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Weißt du noch, Eddie?
Kannst du dich erinnern an die Zeit, in der wir alleine auf der Welt waren? In der wir als einzige Überlebende der Apokalypse auf der leeren Erde umherstreiften, die nun uns gehörte? Wir waren Legenden, Eddie. Auserkorene. Die Letzten unserer Art.
Ich muss in letzter Zeit wieder öfter an jene Wochen denken, jetzt, da mein Leben sich dem Ende nähert: an die Zeit unseres Lebens.

Mensch Eddie, wir haben in unserem Leben in keinem Krieg gekämpft, haben weder einen Weltkrieg noch den Krieg der Sterne miterlebt, von dem wir so oft phantasiert haben.
Doch ich habe diese eine Geschichte, die ich meinen Enkeln erzählen konnte - und die ist so viel besser als alles, mit dem uns unsere Großeltern gelangweilt haben.
Ich bin zu dir gekommen, weil du es sein sollst, dem ich die ganze Geschichte erzähle und nicht die umgeschriebene, zensierte Fassung, die meine Enkel zu hören bekommen haben. Denn ich habe sie dir nie zuende erzählt, unsere Geschichte. Das tut mir Leid, Eddie. Ich schätze, ich musste von allem erst einmal einige Jahre und Jahrzehnte Abstand nehmen, die Ereignisse verdauen. Die schönen - und die pechschwarzen. Aber es bleibt dabei: du musst das Ende kennen. Schließlich bist du eine der Hauptpersonen. Du musst wissen, wie die Geschichte ausgeht, die in einer heißen Sommernacht begann, in ebenjenem Jahr, an dem die Maya das Ende der Welt vermuteten.

Wir wohnten zu dieser Zeit in einem kleinen deutschen Kaff an der französischen Grenze, so unbedeutend, dass ich mich noch nicht einmal mehr an seinen Namen erinnere.
Kaff - wie ich unseren Geburtsort von nun an der Einfachheit halber nennen werde - bestand im Prinzip aus zwei Dingen: einem mittelprächtigen Flughafen und einem winzigen Atomkraftwerk mit bloß einem funktionierenden Reaktor, das jetzt, da die Regierung sich vollständig von der Atomenergie distanziert hat, nutzlos in der Landschaft herum steht. Habe ich das gut zusammengefasst?
Gut, Eddie, dann kommen wir nun zu uns: Zwei sechzehnjährige Jungen mit schwarzgefärbten Haaren. Zwei Teenager auf der Suche nach sich selbst und dem einen Mädchen, das ihnen dabei hilft. Vor meinem inneren Auge sehe ich uns in deiner kleinen Holzhütte im Wald sitzen. Ich sehe einen quadratischen Raum mit zwei Klappbetten auf der einen Seite und einem riesigen Plasmabildschirm mit noch größeren Boxen auf der anderen.
Ich liege auf dem Bauch in meinem Bett, den Kopf auf meine Hände gestützt, während du lässig an der Wand lehnst, mit der maroden schwarzen Gitarre deines verstorbenen Vaters in der Hand. Du hast dir selbst beigebracht, sie zu spielen und sie nur äußerst selten aus der Hand gelegt. Die Wand, an der du lehnst, ist aus grobem Buchenholz, wie alles in diesem Raum, und sie ist mit schwarzem Edding vollgekritzelt worden, mit den Zeilen unserer Lieblingssongs.

Alle fünfzehn Minuten fallen Späne von dieser Wand. Der Druck der Flugzeuge, die etwa zweihundert Meter entfernt landen, der auch uns immer wieder durchschüttelt, hat die Hütte, so hörte ich, irgendwann später einstürzen lassen. Doch wir bemerken den Lärm schon gar nicht mehr. Automatisch schalten wir unseren Film auf Pause, atmen kurz durch und machen dann weiter, als wäre nichts geschehen. Es ist unser Zuhause, unsere Zuflucht vor denen, die wir nicht verstehen und von denen wir nicht verstanden werden.
