«
Es waren Lieder aus seiner Vergangenheit, die er sang, Lieder mit Erinnerungen und Winnfield ritt auf ihnen wie auf einem fliegenden Teppich hinaus aus dieser Welt des Schreckens.
»Oh... oh... oh...Hold me closer tiny dancer
Count the headlights on the highway
Lay me down in sheets of linen
you had a busy day today«
Winnfield sang mit leiser, kehliger Stimme, gerade laut genug, um es zu übertonen, und gerade leise genug, um den Schmerz in seinem Kopf nicht explodieren zu lassen.
»To-day...We are the champions - my friends
And we'll keep on fighting - till the end
We are the champions
We are the champions
No time for losers
'Cause we are the champions - of the world«


T A G S I E B E N

Als der Mond über ihren Köpfen bereits die Hälfte seines Körpers eingebüßt hatte, war Charlie so gut wie tot. Fast hatte er es geschafft, sich selbst zu erwürgen und Winnfield hätte es ihm gegönnt.
Es war schrecklich geworden, noch schrecklicher, als er es sich jemals vorgestellt hatte. Der Mond, ihr einziger Freund in diesem Loch, der ihnen Licht und Trost spendete, ging immer schneller unter und blieb immer länger verschwunden. Und die Stunden gähnender Schwärze, die dann folgten, waren die schlimmsten überhaupt, wenn sie ganz und gar allein waren mit der Welt in ihren Köpfen. Einer Welt des Schreckens, der unfassbaren Schmerzen, in der es mit seiner explodierenden Stimme regierte. Es ließ ihnen kaum noch Platz für eigenes Denken und zwang ihnen stattdessen seine Ideen auf.
Kill yourself!, forderte es immer öfter und schon bald würde Winnfield diesen Gedanken mit seinen eigenen verwechseln und ihm Folge leisten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sein eigenes Ich in dieser brodelnden Höllensuppe verlor und seine Identität annahm. Bis er zu ihm wurde.
Bei Charlie schien es gleich so weit zu sein. Seine dürren Hände, die einmal zart gewesen waren, legten sich wieder und wieder an seinen ausgedörrten Hals und versuchten, ihn mit letzter Kraft zu zerdrücken wie eine kleine, schrumpelige Frucht. Es war ein trauriger Anblick, wie dieser einst so lebensfrohe Junge in Embriostellung in der Ecke verharrte, mit dünner werdendem Haar, schwarzen Augenringen, so dick, als wären sie mit Kohle aufgemalt und der hageren Gestalt eines Insekts.
Winnfield war froh, dass er sich selbst nicht sehen konnte. Auch er kauerte seit Tagen schutzsuchend in der Ecke des Bunkers, die Decke um sich schlagend, wann immer er von Kälte zerrissen wurde und sie von sich strampelnd, wenn Hitze seinen Körper überflutete.
Es roch nach ihrem Schweiß, ihrem Erbrochenem und ihrem Blut. Es roch nach Verderben und Winnfield roch noch etwas Anderes und das war der Tod.
Er wartete auf sie und rief sie zu sich.
Und Charlie tat alles dafür, zu ihm zu kommen. In totaler Erregung starrte er zunächst auf seine abgenagten Fingerkuppen, bevor er sie mit einem verrückten Grinsen im Gesicht an seine Kehle legte. Dann drückte er zu, mit allerletzter Kraft und unbändigem Willen. Ein Gedanke fuhr durch Winnfield, so schrecklich, dass er sich für ihn schämte. Ja, dachte er. Ja, gut so, du Wichser, stirb, verrotte, du elendes Arschloch, du...
Winnfield schrie auf und verbannte es für einen Moment aus seinen Gedanken. Bevor es den Donner in sein Gehirn schicken konnte, stolperte Winnfield auf Charlie zu und stürzte sich auf ihn. »Tu das nicht!«, flüsterte er und jeder Ton war eine Qual. »Halte durch.«
Liebevoll strich er ihm eine dünne Strähne grauen Haars aus dem vernässten Gesicht, dann küsste er ihn auf die Stirn. Fast schien es in diesem Augenblick, als würden die Schmerzen in seinen Gliedern ein wenig dünner, seine Stimme ein wenig leiser werden, und die Kälte ein Stück weit erträglicher.


T A G N E U N

Die Hoffnung war ein Luftballon, aus dem mit jedem Tag im Bunker etwas Luft entwichen war. Hatte er zunächst ganz oben an der Decke des Bunkers geschwebt, trudelte er nun nur wenige Zentimeter über dem Boden vor sich hin, im Begriff zu sterben.
Winnfield hatte die Hoffnung aufgegeben. Es würde für immer so weitergehen und es machte kaum Sinn, weiter dagegen anzukämpfen.
»Charlie«, sagte er. Seine Stimme war kaum mehr als ein Schatten und wehte durch die Luft wie ein leiser Windhauch. Er wusste nicht, ob Charlie ihn überhaupt gehört hatte, aber er fuhr fort:
»Wenn du loslassen willst... lass los. Es macht keinen Unterschied.«
Mit starrem Blick fixierte er die Hülle des Luftballons und sah zu, wie sie sich sanft auf den Boden legte.


T A G Z E H N

Charlie war tot und das war gut so. Es war nun sein einziger Freund.

7


Mitternacht.
Früher hatte sie Theo nichts bedeutet, war sie doch bloß ein Begriff unter vielen und ein Zeitpunkt unter Unendlichen gewesen. Aber nun war sie Mitternacht, die Mitte der Nacht, in der die Nacht in zwei Hälften geteilt wurde und sich das Tor öffnete in die andere Welt, in der alles so viel besser war, sodass man es schon fast das In-Ordnung-Land taufen konnte.
Bis gerade noch hatte Theo im Nichts-In-Ordnung-Land festgesessen, in dem schäbigen Bungalow, in das er heute gezogen war, und voller Sehnsucht – man konnte es fast Heimweh nennen - die schwerfällige, festgenietete Plastikuhr an der Wand betrachtet.
Jetzt hingegen lag er bäuchlings am Strand jener guten Welt, spürte Sand an seinen Wangen, wo vorher nur das übel riechende Kopfkissen gewesen war und hörte das Rauschen der Wellen anstelle des Kreischens der maroden Ventilatoren.

»Jetzt weiß ich, wieso ich Sand in meinen Haaren hatte, als ich aufgewacht bin.
Jack hatte sich neben ihm aufgerappelt und schlug sich den Sand von den Aufschlägen seiner Jeans. Auch Theo sprang schnell auf seine Beine und begann, über beide Backen zu strahlen. Es war verrückt, aber er begann diese Welt, dieses Leben zu schätzen, weitaus mehr als sein Richtiges. In diesem Paradies war er frei; frei von Freundinnen, die zu Ehefrauen geworden waren, frei von Berufen, die dir die Mundwinkel in die Höhe zwangen und deine Tränen übermalten.
Hier konnte er lachen und weinen, wenn ihm danach war - und nicht, wenn es von ihm verlangt wurde. Eine ganze Welt lag ihm zu Füßen und wartete nur darauf, von ihm entdeckt zu werden, mit einem echten Freund an seiner Seite, der sein Schweigen zu schätzen wusste. In dieser Welt gab es Abenteuer, wo in der anderen nur Probleme waren.
Ja, in seinem echten Leben war sich Theo ganz und gar nicht mehr sicher, wie es weitergehen sollte. Einerseits hatte er mit Nina und dem Mondragó abgeschlossen - tief in seinem Herzen wusste er das - aber andererseits war die Zukunft auch verdammt ungewiss. Theo konnte sich das kostengünstige Bungalow, bei dem selbst die Kakerlaken im Preis inbegriffen waren, noch einige Wochen leisten, ohne arbeiten zu müssen.
Als Alternative konnte er sich auch einen Flug zurück nach Deutschland leisten - nur war in diesem Fall sein gesamtes Geld sofort aufgebraucht. Er hatte weder eine Familie, die ihn aufnehmen konnte, noch echte Freunde. Er hatte nichts als das, mit dem er abgeschlossen hatte, nichts als das Mondragó und Nina. Theo würde neu anfangen müssen, entweder in ein paar Wochen auf Mallorca, oder schon sehr bald in Deutschland. Sein Leben war ein Scherbenhaufen; er musste die Scherben wegkehren und ganz von vorne anfangen, anstatt sie nur wieder aneinanderzukleben. Er musste harte Entscheidungen treffen, ohne eine Ahnung zu haben, ob es die richtigen sein würden, oder ob sie ihn nur tiefer in die Arme von Armut und Depression treiben würden.
Umso schöner war es also, diesen paradiesischen Ort zu haben, an dem es keine Entscheidungen gab, keine Bedrohung und keine Grenzen. Vergessen war das Gefühl von Beklemmung und Angst, das ihn bei seinem ersten Besuch auf dieser Welt ereilt hatte. Nein, hier war er sicher und frei und hier konnte er glücklich werden, das spürte Theo.

