Es war die Hölle.
Am hinteren Eingang des Kölner Hauptbahnhofs, nebst McDonalds und Großbaustelle, schleppten sich die Massen hin und her. Manche wollten rein, viele raus.
Die wenigsten waren pünktlich. Keiner da, wo er eigentlich sein wollte.
Es war kurz vor Weihnachten und ohne Vorwarnung hatte der Winter es sich herausgenommen, seine untypischste Eigenschaft auf Mensch und Gleis loszulassen: Schnee.
Der bleib noch nicht einmal liegen, war dennoch eindeutig zu viel für die Bahn.
Und wenn das Wort pünktlich sonst schon zu der Sprache eines anderen Landes zu gehören schien, so war es nun extraterrestrisch geworden.
Folglich sah Johnny Leigh in seinem Taxi ganz hinten in der langen Reihe von Artgenossen lauter fröhliche Mienen kommen und gehen.
Keine gefiel ihm, dabei waren sie seiner eigenen nur allzu ähnlich:
Gemalt auf aschfahle Haut drückte sie eine Lebensmüdigkeit aus, die selbst seine blonden, spitz gen Himmel gegelten Haare nicht ausgleichen konnten.
Er ließ seine Finger durch sie hindurch gleiten.
Und sank gleichzeitig tiefer in das weiche Leder seines Fahrersitzes.
Durch müde Augen sah er zum Soundtrack des nahen Weihnachtsmarktes einen makabren Film ablaufen: Viel zu schnell lichtete sich die Reihe an Taxis vor ihm und die anzugtragenden Untoten näherten sich, unaufhaltsam. Seine Pause würde wie immer ein allzu frühes Ende finden, wenn nicht sein Leben dasselbe tat, nur früher.
Johnny schüttelte den Kopf, und den Gedanken ab.
Es war ein langer Tag gewesen, doch bald war er vorbei.
Die Uhr zeigte halb sieben. Seine Schicht war in einer halben Stunde zuende, wie an jedem Tag. Früher war das noch keine Zeit gewesen, als er ganze Nächte in seiner Lieblingskneipe verbracht hatte, mit keinen Sorgen, einer Frau, vielen Freunden und noch mehr Fans.
Doch jetzt, wo alles anders war, würde er sich nur noch nach Hause schleppen.
Ungewaschen in sein Bett kriechen, mit einer Flasche Bier als einzigem Partner für sein einziges Gespräch, das sich immer um die unterste Schublade seines Schlafzimmerschrankes drehte, in der die Pistole wartete, nie um die Ecke des Zimmers, wo seine Gitarre jegliche Hoffnung auf Wiedergebrauch aufgegeben hatte, staubig, verstimmt und allein gelassen.
Es würde sein wie an jedem verdammten Abend, und an jedem vierzehnten, dem elenden freien Tag, den sein Boss ihn zu nehmen zwang.
Aber zumindest würde es das letzte Mal sein. Das war Johnnys Trost, schon bald war es vorbei.
Und nie hätte er geglaubt, dass es einen Menschen in Köln gab, der ähnlich verzweifelt war wie er. Dann klopfte es an der Tür seines Taxis und die längste Nacht seines Lebens begann.
Es hatte wieder angefangen, zu schneien. Dicke Flocken schälten sich aus dem Grau des Himmels und besudelten eine dreckige Welt mit vorübergehender Reinheit.
Johnny hatte sich aufgerichtet und blickte nun aus dem Fenster.
Er war, ohne es bemerkt zu haben, in den Tiefen seines Ledersitzes in einem schmerzlosen Traum versunken. Wie lange, das wusste er nicht, aber es konnten höchstens ein paar Minuten gewesen sein. Und jetzt war er wieder da. Er schaltete die Innenbeleuchtung seines Wagens ein.
Da das Schneetreiben die Sicht nach draußen nur geringfügig verdeckte, konnte er das rote Studentengesicht, das ihm von der Beifahrerseite entgegenschimmerte, nicht weiter ignorieren. Zumal dessen Fingerknöchel einen beunruhigten Takt aufs Fensterglas klopften.
Johnny bemerkte erst jetzt, dass die hinteren Türen noch immer verriegelt waren. Mit einem letzten Seufzer öffnete er die Riegel. Er fühlte sich wie in längst vergangenen Zeiten, in denen er noch klein gewesen und von seiner Mutter aus dem Bett geschmissen worden war, einen langen, langen Schultag vor der zarten Brust.
Danach hatte es immer einen warmen Kakao gegeben, er war in den Arm genommen worden; generell war es überhaupt nicht mit heute zu vergleichen, wo nur die Depression ihn umklammerte.
Der Junge ließ sich auf den hinteren Sitz fallen und Johnnys Erinnerung zerbarst.
„Wo soll es hingehen, junger Mann?“, sagte er zu seinem kaum zehn Jahre jüngeren Gegenüber. Er hatte seine Maske aufgesetzt und betrachtete den Fahrgast im Spiegel.
Lange, blonde Strähnen umrahmten ein sonst wohl blasses, jetzt knallrotes Gesicht.
Und alles war nass.
„Unter Ihrem Sitz liegt ein Handtuch. Trocknen Sie sich erstmal ab.“
„Gr...Gra...Grahaham.“ Der Junge stotterte. Wie alt mochte er sein? Mitte zwanzig bestimmt.
Kein Kind mehr, und trotzdem. „B..b...bitte nennen Sie mich..ch Graham.“ Er grinste zu breit, hier fand ein Maskenball statt. Und das Stottern schien eher durch zittrige Kälte als chronischen Sprachfehler bedingt.
„Okay, Graham, wohin soll's denn jetzt gehen?“, beendete Johnny ein Vorgeplänkel, zu dessen Fortbestand er sich nicht mehr in der Lage sah.
Graham hatte sich trockengerubbelt, das Handtuch lag zerknüllt neben ihm.
Er atmete auf einmal lauter und sein Mund vibrierte vor lauter Zähneklappern.
Er schien etwas Großes herunterzuschlucken.
„Freiheit.“, sagte er.
„Nichts dagegen.“, scherzte Johnnys Maske. Doch er hatte verstanden. Es ging nach Deutz.
Er ließ den Motor an, sein Kopf spulte Fakten herunter.
Zwei bis drei Kilometer waren es bis Deutz, das bedeutete sechs Minuten Fahrzeit für die Hin-, sieben für die Rückfahrt. Großzügig plante Johnny fünf Minuten Stau ein. Dann lächelte er.
Es war tatsächlich seine letzte Fahrt heute. Und morgen war sein freier Tag.
Dann war es soweit. Johnny wandte sich seinem Fahrgast zu und lachte wirklich.
Es war seine allerletzte Fahrt. „Nein, es ist mir sogar ein Vergnügen, Graham.“
Die Reifen drehten ein klein wenig durch, bald jedoch griffen sie. Er kurbelte das Lenkrad nach links, dann zweimal nach rechts, und der Breslauer Platz lag für immer hinter ihm.
„Wieso grinsen Sie?“, kam es zittrig von hinten. Johnny wollte die Heizung höher stellen, doch sie war bereits an ihrem Limit. Eine Schweißperle rann über seine Stirn, er würde sie in Deutz abwischen. „Johnny. Nenn mich Johnny.“ Graham wollte wohl lächeln, aber irgendetwas stimmte mit seinem Gesicht nicht. „Wieso grinsen Sie, Johnny?“
„Du bist mein letzter Fahrgast heute. Und morgen bin ich... hab ich frei.“
„Freiheit, mh...“
Johnny nickte und während die Deutzer Brücke langsam am Horizont auftauchte, er am Maritim Hotel vorbeifuhr und sich den Schweiß doch jetzt schon von der Stirn strich, beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Im Nacken. Die Haare stellten sich auf. Dann wurden sie heruntergedrückt. So kalt war das Metall gar nicht, er erfror trotzdem.
Grahams Maske war verschwunden. Und Johnny wollte nicht sterben, nicht so.
Automatisch glitten seine Finger zum Alarmknopf. „Lass... die Hand... am Lenkrad, Bastard.“ Graham stotterte nicht mehr, seine Stimme vibrierte jetzt. Johnny gehorchte.
„Mach jetzt keine Dummheiten... scheiße.“ Grahams Stimme wurde dünner, dann brach sie wieder. Er schien eine Träne zu unterdrücken. Johnnys Chance war gekommen. Er nahm die Hände weg vom Lenkrad, an die Tür, schnell, raus. Nur schnell raus. Verdammt, schneller.
Die Tür aufreißen. Beeil dich. Schneller, schneller, schneller.
Der Gurt, der Gurt, mach ihn ab, der Gurt, der verdammte Gurt...
klemmte. Und die Chance war vertan. Graham hatte sich gefangen und riss das Steuer herum, bevor der Wagen außer Kontrolle geriet. Niemand außerhalb des Wagens würde etwas mitbekommen haben. Zu Johnnys Schweiß- gesellten sich nun Blutstropfen.
Mit der scharfen Messerkerbe hatte Graham ihm in den Hals geritzt.
Die Wunde brannte höllisch, war jedoch nicht allzu tief.
„WICHSER!“, schrie Graham und knallte die Fahrertür zu. „Was hab ich dir gesagt, Hurensohn? Noch eine Bewegung und der Schnitt ist so tief wie der Rhein und dein Blut spielt Tsunami.“ Johnny schluckte, Graham auch. Dann fuhr er ruhig fort. Als wäre nichts geschehen. „Fahr jetzt unauffällig weiter. Auf die Brücke.“ Er drückte das Messer tiefer in Johnnys Fleisch und beugte sich nah an sein Ohr heran. „Verstanden?“ Eine Träne fiel auf die Wunde und löste neue aus. Johnny roch Schweiß. „Lassen Sie mich gehen... bitte!“
„Tu, was ich dir sage. Dann darfst du mit mir gehen. In die Freiheit.“
Johnny wusste, was das bedeutete und die Deutzer Brücke ragte bedrohlich in den inzwischen fast schwarzen Himmel, wie eine schmale Holzbrücke, von maroden Seilen zusammengehalten, tausend Kilometer über todbringenden Klippen.
Seine Mutter hatte Johnny einmal gesagt, in Todesangst könne das menschliche Gehirn wahre Wunder vollbringen. Davon merkte er nichts, gelähmt vor Angst, nicht imstande, irgendetwas zu denken. Kein Gedanke blieb lange genug, dass er ihn erkannte. Keine Idee setzte sich fest. Immer sah er nur den Tod vor Augen. Nächtelang hatte Johnny ihn gerufen und er war nie gekommen. Jetzt war er da und Johnny wollte ihn am liebsten wieder wegschicken.
Es ruckelte, als der Wagen festen Erdboden verließ. Sie fuhren nun auf der Brücke.
Johnny sog gierig Luft in seinen Rachen, ohne dass sie anzukommen schien.
Er starrte vor sich hin, ohne wirklich etwas zu sehen, und lauschte auf Dinge, die er nicht hören konnte. In Gedanken war er bereits in einem anderen Leben.
Dann zerbrach alles, ohne dass er aufwachte.
„Jetzt geht's los! Drück das verfickte Gas durch, drück das verfickte Gaspedal durch.“,
brüllte Graham ekstatisch und mit bebender Stimme. Er war verrückt, hatte den Kampf mit sich selbst offensichtlich verloren. Die Schlacht, die er mit Johnny austrug, war jedoch noch nicht entschieden. Johnny starrte paralysiert auf die Tür neben sich, die Hand am Gurtende.
Es war noch nicht vorbei. Von hinten schrie Graham etwas, er wollte nicht verstehen.
Und holte noch einmal tief Luft.
Es musste schnell gehen.
Er riss am Gurt, es klappte - Freiheit.
Er riss an der Tür - sie nahte - es klappte nicht.
Graham hatte die Türen abgeriegelt. Von hinten erklang sein schelmisches, diabolisches Lachen. Und Johnny hatte verloren, beugte sich. Drückte das Gas durch.
Einhundert. „Wo soll ich durch die Leitplanke fahren?“
Einhundertfünfzig. Im Spiegel grinste Graham.
Zweihundert. Das Auto dröhnte.
Zweihundertfünfzig. Das andere Ende Kölns näherte sich immer schneller, fast keimte Hoffnung in Johnny auf. Deutzer Freiheit, würde er sie doch erreichen?
Nein. „Jetzt!“, hörte er von hinten. Er riss das Lenkrad herum.
Null. Am Himmel verschwand die Sonne in tausend Farben, ließ nur eine zurück: schwarz.
Niemand kann fliegen, oder wenigstens schweben. Auch Johnny schaffte es nicht, so sehr er sich auch darauf konzentrierte. Sobald der Wagen die Leitplanke durchbrochen hatte, sobald seine Vorderreifen über den Brückenrand schauten, neigte sich die Spitze von Johnnys verhasstem Taxi bereits gen Rhein. Die Schwerkraft war unausweichlich.