Seit dem Tod deiner Mutter, seit deinem vierzehnten Geburtstag lebst du alleine in dieser Hütte. Aber eigentlich wohne ich auch dort. Ich kann mich an keinen Nachmittag erinnern, an dem ich nicht dort bin - und auch die Nächte verbringe ich hier, wenn mein Vater mal wieder ein paar Tage oder Wochen verschwunden ist. Genau wie an jenem heißen Sommertag vor nunmehr sechzig Jahren.

Die Geschichte beginnt damit, dass ich mein Handy aus der Hosentasche kramte. Es war Freitagnachmittag und ich war gerade in der Wohnung meines Vaters angekommen. Allein am Geruch hatte ich festgestellt, dass er noch immer nicht zuhause war. Bei regelmäßigem Lüften, musst du wissen, verzieht sich der Alkohol nach gut drei Tagen aus der Luft. Mein Vater schlief sich zu diesem Zeitpunkt also schon seit einigen Tagen durch alle anderen Wohnungen im Umkreis von einigen Hundert Kilometern. Ich schaltete mein Handy an und wählte die einzige Nummer, die ich auswendig konnte. Als du rangingst, atmetest du schwer.
»Hey!«, begrüßte ich dich und du wiederholtest es abwesend. »Bin gleich da.«
Ich spürte dein Nicken am anderen Ende der Leitung.
»Californication, dritte Staffel. Sherlock, erste Staffel. Pulp Fiction. I am Legend.«
Wieder nicktest du bloß. Ich wollte gerade fragen, was mit dir los ist, da holtest du tief Luft. »Aaron.«, sagtest du zittrig. »Ich hab ne Überraschung für dich.« Dann legtest du auf.
Mein Gott, Eddie, ein wenig seltsam warst du schon.

Als ich bei dir ankam, regnete es. Das ist die klarste aller Erinnerungen an jene Wochen: der Regen, der sich auf dem Weg zu dir um meine Beine geklammert hatte und nicht mehr losließ. Ich zog die dreckbeschmutzten Schuhe aus, bevor ich unseren Rhythmus auf die robuste Eingangstür klopfte. Erinnerst du dich noch an diesen Rhythmus, Eddie?
Seven Nation Army hieß das Lied: baaam bam bam bam bam baaaam bam...
Sieben Schläge. Beim sechsten öffnetest du, ohne mitzugröhlen. Ich merkte, dass etwas anders war, doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich schleuderte die Tüte mit den vier angekündigten DVDs in Richtung des Fernsehers und fläzte mich auf den durchgelegenen Lattenrost des rechten Bettes. Erwartungsvoll schaute ich dir in die Augen. Sie blitzten zurück. Wir wechselten kein Wort und die Stille gab der Situation etwas Magisches. Du gingst ins Bad, das einzige weitere Zimmer in der Hütte. Ruhelos stand ich auf, schmiss mich dann auf dein Bett und kramte eine Fernbedienung aus der Bettritze hervor, schaltete die Musikanlage ein, brach die Stille. Ich meine, mich erinnern zu können, dass Pearl Jam's Alive die sowieso schon angeschlagene Zimmerdecke vibrieren ließ, als du wieder hinein kamst, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Was ich weiß, ist, dass ich die Musik brutal abwürgte, als ich sah, was du in der Hand hieltst. War das...
»Gras?« Meine Stimme zitterte und brach.
Abermals machte sich Stille zwischen uns breit. Ich schaute zu dir auf. Mit deinen zwei Metern stieß dein Kopf fast gegen die Decke, als du dich unsicher auf die Zehenspitzen stelltest und wieder absankst. Die dünnen Arme hattest du hinter dem Rücken verschränkt. Dann musterte ich mich selbst, horchte in mich hinein. »Was meinst du?«, fragtest du und versuchtest, deine Stimme tiefer klingen zu lassen, als sie eigentlich war. Später am selben Abend lachten wir darüber. Doch an diesem Abend, in dieser Nacht, lachten wir über alles.