»Komm, wir müssen los.«, riss Jack ihn aus seinen Gedanken.
Denn auch in dieser Welt gab es Verpflichtungen: Die Fünf hatten vereinbart, sich, nachdem sie ihren Teil der Insel erkundet hatten, so schnell wie möglich wieder am Brunnen zu treffen. Und Theo war aufgeregt, was die Anderen so entdeckt hatten.
Gab es hier noch andere Menschen - Theo bezweifelte es -, was genau war mit diesem Ort geschehen, warum waren sie hier und was hatte diese Welt sonst noch an Überraschungen zu bieten?
Theo brannte darauf, bald zumindest ein paar dieser Fragen beantworten zu können. Gedankenverloren starrte er auf das Meer, das mehr noch als alle anderen Ozeane in Richtung des Horizonts in Schwärze, in gähnende Leere, zu verlaufen schien. Es sah so aus, als wäre diese Welt wirklich eine Scheibe, von der aus man in die Untiefen seines Unterbewusstseins fallen würde, wenn man ihre Grenzen überschritt.
Jack machte sich wohl ähnliche Gedanken: »Was meinst du... ob es dahinter wohl noch weitergeht?«
Theo schüttelte den Kopf nachdrücklich. Er hatte eine Ahnung, dass diese Welt eine Insel war, die statt vom Wasser in Wirklichkeit vom Nichts umgeben war und diese Erkenntnis ließ ihn gleichermaßen vor Erregung wie vor Angst erschaudern.

***



Man mochte es mütterliche Vorahnung oder auch Überempfindlichkeit nennen, aber Sofia hatte ein schlechtes Gefühl in der Magengegend. Sie ahnte etwas.
Immer, wenn sie Viggo gefragt hatte, wie sie Aurora helfen konnten, war er ausgewichen, als kannte er auf diese Frage selbst keine Antwort - dabei war das doch der einzige Grund gewesen, aus dem Sofia diese abenteuerliche Reise überhaupt angetreten war.
Stattdessen hatte er sie aufgefordert, ihre und Auroras Geschichte fortzuführen. Und wann immer diese Geschichte gerade ihre schrecklichsten Höhepunkte erreicht hatte, war da nicht viel eher Zufriedenheit als Mitleid in Viggos Züge gekrochen? Sofia erzählte ihm von dem Moment, da sie merkte, dass Aurora nicht mehr aufwachte und was tat er?
Nickte bedächtig, mit einem milden - oder nicht viel eher selbstgefälligen? - Grinsen auf den aufgerissenen Lippen. Schaute sie an, wie sie in ihrem Leben noch nie angeschaut worden war, mit dem Lächeln eines Wolfes, der zum Sprung ansetzte. Ein letztes Mal die reißerischen Zähnen bleckte.
Sofia ahnte etwas und es beunruhigte sie zutiefst. Aber sie war auch von Zweifeln geplagt. Tonnenschwere Tage lagen hinter ihr und nur Gott selbst konnte mit Gewissheit abstreiten, dass sie ihr Urteilsvermögen nicht doch etwas in Mitleidenschaft gezogen hatten. Noch immer war Sofia sich nicht sicher, ob sie Viggo tatsächlich Glauben schenken sollte; aber irgendwie schien sie es ja doch zu tun und deshalb musste sie ihm wohl auch Vertrauen schenken. Trotzdem ertappte sie sich dabei, wie sie Aurora in ihrem Bett fest an sich klammerte.
Sofia sah sich innerlich tadelnd an für diese irrationale Handlung, doch wie sollte man sich bloß Sachlichkeit und Gottvertrauen bewahren, wenn die eigene Tochter sich seit Tagen nicht mehr gerührt hatte...
Plötzlich quietschte die Tür. Sofia stockte der Atem mit einem leisen, quietschenden Ton und ihre Hand krallte sich um Auroras zarte Schulter. Sie lag im Gästezimmer des bösen Wolfen und nackte Dunkelheit herrschte; das alles beruhigte sie gar nicht.
»Viggo?«, wisperte sie und nahm ihr Herz in die Hand. Es war alles Schwachsinn und es war gut, dass Viggo jetzt da war. Dann konnte sie alle Missverständnisse ein für alle Mal aus dem Weg räumen. Entweder er konnte ihr sagen, wie sie Aurora zu helfen hatte... oder sie ging eben zurück nach Norwegen.
»Bist du das, Viggo?« Ihre Stimme klang zittriger als beabsichtigt. Die einzige Antwort war ein tapsender Schnitt und ein kaum wahrnehmbares Japsen - der Wolf!
Sofia quietschte wieder, während sie diese undurchdringliche Dunkelheit verzweifelt nach ihrem letzten Mut abtastete. Eine geisterhafte Gänsehaut schlich ihren Rücken herab. Dann, plötzlich, ging das Licht an und Sofia fing an, zu kreischen.
Viggo stand im Türrahmen. Die eine wulstige Hand lag am Lichtschalter, die andere umklammerte ein mittelgroßes Jagdgewehr.
Der böse Wolf.

»Zieh dich aus!«, brüllte er sie zähnefletschend an. Sämtliche liebenswerten Züge waren aus seiner Gestalt verschwunden und hatten Platz für das ekelerregende und erbärmliche Monster in Viggos Innerem gemacht. Nur in einer Boxershort bekleidet stand dieser verabscheuenswürdige Mann da und schüttelte sein langes, offenes Haar. In seinem Gesicht lag dasselbe, breite Grinsen wie immer und es war das Furchtbarste, was Sofia je gesehen hatte.
»Scheiß Hurensohn!«, kreischte sie ihm hysterisch entgegen, doch es schien ihn nur noch mehr anzustacheln. Das Grinsen auf seinem Gesicht verschwand einfach nicht, es war wie festgeklebt und blieb selbst dann, als er sich auf sie stürzte und ihr mit dem Kolben seines Gewehrs auf die Nase schlug.
Sofia erstarrte. Langsam und bedächtig rutschte sie auf dem weißen Laken des Bettes nach links, bis sie den kleinen Körper Auroras hinter sich wusste, dann zog sie sich ihr Nachthemd über den Kopf. Herausfordernd hob sie die linke Augenbraue. Pokerface.
Es klappte.
»Ist es das, was du willst, du Perversling?« Sie zwang sich zu einem kleinen Schlampenlächeln und Viggos Boxershorts dehnten sich vorne etwas aus. Dann streifte sie sich scheinbar genüsslich ihre Schlafhose von den Beinen und hoffte, dass Viggo die Gänsehaut auf ihnen nicht bemerkte.
Sie schaute der Bestie jetzt tief in den Abgrund ihrer grünen Augen, fixierte ihren wilden Blick, während sie behäbig den BH öffnete, starrte sie immer weiter an und wartete. Viggo hielt diesem Blickduell nicht lange stand und dann ging alles sehr schnell. Als sein ekelhafter Blick gerade auf ihre Brüste hinunterglitt, warf sie sich selbst mit aller Kraft nach vorne und schaffte es, Viggo die Waffe aus der Hand zu treten. Geschwind landete sie auf dem mit dickem Teppich ausgelegtem Boden und gab dem Perversling mit einem Tiefschlag erster Güte den Rest. Dann war es vorbei. Viggo lag am Boden und krümmte sich; es war jämmerlich anzuschauen.
Sofia stürzte sich auf die Waffe und kniete sich breitbeinig über ihn, den Abzug auf seine Stirn gerichtet. All die aufgestaute Angst und Wut der letzten Wochen entlud sich in einem gellenden Schrei. »Du willst mich ficken, ja?« Aus den weit aufgerissenen Augen dieser... Kreatur am Boden liefen dicke Tränen und sie nickte reuselig, wie ein Kind, das ins Bett gemacht hatte. Sie schlug ihm mit dem Kolben ins Gesicht, genauso wie er gerade sie geschlagen hatte.
Sofia hatte Recht gehabt und sie konnte nicht verhindern, dass auch sie zu schluchzen begann. »Scheiße, du kannst ihr gar nicht helfen, oder?«
Viggo schüttelte den Kopf und Tränen kullerten sein feistes Gesicht herab. Doch Sofia hatte kein Mitleid mit ihm. Sie entsicherte die Waffe umständlich, um ihm noch ein bisschen mehr Angst einzujagen und drückte die Mündung fest auf seine Stirn.
»Sag mir nur eins: Hast du mir die ganze Zeit Scheiße erzählt - oder glaubst du das alles wirklich? Glaubst du an das Mondland?«
Viggo drückte seinen Kopf der Mündung entgegen, ein Nicken. Sofia sah ihm tief in die verheulten Augen und entdeckte etwas darin, das ihr zeigte, dass er nicht gelogen hatte. Und auf irgendeine ihr selbst unverständliche Weise glaubte sie ihm auch, mehr als je zuvor.
»Ich wollte doch nur, dass sie einsehen, dass ich Recht habe. Bin kein-Freak. Nicht-verrückt. Nein, nicht-verrückt.«
Die Tränen überwältigten ihn. Sofia entschied, dass er vorerst keine Gefahr mehr darstellte, doch sie behielt die Waffe in ihren Händen, als sie langsam von ihm stieg.
Mittlerweile war ein großer Teil ihrer Aufregung verflogen und sie fuhr fast im Plauderton fort, während sie Viggo deutete, neben ihr auf dem Bett Platz zu nehmen:
»Du hast von dieser Sekte gesprochen... in Russland. Sag mir, wo ich sie finden kann.«

Viggo erzählte ihr alles, was er wusste. Danach schlug Sofia ihn mit dem Kolben bewusstlos, schnappte sich Aurora und ließ die Wälder von Ureå für immer hinter sich.