Da half kein Geschrei und kein Gebet der Welt. Und es war blanke Ironie:
Morgen schon hätte Johnny sich selbst gerichtet. Jetzt jedoch, in diesem Moment, war er nicht bereit dazu. Er schrie wie ein kleines Mädchen, bereute, wie er sein Leben weggeschmissen hatte, riss das Lenkrad panisch herum. Es half alles nichts, sie stürzten. Im Fallen bezweifelte Johnny plötzlich, dass Graham ihn zu irgendetwas gezwungen, dass er sein Messer auch wirklich benutzt hätte. Es kam ihm immer mehr wie Selbstmord vor, aber es war nicht der, den er sich gewünscht hatte. Das konnte, das durfte nicht das Ende sein.
Das Wasser stürzte auf sie zu, und es war nicht länger flüssig, sondern steinhart wie Beton.
Im Spiegel klebte Grahams Grinsen. Und das Grau des Rheins füllte erst ein Drittel, dann die Hälfte, dann die gesamte Frontscheibe des Wagens aus. Johnny atmete tief ein.
Dann kam der Lärm, erst leise, dann ohrenbetäubend, als das Auto vornüber auf das Rheingebirge krachte, als jede einzelne der Abermillionen Scherben zerbrechender Scheiben einen eigenen Sterbenslaut absonderte, bis sie unter der Wasseroberfläche waren und jeder Schall gedämmt wurde. Vom Wasser, das sie umspülte, herunterdrückte, töten würde, zu Johnnys Erstaunen noch nicht getötet hatte. Gab es wirklich eine Chance, dass er überlebte?
Wie als Antwort fiel die Tür aus ihren Angeln und drückte sich wie in einem Albtraum auf Johnnys rechtes Bein. Flucht unmöglich, Schmerz unfassbar. Auch Johnnys Schrei war wie im Traum, nach außen hin stumm, wie eine Fantasie, die verblassende Erinnerung eines Geräusches, das nie wieder wirklich sein würde. Luft stahl er trotzdem.
Und Johnny geriet in Panik. Er zerrte an seiner stählernen Kette, grub seine Finger in das betäubte Fleisch des Beins und versuchte, die Tür hochzuheben, nur ein Stück.
Ohne Luft konnte er nicht keuchen, doch Luftbläschen zeugten von seiner Anstrengung.
Seine Kehle brannte, und es würde nicht mehr lang dauern. Er zerrte, er schaffte es nicht, er erlahmte. Ein letzter Ruck, er musste es schaffen, er schaffte es. Ohne Luft kein erleichtertes Aufatmen, es gab auch keine Luftblasen mehr. Es wurde Zeit.
Hektisch löste er den Gurt, dann drückte er sich vom Sitz ab, aus dem Fenster hinaus.
Ließ Grahams Grinsen im Spiegel zurück. Und hoffte, dass es nicht zu spät war.
Kurze, hektische Züge. Der Oberfläche so fern. Panisch flackernde Lider, verschwommene Sicht. Immer wieder Schwärze.
Bleib da, Johnny. Bleib da!
Er schwamm weiter, entschwamm der Logik. Mit übermenschlicher Leistung, in seinem eigenen, grausamen Marathon. Nicht gegen die Zeit, gegen den Tod.
Wer gewann?
Immer größere Abstände zwischen dem einen Zug und dem anderen, zwischen Bewusstlosigkeit und Leben. Immer näher am Tod. Der Oberfläche immer ferner.
Ein verzweifelter Blick nach oben. Dann die Erkenntnis: er.
Etwas an der Schwärze über Johnny veränderte sich und er meinte, Bewegung wahrzunehmen, klein, wellenartig, nur aus der Nähe erkennbar. Er hatte es gleich geschafft.
Luft, Luft, Luft. Seine Kehle schien zu implodieren, Luft, Luft.
Ein letzter Sprint, er spürte, wie er erneut entglitt, doch selbst in der Schwärze paddelte er weiter, immer weiter, Luft.
Plötzlich weiß.
Gierig sog Johnny den Sauerstoff in seine brennende Kehle, auf dass er nie mehr fort ging.
Es war ein Wunder und er schrie lauter als je zuvor. Am Himmel leuchteten Sterne und in der Ferne flackerte Köln wie eine Kerze. Wäre sie nicht furchtbar, wäre die Nacht fast schön.
Johnny atmete die schwarze Luft gierig ein und er war dankbar, dass er lebte, dass seine Kerze nicht erloschen war. Dann begannen die Vorwürfe. Er hatte Graham nicht gerettet, egoistisch hatte er sich erst um sein eigenes Leben gekümmert, bevor er auch nur an das des anderen gedacht hatte. Grahams Kerze war niedergebrannt. Er war tot und es war Johnnys Schuld.
Gerne hätte er es wiedergutgemacht, aber er wusste, dass es keine Chance mehr für Graham gab. Und irgendwie hatte der ja auch genau das gefunden, was er gesucht hatte: den Tod.
Einigermaßen im Reinen mit sich selbst begann Johnny den mühsamen Weg bis zum Rand des Rheins. Nach ein paar Zügen streichelte etwas seinen Fuß. Er erschrak, schwamm schneller weiter, drehte sich panisch um.
Luftblasen sprudelten. Dann erschien ein Kopf. Und Graham lebte.
„Es war so verdammt kalt da unten. Und ich hab auch gar keine Luft mehr bekommen.“, verteidigte er sich, obwohl es an der Luft kaum wärmer war.
Ein Muskel zuckte in Johnnys Backen und ein Kichern suchte sich seinen Weg die vertrocknete Kehle hinauf. Dann lachte er laut los.
Hinter Grahams Lachen lauerte ein verzweifelter Schrei. Johnny wusste, dass er nur lachte, um nicht zu weinen. Er kannte diesen Ausdruck und das Gefühl dahinter nur allzu gut und sein eigenes Lachen kroch wieder in den Rachen zurück.
„Wir müssen weiter schwimmen, kommen Sie.“, ermunterte Johnny seinen Schicksalsgefährten. Er hatte beschlossen, sich seiner anzunehmen.
Das war so etwas wie ein Sinn für sein Leben, eine letzte gute Tat.
Es war das Mindeste, was er tun konnte: Graham retten.
Wenn er schon sich selbst nicht retten konnte.
Es würde schwer werden. „Ich bleibe hier.“, entgegnete Graham wie selbstverständlich. „Irgendwann wird mein Körper schon aufgeben, und dann ist auch mein Verstand hinfällig.“ Graham war den Tränen nahe.
„Schauen Sie mich nicht so an. Schwimmen Sie schon. Sie wollen doch nicht auch sterben.“
Johnny wollte etwas entgegnen, von der Art doch, das will ich, aber Graham kam ihm zuvor. „Und bitte verzeihen Sie mir. Es tut mir Leid, dass ich Sie da mit reingezogen habe. Es tut mir sehr Leid, ich weiß jetzt, dass es ein Fehler war.“
Graham hörte auf, zu lachen und eine Träne gesellte sich zum Salz des Wassers.
„Das war es auch.“, sagte Johnny. „Denn ich werde Sie nicht sterben lassen.“
„Kommen Sie, es sind vielleicht fünfzig Meter. Das schaffen wir.“
„Ich zittere schon nicht mehr wirklich. Das ist gut. Mein Körper gibt auf.“
„Machen wir einen Deal.“
„Mh?“
„Sie schwimmen jetzt mit mir mit...“
„Nein.“
„Lassen Sie mich ausreden! Also, der Deal: Sie kommen mit mir mit. Wir steigen aus dem Rhein, gehen zu mir, oder zu Ihnen, wenn sie wollen, aber ich wohne in der Nähe. Wir duschen heiß, ziehen uns trockene Sachen an, trinken einen Kakao und dann können Sie gehen, meinetwegen vom Dom springen. Das ist, nebenbei gesagt, sowieso ein schönerer Tod, schnell und schmerzfrei.“
Johnny machte eine Pause, studierte die Züge seines Gegenübers, und betete.
Seine paddelnden Beine wurden schwächer, Graham musste überzeugt sein, sonst war es um sie beide geschehen. „Na, wie hört sich das für dich an?“, hakte er nach.
„Nicht besonders gut.“ Johnny atmete nicht mehr. „Aber ich mache es wohl trotzdem.“
Laut sog er die Luft in seinen erschöpften Körper, grinste, lachte, weinte.
„Wunderbar!“
Dann schwammen sie los.
Johnny wusste nicht, wie lange er schon schwamm, doch es kam ihm zu lange vor. Er hatte den Überblick verloren, alles war nur noch Wasser oder die Innenseite seiner Augenlider und beides war dunkel. Von weit her erklang eine Stimme. „Johnny!“, rief sie, „Johnny!“, und es musste der Tod sein. Er packte Johnny an den schmalen, erschöpften Schultern und hievte ihn aus der Schwärze des Meeres. Und während seine Finger statt des Wassers erst Luft, dann Beton zu fassen bekamen, bemerkte Johnny seinen Irrtum. Denn es war Graham, der ihn gerettet hatte. In der Dunkelheit erkannte er ihn erst jetzt. Seine langen, blonden Haare klebten in Zotteln auf den nackten Schultern, sein rotleuchtendes Gesicht war ein Wasserfall und als Johnny sich langsam auf den Boden fallen ließ, hatte er das Dejavú eines kaum eine Stunde alten Geschehens: ihrer ersten Begegnung.
Er röchelte, spuckte Wasser, schluckte Tränen. Da er dem ungnädigen Dezemberwind nun in durchnässten Sachen ausgesetzt war, war es noch kälter.
Kurz schloss Johnny erschöpft die Augen, entfloh an einen wärmeren Ort, aber die Dunkelheit erinnerte ihn an etwas und er öffnete sie wieder. Er machte den Mund auf, wollte sich bei Graham bedanken, aber die Wörter blieben ihm im Hals stecken: der Andere war nicht mehr da. Hektisch blickte Johnny sich um. Im Schein des Mondes meinte er eine dunkle Struktur zu erkennen, die sich schnell von ihm weg bewegte.
Jetzt war Johnny es, der rief. „Graham!“, schrie er, „Graham!“ und bald schon würde der Tod dasselbe tun.
Er rappelte sich auf und lief dem Schwarz im tiefen Grau der Nacht nach, immer wieder diesen einen Namen rufend. Er war am Ende seiner Kräfte und wollte gerade aufgeben.
Da hörte er ganz in seiner Nähe ein Keuchen. Graham.
„Warum tun Sie das?“, erklang seine Stimme aus der Dunkelheit.
Kurz konnte Johnny einen Blick auf ihn erhaschen, gerade, als sich der wolkenverhangene Himmel für einen kurzen Augenblick lichtete. Sein Blick kreuzte den eines Verzweifelten.
„Es ist meine Bestimmung, dich zu retten.“
„Unsinn. Ich habe Sie ausgesucht, nicht das Schicksal. Und zwar, um mich zu töten, nicht, um mich zu retten.“ Er keuchte wieder. „Also gehen Sie verdammt noch mal dieser Bestimmung nach oder verpissen Sie sich!“ Johnny schüttelte den Kopf, wahrscheinlich. ''Ich kann nicht.''
Ein weinerlicher Laut. „Wieso zum Teufel nicht?“ Kurz überlegte Johnny.
„Eben.“, meinte Graham siegessicher, dann platzte es aus Johnny heraus:
„Weil ich genauso bin wie du. Weil ich weiß, wie du dich fühlst, weil ich dasselbe fühle.
Weil ich mich morgen umbringen werde. Und es schön wäre, wenn ich wenigstens an meinem letzten Tag etwas Gutes tun würde, wenn ich auch sonst alles falsch gemacht habe.
Deswegen. Verdammte Scheiße.“
Graham nuschelte etwas. „... voll ins Schwarze getroffen...“, hörte Johnny nur.
Kaum zwei Stunden später stand Johnny in seiner blauen Einbauküche, eine wunderbar warme, halbleere Tasse Kaffee in der Hand. Im Hintergrund plätscherte das Wasser seiner Dusche, jetzt stellte Graham es aus. Es war neun Uhr. Johnny fuhr sich durch seine noch feuchten Haare, auch er war frisch geduscht. Es würde eine lange letzte Nacht werden, doch zum ersten Mal seit Ewigkeiten freute er sich auf etwas. Er nahm einen tiefen Schluck und spürte, wie das Leben zurück in seine Venen pulsierte. Wie genau er es geschafft hatte, Graham zu überzeugen, wusste er schon nicht mehr, doch seine Entscheidung war seltsam plötzlich gekommen. Aus heiterem Himmel, wo der echte doch so schwarz gewesen war. Zu Fuß hatten sie für die Strecke bis zu Johnnys Wohnung in Köln-Poll fast eine halbe Stunde gebraucht.
Und beinahe hätte der Kältetod sie erwischt.
Doch jetzt waren sie hier. Graham trottete in einem von Johnnys extraweiten Pullovern herein. Er sah klein und bemitleidenswert aus. Johnny leerte seine Tasse, sein Puls stieg weiter an.
„Auch einen?“ Er hob die Tasse hoch. Graham setzte sich an Johnnys winzigen Küchentisch. „Was machen wir hier?“, fragte er mit müder Stimme.