Die nächsten Stunden wabern irgendwo hinter einer dichten Rauchwolke. Ich habe nur noch wenige Bilder von ihnen in meinem Kopf und es sind noch weniger, denen ich tatsächlich Glauben schenken kann. Die Bilder sind unscharf, hinter einem leichten Rotfilter versteckt - und wieder, wieder mit diesem einen Song unterlegt, dröhnend, niederschmetternd, euphorisch: I... I... I'm still alive
Wir, wild tanzend, Schweiß auf unserer Stirn.
I... I... I'm still alive
Du, schlafend in der Ecke des Zimmers, mit deiner Gitarre als Kopfkissen.
I... I... I'm still alive!
Ich, panisch schreiend, als ein Flugzeug über unseren Kopf donnert.
I... I'm still alive
Will Smith, der einem Zombie den Kopf abschlägt.
yeah, yeah, yeah, yeah
Das letzte Bild ist schwarz und stumm.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, sah ich dich nur mit deiner Simpsons-Boxershort bekleidet am Fenster zwischen unseren Betten stehen. Du kratztest dich am Kopf und sprachst leise mit dir selbst. »Irgendetwas stimmt hier nicht... irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht...« Plötzlich weiteten sich deine Augen und du fuhrst herum. »Aaron!«, wolltest du mich wecken, als dir klar wurde, dass ich schon längst wach war. »`n Morgen«, murmelte ich. Deine Stirn kräuselte sich. Dann winktest du ab. »Jaja. Aaron...« Du wirktest panisch.
»Geht die Sonne nicht sonst...« Deine Hand wies in Richtung des Fernsehers. »...dort auf?« Wieder fuhrst du herum, deutetest jetzt aus dem Fenster, durch das eine große rote Sonne schien. »Jetzt ist sie hier. Nicht dort. Hier. Nicht...«
Ich hatte längst auf mein Handy geschaut, ließ dich jedoch, du mögest es mir verzeihen, noch ein bisschen zappeln. Und wie du zappeltest, Eddie. Unruhig tratst du von einem Bein aufs Andere, drehtest dich dabei im Kreis, beim verzweifelten Versuch, das Rätsel des umgedrehten Himmels zu lösen. Mit einem Mal bliebst du stehen, zog eine Gewitterwolke vor deine Augen. »Aaron, verkündetest du finster. »Ich glaub, wir sind gestorben und leben jetzt in einer Parallelwelt.« Ich wusste, dass du es ernst meintest und weinte fast, so weh tat es, nicht zu lachen. Aber ich schaffte es, ernst zu bleiben und beendete deinen aberwitzigen Gedanken. »...einer Parallelwelt, in der die Sonne im Westen aufgeht! K...«
Ich schaffte es nicht, das Lachen brach aus mir heraus. »Kl...« Es schüttelte mich in Krämpfen. »Klaaaar-hahaha.« Ein großes Fragezeichen erschien wie ein Blitz aus den Gewitterwolken vor deinem Gesicht. Als ich mich einigermaßen gefangen hatte, erlöste ich dich. »Alter, guck auf die Uhr.«
»Oh!«, fiel es dir wie Schuppen von den erröteten Augen. Dann konntest du dich auch nicht mehr halten. Wir lachten, bis die Abendsonne nur noch ein kleiner roter Strich am Horizont war.