***



Theo und Jack näherten sich unterdessen wieder dem Brunnen. Schritt für Schritt wateten sie durch die noch immer etwa zwei Zentimeter hohe Wasserschicht, die auf sämtlichen Straßen stand und nur schwerfällig abfloss, da es in dieser Stadt keine Gullis zu geben schien.
Das Meer in ihrem Rücken war kaum mehr als ein entferntes Rauschen und das echte Leben außerhalb dieser Welt nur noch eine Ahnung. Schweigend gingen sie durch diese breiten, von Hochhäusern gesäumten Straßen ohne Bürgersteige und es war kein bedrücktes Schweiges, das sie umgab, keineswegs, es vibrierte viel eher.
Wie als Bestätigung dieser Beobachtung zersprang neben Theo das Fenster eines vergleichsweise kleines Hauses, das trotzdem um die zwanzig Stockwerke hatte. Ein feiner Scherbenregen rieselte auf den Boden und gab den Blick frei auf das Innere dieses Hauses.
Nun, das zerbrochene Fenster lag im Erdgeschoss und es schien zurückzustarren, als Theo es fasziniert betrachtete. Ein dunkles Auge, ein schwarzes Loch, das die Leere in sich mit ihren Körpern stopfen wollte. Tatsächlich ging Theo wie hypnotisiert auf das zerbrochene Fenster zu. Irgendetwas stimmte hier nicht. Es war mehr ein Gefühl als eine Ahnung, aber es war stark in Theo, auch wenn er noch nicht sagen konnte, wieso.
Schließlich stand er direkt vor dem Fenster und aus dem Gefühl wurde schnell eine Erkenntnis. Etwas stimmte hier nicht.
Theo drehte sich um, damit er Jack zu sich rufen konnte, doch der großgewachsene Australier stand bereits neben ihm und brachte auf den Punkt, welches Etwas hier nicht stimmte:
»Nichts.«, raunte er. »Da ist nichts.«

Als sie sich durch die schmale Fensteröffnung gezwängt hatten, standen Jack und Theo in einem leeren, dunklen Raum. Jack keuchte auf vor Schreck und auch Theo hatte so etwas noch nie in seinem Leben gesehen:
Das gesamte Haus war leer, es war nichts als eine Hülle. Sie standen auf demselben Boden, der auch auf der Straße gewesen war, aber das war nicht das Ungewöhnlichste hier. Nein, der Raum war das Haus und das Haus war der Raum.
Nichts weiter. Es gab keine Möbel, keine Säulen, keine Türen oder Wände. Es gab keine Etagen. Nur diesen riesigen, schwarzen Raum, der in scheinbar unendliche Höhen verlief und bloß durch das wenige Licht, das sich seinen Weg durch die verstreuten Fenster bahnte, aufgehellt wurde.
Theo hatte früher einmal eine Touristentour durch ein berühmtes deutsches Filmstudio gemacht, bei dem der kleine Touristenbus in einer Kulissenstraße gehalten hatte. Stand man auf dieser Straße, blickte man auf ganz normale Häuserfronten. Doch wenn man einmal durch die Tür eines dieser Häuser ging, oder durch eines ihrer Fenster schlinste, stellte man fest, dass dahinter nichts weiter war. Das Haus war nicht mehr als seine eigene Fassade, nur eine täuschend echte Kulisse und fast genauso verhielt es sich auch mit dem Hochhaus, in dem Jack und Theo gerade standen. Alles bloß Kulisse, dachte sich Theo immer wieder und war sich sicher, dass dies genauso auf jedes andere der vielen Hochhäuser dieser künstlichen Stadt zutraf. Nichts davon ist real.
Gar nichts?
Theo kniff die Augen zu und sank hinab in die Tiefen seiner Phantasie, bis er mit beiden Beinen auf ihrem Grund landete, dem Eingangsbereich eines großen Hotels.
Doch es sollte nicht das Mondragó sein, sondern ein anderes, Schöneres, vielleicht wie die Hotels in Las Vegas, edel und erhaben, mit einem Springbrunnen in der Mitte und Ledersesseln ringsherum. So sollte dieser Raum gefüllt sein - und nicht mit Leere.
So sollte es sein, und wenn es seine Fantasie war, in der Theo sich bewegte, war er dann nicht auch Herr über den Dingen, die sich darauf abspielten?
Jack schrie auf. Theo riss die Augen auf. Kniff sie nochmal zu, riss sie wieder auf, immer und immer wieder. Das Bild blieb dasselbe: Er stand in der Mitte des Eingangsbereiches eines großen Hotels, edel und erhaben, Ledersessel überall im Raum verteilt. Vor ihm sprudelte der Brunnen eine Fontäne von Wasser in die hellerleuchtete Luft und besprühte die beiden mit einem sanften Regen.

8


Diese Welt war ein riesiger Spielplatz, das war Jack gerade klargeworden. Ein Platz, an dem er tun und lassen konnte, was er wollte, der Realität entfliehen, Gott spielen, was auch immer. Er war auserwählt, wusste zwar noch nicht, wieso und weshalb, aber immerhin, dass er sich glücklich schätzen durfte.
Auch darüber, dass er einen Spielgefährten wie Boy an seiner Seite wusste. Boy, wie er diesen kleinen, stummen Braungebrannten in Ermangelung seines richtigen Namens nannte, überraschte Jack immer wieder. Etwas schien von ihm auszugehen, eine Art Aura der Lebendigkeit. Boy war anders als all jene, mit denen Jack in seinem tatsächlichen Leben zu tun hatte - er roch nach Unschuld statt nach Schweiß, billigem Deodorant und Sperma. Er war rein und er hatte Spaß, ein Wort und eine Tätigkeit, die Jack längst aus seinem engen Terminkalender verbannt hatte. Nachts, wenn er alleine in seinem riesigen Bett in der noch riesigeren Junggesellenwohnung lag, war das oftmals das Einzige, was er sich wünschte: Spaß - und ein bisschen Liebe. Und vielleicht würde Jack genau das an diesem Ort finden. Mit den Anderen - und vor allem mit Boy.
Boy verstand diese Welt wohl besser als sie alle zusammen, er schien sie zu spüren und bereits in ihr zu leben, als wäre sie sein Zuhause. Und gerade... hatte er auch noch ihr Geheimnis gelüftet.
Im einen Moment hatten sie noch in diesem seltsamen Raum gestanden, der Jack in seiner absoluten Leere an die unfassbaren Weiten des Weltraums erinnert hatte - dann, mit einem Schlag... das.
Jack hatte den Übergang gar nicht mitbekommen - er musste schneller gewesen sein, als sein Gehirn die Bilder verarbeiten konnte, also verdammt schnell - und plötzlich hatte er sich in diesem großen, zwar einigermaßen hässlichen aber doch beeindruckenden Hotel wiedergefunden, als wäre es schon immer da gewesen. Mit vor Schreck geweitetem Mund hatte er diesen kleinen Magier im Hawaiihemd angestarrt und vor sich hingefaselt: »Warst... warst du das?« Boy hatte so mit den Schultern gezuckt, dass es mehr Ja als Nein bedeutete.
»W... wie?«
Man merkte es: Jack hatten die Worte gefehlt und sie taten es immer noch. Zuviele seltsame Dinge ereigneten sich in letzter Zeit und man konnte fast meinen, dass mit Jacks erstem Erwachen auf dieser Welt eine Kette von Ereignissen, von Skurrilitäten, in Gang gesetzt worden war. Eine Kette, die mit zunehmender Länge auch immer breiter und schwerer wurde, bis sich die Ereignisse irgendwann überschlugen.
Boy hatte sich als Antwort grinsend an den Kopf getippt. Und das war logisch, oder?
Es war ihr Traum, also waren sie auch die Götter dieser Welt. Sie konnten es regnen lassen, wenn ihnen warm war und einen ganzen Wald abfackeln, wenn sie froren. Natürlich konnten sie auch einfach die Temperatur ändern, weil sie wohl so ziemlich alles bestimmen konnten, wenn sie es sich nur plastisch genug vorstellten.
Jack kniff die Augen zu, um Boys Beispiel zu folgen und in seiner Fantasie räkelte sich eine blonde Schönheit im Springbrunnen. Das Wasser glänzte auf ihrem nackten Körper und tropfte von ihrem üppigen Busen. Sie biss sich auf einen rotlackierten Fingernagel und rief ihn dann mit einem Wink desselben Fingers zu sich ins feuchte Nass und....
Bevor es richtig losging, öffnete Jack schnell die Augen. Das wollte er wirklich erleben, das wollte er spüren.
Doch auf die Euphorie folgte schnell Enttäuschung. Spottend sprudelte der Brunnen sein Wasser in die Höhe und da war keine Schönheit und keine Brust, die es in seinem Fall unterbrach. Es war nichts passiert und sofort begann Jack zu zweifeln.
War Boy der Einzige, der diese Welt verändern konnte, der einzig wahre König? War er überhaupt verantwortlich für die Veränderung gewesen - oder war es die Welt selbst, die sich um sie herum veränderte, wie es ihr gefiel?
Jack beunruhigten beide Möglichkeiten. Einerseits regte sich in ihm Eifersucht, ja sogar eine Prise Hass auf diesen stummen Menschen, der, ohne etwas dafür zu können, diese Gabe hatte, die Anderen verwehrt blieb; Anderen, die vielleicht viel mehr damit anfangen konnten als ein gottverdammter Stummer! Andererseits bekam Jack es mit der Angst zu tun, wenn er sich vorstellte, dass nicht sie es waren, die die Fäden in der Hand hatten, sondern diese Welt selbst - wenn nicht sogar eine gänzlich andere Macht. Sie könnten schneller von der Oberfläche dieser Welt verschwinden, als ihr eigenes Bewusstsein es verarbeiten konnte.
Jack hasste diesen Gedanken, weil er diese Welt zu lieben begonnen hatte und aus purem Trotz schloss er erneut die Augen.
... vielleicht etwas Einfacheres...
Er stellte sich wieder den Brunnen vor und baute dann in seinen Gedanken eine metallene Wendeltreppe an ihren Rand, die zu einem Sprungbrett in vier oder fünf Metern Höhe führte.
… wenn schon keine Liebe - dann vielleicht Spaß?
Jack öffnete die Augen, sein Herz raste, raste, raste - und sprang. Es hatte geklappt.
Lob suchend schaute er Boy an - sämtlicher Hass und Neid auf ihn war schlagartig verflogen - und der Kleine strahlte ihn an, auch wenn er sich zu wundern schien, wieso Jack sich gerade für eine Wendeltreppe und ein Sprungbrett entschieden hatte.
Wie zur Erklärung nahm er Boy an die Hand und führte ihn die Treppen hinauf, bis die beiden knapp über der sich brechenden Wasserfontäne auf dem wackligen Sprungbrett standen, Seite an Seite, fünf Meter über dem Boden. Dann ließen sie sich fallen und schrien um die Wette.
Diese Welt war ein riesiger Spielplatz.