„Weißt du was, ich mache dir einen. Die Nacht ist noch jung und das soll sie auch bleiben.“
„Was haben Sie vor?“, bohrte Graham weiter. „Jetzt hör doch endlich auf, mich zu siezen!“
Ein genervtes Stöhnen. „Was hast du jetzt vor?“ Johnny nahm sich einen Filter und quetschte ihn in die Vorrichtung seiner Kaffeemaschine. Dann drückte er auf den Knopf.
„Was hast du denn vor?“, fragte er. Graham runzelte die Stirn, im Hintergrund rumorte die Maschine. Mühsam quetschte sie den schwarzen Saft in eine bunte Tasse. „Nun, gerade eben habe ich mir gedacht, schön, dass du im dritten Stock dieses Hauses wohnst.“
Johnny hatte auf dieses Spiel keine Lust mehr. „Okay, du stärkst dich jetzt noch ein paar Minuten und dann ziehen wir los. Ins Herz der Stadt, da, wo das Leben ist.“ Er nahm die nur halbvolle Tasse Kaffee und stellte sie vor Graham auf den Tisch. Der nippte kurz.
Die Tür fiel leise ins Schloss.
Johnny zog seine Mütze tiefer über rote Ohren.
Es schneite wieder. Und es war wieder kalt.
Im Gegensatz zu vorhin hatten sie nun aber dicke Daunenjacken über ihren schwarzen Hemden an. Noch immer zu wenig, aber um Erkältungen brauchten sie sich keine Sorgen mehr machen.
Ihre Haare waren gegelt und inmitten der klaren Luft lag ein feiner Parfümduft.
Derart gut hatte Johnny sich lange nicht mehr gefühlt.
Es war fast wie früher und seine Wangen glühten nicht nur vor Kälte.
Graham schien nicht ganz so begeistert. Sehnsüchtig blickte er in die Ferne, aber er sträubte sich zum Glück nicht weiter. Johnny rechnete jedoch weiterhin mit dem Schlimmsten.
Sie mussten circa hundert Meter bis zu seinem Wagen gehen, einem sportlichen Zweisitzer, den er sich in alten, unbeschwerten Zeiten aus einer Laune heraus gegönnt hatte.
Wie immer hatte Johnny ihn am Ende der kleinen Straße geparkt, sie mussten also ein Stück laufen. Und schon nach zwanzig Metern sah er seine Befürchtungen bestätigt:
Ein Porsche raste die schmale Straße entlang.
Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet und im schummrigen Laternenlicht hörte man ihn eher, als dass man ihn sah.
Schnell stand Graham auf der Straße, die Arme melodramatisch ausgebreitet.
Wieder ging es um Leben und Tod.
Johnny, sowieso auf der Schwelle zwischen beidem, rannte auf die Straße und schmiss sich auf Graham. Ein lautes Hupen durchschnitt die Stille der Nacht.
Der Tod würde sie kriegen, oder das städtische Krankenhaus, keine Frage.
Johnny bündelte all seine Kraft und rammte Graham so heftig, dass er von der Straße stolperte, auf den Bürgersteig. Der Wagen war nur noch Meter entfernt und Johnny sprang und er würde sterben, er spürte das Metall, nur noch Zentimeter entfernt, dann an seinem Bein, wie es ihn streifte und mitriss.
Plötzlich fiel er neben Graham auf die Straße.
Der Porsche bremste neben ihnen, mit quietschenden Reifen, nahm eine Laterne mit und auf einmal war alles schwarz. Johnny fasste sich ans Bein, und es war heile.
Lediglich der Schatten einer Berührung lag noch auf ihm.
Johnny strahlte kurz, dann brüllte er. „Verfickte Scheiße, Graham. Was ist dein Problem?“
„Ich könnte dich dasselbe fragen und du würdest dieselbe Antwort geben.“, kam es aus dem Dunkel. Johnny unterdrückte seine Wut, denn die Gefahr war noch nicht gebannt.
Ganz in der Nähe schwelte der Motor eines kaputten Sportwagens.
„Wir rennen!“, flüsterte er energisch.
Und er hielt, was er versprach.
Er stolperte los, knickte erst ein, dann jedoch hielt sein Bein stand und er rannte um sein Leben. Bald erreichte er den Schein der nächsten Laterne, dankte Gott dafür und wurde noch schneller.
Kurz blickte er zurück, kein Graham.
Vor ihm ein Keuchen, Graham.
Im Laufen kramte er in seinen Taschen, fand den Autoschlüssel und drückte auf den Knopf.
Ganz in der Nähe blinkte es. Johnny zog noch einmal an, sprintete wie nie zuvor.
Schon war er da.
Er wusste nicht, ob sie verfolgt wurden, aber er konnte es nicht ausschließen, also schmiss er die Tür auf, stürzte hinein und hatte den Schlüssel umgedreht, das Gaspedal durchgedrückt, bevor er die Tür überhaupt wieder schloss.
Neben ihm heulte Graham mit dem Motor. In Deutz hatte sich der Motor wieder eingekriegt.
Danach ging es ein weiteres Mal auf die Brücke.
Jenseits des Flusses parkte Johnny sein Auto völlig unversehrt vor einer kleinen Kneipe.
Grünlich schimmerte der Schriftzug S U B M A R I N E an der schneebedeckten Fassade und beschwörte Erinnerungen herauf, die erst tröpfchenartig auf der Oberfläche seines Gehirns tanzten, dann wie ein reißender Strom emporschossen. Johnny schloss die Augen und all die Momente waren wieder da, tanzten im Licht seiner Vergangenheit wie die Bilder eines wundersamen Films. Graham bemerkte sein breites Lächeln wohl. „Was ist los?“
Mit einem Ruck öffnete Johnny die Fahrertür und stieg heraus. Graham krabbelte hinterher, da die Tür auf Beifahrerseite kaputt war. „Das hier, Graham, ist die beste Kneipe Kölns.“
Wie auf ein Zeichen flackerte der Schriftzug, erstarb kurz völlig, glimmte dann nur noch zaghaft. Graham lachte nur.
Die Submarine hatte Anfang der Neunziger, auf dem Höhepunkt der Grunge-Ära, geöffnet. Hier waren Kurt Cobain, Andrew Wood, Eddie Vedder und Konsorten gespielt und gelebt worden. Über den Tod ihres Genres hinaus. Wobei es Johnnys Meinung nach nie wirklich zum Aussterben des Grunge gekommen war, nur zu seiner Weiterentwicklung.
Post-Grunge nannte sich das mittlerweile und hatte so wunderbare Kinder wie
Three Days Grace und Breaking Benjamin geboren. Auch die fanden in der Submarine Beachtung und so war es im Laufe der Jahre zu einer illustren und einzigartigen Mischung jeglicher guter Musik der Welt, vollkommen befreit von hochproduzierten Popfäkalien, gekommen.
Und zu einer Atmosphäre, in der Johnny ganze Tage verbracht hatte.
Doch nun war es schon fast ein ganzes Jahr her, seit er das letzte Mal hier gewesen war.
Sein Herz spielte deshalb ein beeindruckendes Schlagzeugsolo und erst jetzt merkte er, wie sehr er jene alten Zeiten vermisste.
Johnny schloss den Wagen ab und seine Beine trieben wie von selbst auf den großen Altbau am Rande der Stadt zu. Graham folgte ihm zweifelnd, mit einigen Schritten Abstand.
„Jetzt mal ehrlich, ich habe noch nie was von dieser Kneipe gehört und sie sieht so aus, als hätte das einen Grund.“, quengelte er.
„Hast du jemals etwas Negatives darüber gehört?“, konterte Johnny.
Graham schüttelte den Kopf. „Eben. Lass dich einfach überraschen.“
Johnny lehnte sich gegen die schwere Holztür des Hauses, sie öffnete sich schwerfällig.
Please Mother Mercy, take me from this place.
Schallwellen spielten ihnen erste, leise Töne vor. Er zog seine Jacke aus.
And the long winded curses I keep hearing in my head.
Johnny erkannte das Lied und nickte den Kopf im Takt und summte mit und war glücklich.
Words never listen and teachers, oh, they never learn.
„Moment, sind das Temple of the dog?“, riss ihn Graham aus seiner Trance.
„Du kennst die Band?“, fragte er erstaunt. „Ich liebe sie! Ist das ein Rockschuppen hier?“
In seiner Stimme lag Enthusiasmus. Johnny lachte. „Kann man so sagen, ja.“
Now I'm warm from the candle, but I feel too cold to burn.
„Klasse, man. Geil.“
Graham schaute sich um und zog seine Augenbrauen zusammen. Sie standen in einem einfachen, altbautypischen Hausflur. Nichts deutete auf eine Bar oder Ähnliches hin.
He came from an island and he died from the street.
Sein Blick wandte sich auf eine breite Holztreppe, die in unterirdische Dunkelheit führte.
„Im Keller?“
Johnny nickte wieder und Graham stimmte zufrieden ein.
„Das hat was. Das hat tatsächlich was.“
Graham lief los, nahm immer zwei Treppenstufen auf einmal.
He hurt so bad like a soul breaking, but he never said nothing to me.
Kurz überlegte Johnny, dann rannte er hinterher.
So say hello to heaven!
Die Musik wurde lauter, immer lauter, schon war Johnny wieder zuhause.
Hinter einer schlichten schwarzen Tür, auf der ein grünes U-Boot gemalt war, verbarg sich ein nicht zu kleiner, nicht zu großer Saal.
Johnny hing die Jacke an einen Kleiderhaken an der Wand, dann blickte er sich im Raum um.
Und die Erinnerungen waren jetzt ein reißender Strom, ein Wasserfall.
Da war die riesige Theke aus grobem Holz, sie thronte in der Mitte des Raumes wie früher und Johnny sah den Barhocker ganz außen, dessen Kissenabdruck einst er selbst geprägt hatte.
Da war die Lounge links von der Theke, mit all ihren großen Couches, kleinen Sesseln, winzigen Tischen, er hatte jedes einzelne Möbelstück verinnerlicht.
Da war die Tanzfläche auf gegenüberliegender Seite, schummrig, verschwitzt und vor allem die Bühne in ihrer Mitte, scheinbar schwebend, auf jeden Fall magisch.
All die Male, in denen Johnny hier gestanden, gesungen, Gitarre gespielt hatte, in denen er bejubelt worden war, die Leute zu Tränen gerührt hatte, machten nun dasselbe mit ihm.
Johnny stand einfach da und genoss die Vergangenheit, tat so, als würde sie ihm gehören.
Dann holte ihn eine tiefe Stimme zurück in die Gegenwart, ein markerschütternder Schrei.
„Johnny!“ Und nochmal: „Johnny!“ Ungläubig, in Ekstase. Immer wieder: „Johnny.“
Die Kneipe war gut gefüllt, hundert Menschenaugen starrten ihn an. Aus ihrer Mitte schälten sich knallrote Artgenossen. Ein dunkelhäutiger Mann torkelte hervor, riesig, mittleren Alters, schniefend. Schreiend. „Johnny!“ Es war Sean, einer der beiden Besitzer. Es war Vergangenheit, die endlich wieder Gegenwart war.
Zwei weinende Männer nahmen sich in den Arm. Johnny fand seine Stimme kaum. „Sean.“
Der ließ los, nahm Johnnys Backen zwischen beide Daumen und Zeigefinger.
„Du bist es. So lange...“ Ein Weinkrampf schüttelte ihn. „So lange.“, wiederholte Johnny.
„Warte, ich hole Ernst. Bleib hier. Geh nicht wieder.“ Johnny lachte. „Keine Angst.“
Sean drehte sich um, wollte wieder lostorkeln.
Aber da war Ernst schon, ein Tier von einem Mann, in Tränen aufgelöst, trotzdem lachend.
Er lachte immer, Johnny kannte keinen optimistischeren Menschen.
Und es ging von vorne los, nur mit dünnerer Stimme. „Johnny! Johnny! Johnny!“
Johnny blieb wortkarg. „Ernst.“ Nach all den Jahren, die sie nun schon zusammen waren, ähnelten sich Sean und Ernst in ihrem Verhalten wie ein Ei dem anderen. „So lange.“, sagte auch er deshalb. „Ich weiß.“, entgegnete Johnny. Er presste eine letzte Träne heraus, wappnete sich. Dann ging es los. „Wo hast du gesteckt?“, krächzte Sean.
„Lange Geschichte.“, fing Johnny an. „Wollen wir uns nicht...“
„Wo habt ihr beide gesteckt?“, unterbrach Sean ihn.
„Ja, wo hast du Marie gelassen?“ Und Ernst hatte ins Schwarze getroffen. Johnny schwieg und beobachtete, wie sein Lachen gefror. Das war neu. „Eine lange Geschichte.“, wiederholte er.
Johnny blickte sich suchend um. Wo war Graham?
Er entdeckte ihn auf der Tanzfläche.
Ewig wollte er seinen Blick weiter schweifen lassen, oder einfach das Thema wechseln, aber es half alles nichts. „Sag mir nicht, dass sie...“ Seans Miene war versteinert.
„Sie ist tot.“, beantwortete Johnny die unausgesprochene Frage. Auch die Miene von Ernst war frisch zugemauert worden. „Und ich bin schuld.“
Sie schauten sich an. Eine unangenehme Stille schoss mit Pfeilen auf Johnny.