Mein Gott, Eddie, wie ich mir wünschte, mal wieder zwanzig Stunden am Stück zu schlafen, wie an jenem ersten Tag des Weltuntergangs. Oder einfach mal eine Nacht durchzumachen, wie wir beide es in der Folgenden taten. Ich hatte beschlossen, das ganze Wochenende bei dir zu bleiben. Wir legten Californication ein, schauten David Duchovny dabei zu, wie er eine schöne Frau nach der Anderen bestieg und wünschten uns innerlich, dass man bald dasselbe von uns behaupten konnte. Zwischendurch rauchten wir die kümmerlichen Reste des Vortages auf, was irgendwie dazu führte, dass wir an folgendem Punkt ankamen:

»Ich sag dir Eddie, wenn ich alle Frauen der Welt ficken könnte, ich würde zuerst Megan Fox... ficken.«
»Nein, nein, nein, nein, nein, nein. Nein!«
»Was?«
»Hab ich dir denn überhaupt nichts beigebracht?«
»Hä?«
»Aaron, Junge. Das ist ne... wie nennt man das?«
»Mh?«
»Fällt mir nicht ein, egal. Sie, sie täuscht dich auf jeden Fall mit ihrem Aussehen. Wenn sie angezogen ist, sieht sie geil aus, weil du mehr auf ihr Gesicht achtest als auf alles andere. Aber wenn sie sich dann auszieht, Aaron, dann ist Flachland. Und da nützt dann auch ihr geiler Blick nichts mehr.«
»Woher willst du wissen, dass sie...«
»...dass sie Titten hat wie deine kleine Schwester?«
»Eddie, du bist ekelhaft.«
»Wieso lachst du dann?«
»Ach, fick dich.«
»Fick Megan Fox.«
»Fick du ...«
»... Salma Hayek!«
»Salma Hayek ist Ende Vierzig, Alter.«
»Mitte.«
»Mh?«
»Sie ist Mitte Vierzig. Au... außerdem würd ich sie ja nicht jetzt ficken, ich würd sie vor fünfzehn Jahren ficken.«
»Als Säugling?«
»Fick dich, Aaron. Nein, natürlich nicht. Ich würde - hör auf zu lachen - ich würde natürlich in der Zeit zurückreisen. Mit ner Zeitmaschine.«
»Das wär das erste, was du tun würdest, wenn du ne Zeitmaschine hättest?«
»Ja.«
»Du könntest ins Jahr 0 und mit Jesus quatschen. Du könntest ins Jahr 1900 oder so und Adolf Hitler in seinem Babybett ersticken. Du könntest ins Jahr 5000... keine Ahnung, was du da alles machen kannst. Aber du gehst ins Jahr 1996 und fickst irgendeine dreißigjährige Schauspielerin.«
»Nicht irgendeine, Aaron. Das ist Salma Hayek. Die ist wie Jesus. Jesus mit Titten.«
»Jesus mit Titten?«
»Titten-Jesus, ja.«

Ich spule die Nacht einmal vor, bis zu dem Moment, an dem der Fernseher plötzlich schwarz wurde. Es muss schon einige Stunden nach Mitternacht gewesen sein - wir schauten uns gerade zum zweiten Mal "I am Legend" an - als es plötzlich dunkel wurde. Unser Gespräch, das sich jetzt um die beste Art der Apokalypse drehte (ich plädierte auf einen Atomkrieg, während du eher für Zombies zu haben warst), stockte, als sei es durch Licht bedingt gewesen. Und es gab tatsächlich kein Licht mehr. Die Schwärze war undurchdringlich und sie schnürte mir die Kehle zu, sodass ich kein einziges Wort mehr herausbrachte. Diese Minuten haben mich lange verfolgt, Eddie. Immer, wenn ich die Augen schloss, war ich wieder dort, war ich wieder in jener Dunkelheit, die dem Tod so nahe kam. Ich weiß, dass du dasselbe dachtest. »Aaron?«, fragtest du unsicher. »Bist du da?« Und als ich nicht antwortete: »Scheiße man, ich bin tot.«
»Und jetzt?«, fragtest du dich resigniert. Da musste ich lachen und gewann meine Stimme zurück. »Eddie, entspann dich.«, sagte ich und spürte, wie du neben mir zusammenfuhrst. »Ich bin noch da.«
»Aber ich kann dich nicht sehen.«
Guter alter Eddie. Ich vermisse das, weißt du? In dem Moment ging mir deine Naivität jedoch ziemlich auf die Nerven: »Ich weiß.«
»Kannst du mich sehen?«
»Junge, halt´s Maul. Ich überlege gerade!«
»Kannst...?«
»NEIN, MANN! Natürlich nicht... der Strom ist ausgefallen.«
»Oh.« Wenigstens dir ging ein Licht auf. Für deine Hütte hatte ich die Hoffnung jedoch schon aufgegeben. Ich rechnete damit, dass es einige Stunden dauern würde, bis der Fernseher wieder ansprang. Dass er es jedoch nie wieder tun würde, damit hatte ich nicht gerechnet.