***



Sofia jagte mit ihrem Auto durch Schwedens pechschwarze Nacht. Die Dunkelheit verfolgte sie, legte ihre dunklen Schlingen um ihren kreideweissen Hals und stach mit schwarzen Spitzen gegen die Reifen ihres Autos.
Eigentlich war Sofia sich sicher, dass Viggo sie nicht verfolgte und dass er sie, falls doch, auf keinen Fall finden würde. Doch der reine Gedanke an einen Verfolger, das bloße Gefühl von Angst blieb in ihrem Nacken sitzen wie ein neuer, implantierter Körperteil.
Wieder war Sofia alleine mit sich und ihren Sorgen, und Aurora schlafwandelte noch immer in ihrer eigenen, kleinen Traumwelt - echt oder nicht echt.
Am liebsten wollte Sofia den Wagen gegen einen der zahllosen Nadelbäume am Straßenrand setzen, um sie beide von ihren Qualen zu erlösen. Dann aber sagte sie sich, dass es einen anderen Weg geben musste, den sie nur noch nicht gefunden hatte.
Klar, diese Reise war ein Reinfall gewesen. Sie hatte diesem fremden Mann vertraut, hatte ihm jedes verdammte Detail anvertraut... und er hatte sich als Perversling entpuppt. Leichtsinnig hatte Sofia ihr Leben und, was noch viel schlimmer war, das Leben ihrer Tochter aufs Spiel gesetzt.
Tief in ihrem Inneren bezweifelte Sofia aber, dass Viggo Aurora je etwas angetan hätte. Nicht aus Moral und Gesetzestreue, keineswegs. Viel eher, weil er tatsächlich an dieses ganze Zeug glaubte.
Und wenn man es so betrachtete, hatte die Reise vielleicht doch noch ihren Sinn erfüllt: Sofia hatte eine neue Spur, der sie nachjagen konnte. Und auch wenn sich alles als Schwachsinn herausstellen sollte - was sie bezweifelte - war es wenigstens eine Art der Beschäftigung, die sie vor der Verrücktheit bewahrte, die zweifelsohne kommen würde, wenn Sofia nichts weiter tat als zu warten, bis Aurora ihren letzten Atemzug machte.
Ja, ihre Entscheidung stand fest und gerade in diesem Moment tauchte der Flughafen auch schon am Horizont auf, wie eine Fata Morgana in dieser Wüste aus Wäldern und Seen.

***



Der Mond war der wahre Gott dieser Welt, das war Theo schon am Tag seiner Ankunft aufgefallen. Zu denken, dass sie selbst an diesem Ort die Könige waren, dass sie hier alles im Griff hatten, war ein trügerischer Schluss, denn im Endeffekt, wenn der Tag zuende ging, lag alles in den Händen dieses riesigen Himmelskörpers.
Der Mond weckte sie für ihr Leben auf dieser Insel, wenn er aufging - und wenn er wieder unterging, war auch ihr Traum vorbei. Der Mond, diese riesige Sichel, die in den zwei Tagen seit ihrer Ankunft bereits einiges an Größe gewonnen hatte, wanderte hier über den Horizont wie die Sonne es auf der Erde tat. Er ging unter - und er stieg auch wieder auf, um diese Welt aus der Dunkelheit zu befreien und sie überhaupt erst real zu machen.
Sie waren abhängig von ihm, so einfach war das. Er war der Grund, aus dem sie hier waren und er war in der Lage, sie jederzeit von hier zu verjagen.
Gerade stand dieser Mond tief am Horizont; bald war es Zeit für sie, aufzuwachen und dementsprechend ungeduldig waren auch die Anderen, als Jack und Theo schließlich am Brunnen ankamen, mit breitem Grinsen und noch feuchten Haaren.
Walter begrüßte sie mit verschränkten Armen.
»Wo seid ihr gewesen?«, fragte er vorwurfsvoll.
Theo und Jack wechselten einen vielsagenden Blick, dann nickte der Australier ihm zu. »Los, Theo.«, sagte er. »Zeig's ihnen.«
Und Theo zeigte es ihnen. Das war etwas, was der Mond nicht konnte: Mit dieser Welt spielen, sie verändern, als wäre alles ein Computerspiel. Straßen bauen, wo vorher Berge standen und das tosende Meer in trockene Wüste verwandeln - oder in Wein. Der Mond war zweifelsohne der Gott dieser Welt, aber sie waren seine Kinder.
Theo überlegte kurz, den Marktplatz einfach verschwinden zu lassen, doch er entschied sich dagegen. Einerseits wollte er die Anderen nicht allzu sehr schocken, andererseits hatte dieser Ort auch einen gewissen Charme... wenn man ihn ein paar kleinen Veränderungen unterzog.
Als Theo seine Augen wieder öffnete - es war kaum mehr als eine Sekunde vergangen - beobachtete er vergnügt die Veränderung in den Gesichtern der Anderen, die weitaus langsamer vonstatten ging. Als das Wasser schon längst vom Kopfsteinpflaster gespült und die Fassaden der alten Fachwerkhäuser lange wieder von Rissen und Schimmel befreit waren, als alles blitzeblank und sämtliche Spuren von Verwüstung und Zerstörung von diesem Platz gewischt worden waren, erst dann wich der Ärger in Walters Zügen langsam einem beinahe kindlichen Staunen. Seine Augen, sonst klein und zusammengekniffen, befreiten sich wie durch eine Detonation von den schweren Lidern vor ihnen und starrten Theo groß und stahlblau an. Auch die Latina, Lucía, schüttelte es vor Erregung. Sie ließ sich auf das nackte Plaster zu ihren Füßen fallen und verbeugte sich vor Theo wie vor dem Erlöser persönlich. Nur das kleine, blonde Mädchen im weißen Schlafhemd wirkte unbeeindruckt, als hätte sie das alles schonmal gesehen.
Theo nahm all dies jedoch bloß im Augenwinkel wahr; er wandte seinen Blick zurück in Richtung des Horizonts. Ein letzter Strahl von silbernem Licht blitzte ihm entgegen, bevor der riesige Schatten des Mondes zwischen den restaurierten Häusern unterging. Das letzte Licht peitschte an ihnen vorbei und riss sie zu Boden, als undurchdringliche Dunkelheit den Ort von einem Moment auf den anderen auslöschte, als hätte er nie existiert.

Wie von der Tarantel gestochen fuhr Theo hoch. Noch immer war er von Dunkelheit umgeben, doch sie hatte sich verändert und wurde nun durch das harte, rote Licht seiner Weckeruhr unterbrochen. Sie teilte ihm mit, dass es in der echten Welt sechs Minuten nach fünf am Morgen war. Theo blieb tatsächlich von Tag zu Tag länger in der anderen Welt, konstatierte er - doch gleichzeitig fühlte er sich so frisch und ausgeruht wie schon lange nicht mehr. Es war Zeit aufzustehen.