Dann platzte es. Aus ihm heraus. Alles.
„Wir sind von hier nach Hause gefahren, es ist jetzt bald ein Jahr her, also ich war am Steuer und es war dunkel und auf einmal waren da Scheinwerfer, vor uns, auf unserer Spur, und sie rasten uns entgegen. Ich hätte noch ausweichen können, aber ich bin... irgendwie... gefroren, und ich konnte mich nicht mehr bewegen und das Scheißauto kam und ist uns vornedrauf gekracht.“ Sean und Ernst keuchten auf. „Marie ist am nächsten Tag im Krankenhaus gestorben und seitdem wünsche ich mir nichts mehr, als statt oder zumindest mit ihr gestorben zu sein.“ Ihnen kamen erneut die Tränen, doch sie waren bitterer als ihre Vorgänger.
Johnny fuhr fort: „Ja, ich bin sogar Taxifahrer geworden, um ihr nachzufolgen, aber keiner hat mir den Gefallen getan.“ Er lachte traurig auf.
Im Augenwinkel sah er Graham mit einem süßen Emomädchen tanzen, enger als bei Slipknot üblich. Eigentlich wollte er nicht weiterreden, doch es hatte ihnen die Sprache verschlagen. „Also wollte ich mich selbst töten. Morgen sollte es sein.“ Bewusst sprach er in der Vergangenheitsform. „Aber dann kam der Gefallen doch. Vorhin hat ein Fahrgast mich gezwungen, mein Taxi in den Rhein zu setzen. Ich hab den Tod gesehen und er mich, aber dann wollte ich ihn nicht mehr. Ich bin aufgetaucht, und Graham, der Fahrgast, der Selbstmord begehen wollte, ironischerweise auch und jetzt will ich ihm zeigen, dass das Leben lebenswert ist, weil ich selbst es jetzt wieder weiß.“ Obwohl es eine Lüge war, klang es richtig.
„Scheiße, große Scheiße.“, sangen Sean und Ernst im Chor. „Ihr wart so ein süßes Paar.“
Sie versuchten sichtlich, die Mauern vor ihren Gesichtern einzureißen, so ganz klappte es nicht. „Aber wir sind froh, dass wenigstens du wieder da bist, Mann!“, bemühte sich Ernst um Fröhlichkeit und zwang seine Mundwinkel nach oben.
Dann wurde es wieder still, und nur in ihnen war es laut, als sie in ihren eigenen Gedanken versanken. Es dauerte zu lange, bis Sean endlich wieder sprach.
„Bier?“, fragte er. Sie nickten nur.
Sean stieg hinter die Theke, an der gerade Doris, eine braungebrannte Enddreißigerin mit blondgebleichten Haaren, hantierte. Bei ihrem Anblick stiegen nur feuchte Erinnerungen in Johnny auf, es waren die Frühesten jener Art. Sie bediente gerade Graham und seine kleine Freundin, die ihre gepiercte Zunge tuschelnd in sein Ohr zu pressen schien. Auf den zweiten Blick sah sie nicht mehr süß aus. Hübsch ja, aber irgendetwas passte nicht ins Bild.
Während Ernst drei Sessel ganz am Rand des Raumes für sie in Beschlag nahm, blickte Johnny sich weiter im Raum um. Viel hatte sich nicht verändert, das war gut. Noch immer hangen sie überall an der Wand, die Trophäen einer vergangenen Ära.
Baumfällerhemden von Kurt Cobain, ein Schlagzeugstick von Dave Grohl, eine Gitarrensaite, auf die einst Kim Thayil eingedroschen hatte. Und neuere Artefakte, wie ein Tourneeplakat von Seether, eine Kappe von Mike Shinoda, ein Hut von Adam Gontier. Eingerahmt von unzähligen Fotos war es das wohl umfangreichste Museum der modernen Rockgeschichte in Deutschland. Noch immer beeindruckte es Johnny jedes Mal.
Doch jetzt gab es erst einmal Wichtigeres: Menschen. Freunde.
Nachdem er es sich im weichen, durchgesessenen Leder eines Sessels gemütlich gemacht hatte, öffnete er deshalb seinen Mund statt der Augen.
„Und, wie war euer Jahr so?“, fragte er in der Absicht, dieses grausame Schweigen nachhaltig zu vertreiben, die schlechte Stimmung gleich mit. Es war ein Tag des Wiedersehens, der Wiedergeburt, ein Tag der Freude nach Monaten der Trauer und selbst und vor allem Marie hätte nicht gewollt, dass sie auch ihn traurig begingen.
„Wunderbar.“, sagte Ernst fröhlich, ehrlich fröhlich. „Der Laden läuft, wir hatten im Juni sogar Eddie Vedder hier, ich weiß nicht, hast du das mitbekommen? Es stand groß in der Zeitung.“ Er wartete nicht auf eine Antwort, fuhr einfach fort. „Ach ja, und wir haben uns endlich getraut.“ Johnny wartete vergeblich auf eine Erläuterung. „Wozu?“
Ernst lachte. Dann hob er die rechte Hand, seinen Ringfinger umgab edler Schmuck.
Johnny musste grinsen, dann brach es schallend und ungekünstelt aus ihm heraus.
Als Sean mit zwei Biergläsern in jeder Hand an ihren Tisch humpelte, lachten sie noch immer. Skeptisch kräuselte er seine Stirn.
Ernst klärte ihn auf und er stimmte ein und endlich waren die Mauern wirklich weg.
„Und Sven, was macht der so?“, fragte Johnny beiläufig.
„Ich weiß nicht.“, antwortete Ernst. Johnnys Lächeln erstickte, so nebensächlich war das Thema für ihn. „Aber morgen ist er hier.“
Das breite Grinsen auf seinem Gesicht sprach Bände.
Seit dem Studium war Sven, langhaarig, Säufer vor dem Herrn, sein bester Freund gewesen. Auch ihn hatte er nun aber seit fast einem halben Jahr nicht mehr gesehen.
In Johnnys großer Depression, als er sich von allem und jedem abgeschottet hatte, hatte das Sven eingeschlossen, der sich zwar sehr lange gewehrt, aber im Endeffekt ebenso verloren hatte wie alle anderen. Es hatte kein Werkzeug gegeben , das imstande gewesen war, den Stein, den Johnny in Mauern um sich gestapelt hatte, zu zerstören.
Sven war der Einzige gewesen, der Bescheid gewusst hatte und Johnny rechnete es ihm hoch an, dass er sein Versprechen gehalten, es niemandem erzählt hatte. Er war ihm immer ein guter Freund gewesen und Johnny freute sich darauf, ihm das morgen endlich sagen zu können.
„Mein lieber Scholli, der wird sich freuen.“, tönte Sean in breitestem Kölsch.
„Ich auch.“, dachte und sagte Johnny.
Sie redeten noch eine Weile über das Eine, das Andere und die Dinge dazwischen, während im Hintergrund Chester Bennington dem Abgrund einem Schritt näher kam und Ben Burnley dort unten bereits mit dem Teufel tanzte. Dann legte Luis, der dritte Mann des submarinen Trios, der Mann hinter der Musik, Rooster von Alice in Chains auf und ließ Johnny panisch werden. Er blickte sich im Saal um, stellte den Suchmodus seiner Augen ganz auf Graham ein. Der Barhocker, auf dem er und seine kleine Freundin noch vor wenigen Minuten aneinandergeklebt hatten, war leer. Lediglich ihre roten Augen schienen noch immer dort zu schweben, mit verschwindend kleinen Pupillen, verklärtem Blick. Junkieaugen.
Er suchte energischer, riss seinen Kopf nach links und nach rechts, immer wieder, aber Graham blieb verschwunden.
Er stufte den Gedanken von bloßer Paranoia zur Vorahnung hoch und rückte energisch seinen Stuhl zurück. Layne Staley, dessen rauchige Stimme gerade aus den Lautsprechern dröhnte, war 2002 an einer Überdosis gestorben.
Was, wenn Graham gerade dasselbe Schicksal ereilte, nein, ersuchte?
No, no, no, ya know he ain't gonna die!
Johnny hoffte, dass Staley recht behielt.
„Muss mal kurz auf's Klo.“, stotterte er und unterbrach Sean mitten im Satz.
Nachdem er aufgestanden war, ging er erst betont locker und langsam, um schnell an Tempo aufzunehmen. Die Toilette war am anderen Ende der Kneipe. Hektisch schob Johnny sich zwischen den Tischen und Sofas hindurch, an einem Sessel blieb er hängen. Er stolperte, riss den Sessel mit sich zu Boden, rappelte sich wieder auf. Weil alle Augen nun sowieso auf ihm ruhten, begann er, zu rennen. An der Theke vorbei, aufs abgenutzte Tanzparkett.
Er verschränkte die Arme vor der Brust, benutzte sie als Rammbock und rempelte sich im größtmöglichen Tempo durch die springenden Massen. Es schien wie eines dieser endlosen Computerspiele, als der Boden unter seinen Füßen länger und länger wurde, die Wand als Ziel weiter und weiter im Hintergrund verschwand. Und er schien nicht weiterzukommen, wie im Traum klebten seine Füße am Boden. Johnny schloss die Augen, boxte sich durch zwei weitere Menschenreihen, die dritte wich nicht mehr, denn sie war aus Holz.
Erschöpft, doch erleichtert öffnete er seine Augen wieder.
Umfasste den Türgriff mit schwitzigen Händen. Hoffte, dass er nicht zu spät kam.
Ya know he ain't gonna die, sang Staley ein letztes Mal.
Dann gab er Ruhe, was nur gerecht war, schließlich war er tot.
He ain't gonna die!
Bitte.
Die Tür der Männertoilette krachte gegen nackte Wand. Unter Schmerzen blutete sie Putz auf den braunen Parkettbelag. Danach knallte sie zurück in ihren Rahmen, und Holzspäne gesellten sich dazu. Ein Massaker.
„Graham!“, schrie Johnny und als er keine Antwort erhielt, war ihm alles egal.
Wahllos schmiss er Kabinentüren auf. Die erste, zweite, dritte waren leer.
Dann hörte er den Anderen atmen. Und er schmiss die vierte Tür derart heftig auf, dass sie aus ihren zarten Angeln gerissen wurde. Mit einem Krachen landete sie vor einer Stehtoilette.
Johnny hatte jetzt freie Sicht, sie gefiel ihm nicht und er konnte seine Vorahnung fortan Realität nennen. Graham saß da, eine lange Spritze in zitternder Hand.
Mit roten Augen. Junkieaugen? Den Augen eines Sterbenden?
Johnny gab nicht auf und stürmte auf ihn zu. Graham bohrte sich die Nadel in den Unterarm, hatte den Finger schon am Kolben. Zitterte wie bescheuert und es waren nur die Augen eines Verzweifelten, denn der Zylinder war noch voll. Johnny riss ihm die Nadel aus dem blassen Fleisch. Ein kleiner Tropfen schälte sich heraus und landete auf der kleinen, leicht blutenden Stichwunde, die die Einwegspritze hinterlassen hatte. Dann riss er Graham, der noch vollständig bekleidet war, vom Toilettensitz hoch, klappte diesen hoch, schmiss die Droge hinein und spülte ab. Einmal. Graham hockte weinend am Boden. Zweimal. Er trat mit den Füßen um sich wie ein kleiner Junge, der nicht das bekam, was er wollte. Dreimal.
„Wieso lässt du mich nicht sterben?“, heulte er.
„Wo ist das Mädchen?“, fragte Johnny seinerseits, mit ruhiger Stimme, beruhigendem Tonfall. „Weg.“
„Was hast du ihr gegeben, du hattest kein Geld.“
„Hatte ich nicht?“
„Woher?“
„Ich war schon immer gut darin, mir Dinge zu nehmen, die mir nicht gehören. Es sei denn, jemand funkt mir andauernd dazwischen, verfickte Scheiße.“
Johnnys Schienbein vibrierte unter Grahams Tritt und er stöhnte auf, wollte schreien, aber hielt sich zurück. „Dein Leben gehört dir. Und du solltest es nicht einfach wegschmeißen.“
„Das sagt der Richtige.“
„Du hast doch keine Ahnung.“
„Das sagt der Richtige.“
„Sag mir eins, Graham...“, meinte Johnny mit bebender Stimme. Seine Dämonen wollten raus.
Der Junge zuckte die Schultern.
„Hast du deine Freundin umgebracht? Musst du jeden verdammten Tag mit dem Vorwurf leben, dass sie hätte gerettet werden können, aber du nur dich selbst gerettet hast?“
Graham rieb sich den rechten, eben noch abgeschnürten Arm, in dessen Mitte das Blut langsam versiegte. Zum zweiten Mal in solch kurzer Zeit erzählte Johnny die Geschichte, die vorher nur Sven gekannt hatte. Am Ende war Grahams Gesichtausdruck von Hass zu Mitleid gewechselt.
Johnny wunderte sich, warum noch immer niemand anderes in das WC gekommen war.