Ich richtete mich langsam in meinem Bett auf und robbte zum Fußende. »Lass uns rausgehen.«, schlug ich vor. »Ich hab genug von dieser beschissenen Dunkelheit.«
Ich stand auf und tastete mich an der Wand entlang Richtung Tür. Du warst seltsam still geworden. »Kommst du?«, fragte ich. »Ne... ich bleib lieber hier liegen und warte ab - sonst lauf ich noch irgendwo vor und brech mir was.«
»Auch gut.« Als meine Finger gerade das splitterige Holz der Eingangstür ertasteten, fiel mir etwas ein. »Hey, Eddie. Hast du dein Handy irgendwo?«
Dieses Mal schaltetest du schneller und ein dumpfes Leuchten signalisierte mir, dass du dein Handy gefunden hattest. »Meine Hände!«, riefst du selig. »Ich kann sie sehen!«
Grinsend öffnete ich die Tür und du stürmtest vor mir ins Freie.
Der Mond war bloß ein kleiner heller Punkt am Ende des Horizonts, der nur wenig von der Landschaft um uns herum preisgab. Deine Hütte stand auf einem kleinen Hügel mitten im dichten Kiefernwald am Rande Kaffs. Die Baumwipfel ragten noch über das Dach deiner Hütte heraus. Wenn die Sonne morgens durch sie hindurchschien, ergab es den wohl berauschensten Anblick, den ein Junge aus Kaff in seinem gesamten Leben sieht.
Im Moment war von all dem jedoch wenig zu sehen; kaum mehr als Konturen, um genau zu sein. Normalerweise konnte man von unserem Standpunkt am Gipfel des Hügels aus auch das Spinnennetz der nächtlichen Stadt erkennen, das im fluoreszierenden Licht von Straßenlampen und Kneipenbeleuchtungen pulsierte. In jener Nacht sahen wir nur die schwarzen Konturen dieser Spinne, die sich hart und schwerfällig von der flachen Landschaft abhoben. »Weißt du, was ich glaube, Eddie?«, meinte ich mit düsterer Stimme. »Ich glaube, der Strom ist in der ganzen Stadt ausgefallen.
Als du wieder nicht antwortetest, schaute ich dich an und erkannte kindliche Verwirrung in deinen Augen. Ich folgte deinem Blick in die östlichen Ausläufer der Stadt. »Irgendetwas ist da...«, sagtest du nachdenklich. Und du hattest recht. Mehrere rote Punkte, wie von einem himmlischen Scharfschützen auf die Brust der Stadt gerichtet, flackerten wild auf und ab. »Brennt es da?« Jetzt war ich es, der schwieg. Nachdenklich sog ich Luft durch die Nase ein und meinte, einen leichten Geruch von Rauch in der Landluft ausmachen zu können.