***



Sofia kam es wie eine Ewigkeit vor, doch in Wahrheit waren bloß siebzehn Tage vergangen seit Abend Nummer Fünfzehn, dem Tag, an dem Aurora nicht mehr aufgewacht war.
Bereits zu diesem Zeitpunkt war Sofia am Rande der Verzweiflung gewesen, war Aurora doch von Tag zu Tag länger bewusstlos gewesen. Seit einer Woche hatte sie schon im Krankenhaus gelegen, aber ihre Situation hatte sich zunehmend verschlechtert, anstatt sich zu verbessern. Abend Nummer Fünfzehn war schließlich der Tag gewesen, an dem das Grab ihrer Tochter, in das Aurora am ersten Abend gekrochen war und auf das mit jedem Tag ein bisschen mehr Erde gekippt worden war, vollends unter einer dicken Erdschicht begraben wurde. Abend Nummer Fünfzehn war der Tag gewesen, an dem der Doktor mit dem schielenden Auge und der dickbeglasten Brille sie beiseite genommen hatte, um ihr mit gespieltem Mitleid klarzumachen, dass Aurora im Koma lag und vorerst nicht mehr aufwachen würde.
Verdammte Amateure. Sie waren an Auroras Fall verzweifelt und nach zehn langen Tagen auf dem klapprigen Plastikstuhl neben Auroras - letzter? - Ruhestätte war Sofia es Leid gewesen. Der hinabrieselnde Sand der Uhr, die die Zeit bis zu Auroras Tod herunterzählte, er hatte sie den Schlaf gekostet und so hatte sie letztlich eine Entscheidung getroffen: Die Medizin hatte versagt, also musste sie die Sache selbst in die Hand nehmen.
War sie verrückt? Diese Frage stellte sie sich immer wieder und sie drängte sich auch notwendigerweise auf. Das eigene, komatöse Kind aus der Sicherheit des Krankenhauses zu entführen und mit ihm durch halb Europa zu reisen, auf der Suche nach verrückten schwedischen Einzelgängern und russischen Sekten, die von einer anderen Welt faselten. War sie verrückt?
Klar, die Frage drängte sich auf, aber Sofia wartete nicht weiter auf die Antwort, denn sie hatte sich nunmal entschieden und jetzt musste sie es auch durchziehen.
Ihr nächstes Ziel war ein Vulkan namens Kliuchevskoi auf der russischen Halbinsel Kamtschatka. Dort lebte die russische Sekte, die sich Träumer nannte - auf Russisch so etwas wie Mydstatschil, Sofia hatte Viggo nicht genau verstanden.
Die Träumer lebten in der Nähe dieses Vulkans in Stollen unterhalb der Erde und warteten auf den Weltuntergang – ja, tatsächlich.
»Ich sprach von einer Schlange, einer bösen Macht, die das Mondland erobert hat, erinnerst du dich?«, hatte Viggo sie mit seinen verheulten Augen gefragt. »Die Träumer sind der Ansicht, dass diese Schlange in die echte Welt vorstossen könnte - und das wäre das Ende der Welt. Keine Ahnung, ob sie damit recht haben. Doch sie hüten das Geheimnis des Mondlandes. Wenn dir jemand helfen kann, dann die Träumer.«
Sofia verbriet gerade ihr letztes Geld auf der Suche nach diesen Weltuntergangs-Fanatikern, Viggo tat also gut daran, ihr die Wahrheit gesagt zu haben.
Von Umeå war Sofia nach Oslo geflogen und ihr standen noch zwei weitere Flüge bevor: Zuerst ging es nach Moskau und von dort aus auf die Halbinsel namens Kamtschatka. Sofia tat gut daran, dass die Träumer ihr wirklich helfen konnten, dachte sie, gerade als das grüne Boarding-Zeichen aufleuchtete. Sie tat wirklich gut daran.

9

»... und auf einmal stehen wir in einem Hotel. In einem verdammten Hotel. Vorher war da nichts. Gar... nichts!«
Mit leuchtenden Augen und roten Wangen erzählte Jack den Anderen ihre Geschichte. »Ich frage ihn, wie zum Teufel er das gemacht hat... und er tippt sich an den Kopf.
Und das stimmt: Jeder von uns kann diese Welt hier zu einer anderen machen, indem er einfach die Augen schließt und sich die Veränderung vorstellt. Nur eine Sache können wir weder erschaffen noch verändern - und das ist das Leben.«
Sie hatten das herausgefunden, als sie von jenem Gebäude weiter in Richtung Brunnen gelaufen waren. Sie hatten alles verändern können, hatten Häuserfassaden in Sekundenschnelle repariert - oder gleich durch riesige Palmen ersetzt. Doch wozu sie nicht in der Lage gewesen waren, war, die Straßen mit anderen Menschen zu säumen; und auch die Palmen waren nicht mehr als Attrappen gewesen.
Jack fuhr fort: »Doch ansonsten können wir die Welt, wie sie jetzt ist, von Grund auf verändern. Ganz wie es uns gefällt. Das hier, meine Freunde, ist ein gigantischer Spielplatz - und wir sind die Götter dieser Welt.«
Lucia stoß eine Art Fauchen in Jacks Richtung aus und bekreuzigte sich hastig. Sie hatte bis jetzt noch kein Wort gesagt. Theo vermutete, dass sie in einer stattlichen Glaubenskrise gefangen war - was im Grunde auf sie alle mehr oder weniger gut zutraf.
»Apropos...«
Jack gefiel sich sichtlich in der Rolle des Anführers und Redenschwingers und Theo gönnte es ihm aus ganzem Herzen. Man konnte sehen, wie dieser eigentlich so ernste und langweilige Anwalt das erste Mal in seinem Leben richtig aufzublühen schien.
»Wir sind ja eigentlich losgegangen, um uns hier genauer umzusehen und uns später davon zu berichten, was wir dabei gesehen haben. Lasst uns das doch erst machen, bevor wir überlegen, wie wir weiter mit dieser Welt vorgehen.«
Er lehnte sich etwas steif an die grobe Steinwand des Brunnens und erzählte ausführlich von ihrem kleinen Ausflug - von dem Dickicht aus riesigen, ausgehöhlten Häusern, von dessen plötzlichem Übergang in einen kleinen Strand und dem Meer, das in schwarzes Nichts zu verlaufen schien, als hörte diese Welt nach ein paar hundert Metern einfach auf.
Während Walter das Wort übernahm und erzählte, dass auch er und Aurora erst durch ein Stadtgebiet gelaufen waren, dessen Häuser immer zerstörter, und gleichzeitig immer kleiner geworden waren und das schließlich in ein vollkommen verwüstetes Waldgebiet verlaufen war, schlich sich eine Frage in Theos Kopf - und er wunderte sich, dass sie dort nicht schon viel eher aufgetaucht war:
Wieso war diese Welt, wie sie war? Wer hatte sie erschaffen, wenn nicht sie?
Im Grunde gab es zwei Möglichkeiten. Erstens: Sie waren es doch gewesen. Einer von ihnen hatte sich vielleicht genau dieses Szenario einer zerstörten Geisterstadt mit altertümlichem Marktplatz vorgestellt, als er den Brunnen emporgehoben worden war.
Zu seinem eigenen Bedauern befand Theo diese Möglichkeit jedoch für nicht allzu glaubhaft. Viel wahrscheinlicher - und gleichzeitig umso angsteinflößender - war der Gedanke, dass sie nicht allein waren... oder zumindest, dass schon jemand vor ihnen hier gewesen war. Und jetzt nicht mehr hier ist, fuhr es Theo durch den Kopf. Das war seine größte Angst: Dass er eines Tages einschlafen würde, und nicht mehr hierher zurückkam, als wäre das alles niemals geschehen.
Theo streifte diesen Gedanken von seinem Körper ab wie eine Regenjacke bei strahlendem Sonnenschein. Stattdessen richtete er seine ganze Aufmerksamkeit auf den glatzköpfigen Engländer, der noch mitten in seinen Ausführungen steckte: »Hinter dem Wald war dann so ein großer Strand - und wenn ich groß sage, meine ich auch groß: Der Strand war mit Sicherheit viermal so breit wie der Marktplatz. Wie du schon sagtest, Jack: Da standen Villen am Strand. Sie waren halb im Sand vergraben und ich wollte sie mir genauer ansehen, aber die Kleine hat mich stattdessen begeistert in Richtung des Meeres gezogen.« Für einen Moment hatte sich ein Lächeln auf Walters Lippen geschlichen, aber plötzlich wurde seine Miene wieder ernst. »Und das Meer war seltsam, das kann ich euch flüstern. Ich meine... die ersten hundert Meter oder so war alles normal: Wellen, Schaumkronen, der ganze Scheiß. Aber dann, plötzlich, war da einfach nichts mehr. Das Wasser war schwarz und bewegte sich nicht. Man konnte sehen, dass es viel weiter hinten wieder normal war, aber für gut hundert Meter war das Wasser einfach... still. Es war wie ein kleiner See inmitten des riesigen Meeres. Es war unglaublich. Ich starre also wie gebannt auf diese... Anomalie... und irgendwann merke ich, dass die Kleine...« Liebevoll strich er dem Mädchen, das sich an seine Schulter gelehnt hatte, durch die blonden Locken.
»... dass die Kleine angefangen hat, zu weinen. Ich guck sie an, will sie beruhigen, aber ich sehe nur diesen irren, panischen Blick in ihren kleinen Augen. Sie hat den See auch bemerkt und sie zeigt darauf und brüllt los, als würde sie bei lebendigem Leib gebraten. Ich schnapp sie mir also und renn so weit weg vom Meer, bis sie aufhört zu kreischen - und das war erst, als wir schon längst zurück im Wald waren.«
Walter verschränkte die Arme vor seinem gedrungenen Körper - allem Anschein nach war er fertig. Ihr aller Blick wandte sich jetzt Lucia zu, die in einigem Abstand auf dem nunmehr heilen Kopfsteinpflaster kniete. Sie hatte ihre Haare von ihrem Dutt befreit und trug sie nun offen; wallend und schwarz umfielen sie ihre maskulinen Schultern. Theo fiel weiterhin auf, dass sie barfuß war. Auch sie war am Strand, und vielleicht sogar im Meer gewesen, das verriet ihm der trockene Sand zwischen ihren Zehen. Jetzt bekreuzigte sie sich zum wiederholten Mal, im bitteren Kampf mit sich selbst, bevor sie tatsächlich anfing zu sprechen: »Kann mir irgendjemand sagen, wo wir sind? Wieso wir hier sind, was wir hier machen und was es mit dieser beschissenen Welt auf sich hat?«
Jack hob beschwichtigend die Hände. »Das versuchen wir doch gerade, herauszufinden... Lucia.«
Sie schnaubte abfällig und fiel ihm ins Wort, bevor er weiterreden konnte.
»Ihr tut so, als wäre alles in Ordnung. Wie könnt ihr euch da so sicher sein? Was, wenn das hier der Tod ist - oder die Hölle oder sonst irgendwas, nur kein beschissener Spielplatz!«
Ihr Gesicht bakam die Farbe einer überreifen Tomate und Theo hoffte, dass sie nicht zu zähem Ketschup explodierte. Das Mädchen hatte indes zu weinen begonnen und Walter fiel in den Streit ein: »Gottverdammt, Lucia.«
Er zog es in die Länge, dieses gottverdammt und schien es zu genießen, wie jede Silbe eine neue Nuance von Rot in ihr Gesicht trieb. »Mach ihr doch keine Angst!« Und dann, flehend, beinahe kleinlaut und so ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Persönlichkeit: »... bitte.«
Die rote Farbe schwemmte aus dem Gesicht der Latina und ließ es käsig und beschämt zurück. Jetzt war es an ihr, kleinlaut zu sein. Lucia entschuldigte sich zwei, drei Mal. Dann erzählte sie ihnen von ihrer Reise, die genau wie die von Walter und Aurora verlaufen war, nur dass sie keine derartige Anomalie im Wasser gesehen hatte und auch keine Villen am Strand, sondern nur ein einzelnes, kleines Strandhaus.
»Achja, und noch eine Sache ist mir aufgefallen.«, sagte sie ganz zum Schluss. »Walter, du hast doch gesagt, dass die Zerstörung mit jedem Meter größere Ausmaße angenommen hat... bei mir war es andersherum. Der Wald hatte ein paar umgeknickte Baumstämme, mehr nicht - und das Strandhaus sah wie neu aus.«
Lucia bekreuzigte sich, es war schon fast ein Tick. So wie manche Menschen sich andauernd über den Mund fuhren oder nicht aufhören konnten, zu blinzeln, bekreuzigte Lucia sich. »Was ich damit sagen will.«, fuhr sie fort. »Was immer diesen Ort zerstört hat... es kam von Süden.«
Vom See im Meer, dachte Theo und erschauderte.