So waren sie wie in ihrer eigenen kleinen Welt. Bloss ein einziges Mal war Seans Stimme von draußen erklungen. „Alles gut?“, hatte sie gefragt. Johnny hatte „Ja.“ geantwortet und seitdem hatte sie nichts und niemand mehr gestört. Doch nun klingelte sein Handy. Enter Sandman.
Er drückte den Anruf weg. Das Gespräch mit seinem Chef war wichtig, aber aufschiebbar.
„Du magst Temple of the Dog nicht wirklich, oder?“
„Gar nicht, nein. Ein alter WG-Kumpel hat die gehört und mir immer einen davon erzählt, dass Rock allein richtige Musik ist. Ich seh das anders, ich steh mehr auf Rap.“
Johnny blickte sehnsüchtig auf die Toiletten um sich. Liebend gerne hätte er sich übergeben.
„Du hättest einfach sagen können, dass das nichts für dich ist. Wir waren hier allein wegen dir.“, log Johnny unbewusst.
Graham lachte bitter. „Er hat mir auch von diesem Schuppen hier erzählt. Und von Jessy, dem Mädchen von vorhin. Ich sah meine Chance, und fast... aber dann...“
„Kannst du mir versprechen, nicht mehr mit mir zu spielen?“, unterbrach Johnny. „Das bringt keinem von uns etwas.“
„Solange du dich aus meinem Leben raushältst.“
Johnny stöhnte. „Du weißt, das kann ich nicht.“
Graham stöhnte. „Wieso nicht?“
Sie hörten nur ihren Atem. „Wir wiederholen uns. Wir brauchen ein Thema, das wir noch nicht hatten.“
„Zum Beispiel?“
„Zum Beispiel, wieso du hier bist.“
„Mh?“
„Wieso willst du dich umbringen, Graham? Ich hab dir erzählt, wieso ich es wollte. Jetzt bist du an der Reihe. Your turn.“
Graham hielt die Luft an. „Was ist mit dem Anruf von eben? Willst du nicht zurückrufen?“
„Erzählst du es mir danach?“ Widerwillig nickte er.
Auch in umgewandelter, elektronischer Form, erklingend durch den scheppernden Lautsprecher eines alten Mobiltelefons, waren die Schimpftiraden von Johnnys Chef noch immer ein Erlebnis. Er konnte den Speichel des alleinlebenden baldigen Pensioniers förmlich in seinem Ohr spüren. Es war so beeindruckend wie bedrohlich.
Das Schöne war: Was sein Gegenpol am anderen Ende der sprichwörtlichen Leitung auch für einen Unsinn verzapfte, Johnny störte, ja, interessierte es nicht im Geringsten.
Nachdem der alte Mann nach eigenen Angaben stundenlang verzweifelt und vergeblich versucht hatte, Johnny zu erreichen, war er natürlich in großen Sorgen um ihn gewesen.
„Die Kollegen hatten mir erzählt, du seist einfach abgehauen, ohne Vorwarnung, vor allem ohne Fahrgast und niemand hätte danach wieder etwas von dir gehört.“, reihte er offensichtliche Unwahrheiten aneinander. Und dann, so sagte er, seien seine schlimmsten Befürchtungen gerade vom Radio Köln bestätigt worden: sein Taxi trieb zerstört im Rhein.
Und das Schwein, das dafür verantwortlich war, lebte noch.
Johnny grinste breit und breiter, während der andere sich in seiner Rage in immer größeren Widersprüchen verfing. Mit ruhiger Stimme setzte er seinen Arbeitgeber darüber in Kenntnis, dass ihr Geben und Nehmen ein Ende finden würde.
„Wegen des Autos können sie sich gerne mit meinem Anwalt in Verbindung setzen. Ansonsten werde ich keinen Anruf mehr von ihnen entgegennehmen. Die Kündigung erhalten sie per Post.“, sagte er distanziert, aber freundlich.
Als Grund nannte er private Probleme, dabei war es das genaue Gegenteil.
Er verabschiedete sich, der Mann, der einmal sein Boss gewesen war, nicht.
Dann legte er auf. Schwieg nur kurz, bevor er sich wieder seinem eigentlichen Fall widmete.
„Ich wäre dann soweit.“
Er schlug die Beine übereinander, legte seine Hände übereinander und in den Schoß, wie die schauspielenden Therapeuten im Fernsehen.
Graham schaute auf. Er saß im Schneidersitz in einer Raumecke, seinen Blick bis dato konsequent auf den eigenen Schritt gerichtet.
Öffnete den Mund jetzt, schloss ihn dann wieder.
Holte Luft, ließ sie nicht mehr los.
Haderte mit sich selbst, verlor oder gewann den Kampf schließlich.
„Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen. Ich finde nur, mein Leben ist sinnlos. Ich habe noch nie irgendetwas getan, auf das ich stolz sein konnte. Ich hatte noch nie einen wirklichen Freund, auf den ich mich verlassen konnte. Ich hatte noch nie eine Freundin.“
Johnny blickte auf den langhaarigen Zottel am Boden.
Wenn man einmal von diesem umkehrbaren Unfall auf seinem Kopf absah, sich das Gesicht ohne verheulte Röte und bitterem Tränen vorstellte, so saß da ein zwar nicht übermäßig aber zumindest halbwegs gutaussehender junger Mann vor ihm. Johnny schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Und es sieht auch nicht so aus, als würde sich bald irgendetwas Grundlegendes ändern.
Ich hab nur nen mittelmäßiges Abi - zwei vier - , dabei wollte ich eigentlich Arzt werden.
Jetzt könnte ich mir irgendetwas anderes suchen, das mir nie Spaß, dafür immer Stress und langsam Depression bringen würde. Das wäre die eine Möglichkeit. Die andere kennst du. Meine Vergangenheit, meine Zukunft, die Gegenwart, all das ist sinnlos. Und nur mit einem letzten Schritt, dem ersten sinnvollen, der all das, Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, für mich ausradiert, lässt es sich beenden. Frag mich nach Hoffnung und ich versichere dir, dass ich sie nicht mehr habe. Glaube? Ich glaube nur noch an den Tod. Also versuch nicht, mich mit irgendwelchen dummen Worten zu retten. Solange du meine Situation nicht ändern kannst und das kannst du nicht, solange werde ich mich immer für das entscheiden, an das ich glaube. Nicht für das, was ich glauben soll.“
„Ich bin froh, dass ich nicht mehr so denke wie du. Ich denke jetzt, du solltest das Wenige, was du hast, nicht wegschmeißen, denn dann hast du gar nichts mehr. Meinetwegen, dann bist du eben keiner derjenigen, denen das Glück zufliegt. Das bin ich auch nicht. Aber für mich ist der einzige Grund, etwas nicht zu finden, dass man es gar nicht wirklich sucht.“
Johnny wunderte sich, denn fast glaubte er seine eigene Lüge. Sie war überzeugend.
Graham stieß unterdessen ein verächtliches Lachen aus. „Ich sehe das anders.“
„Wie siehst du es?“
„Man findet, was man nicht sucht und sucht, was man nicht findet.“
„Ich war auch immer einer von denen, die sagen: das Glas ist halb leer. Und noch immer würde ich diesen Zustand niemals als halb voll bezeichnen. Aber...“
„Ich schon. Aber ich würde sagen, dass es nie wirklich voll ist. Nur andauernd völlig leer.“
Eine Viertelstunde später saß Johnny auf einem Hocker auf der kleinen Bühne des Submarine. Die hauseigene Akustikgitarre ruhte auf seinem Schoß, ein Mikrofon vor seinem Mund.
Die Leute schauten erwartungsvoll auf den Mann, der gerade noch ein Riesentheater veranstaltet hatte, jetzt jedoch vom dicken Besitzer als verdammt noch mal beste Stimme in ganz Deutschland vorgestellt worden war.
Graham stand in erster Reihe und auch wenn er es später bestimmt leugnen würde, so war ein gewisses Interesse bei ihm dennoch nicht zu übersehen.
Sie hatten mehr oder weniger zusammen beschlossen, diese Nacht noch weiter gemeinsam zu verbringen und nicht mit dem Besuch dieser Kneipe zu beenden. Johnny hatte vor, dem Jungen im Laufe der Nacht wenigstens eine seiner zahlreichen Baustellen zu schließen, zumindest ein Schlagloch mit neuem, glatten Belag zu überziehen, sodass er von hier seinen Weg fortsetzen konnte, wenn er nur einmal wusste, dass alles ging, wenn man nur wollte.
Sie waren gerade aus der Toilettentür gekommen, da waren Sean und Ernst schon herbeigeeilt, besorgt wie ein altes Elternpaar. Während Graham im Hintergrund verschwunden war, hatte Johnny ihnen versichert, dass alles gut war. Sean hatte gegrinst und in Richtung des Tisches gedeutet, an dem ihre Biere noch immer gestanden hatten. Johnny hatte bloss den Kopf geschüttelt. „Nein.“, hatte er gesagt. „Wir haben noch einiges zu erledigen.“ Sie hatten es bei einem leicht gekränkten Stirnrunzeln belassen.
„Aber eins schuldest du uns noch.“, hatte dann Ernst gemeint. „Warte hier.“
Zwei Minuten später hatte er Johnny die Gitarre geholt, weitere drei Minuten waren nötig, um auf die Bühne zu treten und ihn anzukündigen.
Und jetzt saß Johnny hier.
Für ihn war von Anfang an klar gewesen, was er sang, weil es völlig klar war, für wen er es tat. Und so nahm er Graham ganz genau ins Visier, als er die ersten Töne von
Never too Late anspielte. Die Leute jubelten. Johnny grinste, wie sehr hatte er das vermisst.
This world will never be what I expected. And if I don't belong, who would've guessed it.
I will not leave alone everything that I own to make you feel like, it's not too late, it's never too late!
Die Leute schrien mit ihm. Begeistert. Es war das schönste Gefühl der Welt. Schon immer hatte man Johnny gesagt, dass er fast wie Adam Gontier klang und das war das größte Lob, das man nur kriegen konnte. Johnny holte tief Luft, dann drisch er auf die abgenutzten Saiten der alten Gibson ein. Und schrie sich die Kehle aus dem Leib.
And even if I say it'll be alright
Still I here you say you want to end your life.
Now and again we'll try to just stay alive
Maybe we'll turn it around, 'cause it's not too late, it's never too late.
Der Lärm, den die jubelnde Rockergemeinde produzierte, nachdem Johnny den letzten Ton aus der Gitarre gequetscht hatte, drang wahrscheinlich vom Keller bis in den obersten Stock des Gebäudes hinauf. Dort wohnte die Mutter von Ernst und vielleicht wusste sie von diesem Augenblick an, dass Johnny wieder da war. So jubelten die Leute nur bei ihm.
Er selbst badete im Beifall. Es war wie pures Leben, das man ihm in die Adern spritzte.
In seinem Inneren strahlte er, nach außen hin lächelte er lediglich. Bescheiden stand er auf, legte die Gitarre auf den Hocker und kletterte umständlich von der Bühne herunter.
Sean kam angerannt und in seinem Enthusiasmus kam der alte Amerikaner in ihm zum Vorschein. „You still got it, brother. Nailed it!“, kaute er sein Kaugummi.
Dann umarmte er ihn, Johnny ließ zuerst los. Graham war schon auf dem Weg Richtung Ausgang. „Wir sehen uns, brother.“, lachte er, „Bis morgen!“ und er merkte nicht, was er damit versprach.
Er schlug sich durch die nun zum Klassiker Smells like Teen Spirit abrockende Menge, erntete Dutzende Rückenklopfer. Als er an der Bar vorbeiging, zwinkerte ihm Doris zu.
„Schön, dich wieder hier zu wissen, Kleiner.“ Er zwinkerte einfach zurück.
Graham wartete an der Tür auf ihn, ihre Jacken schon unter den Armen und als sie zugeschlagen war, pfiff er anerkennend, während er Johnny seine reichte.
„Wer hätte das gedacht?“, meinte er rhetorisch, während sie die Treppe hinaufsprangen, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Johnny war skeptisch. „Spielst du wieder deine Spielchen?“
„Was würde mir das bringen? Nein, ich mag die ganze Richtung wirklich nicht besonders.
Aber für gute Stimmen bin ich immer zu haben. Und deine... ich meine... übel!“
Johnny kramte das alte Lächeln aus einer hinteren Schublade, das er früher immer nach derartigen Lobeshymnen gezeigt hatte. „Danke.“ Er stieß die Tür auf und eine Windböe pustete ihm weiße Flocken ins Gesicht. Das Schneetreiben hatte sich verdichtet und auf dem Boden lag bereits eine kleine Decke. Sie würde wohl zum ersten Mal in diesem Jahr liegen bleiben.
Die Temperatur ließ es jedenfalls zu. Sie hatte weiter abgenommen und lag mittlerweile deutlich unter Null. Johnny zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn hoch.
„Und was jetzt, Commander?“, fragte Graham und die Ehrfurcht war schon fast wieder verschwunden.
„Lass uns das im Auto besprechen.“
Schnee zerknirschte unter ihren Schritten zu Fußabdrücken, die sich langsam dem kleinen Sportwagen näherten. Seine Türen öffneten sich erst, dann schlossen sie sich wieder, wie es ihre Bestimmung war.