»Was ist hier los?«, fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten. Dann fiel mir noch etwas auf. »Eddie?«
»Ja?«
»Haben wir Californication gerade auch nur einmal angehalten?«
»Du meinst...«
»Ist hier auch nur ein Flugzeug drüber geflogen, seit wir gestern aufgewacht sind?«
»Scheiße... nein.«
»Nein.«
Ich überlegte, was das heißen konnte, wandte mich dann von der Stadt ab und ging hinter deine Hütte. Du folgtest mir und stelltest bitter fest: »Ich sehe den Flughafen nicht.«
»Bist du dir sicher, dass man ihn sonst sieht? Vor sechs fliegt hier eh kein Schwein.«
» - «
»Bist du nicht?«
»Ne.«
»Okay.« Ich beruhigte mich langsam wieder. »Alles okay. Ist nur ein Stromausfall.«
Ich sah dich auf der Suche nach Bestätigung an, doch du hattest schon wieder diesen Ausdruck in deinen Augen. »Auf der Autobahn da hinten ist ein UFO gelandet.«, sagtest du tonlos, als wäre es die normalste Sache auf der Welt. Ich schaute ans Ende des Horizonts und lachte. »Das sind nur Autos, Eddie.«
Verdammt viele Autos, wollte ich ergänzen, doch ich behielt den Gedanken lieber für mich. Verdrängte ihn in die hinterste Ecke meines Gehirns, wo ich ihn nicht mehr finden konnte.
Wir standen eine Weile lang schweigend da. Irgendwann gingst du wieder rein. Ich blieb draußen und zwei Minuten später standest du mit einer Taschenlampe, die sich im eigenen Licht als lila enttarnte, neben mir. »Ich will in die Stadt.«, sagtest du.
»Wieso?«
»Irgendetwas stimmt hier nicht, oder zumindest denke ich das. Und mir gefällt der Gedanke nicht... gar nicht.«
Du warst schon immer ein kleiner Angsthase, Eddie. Ein kleiner, zwei Meter großer Angsthase. In dem Moment konnte ich deine Angst jedoch nachvollziehen. Ich überlegte kurz, kam aber schnell zum Schluss, dass wir ohne Strom sowieso nichts Besseres zu tun hatten und mir dein Gedanke zudem auch nicht wirklich gefiel. Also seufzte ich und zuckte mit den Schultern. »Worauf warten wir noch?«

Die Stille, die uns in der Stadt empfing, war so undurchdringlich wie zuvor die Dunkelheit in deiner Hütte. In ihr bebte selbst ein leiser Windhauch wie der ohrenbetäubendste Donnerschlag. Auf unserem Weg durch den Wald hatten wir wenigstens noch einige Vögel gehört, die den neuen Tag begrüßten. Doch sobald der Boden unter unseren Füßen von Erde zu Asphalt geworden war, nahm uns Ruhe gefangen.
Langsam ging die Sonne über den Dächern der Stadt auf und gab ihr einen surrealen Rotstich. Wir gingen langsam durch die schmale Seitenstraße, auf der Suche nach einem Menschen oder zumindest einem Lebenszeichen. Deine Augen tickten hin und her und als sie nichts und niemanden fanden, kein Auto, keinen Fußgänger, noch nicht einmal Licht, das durch ein Fenster schien, wurden sie seltsam verklärt. »Die sind alle weg.«, stelltest du lakonisch fest. Mir platzte der sowieso schon zugeschnürte Hals: »Kannst du jetzt mal aufhören, rumzuspinnen! Du laberst viel zu oft Scheiße, Alter. Hör auf damit!«
Nicht mein bester Moment, das gebe ich zu, Eddie. Der Ausraster tut mir Leid. Mittlerweile weiß ich, dass ich dich nur angeschrien habe, weil ich Angst hatte, du könntest Recht haben. Doch ich habe dich verletzt und das wollte ich nicht. »Seit wann regt dich das denn auf?«, fragtest du leise, beinahe kleinlaut. Mein »Sorry« klang schroffer als beabsichtigt. »Hier in der kleinen Seitenstraße geht eh nichts, vor allem nicht morgens um halb fünf. Lass uns in die Königsallee gehen, da werden wir schon jemanden finden.«
Die so genannte Königsallee war die einzige Straße in ganz Kaff, die niemals schlief. Es war die wohl schäbigste Straße ihres Namens. Statt von Bäumen wurde sie von heruntergekommenen Kneipen gesäumt. Und anstelle der Straße selbst waren ihre Passanten breit. Es war also beileibe nicht das perfekte Klientel, um sich über einen Stromausfall zu unterhalten. Aber es war das Einzige, das, mal abgesehen von uns, derzeit nicht schlief. Also gingen wir schnellen Fußes, getrieben von einer grausigen Ahnung, weiter.