***

Winnfield lag in der Hängematte vor seiner Villa und lachte über etwas, das ihm gerade in den Kopf geschossen war: Diese Welt war wie eine Perle, die scheinheilig vor sich hin glänzt, bevor Schwärze in sie kriecht und jedes Glänzen im Keim erstickt.
Er öffnete die Augen und lachte noch ein bisschen, während seine Augen über den Strand und das Meer bis zum See im Meer liefen. Natürlich lachte er nicht wirklich; wenn, dann war es das verzweifelte Kichern eines Krebspatienten, dem gesagt worden war, dass er nur noch wenige Tage zu leben hatte.
Elf Tage, um genau zu sein. Dann, wenn der Mond voll und glänzend über ihnen stand, würde es beginnen, hier direkt vor Winnfields Nase, im See im Meer.
Das schwarze Wasser würde emporsteigen und diese Welt mit Tod und Verderben überfluten - es sei denn, Winnfields Plan ging auf.
Selbstverständlich hatte er einen Plan, seiner Meinung nach sogar einen einigermaßen erfolgsversprechenden. Vielleicht nicht, um es für immer von dieser Welt zu vertreiben, aber immerhin, um ihm einen gehörigen Schrecken einzujagen und den üblichen Lauf der Dinge einmal ab- und in eine andere Richtung zu wenden. Natürlich würde Winnfield auch versuchen, es zu besiegen, für immer aus dieser Welt zu verbannen, damit die Perle glänzen konnte, ohne scheinheilig zu sein.
Gewinnen oder sterben, das sagte Winnfield sich immer wieder, auch jetzt, während sein Blick langsam zurückwanderte. Gewinnen oder sterben, auf jeden Fall aber für immer diesen Qualen entfliehen, nachdem er sie noch ein letztes Mal durchgestanden hatte. Beide Möglichkeiten waren gut, also hatte er nichts zu verlieren.
Plötzlich kräuselten sich schwarze Falten auf seiner Stirn. Seine Augen starrten angestrengt auf einen Punkt im Sand und Winnfield ließ keuchend Luft aus seiner Lunge strömen. Waren das Fußstapfen?
Er war immer davon ausgegangen, nunmehr allein auf dieser Insel zu sein, der letzte Überlebende, die Legende, die sich einsam gegen das Böse auflehnte. Was, wenn neue Menschen hergeschickt und, wie Winnfield, Charlie und die Anderen selbst vor mehr als einem Monat, aus dem Brunnen gezogen worden waren; neue Menschen, die ihm jetzt als seine Krieger für die finale Schlacht an der Seite standen? Wie wäre das?
Winnfield fand, dass das wunderbar klang, zu schön, um wahr zu sein und er wollte gerade aufstehen, um seinem Verdacht nachzugehen, da erledigte es sich von allein:
Die Welt um ihn herum veränderte sich zwischen dem einen Blinzeln und dem anderen und das konnte nur eines bedeuten: Winnfield war nicht länger allein.
Es konnte sich warm anziehen.

***

Das war er also, der See im Meer.
Theo und Jack standen am breiten Strand der Südküste der Insel und starrten auf jene vielleicht fünzig mal hundert Meter große Fläche schwarzen, stillen Wassers inmitten des tosenden, blaugrünen Ozeans. Dieses Etwas vor dem untergehenden Mond war der letzte Punkt auf ihrer Liste. Und es musste verschwinden, daran bestand kein Zweifel.
Am Brunnen hatten sie sich schnell darauf geeinigt, diesen Ort zu verändern, ja, ihn nach ihren Wünschen zu verändern, ja, weil sie die Könige dieser Welt waren, ja, auch wenn Lucia da anderer Meinung war.
Also waren sie erneut losgezogen und hatten eine Welle der Veränderung losgelöst und vor sich hergetrieben, die diese Welt mit ihrer Fantasie und ihren Ideen überschwemmte. Den Marktplatz hatten sie dabei noch belassen, wie er war - wie hatte Walter ihn noch gleich genannt, einen Hort des Guten? Und tatsächlich ging eine unfassbar positive Energie von diesem Platz rund um den Brunnen aus, die sie unter keinen Umständen ersticken wollten.
Die Großstadt rings herum hatten sie jedoch rigoros vernichtet und jene hohen, zerstörten Häuserhüllen durch die weiß angestrichenen Bungalows einer kleinen, gemütlichen Vorstadt ersetzt. Parkanlagen und Golfplätze erschaffen, Swimmingpools und Sportgelände. Das war der zweite Kreis ihrer neuen Welt, die sie wie eine überdimensionale Dartscheibe in immer größer werdende Ringe aufteilten.
Der Marktplatz war das Bull's Eye, fünfundzwanzig Punkte gab es für die kleine Vorstadt. Darauf folgte ein größerer Kreis aus einem farbenprächtigen Waldgebiet voller kleiner Flüsse und Bäche. Mitten in diesem Wald hatte Theo sogar einen kleinen Wasserfall versteckt, der sich erhaben in einen blau glitzernden See fallen ließ.
Die größte Ebene von allen war schließlich das Meer, das der Insel ihren blauen Rahmen gab, hinter jener riesigen Fläche aus Sand und erhabenen Villen, die sie ebenfalls beibehalten, jedoch noch einmal erweitert hatten, bis kurz vor die plätschernden Ausläufer...
...nun, des schwarzen Sees im Meer.
Er war wie ein Pickel auf dem makellosen Gesicht eines Supermodels, nein, viel eher noch wie ein Brandmal. Theo war stolz auf die Arbeit, die er zusammen mit Jack im Süden der Insel verrichtet hatte; mehr als zufrieden sogar, es war ein Meisterstück. Doch dieser See ließ ihn erschaudern, ließ die Haare auf seinem Rücken wie magnetisiert aufschnellen und die Euphorie in seinem Herzen auf ein Minimum abkühlen. Gleichzeitig kehrte jenes leichte Ziehen in seinen Kopf zurück, das ihn bei seiner ersten Ankunft in diese Welt ereilt hatte und das er schon längst wieder verdrängt hatte; und die feine Gischt, die ihm aus den Wellen entgegenschlug, besprühte ihn mit dem gleichen Gefühl der Verzweiflung wie auch der feine Regen dieses ersten Tages.
Dieser See musste weg, ganz klar, denn mehr noch als ein äußerer Makel war er eine innere Verletzung. Fragend blickte Theo in Jacks zusammengekniffene Augen. Der Australier nickte nur und überließ ihm damit den Vortritt. Theo schloss seine Augen.
Und dann ging alles sehr schnell. Gerade noch erschuf er das Bild eines reinen Ozeans vor seinem inneren Auge, von vorne bis hinten mit Wellen und einem tiefen Blau durchzogen, dann, plötzlich, ein Schlag. Wie Strom, fuhr durch seine Glieder, brachte seine Knochen zum vibrieren, ließ sein Herz für einen Moment aussetzen, schmiss ihn zu Boden. Gellender Schmerz explodierte in Theos Kopf, durchfuhr dann seinen zuckenden Körper. Dazu eine donnernde Stimme: N E I N!, schrie es, kreischte es, flüsterte es dröhnend und tödlich.
Danach Stille. Als Theo seine Augen nach einiger Zeit zaghaft aufschlug, lag er zitternd auf dem Boden und Jack kniete über ihm, erschrocken und panisch.
»Theo! Ist alles in Ordnung?«, fragte er und aus irgendeinem Grund schrie er die Worte, als hätte dieser Schlag Theo nun vollends zum Taubstummen gemacht. Theo zuckte bloß mit den Schultern, während das Zittern langsam abebbte.
»Was ist passiert?«
Er richtete seinen Oberkörper auf und zeigte mit seinem linken - noch immer zitternden - Zeigefinger auf den See im Meer, der weiterhin still und schwarz dalag, unantastbar für ihre Fantasie.
Wie hatte Jack noch gesagt? Sie konnten kein Leben erschaffen oder beeinflussen. Und das stimmte: Am Grunde dieses Sees lauerte etwas, das keine Veränderung duldete.