Von da an dauerte es nur noch den Bruchteil einer Sekunde, bis Graham seine Frage wiederholte. „Okay, was jetzt, Johnny?“
„Jetzt, Graham, suchen wir dein Glück.“
Erneut röchelte der sein überlegenes Lachen. „Suchen kann man immer, finden wird man nie.“, stellte der allgegenwärtige Pessimist in ihm fest.
„Wieso nicht?“
„Weil Glück langfristig ist.“
„Glück, was ist das schon?“
„Glück ist, ob man schlechte Tage hat - oder ein schlechtes Leben.“
Johnny hob die Augenbrauen. Der Junge erstaunte ihn immer wieder.
Wie konnte so jemand sein Abitur versauen?
„Weil man erst gute Tage kennen muss, um schlechte zu erleben?“, fragte er.
„Genau.“
Johnny grinste in sich hinein, Graham war in seine Falle getappt.
„Gut. Dann wollen wir mal zusehen, dass wir dir einen glücklichen Tag verschaffen, aus dem irgendwann einmal ein gutes Leben werden kann.“
Graham biss sich auf die Unterlippe, blieb jedoch stumm.
In die Stille hinein heulte der Motor umso lauter. Johnny legte vorerst noch keinen Gang ein.
„Okay, Graham. Ich werde dir jetzt ein Wort sagen und du nennst mir den Namen, den du damit verbindest. Bereit?“
Verwirrt nickte er.
„Liebe.“ Graham begann zu stammeln.
„Was...?“
„Nein. Sag mir einfach den Namen.“
Graham sträubte sich weiter und Johnny verstand jetzt die mittelmäßigen Noten.
„Du hast das Bild schon gesehen, nenn mir einfach seinen Titel.“
„Okay, okay, okay. Ich schätze... der Titel ist... Celine. Celine Herker.“
„Woher kennst du sie?“
Wieder folgte Stille. Johnny legte jetzt den Rückwärtsgang ein und manövrierte den Wagen aus engster Parklücke. „Mach es nicht schwieriger als es ist.“
„A...aus der Schule. Aus dem Schauspielclub der Schule genauer gesagt. Aber jetzt hab ich sie ein halbes Jahr nicht gesehen.“
Johnny wechselte in den ersten Gang, fuhr vorsichtig die Sackgasse entlang.
„Und ihr standet euch nahe?“
Zögernd bewegte Graham seinen Kopf erst auf, dann ab.
„Gut. Kennst du ihre Adresse?“
Er wiederholte es.
„Okay. Das nächste Wort ist Hass.“
Graham überlegte nicht. „Walter Adams, auch aus der Schule.“
„Ein Lehrer?“
„Nein, ein Schüler, und der übelste, den du dir vorstellen kannst. Er hat mich jahrelang gemobbt.“
„Und er heißt Walter?“
Sie lachten beide, Johnny unterbrach. Sie waren am Straßenende angekommen.
„Okay, du kennst seine Adresse auch?“
„Nein, aber ich glaube, sie steht im Telefonbuch. Ich war schon einmal da.“
Johnny fragte nicht, was er da gesucht hatte, es konnte sowieso nur eins sein: Rache.
„Gut. Denk jetzt nochmal an beide Gefühle, an beide Bilder in deinem Kopf. Hast du's?“ Grahams Kopf tickte auf und ab, wie eine Maschine.
„Welches siehst du deutlicher? Welches fühlst du stärker?“
Wieder brauchte er nicht zu überlegen. „Den Hass.“
„Okay, dann sag mir jetzt die erste Adresse, unser erstes Ziel.“
Überraschenderweise wehrte Graham sich nicht weiter.
Die Fahrt war ein Albtraum und ausnahmsweise hatte Graham damit nichts zu tun.
Der Neuschnee hatte sich mit dem Dreck der Autos in jene fürchterliche, braune Masse verwandelt, die das Autofahren zu einer rutschigen Höllenfahrt werden ließ.
Auch wenn Johnny sich nach diesem Jahr für einen geübten Fahrer hielt, brauchte er trotzdem eine schlechte halbe Stunde bis zu der Adresse, die Graham ihm gegeben hatte.
Eine katastrophale Zeit, dafür dass das kleine, rote Einfamilienhaus von Maries Familie direkt auf der anderen Seite des Rheins lag, in Rodenkirchen.
Johnny erinnerte sich schmerzhaft, wer hier noch gewohnt hatte. Das Bild, das in seinem Kopf auftauchte, war das, das er sah, wenn von Liebe die Rede war.
Doch während diese Liebe verloren war, war es für Graham und Celine noch nicht zu spät und so sah Johnny dem dünnen Abiturienten in der dicken Jacke durch das geöffnete Fahrerfenster wie ein stolzer Vater nach.
„Graham.“, schrie er gegen den Schneesturm an. Der Gerufene drehte sich noch einmal um.
„Bitte spiel´ nicht wieder mit mir. Bitte versprich mir, dass das hier nicht das Haus von der Kleinen von gerade ist und ich dich nie wiedersehe.“ Graham lachte. „Keine Angst, ihre Eltern sind katholisch. Bis später dann!“ Johnny erwiderte den Gruß stumm.
Graham wandte sich wieder ab. „Ach, und Graham?“ Und drehte sich noch einmal um.
„Was noch?“, fragte er leicht genervt.
„Viel Glück!“
Graham grinste. „Glück, was ist das schon?“
Im Lachen sah Johnny den Jungen zum Haus gehen. Er schaute auf die Uhr.
Es war jetzt halb elf.
Und während im Vordergrund ein Licht aus der Eingangstür des Hauses drang, wieder verschwand und Graham mitnahm, während Johnny selbst sich gerade überlegen wollte, was er nun machen sollte, tauchte die Antwort in Form einer Silhouette am anderen Ende der mit Laternen nur kläglich beleuchteten Straße auf.
Erst hatte Johnny die schwarze Silhouette, die sich ihren Weg zu ihm bahnte, kaum wahrgenommen. Doch als die plötzliche Lichtreflektion einer Laterne ihr olivfarbenes Gesicht aufflackern ließ, stockte sein Herz. Er war sich sicher, ein Gespenst zu sehen. Marie.
Sie war zur Hälfte Griechin gewesen, mütterlicherseits, und er kannte jede Pore dieser Haut, dieser wunderbaren...
Johnny dämmerte die Wirklichkeit und er wünschte sich sein Gespenst zurück.
Nähere Laternen offenbarten einen unförmigeren Körperbau als Marie ihn besessen hatte, aber das ging auch in Ordnung, schließlich hatte ihre Mutter schon drei Kinder geboren.
Von denen Johnny ihr eins genommen hatte. Er fingerte in seiner Hosentasche, auf der verzweifelten Suche nach dem Autoschlüssel. Jetzt wusste er, wohin er wollte: weg.
Doch es war zu spät. Die beiden trennte nur noch eine Laterne. Die nächste lauerte direkt neben Johnny, strahlte ihr gleißendes Licht auf seine aschfahle Haut, die es ohne seine Erlaubnis weiter in die dunkelbraunen Augen der Griechin reflektierte. Johnny saß in Schockstarre auf seinem Sitz, starrte panisch auf ein Gesicht, das langsam Regung zeigte. Leises Erkennen wollte gerade zu funkelndem Hass werden, als sie erneut in völlige Dunkelheit verschwand.
Dann tauchte sie langsam wieder auf, tödlich wie ein weißer Hai, der aus den Tiefen des Meeres zu seinen kreischenden Opfern kommt. Johnny verkrampfte sich, bohrte zehn Finger in das Leder seines Sitzes. Das Gesicht tauchte so plötzlich vor seinem Fenster auf, als käme es direkt aus einem Horrorfilm. Die langen Fingernägel klopften einen tödlichen Takt auf ein Fensterglas, das auf Knopfdruck viel zu schnell herunterfuhr.
Und Johnnys schlimmste Albträume waren plötzlich Wirklichkeit.
„Hallo, Johnny. Lange nichts mehr von dir gehört.“
„Sofia!“ Johnny erschrak vor der Lautstärke seiner eigenen Stimme.
Zitterte, als er anfing, zu lächeln. Seine Maske, sie war wieder da.
„In der Tat.“, meinte er leiser.
„Wie geht es dir?“ Johnny glaubte ihr anzusehen, dass sie eine schlechte Antwort erfreuen würde. Er nahm die Maske ab und tat ihr den Gefallen.
„Ich wollte mich eigentlich morgen umbringen, so gut geht es mir. Seit dem Tod Ihrer Tochter geht es mir ganz wunderbar. Und ich kann.. ich kann nicht aufhören, mir Vorwürfe zu machen.“
„Johnny...“, wollte sie ihn unterbrechen aber er ließ es nicht zu.
„Es tut mir unfassbar Leid, Sofia, was ich Ihnen, Ihrer Familie und vor allem Ihrer Tochter angetan habe. Es tut mir so Leid.“
Johnny weinte los und Scham überfiel ihn. Scham, weil er sich Spaß gegönnt hatte.
Nach einem lächerlichen Jahr hatte er geglaubt, wieder weitermachen zu können, so als wäre nichts geschehen. Konnte Marie das? Nein. Also durfte Johnny es auch nicht.
„Es tut mir so Leid!“, heulte er.
„Johnny, das muss es nicht.“
Er schaute erstaunt auf. War da ein Lächeln in ihrem Gesicht, oder war es bloß ein Spiel des Lichts? War da Wärme, wo eigentlich Kälte herrschen musste?
„Und bitte, bring dich nicht um.“
Johnny schluckte. „Hassen Sie mich nicht für das, was ich getan habe?“
„Was hast du denn getan?“ Eine Falte bildete sich zwischen Sofias Brauen, er machte sich bereit. Schluckte nochmal.
„Ich bin nicht ausgewichen. Ich war zu langsam, einfach zu langsam. Ich habe einfach nichts getan“, stammelte er. Die Falte verschwand wieder.
„Genau. Du hast nichts getan.“ Sie schob ihre Hand durch das Fenster und legte sie auf Johnnys Schulter. Seine Muskeln zuckten angespannt. Unter ihren nächsten Worten entspannten sie wieder. „Johnny, sei dir sicher, dass niemand dir die Schuld dafür gibt. Und sei nicht so dumm, dich als Einziger dafür bestrafen zu wollen. Nicht du warst auf der falschen Bahn.“
Johnny fiel ein Gebirge vom Herzen.
„Danke, das bedeutet mir viel.“
Sie streichelte seine Schulter und ein Kribbeln lief seinen Rücken herunter. Man konnte es Wärme nennen. „Sag, Johnny, mein Junge... ich bin gerade auf dem Weg zum Friedhof, zu Maries Grab. Möchtest du mit mir kommen?“
Wärme dehnt Dinge aus. In diesem Fall war es Johnnys Mund.
Er lächelte so breit wie lange nicht mehr.
Im fluoreszierenden Mondlicht schimmerten traumähnliche Bilder vor Johnnys Augen.
Aus einer Tanne, deren Spitze erst weit oben im Himmel in der Dunkelheit verschwand, rieselte Schnee auf den schwarz glänzenden Marmor eines Grabmals.
Immer wieder verschwamm die Szenerie, löste sich teils völlig in Schwärze auf, dann schmeckte Johnny Salz auf seinen geöffneten Lippen.
Er betrachtete den schlichten Grabstein.
Die Inschrift leuchtete ihm entgegen, pochte vor seinen Augen.
Marie Xenos-Schmidt stand da. Ihr Geburtsjahr, und das letzte.
Darunter noch irgendetwas, eine persönliche Widmung, die von der Nacht aufgefressen worden war. Den restlichen Teil des Marmors zierte eine eingemeißelte Rose. In einer Vase auf dem Grabstein fand sich noch eine, diese war jedoch verblüht. Sofia wechselte sie gerade.
Johnny blickte sich weiter um. Viel war nicht zu erkennen.
Das Grab lag wohl in einer kleinen Nebenreihe, war das ruhige Dorf neben der wimmligen Touristenstadt am anderen Ende des Friedhofs. Marie hätte es gemocht, vielleicht gefiel es ihr sogar und es war gleichzeitig genau das, was auch Johnny sich gewünscht hätte.
Alles, was zu hoffen blieb, war, dass dieser Hof hielt, was er versprach: Frieden.
Sie hatten den rutschigen Weg durch die verschneite Nacht in kaum zehn Minuten zurückgelegt. Einmal war Sofia ausgerutscht, aber Johnny hatte sie rechtzeitig aufgefangen.
Ihr dankendes Lächeln hatte ihn im Schein des Mondes an Marie erinnert und einen kleinen Stich in sein wild pochendes Herz versetzt.
„Kann ich Ihnen helfen, Sofia?“, fragte Johnny nun mit Blick auf die Griechin, die sorgsam die Erde über ihrer Tochter von Unkraut befreite. Sie richtete sich auf und gab ihm einen alten Blumenstrauß. „Wenn du den bitte wegschmeißen würdest, das wäre lieb von dir.“
Johnny war lieb und als er wiederkam, war Sofia fertig.