Die Straßen, die wir passierten, wurden breiter, unsere Schritte schneller. Die Stille blieb. Irgendwann begannen wir, nervös zu pfeifen, eine schiefe, beängstigende Version von Seven Nation Army, um diese Stille mit irgendetwas zu füllen. Je mehr Meter leerer, dunkler Straße wir hinter uns brachten, desto lauter pfiffen wir. Und als wir der Königsallee langsam immer näher kamen, reichte das Pfeifen nicht mehr und plötzlich rannten wir und schrien die gespenstische Melodie dabei, pressten sie aus unseren Kehlen hervor und hofften, dass die Angst gleich mitging.
Ich versuchte in diesen Minuten verzweifelt, nicht auf mein Bauchgefühl zu hören - und vielmehr auf meinen klaren Menschenverstand. Ich versuchte den Gedanken einer Geisterstadt zu verdrängen, der sich mehr und mehr in mir verfestigte, erklärte ihn für absurd und unbegründbar. Doch der Gedanke verschwand nicht, genausowenig wie dieses Gefühl in meiner Magengegend. Ein Gefühl, das ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen würde, ein Gefühl, das sich in jenen Minuten in uns breitmachte, uns lähmte und erdrückte: ein Gefühl absoluter Einsamkeit. Das Gefühl, allein zu sein auf dieser Welt. Das ist der Stoff, aus dem Albträume gemacht sind, Eddie. Und wärst du damals nicht an meiner Seite gewesen, ich wäre verzweifelt. Spätestens in dem Moment, in dem ich die Straße, die niemals schläft, schlafen sah wie ein kleines, gottverdammtes Baby.

»Ich hatte recht.«, sagtest du tonlos.
»Du hattest recht.«
»Ich laber wohl doch nicht immer nur Scheiße.«
»Du laberst wohl doch nicht immer nur Scheiße.«
Wir standen am Ende der Königsallee. Und wir waren uns sicher, dass wir die Einzigen hier waren. Ich hatte Mühe, es in meinen Kopf hereinzukriegen: Kein Mensch in dieser Straße. Keine Menschenseele mehr in dieser Stadt. Sie war leergefegt. Sie war ein Friedhof ohne Tote. Die Kneipen und Bars um uns herum türmten sich wie riesige Grabsteine in den Himmel. Wir drehten um und gingen erneut durch diese grausame Totengasse. Die Hoffnung starb zuletzt, Eddie, doch zu diesem Zeitpunkt war sie schon dahin. Trotzdem suchten wir verzweifelt weiter.
Links ein Irish Pub, dessen Tische und Stühle kreuz und quer auf der Straße verteilt waren. Rechts eine Pizzabude mit zerbrochenen Fenstern. Wieder links eine Bar, die unberührt schien. Nirgendwo brannte Licht, nirgends war auch nur ein Laut zu hören außer diesem ohrenbetäubenden Wind. Ich sog das alles in mir auf, speicherte es unter den Sachen, die ich noch verstehen musste. Geisterstadt, hallte es in einer Dauerschleife durch meinen Kopf.
Ich sah dich an und verdammt, Eddie, so bleich hab ich dich nie wieder gesehen. Wir schlichen, ja schleppten uns mühsam geradeaus, wie seelenlose Zombies, mit müdem Blick und schlaff hängenden Schultern, setzten einen Fuß vor den Anderen.
Schritt. Für Schritt. Für Schritt.