10

Der Sessel, auf dem Walter saß, war einst marinblau gewesen, nun jedoch so verblichen und fleckig wie ein von Wolken durchzogener Sommerhimmel. Mit seiner kompakten, beinahe bulligen Gestalt stand er schräg neben dem Panoramafenster des großen Gemeinschaftsraumes und als Walter seine Arme auf den unverkennbar hohen Lehnen platzierte, wackelte die rechte von ihnen genau so, wie sie es schon immer getan hatte. Er spürte die Fransen in seinem Nacken, wo das Kopfteil des Sessels löchrig und aufgesprungen war und die Höhle unter seinem Allerwertesten, den sie mit den Jahren dort hineingesessen hatten.
Es war ihr Sessel gewesen - Walters und Kates, in all den Jahren, die sie miteinander verbracht hatten. Es war dieser Sessel gewesen, auf dem Kate gesessen hatte, als Walter ihr den Ring um den Finger gelegt hatte und auch derselbe Sessel, auf dem sie gestorben war. Die Zeichen waren noch immer da: Das Wackeln der rechten Armlehne, auf die Kate aus Freude über Walters Antrag eingedroschen hatte wie eine Verrückte. Und das zerfranste Kopfteil mit dem kleinen Loch in der Mitte, das der Pistolenkugel Einlass geboten hatte, nachdem sie durch Kates hübsche, faltige Stirn geschossen war.
Jetzt saß Walter auf dem Sessel und dachte zum ersten Mal seit Monaten nicht mehr an diese Dinge, weil er sich endlich mal wieder gut fühlte. Gebraucht, um genau zu sein.
Ein neuer Tag hatte begonnen und Walter war mit frischer Zuversicht an diesem Ort aufgewacht. Was, wenn er hier alles wieder gutmachen konnte? Wenn er für das eine Leben, das er geopfert hatte, ein neues retten konnte?
Das Mädchen begann, ihm zu vertrauen, das spürte Walter. Und er selbst hatte es schon längst in sein Herz geschlossen, war es doch wie Öl für sein rostiges Herz, das endlich wieder schlagen konnte, ohne wehzutun.
Ja, gestern war ein schöner Tag gewesen, an dem sie die Welt verändert hatten, so wie es ihnen beliebte, bis spät in die Mondnacht, in der sie mit letzter Kraft den Gemeinschaftsraum geschaffen hatten, bevor sie dort glücklich und zufrieden eingeschlafen waren - oder aufgewacht, wenn man so wollte; Walter hatte aufgehört, die beiden Wörter zu unterscheiden, denn sie bedeuteten dasselbe.
Nun, an diesem neuen Tag stand Jack wieder einmal vor ihnen, während sie es sich in ihren Sesseln, Couches, Betten und Hollywood-Schaukeln - ja, tatsächlich, Boy wippte auf ihr hin und her wie ein kleines Kind - bequem machten, in diesem riesigen Raum, der ein Haus war - und zwar eines jener viktorianischen Exemplare, die noch immer den Marktplatz umrahmten.
Jack hatte es während der Schilderung seines Ausflugs mit Boy regelrecht aus der roten Ledercouch gerissen, auf der er bis dahin gelegen hatte. Jetzt stand er mit beiden Beinen auf dem mit Silberlärchenholz ausgelegten Boden.
››Anscheinend...‹‹, beendete er seinen Redefluss schließlich und ein Schatten legte sich über seine Augen; ein Schatten, den man nur Angst nennen konnte. ››Anscheinend gibt es genau zwei Orte auf dieser Insel, die man nicht verändern kann. Einer davon ist der Brunnen voll Lava, aus dem wir alle auf diese Welt gekommen sind. Und der Andere... nun, das ist der See im Meer. Was wir auch versuchten, er blieb wie er ist. Etwas wollte nicht, dass wir ihn verändern. Die Kleine hat sich vor dem See gefürchtet und auch Boy und mir erging es ähnlich.‹‹
Jack wischte sich eine Schweißperle von der Stirn und räusperte sich mehrmals. ››Worauf ich hinauswill: Wir wissen, welche Aufgabe der Brunnen erfüllt. Wofür der See hingegen da ist, ist mir mehr als schleierhaft...‹‹
Er verstummte, setzte sich steif auf die Ledercouch und hinterließ ein bedrücktes Schweigen, das so gar nicht zur bisherigen Stimmung passte, als sie sich locker über die Wunder dieser Insel und ihre Veränderungen unterhalten hatten. Walter schaute dem Mädchen in die Augen und fand dort wieder jene mit Traurigkeit gefüllte Tiefe. Und er hasste es, sie so zu sehen, so verzweifelt und traurig und einsam.
››Jetzt mal doch nicht den Teufel an die Wand, Jack‹‹, erhob er seine alte, kehlige Stimme und traute seinen Ohren selbst nicht. Kamen diese Worte des Optimismus tatsächlich aus seinem Mund? Meinte er das etwa ernst? ››Wir sind hier, um Spaß zu haben‹‹, fuhr er dann fort. ››Lasst uns Spaß haben!‹‹