Sie stand auf und nahm seine Hände zwischen ihre eigenen.
„Ich warte am Ausgang.“
Dann ging sie und ließ Johnny allein.
Er blickte auf die Erde unter seinen Füßen, diese Stelle zierten keine Blumen.
Vorsichtig kniete er sich auf die feine Schneeschicht. Es knirschte. Er betrachtete die eigentlich so feinen Flocken, die in ihrer Menge einen ganzen Teppich formen konnten, der die gesamte Stadt überzog. Plötzlich war seine Faust im Teppich. Bohrte sich tiefer und stieß auf Erde.
Johnny traf das tiefe Verlangen, weiter zu graben, und die paar Meter, die sie voneinander trennten, zu überwinden. Das Grab herauszuheben, zu öffnen, Marie herauszuhelfen, mit ihr zu tanzen, sie zu lieben, bis er mit ihr gehen konnte.
Er zog die Hand wieder heraus. Wusch sie am Teppich ab.
Atmete tief ein und aus, wieder verschwamm alles unter einem Vorhang aus Tränen.
Er suchte seine Stimme, irgendwann fand er sie.
„Marie.“, flüsterte er.
Es würde dort unten niemals zu hören sein und fast wollte Johnny schreien, dass er sie retten würde, dass sie nur noch ein paar Minuten durchhalten müsse.
Dann erinnerte er sich wieder an den Knochenberg, der das Einzige war, was dort unten wartete. Und er flüsterte weiter.
Wenn Marie irgendwo war, sie würde es hören, so oder so.
„Mein Schatz.“
Jetzt suchte er Worte, war sich nicht sicher, ob er die Richtigen fand.
„Ich war heute zum ersten Mal seit einem Jahr wieder im Submarine. Es ist wie früher und ich hab Sean gesehen und Ernst und habe endlich wieder gesungen... naja. Auf jeden Fall lief da eins von den Liedern, die Chris Cornell für Andrew Wood geschrieben hat, nach dessen Tod. Say hello to heaven, du kennst es. Er hat damals geschrieben, er wolle ihm am liebsten folgen.
Es würde so weh tun, als wäre seine Seele entzweigesprungen. Und dass er das alles eigentlich niemals schreiben wollte, dass er nie irgendetwas ohne den anderen machen wollte, schon gar nicht Dinge aufschreiben, die sie beide nie wieder zusammen machen können. Und zum Schluss, wenn er richtig laut und emotional wird, dann singt er:
I blow out the candle and I put you to bed.
Marie, mein Schatz. Auch wenn ich am liebsten statt deiner gegangen wäre, oder dir zumindest gefolgt wäre, so sehr mich all das schmerzt, ich werde nun dich zu Bett bringen und versuchen, mein Leben weiter zu leben. Ich werde dich nie vergessen, und wenn ich dann auch den Himmel begrüße, wirst du die erste sein, zu der ich gehe.
Aber bis dahin... ich hoffe du verstehst das.
Ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt. Ich werde dich immer lieben. Marie, mein Schatz.“
Sein Flüstern versiegte in einem Weinkrampf.
Aus einer sentimentalen Laune heraus küsste er den Boden, nährte ihn mit seinen Tränen.
Es war eine übertriebene Handlung, wie aus einem Theaterstück, aber die Situation ließ sie zu. Trotzdem musste Johnny peinlich berührt lachen, als er sich den Schnee vom Mund abwischte. Dann stand er auf und ging zum Ausgang, ohne nochmal zurückzublicken.
Sofia wartete schon. „Fertig?“, fragte sie.
Er nickte. „Wir können gehen.“
Nachdem sie einige hundert Meter lediglich stumm ihres Weges gegangen waren, brach Sofia die Stille. „Die haben das Schwein wieder freigelassen.“
Johnny fragte sich, warum er sofort wusste, wer gemeint war.
„Hatten sie ihm nicht zwei Jahre gegeben?“
„Wegen fahrlässiger Tötung und Gefährdung des Verkehrs, ja.“
„Wieso ist er dann jetzt schon wieder draußen? Bei so kurzen Strafen wird doch auf gute Führung gesch... verzichtet.“
„Er hat nochmal geklagt. Und diesmal hat er einen gnädigen Richter gefunden, und zack: raus. Nach noch nicht einmal einem Jahr.“
Sie lachte bitter. „Du hättest das Wort gerade übrigens ruhig benutzen können. Nichs anderes ist das System hier nämlich. Nichts anderes als große Scheiße!“
Johnny nickte zustimmend und auf die Gefahr hin, dass es nicht zu erkennen gewesen war, ließ er Taten Worte folgen.
„Verdammt große Scheiße. Und das, obwohl er erst Fahrerflucht begehen wollte.“
Er trat den Schnee unter sich mit dem rechten Fuß, ein Fehler. Er rutschte weg, bekam keinen festen Boden mehr zu fassen.
Dieses Mal hielt Sofia ihn fest.
Als sie ein paar Meter später wieder an Johnnys Wagen angekommen waren, drückte Sofia ihn zum Abschied fest an sich. „Gute Nacht, Johnny.“
Er erwiderte Umarmung und Gruß. Schaute ihr in die Augen, sie schien zu überlegen.
„Weißt du was, Johnny, mein Kind?“
Er blickte sie weiter an, fragend nun.
„Warum kommst du nicht morgen auf einen Kaffee vorbei? Dann können wir nochmal genauer über alles reden. Auch mit meinem Mann.“
Sie bemerkte Johnnys skeptischen, leicht ängstlichen Gesichtsausdruck.
„Keine Angst.“, lachte sie. „Er tut dir nichts. Wirklich nicht. Ganz am Anfang hätte er das vielleicht, aber dann hat auch er eingesehen, dass es nicht deine Schuld war. Wie alle. Alle außer dir.“ Sie hielt ihn fest an beiden Schultern. „Bis morgen?“
„Bis morgen.“, sagte er.
Dann verschwand Sofia, wie sie gekommen war, die Dunkelheit befiel sie wie ein Virus, erst teilweise, bald vollständig, bis sie wieder bloss eine Silhouette war, die schließlich ganz verschwand.
Johnny träumte, er würde am Meeresgrund leben. In völliger Schwärze, ganz allein.
Dem Licht so fern, dass er sich schon nicht mehr daran erinnerte. Dann wurde er plötzlich hochgesogen, von irgendeiner Kraft, immer weiter hoch. Aus schwarz wurden eine Millionen Nuancen von blau und grün, wurde die Farbenvielfalt der Welt, als er die Oberfläche durchbrach, und endlich wieder Luft atmete. Er wurde auf eine Brücke geschleudert.
Und merkte, dass es die umgekehrte Version ihres Unfalls war.
Jetzt fuhr Johnny rückwärts durch die hellerleuchtete, bunte Welt, doch nicht im Taxi, sondern in seinem eigenen Wagen. Graham war bei ihm, aber er war nur im Spiegel erkennbar.
Der Beifahrersitz selbst war leer.
Der Traum war nun an seinem Ende angelangt, Johnny wachte auf. An seinem Fenster klopfte es. Von draußen leuchtete ihm ein rotes, schneebesudeltes Gesicht entgegen.
Er fuhr zusammen, so exakt war das Dejavú.
Kurz dachte Johnny, noch immer zu träumen und er blinzelte, um dieser falschen Realität zu entkommen. Dann jedoch entdeckte er den feinen Unterschied und fasste sich.
Denn Graham hatte Freude statt unendlicher Trauer im Gesicht, und sie war nicht aufgemalt, sondern eingraviert. Auch Johnnys Gefühle waren verändert, auch er hatte seine Maske vergraben, weil sie unnötig geworden war. Schnell öffnete er die Beifahrertür, Graham sprang hinein. „Hast du geschlafen?“, fragte er lachend. „Die Nacht ist noch jung. Ich nicht.“, entgegnete Johnny. „Erfreulich, dass du noch lebst, nebenbei gesagt. Wie ist es gelaufen?“
Graham grinste zweideutig. „Ein Gentleman schweigt und genießt.“
„Ist das alles?“ Graham zwinkerte als Antwort, Selbstbewusstsein strömte aus all seinen Poren.
Johnny las am Autoradio die Uhrzeit ab. Es war kurz nach elf.
„Also, ich hab deinen Walter Adams mal in den Gelben Seiten nachgeschlagen, Graham.“
Er warf ihm sein Handy in den Schoß.
„Die Nummer ist schon eingetippt. Am besten, wir hören erstmal nach, ob jemand da ist.“
Graham drückte den grünen Hörer und drei Minuten später seinen roten Zwillingsbruder.
Er schüttelte den Kopf.
„Nein, niemand. Ist das jetzt gut oder schlecht?“
„Gut, würde ich sagen. Liebe wird zwar am besten mit Worten ausgedrückt, Hass aber übermittelt man am besten mit Taten.“
„Was hast du denn vor?“, fragte Graham und leichte Angst schwang in seiner Stimme mit.
„Du hast gesagt, du wärst selbst schonmal da gewesen. Was hattest du vor?“
„Ich wollte ihm klar und deutlich meinen Standpunkt darlegen und ihn bei möglichen Konfrontationen mittels meiner rhetorischen Fähigkeiten in die Knie zwingen.“, scherzte Graham.
„Du wolltest ihn zerstören, genau, oder zumindest sein Eigentum.“
Er zuckte mit den Schultern. „Aber ich hab's nicht getan.“
„Weil du dich nicht getraut hast, ich weiß. Aber hast du dich im letzten halben Jahr getraut, zu Celine zu gehen?“
Graham schüttelte den Kopf, während Johnny sich die Frage mit einem Nein bereits selbst beantwortete. „Siehst du? Dann ist heute ja ein guter Tag.“
Die folgende Autofahrt lief im Zeitraffer vor Johnnys weit geöffneten Augen ab, während sein Blut Adrenalin durch den Körper pumpte. Nur einzelne Bilder setzten sich fest.
Seine Hände, die das Lenkrad umklammerten. Graham neben ihm, wild lächelnd.
Eine graue Katze, die plötzlich vor dem Wagen auftauchte, vielleicht starb, vielleicht nicht.
Ein heller Stern am Horizont, der ihnen den Weg zu weisen schien, eine gerissene Taube am Straßenrand. Leben – und Tod. Das war es, worauf alles basierte, und hinauslief.
Irgendwann hielt er vor einem großen Plattenbau im Stadtteil Chorweiler.
Die meisten Lichter waren schon ausgeschaltet, als sie in Richtung Eingang gingen.
Das Klingelschild wies an die fünfzig Parteien auf, Johnny pfiff leise durch die Zähne.
„Es dürfte nicht allzu schwer werden, hier rein zu kommen.“, bemerkte er. „Aber lass uns erstmal schauen, in welchen Stock wir müssen.“ Er studierte das Klingelschild genauer, es war erst stockweise, dann alphabetisch geordnet, wie Johnny es gehofft hatte. Er kniff die Augen zusammen, denn es war dunkel und das Eingangslicht flackerte im steten Kampf gegen den Tod. Fünfzig Namen, von fein säuberlich bis hässlich, auf Papierfetzen, für die dasselbe galt, mal gedruckt, mal handgeschrieben. Fünfzig Namen, hunderte Buchstaben, nie in der richtigen Reihenfolge. Es gab einen Adamsen und einen Hedams, doch Walter wohnte hier nicht.
Johnny wollte schon wieder gehen. „Warte!“, hielt Graham ihn energisch auf. „Er... er hatte damals, als ich schonmal hier war, einen Mitbewohner. Ich kannte ihn nicht, hab Walter angerufen und der andere ist drangegangen... wie hieß er? Ich glaub, es fing mit K an. Irgendwas Gewöhnliches... Krause... Klein... Krüger... Koch! Koch hieß er.“
Der Name löste etwas in Johnny aus, und kurz bekam er es zu fassen, dann entglitt es ihm wieder und er legte den Gedanken beiseite. Studierte das Klingelschild erneut. Und fand.
„Koch, dritter Stock.“, teilte er Graham seine Entdeckung mit.
„Okay.“, sagte der. „Und wie kommen wir jetzt rein?“
„Der Abend neigt sich dem Ende zu, Graham, und morgen haben hier die meisten frei.“,
begann Johnny. „Heißt, sie sind entweder auf irgendeiner Party, wie Walter, oder machen selbst eine. Und wir... sind eingeladen.“
Die letzte Silbe betonte er, indem er einen beliebigen Knopf der obersten Spalte drückte.
„Ja?“, ertönte es nach fast einer Minute neben ihnen aus der Lautsprechanlage.
„Hey, wir sind's!“, rief Johnny leicht lallend. „Wer?“ Graham lachte.
„Oh, entschuldigen Sie, hab den falschen Knopf gedrückt. Schönen Abend noch.“ Es knackte.
„Das lief ja gut.“, meinte er hämisch. Johnny gab noch nicht auf und drückte auf den Knopf links des vorherigen. „Benni?“, schrie jemand kurz darauf besoffen ins andere Ende der Leitung. „Jo!“, brüllte Johnny, das o in unendliche Längen ziehend. Es surrte.
Und die erste Hürde war überwunden.
„Aufzug oder Treppen?“, fragte Johnny, nachdem die Tür wieder ins Schloss gefallen war. Graham zeigte auf das schmale Treppenhaus.
„Weil man sich den Weg nach oben erst erarbeiten muss?“, fragte Johnny.
„Vielleicht.“, antwortete er. „Vielleicht auch, weil ich Angst vor Aufzügen habe, vor allem vor denen, an die jemand DEATH gesprayt hat.“
Johnny lachte, während sie in Richtung der Treppen gingen.
Dann erklommen sie Stufe um Stufe und es war, als würden sie mit jeder Einzelnen tiefer in einen Rausch versetzt werden. Erster Stock. Eine Frau schrie, etwas schepperte. Sie kicherten leise vor sich hin. Zweiter Stock. Von oben rief jemand nach Benni. Er kam nicht. Ihr lautes Lachen ging im Keuchen unter. Dritter Stock.
Sie stießen eine schwere Doppeltür auf und standen am Anfang eines hässlichen Flurs.
Von den Wänden bröckelte der Putz, sprang ihnen Schimmel entgegen.
An die flache Decke hatte jemand einen Vogel gemalt, der in Flammen stand.
Johnny seuzte. „Okay, es waren zehn Namen in jeder Reihe. Fünf Türen links, fünf rechts von uns. Eine ist die Richtige, nur welche?“
Graham war optimistisch. „Lass mich das machen.“
Er klingelte an der ersten Tür von rechts. Eine junge, türkische Frau erschien, in Schlafsachen.
Als Graham zu ihr sprach, schien sie ihn nicht zu sehen, sondern nur Johnny.
„Hallo.“, sagte er. „Entschuldigen Sie die Störung, aber kennen sie zufällig Walter Adams?
Wir sind eingeladen, aber er meinte nur dritter Stock, nicht welche Wohnung... also?“
Sie sagte nicht ein Wort, schaute noch zehn weitere Sekunden auf Johnny, schloss die Tür dann wieder.
Johnny wusste nicht, ob er lachen sollte oder nicht. Er entschied sich dagegen. Mit ernster Miene sprach er aus, was sie wohl beide dachten. „Komische Frau. Selbst wenn sie kein Deutsch kann, irgendetwas muss sie doch sagen... verrückt.“
„Sind nicht die Menschen, die andere für verrückt erklären, die Verrücktesten von allen?“, merkte Graham an. Jetzt lachte Johnny, hauptsächlich aus Verwirrung. „Was...“
„Nur ein Scherz.“, erklärte der Andere trocken. „Neuer Versuch.“
Und während er sich zur nächsten Tür auf der rechten Seite begab, wandte Johnny sich der Anderen zu. Er drückte auf die nächstgelegene Klingel. Ein seltsam intellektuell wirkendes Ehepaar öffnete bald die Tür und wusste die Fragen, die er ihnen stellte, zu beantworten.
Jedoch erst, als Johnny den Namen Koch erwähnte, einen Adams kannten auch sie nicht.
„Letzte Tür links.“, sagte der pullundertragende Ehemann mit den adrett gescheitelten Haaren dann. Johnny dankte und als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, stand Graham schon neben ihm. „Hinten links.“, bestätigte er. „Der Typ in der Wohnung hier schien ihn nicht zu mögen.“ Er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. „Wer kann es ihm verdenken?“
Johnny überlegte, konnte sich aber nicht erinnern, auch nur irgendeine Stimme hinter sich gehört zu haben, außer Grahams eigener.
Er musste sich täuschen, also legte er den Gedanken beiseite, um die Wirklichkeit vor den Wahn zu schieben. Er schaute vor sich auf den Flur, konnte das Bild eines Verurteilten auf seinem letzten Gang in Richtung eines alten Holzstuhls mit allerlei Riemen und stählernem Kopfteil aber nicht verdrängen.
Wahn und Wirklichkeit. Tod und Leben.
„Und wie kommen wir jetzt da rein?“, fragte Graham.
„Erstmal hoffen wir auf die Regel.“
„Die da wäre?“
„Wer Angst verbreitet, hat keine.“
Graham verstand. „Und schließt seine Tür nicht ab?“
„Genau.“
Sie gingen auf ebenjene zu und Johnny betete, dass es eine derer war, die noch etwas Platz zwischen sich und ihrem Rahmen ließen und deshalb nicht bündig schlossen.
Währenddessen holte er die gelbe Kundenkarte seines Autodienstes aus der Hosentasche.
Graham stutzte. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass...“
„Wenn er nicht abgeschlossen hat und die Karte reinpasst.“ Im selben Moment testete er es aus und tatsächlich, die Karte fuhr am seitlichen Holz der Tür entlang, bis sie am Riegel stoppte.
Johnny wandte sich Graham zu. „Auf drei schreist du bitte irgendwas, um meinen Tritt zu übertönen, ja?“ Monotones Nicken. „Eins.“ Er stemmte die Karte gegen den Riegel. „Zwei.“
Der Riegel gab nach und bewegte sich zurück. „Drei.“ Graham schrie „Party!“, Johnny trat mit voller Wucht gegen das Holz, die Tür flog auf. Kurz schien sie aus dem Rahmen zu fallen, aber Johnny und Graham hüpften schnell in die Wohnung und schlossen sie, bevor sie ihr Vorhaben in die Tat umsetzen konnte.
Alles war plötzlich wieder dunkel, und seltsam still dazu. Fast glaubte Johnny, wieder zu träumen, zurück am Meeresgrund zu sein. Dann durchbrach ein Klacken die Stille, wenig später künstliches Licht die natürliche Dunkelheit. Graham hatte den Lichtschalter gefunden und es fühlte sich nicht richtig an. Johnny sah sich nun in einem Raum um, der im kalten Licht der Energiesparlampen nur langsam heller wurde. Es stellte sich heraus, dass sie erneut am Anfang eines Flures standen, an dessen beiden Seiten dieses Mal zwei Türen waren, am anderen Ende noch eine. An den Wänden hingen Poster von Frauen, Autos, Rappern.
Typischer Junggesellenkram, der nur von einer Sache über der letzten Tür unterbrochen wurde. Das Bild eines Phönix, der mit flatternden Flügeln einem brennenden Inferno entstieg.
Jetzt wusste Johnny wenigstens, von wem das zweifelhafte Deckengemälde stammte.
Er ließ Graham hinter sich und lief schnurstracks auf den Raum zu, über dem der Phönix wachte. In seinem Adrenalinrausch riss er das Bild von der Wand und warf es dem hinterherhetzenden Graham in die Arme.
„Hier, mach ihn fertig!“, rief er energiegeladen.
Dann blickte er auf die Tür vor sich und ihm fiel plötzlich auf, dass Licht durch sie hindurch schien. Während Graham das Bild in zwei, dann vier, dann zwölf Teile zerriss, zerbrach und zertrat, mahnte Johnny ihn energisch zur Ruhe.
„Kann es sein, dass jemand da drin ist?“, fragte er flüsternd.
Dann schmiss er die Tür auf. Sein Herz pochte ihm bis zum Hals und weiter und er musste an die Decke blicken, um sich zu vergewissern, dass es nicht dort war.
Er ließ seinen Blick von Ecke zu Ecke des kleinen Raumes hüpfen, schmiss die Tür zurück in ihren vibrierenden Rahmen. Niemand da. Er atmete aus und auf.
Das viereckige, etwa fünfzehn Quadratmeter große Zimmer war zweifelsohne das Herzstück der Wohnung. Hier würde es weh tun. Direkt vor Kopf stand ein riesiger Fernseher, rechts davon, auf einem Schreibtisch, ein nagelneu wirkender Mac. Auf dem Bett lag ein Stapel mit Magazinen der billigeren Art, bewacht vom göttlichen Kreuz über dem Türrahmen.
Was wirklich auffiel, war die Tapete.
Ganz in rot gehalten, schwelten Flammen von all ihren Seiten auf die Mitte des Raumes zu, wo über dem Flachbildschirm ein riesiger Artgenosse von Walters offensichtlichem Lieblingstier seine feurigen Flügel schwang. Johnny fand, dass der Vogel fast dreidimensional wirkte, als er mit Graham auf ihn zuging. Und er konnte die Hitze, die von ihm ausging, beinahe spüren. Dann war er plötzlich nicht mehr da.
Graham formte aus den Überresten einen Ball. Johnny beschlich plötzlich ein ungutes Gefühl. Im Nacken. Seine Haare stellten sich auf. Es war nicht das Gefühl, beobachtet zu werden, sondern, etwas zu übersehen. Er blickte sich erneut im Raum um, fand ein eingerahmtes Bild auf dem Schreibtisch und zeigte es Graham. „Ist das Walter?“ Auf dem Bild war ein etwa Zwanzigjähriger mit seiner ungleich älteren Mutter zu sehen, irgendwoher kannte er sein Gesicht und seine Nackenhaare richteten sich noch steiler auf. „Nicht, dass wir hier nur die Sachen von diesem Koch zerstören.“ Graham grinste. „Nein, das ist eindeutig Walter.“, sagte er dann, aber Johnnys Gefühl verschwand trotzdem nicht. Also fuhr er sich mit der Hand über den Nacken und fuhr fort. Er nahm jetzt das Kreuz vom Türrahmen ab. Es war lediglich mit einem Band an einen Nagel gehangen. Dann öffnete er das einzige Fenster des Raumes, zwei Meter links des ehemaligen Phönix. Und schmiss es im hohen Bogen in die Nacht.
Graham folgte. Er nahm die Tapetenreste und das zerstörte Bild, schleuderte beides mit all seiner Kraft aus dem Fenster. Sein Kopf wurde rot und er fing an, zu strahlen.
„Da hast du´s, Wichser!“, schrie er in die Dunkelheit.
Dann ging er zum Fernseher, entriss ihm ohne Rücksicht auf Verluste alle Kabel und trug ihn langsam in Richtung des geöffneten Fenster. Er ließ ihn auf der Fensterkante stehen und schaute Johnny an. „Darf ich, oder willst du?“ Johnny schüttelte den Kopf. „Mir hat der, dem das schadet, nicht geschadet, nur dir. Also darfst du.“ Graham sagte dazu nichts und Johnny fuhr sich über den Nacken, während er zusah, wie Graham sich gegen den Bildschirm presste, damit er durch das eigentlich breite, noch immer fast zu schmale Fenster passte. Dann schaffte er es und auch der Fernseher löste sich in Schwärze auf. Nach ein paar Sekunden knallte es und im Funkenhagel sahen sie ihn in Millionen Teile zerspringen, die sich nicht mehr zusammenfügen lassen würden. Johnny wartete auf den Phönix, doch er kam nicht.
Er wandte sich Graham zu, der mit verschwitzten Haaren, aufrechter denn je, dastand.
„Spürst du das?“, fragte er. „Das ist pures Leben. Pures, intensives Leben.“
Graham nickte begeistert. „Und weißt du, wann es am intensivsten ist?“ Er sprang auf den Fensterrahmen und wandte Johnny den Rücken zu. „Kurz vor seinem Ende, kurz vor dem Tod.“ Johnny stockte der Atem, hastete auf Graham zu und wollte ihn zurückzerren vom tödlichen Abgrund. Mit all seiner Kraft zog er an dem schmalen Jungen, aber der hielt sich mit unmenschlicher Stärke am Rahmen fest. Johnny gab auf und fuhr sich über die Nackenhaare.
„Wieso? Wieso jetzt auf einmal?“, fragte er stattdessen. „Ich habe meine Aufgabe erfüllt, jetzt muss ich wieder aus deinem Leben verschwinden.“ Johnny war verzweifelt. „Aber doch nicht aus deinem! Hab... hab ich dir nicht gezeigt, wie schön...wie kann ich dich überzeugen?“ Graham antwortete viel zu schnell. „Gar nicht.“, sagte er. „Das hast du auch schon vorher gesagt.“, entgegnete Johnny. „Vorher wollte ich auch überzeugt werden. Jetzt nicht mehr.“
„Warum? Was ist mit Celine?“ Graham zuckte die Schultern. „Die hat nie existiert. Genau wie Walter. Genau wie...“ Johnny wollte etwas sagen, doch es war zu spät. Auch Graham konnte seinen Satz nicht mehr beenden. Er atmete ein, dann drückte er sich ab. Und wie alles andere löste er sich auf. Bis das Licht wiederkommt, dachte Johnny erst.
Dann trug der Wind Grahams letztes Wort durch das Fenster wieder zurück: „...ich.“
Johnnys Nackenhaare reckten sich ein letztes Mal gen Zimmerdecke, erschlafften dann völlig.
Er verstand. Sah sich das Bild noch einmal an. Erkannte das Gesicht: Koch, der Geisterfahrer.
Johnny schaute aus dem Fenster, in die verschneite Dunkelheit.
Er konnte nichts erkennen, doch er wusste, dass dort auch nichts war.
Kein Mensch, kein Geräusch. Dann verkündete eine Kirchenglocke den neuen Tag.
Und Johnny freute sich auf diesen Tag, wie er sich noch nie auf einen Tag gefreut hatte.
Er war im Himmel.
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2012
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