Zwei Stunden später hatte Walter so viel Spaß wie schon lange nicht mehr. Genau genommen hatte er sich vor Kates Tod das letzte Mal derart lebendig gefühlt, bevor die verdammte Welt mit ihren gottverdammten Menschen ihm das einzige genommen hatte, was ihm jemals etwas bedeutet hatte. Nun, wie gesagt, bis jetzt.
Walter blickte auf das Mädchen, das vor ihm mit neuerwachter Lebensfreude durch den dichten Laubwald sprang, den sie erst gestern erschaffen hatten und mit einem Mal verflogen all diese trüben Gedanken wieder aus seinem Kopf und machten Platz für eine unbeschreibliche Hochstimmung. Eine Hochstimmung, die von dem einen Mantra lebte, das in Dauerschleife in seinem Kopf spielte, wie der schönste Ohrwurm der Welt:
Wenn er dem Mädchen ihre Lebensfreude in dieser so schwierigen Zeit bewahren konnte, wenn er das nur schaffte, hatte er seine Aufgabe auf Erden erfüllt, hatte er seine Schulden vor Gott bezahlt und konnte endlich glücklich sterben. Dieser Gedanke trieb ihn an, gab ihm Kraft und brachte seine untrainierten Gesichtsmuskeln zum Lächeln.
Wieder fragte er sich, welchen Namen dieses Mädchen wohl trug, das ihn an ihrer Hand durch ihre schöne neue Welt führte. Dies war eine der Informationen, die in ihrer Schweigsamkeit bisher untergegangen waren. Wie sie hieß, woher sie kam, wie es ihr in ihrem echten Leben ging - und was genau es war, das sie zu ahnen schien.
Doch es waren nur wenige, einsilbige Worte, die den Weg aus ihrem winzigen Mund fanden. Meistens beließ sie es dabei, ihn an ihrer kleinen, aber trotzdem ungemein kräftigen Hand hinter sich herzuziehen, an jeden erdenklichen Ort dieser Insel. Das war ihre Art der Konversation: Ihre Hand, die ihn zog, locker ließ oder zudrückte.
Es gab natürlich auch Momente, in denen sie ihren Mund wirklich aufmachte. Doch es waren immer die selben vier Wörter:
Pause sagte sie, wenn sie nicht mehr konnte, sich ausruhen wollte und sich erschöpft auf den Boden fallen ließ. Dann starrte sie minutenlang ins Leere, bevor sie wieder aufsprang und weiter durch die Gegend hüpfte, als wäre nichts gewesen. Manchmal rief sie Walt! und dann zeigte sie auf irgendwelche Sachen, die sie gerade geschaffen hatte - einen Baum mit rot-goldenen Blättern, einen spitzen Felsbrocken mitten auf dem erdigen Waldweg, was immer ihr einfiel.
Dann blieb sie wieder minutenlang ruhig und spazierte wie hypnotisiert durch den riesigen Wald. Walter übernahm in dieser Zeit das Reden. Er sprach über seine Vergangenheit, über seine Schulzeit, seine Tischlerlehre, den Moment, an dem er Kate kennengelernt hatte und die Zeit, die er mit ihr verbracht hatte. Was danach gekommen war, ließ er natürlich aus, genauso wie den Ersatz, den ungemein erfolgreicheren aber dafür auch folgenschweren Ersatz, den er schon bald nach seiner Lehre für den Beruf des Tischlers gefunden hatte.
Manchmal stellte Walter dem Mädchen Fragen, simple Ja-Nein-Fragen und das waren die anderen beiden Wörter, die sie noch sagte.
Hast du eine Mutter?
Ja.
Hast du einen Vater?
Nein.
Hast du Geschwister?
Nein.
Soll ich weiterfragen?
Nein.
Und dann liefen sie wieder schweigend durch die Gegend, bis das Mädchen nach der nächsten Pause verlangte.
Nur ein einziges Mal hatte das Mädchen etwas anderes gesagt als diese vier Wörter, eine einzige Silbe, geflüstert, angsterfüllt: Alb. Es war am See im Meer passiert, als sie ihn gerade vor die tosenden Wellen gezogen hatte. Ihre Hand hatte sich in seiner verkrampft, als fürchtete das Mädchen, jemand könnte sie in die Wellen bis auf den Grund des Meeres ziehen. Dann dieses eine Wort: Alb.
Alb, was bedeutete das? Das Mädchen jedenfalls hatte losgekreischt und sich so aus ihrer Schreckstarre gerissen, gerade als dieser einzelne Laut ihren Mund verlassen hatte, Alb. Hatte gekreischt und war weggerannt, im einen Moment noch seelenruhig und zufrieden, im anderen von Panik und Todesangst besessen.
Alb - und Walter hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Vielleicht war Alb das Etwas, von dem auch Jack gesprochen hatte. Alb wollte nicht, dass der See im Meer verändert wurde. Alb wehrte sich und Alb ängstigte ein unschuldiges Mädchen beinahe zu Tode.
Tatsächlich war es, als würde dieses Alb, ihre personifizierte Angst, im Inneren des Mädchen wohnen. In der einen Sekunde verhielt es sich ruhig, tat, als wäre es nicht da und das war die Zeit, in der das Mädchen unbekümmert durch die Gegend sprang. Doch dann, plötzlich, kam es an die Oberfläche und schickte die Tiefe in ihre Augen, die mehr noch als Angst eine Art Wissen offenbarten. Das Wissen, dass alles nicht so schön war, wie es schien. In diesen Momenten verkroch sich das Mädchen in der Tiefe in sich und Walter hatte keine Chance, es aus ihr zu befreien. In diesen Momenten verlangte das Mädchen dann nach einer Pause, starrte minutenlang ins Leere und wartete darauf, dass sie wieder vergaß, was ihr gerade eingefallen war.
Jetzt jedoch wollte sie keine Pause machen. Sie hatte Walter an eine Stelle mitten im Wald geführt, die noch sehr unausgereift war, nichts als eine große, weite Fläche aus Erde, die noch darauf wartete, von ihrer Fantasie bearbeitet zu werden. Walter spürte, wie das Mädchen seine Hand noch stärker als zuvor umklammerte, als es seine Augen schloss.
Vor Walters Auge entstand im Bruchteil einer Sekunde ein völlig neues Bild:
Sie standen nun etwa fünfzig Meter von einer ähnlich hohen Klippe entfernt, aus der ein riesiger Wasserfall in einem kleinen See auslief, der nur einige Schritte vor ihren Füßen endete. Das Mädchen zog ihn ins Wasser und er wehrte sich nicht. Nun war er hypnotisiert, von dem herabstürzenden Wasser vor seiner Nase, das mit bestialischem Lärm auf den See aufschlug. Nebenbei bemerkte er, dass das Mädchen schwimmen konnte, während er selbst zuerst langsam durch die Strömung watete, bevor er ebenfalls begann, gegen sie anzuschwimmen. Er schnappte sich das Mädchen, setzte es auf seine Schultern und machte die letzten Züge bis sie in jene gigantische Dusche eintauchten, die etwa zehn Meter breit auf sie herunterprasselte. Das Wasser peitschte um sie herum, massierte ihre Glieder und nahm ihnen große Teile ihrer Sicht und ihres Gehörs.
Nur zwei Dinge blieben Walter in Erinnerung: Die kleinen Regenbögen, die der helle Mondschein dieses in voller Blüte stehenden Tages in das fallende, spritzende, aufpeitschende Wasser malte; und das glockenklare Lachen des Mädchens an seiner Seite, in das er selbst mit einem unkontrollierbaren Glucksen einfiel.

Als die Blüte des Tages seinen Kopf im fahlen Schein des untergehenden Mondes langsam hängen ließ, waren Walter und das Mädchen zurück im Gemeinschaftsraum und hatten es sich auf seinem Sessel bequem gemacht, Walter mit dem Hintern in der Auflage versunken, das Mädchen zutraulich auf seinem Schoß liegend.
Sie hatten den Raum, der ein Haus war, noch schöner und gemütlicher gemacht: Da lagen Teppiche auf dem Boden, dort hing ein schwerer Vorhang vor dem Panoramafenster und ein riesiger Kronleuchter lichtspendend über ihren Köpfen. An der gegenüberliegenden Wand hingen Gemälde und Plakate aller Art, von der Skyline New Yorks bis zur Mona Lisa - der echten, versteht sich.
Sie hatten die Sessel, Couches und Hollywood-Schaukeln in der überdimensionalen Version eines Stuhlkreises zusammengestellt und redeten - zumindest taten das Jack und Walter. Erst über ihre Entdeckungen, ihre Erlebnisse an diesem Tag - es gab viele - dann über ihre Pläne in den folgenden - und davon gab es weniger -, dann über alles mögliche Zeug, über Sport und Religion, das Wetter und Frauen und Kinder. Für eine gemütliche Stammtischrunde unter Freunden fehlte nur noch das Bier, und sie hätten es in einem Wimpernschlag von ihrer Fantasie bestellen können, aber sie hatten auch gemerkt, dass Hunger und Durst auf dieser Welt nicht existierten.
Walter fühlte sich wunderbar. Er hatte in Jack und Boy Freunde, mit denen er sich unterhalten konnte - Boy nahm am Gespräch mit Gesten, Mimen und vollgekritzelten Blättern teil, auf denen er sich weiterhin weigerte, ihnen seinen richtigen Namen zu verraten - und er hatte jemanden, der ihm die Liebe schenkte, die sein Leben so lange vermisst hatte: Das Mädchen döste in seinen Armen vor sich hin und Walter wünschte sich, dass es nicht von Albträumen geschüttelt wurde.
Das Schönste am Abend war jedoch die Tatsache, dass Lucía noch nicht da war. Hämisch wünschte sich Walter noch etwas und zwar, dass sie ihren abergläubigen Latinaschädel just in diesem Moment so lange in das stille Wasser des Sees tauchte, bis er dort von alleine blieb.
Ohne sie verschwendete niemand mehr einen Gedanken an mögliche Bedrohungen, die ihre Idylle gefährden konnten. Sie lebten im Moment und genossen die Zeit, die sie hatten, egal wie viel ihnen davon noch blieb. Wenn es nach Walter ging, konnte Lucía für immer wegbleiben und er schloss die Augen, als wäre sie nur ein weiterer Teil dieser Welt, den er ausradieren konnte, wie es ihm beliebte.
Wie aus purem Spott erschien in diesem Moment ein Schatten hinter dem Vorhang des Panoramafensters: Lucía, ganz sicher, und Walter stöhnte auf.
Dann jedoch erkannte er seinen Irrtum. Dieser Schatten, er war eindeutig größer und breiter als Lucía es je sein würde und auch, als er durch die Tür neben dem Fenster hereinkam, blieb er schwarz.
Im Raum wurde es still. Vor ihnen stand ein großer, dürrer Mann mit dunkler Haut und einer voluminösen Afro-Frisur, der Walter an den Typen aus Pulp Fiction erinnerte. Winnfield, fuhr es ihm durch den Kopf.
Jules Winnfield, genau, das war sein Name gewesen.
Winnfield starrte sie aus großen, blutunterlaufenen Augen an und schien sich noch mehr über sie zu erschrecken als andersherum. Nein, er starrte nicht sie alle an, sein Blick richtete sich einzig und allein auf Boy, der in seiner Hollywood-Schaukel weiter hin und her schwang, obwohl er selbst vor Schreck und Verwirrung erstarrt war.
Es verging eine halbe Minute, in der keiner von ihnen etwas sagte, in der sie Jules Winnfield anstarrten und Jules Winnfields Augen Boy fixierten.
Dann, langsam trat ein Lächeln auf seine breiten Lippen.
››Charlie?‹‹, raunte er ungläubig.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 06.01.2013

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