Plötzlich riss uns ein Knarren aus der Lethargie. Dieses unnatürliche, scharrende Geräusch, wenn Plastik auf Stein trifft. Wir horchten... da war es nochmal. Und es war direkt hinter uns! Panisch fuhren wir herum, richteten unseren Blick auf die umgedrehten Stühle und Tische vor dem Irish Pub. Ich stand regungslos da, wollte abwarten, ob das, was sich da bewegte, gut oder schlecht war. Du hingegen stürmtest aus lauter Verzweiflung schnurstracks auf den Pub zu. »Hallo?«, schriest du aus voller Kehle. »Ist da jemand?«
Ich näherte mich jetzt auch langsam, doch nur soweit, wie ich alle Tische im Blick behielt. Du hingegen ließt alle Vorsicht außer Acht und sprangst ungestüm hinter diese Reihe aus nutzlos gewordenem Holz. Ich holte tief Luft.
Da stießt du einen undefinierbaren Schrei aus, der nur einen Inhalt hatte: Panik.
»Ein ZOMBIE!«, riefst du dann und dieses Mal lachte ich nicht. Du wichst zurück, drehtest dich ruckartig vom Pub weg und ranntest zu mir zurück. Keuchend verharrtest du neben mir. Auf einmal sah ich ihn auch: einen dicken, nackten Mann mit schütterem Haar, aufgerissenen roten Augen und gefletschten Zähnen. Er kroch unter einer Holzbank hervor, drückte sich dann vom Boden ab, kniete, fiel, versuchte es wieder, stand endlich. Speichel lief ihm in Strömen aus beiden Mundwinkeln. Er hob seine Arme nach vorne und gab undefinierbare, grauenhafte Laute von sich. An seinem rechten Arm fehlte ein Stück Fleisch. Die Wunde eiterte und ich hatte genug gesehen.
»Eddie!«, schrie ich dich aus deiner Schockstarre. »Lauf!«
Dann rannten wir wieder aus der Königsallee heraus - und anstatt zu pfeifen, schrien wir.
»EIN ZOMBIE!«, brüllte ich. »EIN BESCHISSENER ZOMBIE!«, stimmtest du ein.
Wir rannten durch die verlassenen Straßen, der Morgensonne entgegen, weg von der Bedrohung in unserem Nacken. Wir rannten wie die Helden eines Actionfilms, die vom Bösewicht verfolgt werden.
Nein, etwas störte den Vergleich: In Filmen rennen die Helden ewig, wenn etwas hinter ihnen her ist. Das ist Schwachsinn, Eddie. Wir merkten nichts von den übermenschlichen Kräften, die Panik in den Filmhelden auslöst. Ganz im Gegenteil lähmte sie unsere Beine und irgendwann war es wie in den Albträumen, in denen du vor dem Monster hinter dir fliehen willst, aber deine Beine am Boden festkleben. Wir blieben keuchend stehen. »Kann es sein, dass ich gerade einen Zombie gesehen habe?«, fragte ich abgehackt zwischen rasselnden Luftzügen.
»Kann sein.« Du hattest dich schon wieder gefangen und gingst, die Hände in die Hüften gestemmt, weiter. Ich richtete mich auf und folgte dir.
»Und kann es sein, dass wir den Weltuntergang verschlafen haben?«
»Kann sein.«

Später an diesem Morgen saßen wir auf den Gartenstühlen vor deiner Hütte. Sonst rührten wir diese Stühle nicht an (Erinnerst du dich an sie, Eddie? Du sagtest immer, sie seien so bequem wie ein riesiger Haufen Nägel), aber es schien uns der Situation nicht angemessen, uns wie sonst in die Betten zu legen.
Stumm betrachteten wir die Landschaft. Die Sonne stand jetzt genau so hoch, dass sie die Wipfel der Bäume durchbrach und die Welt mit Licht und Schatten besprenkelte. Ich dachte über das nach, was sich hinter dem Wald zusammenbraute. Ich versuchte, es infrage zu stellen, doch die seltsame Gewissheit, dass alle Menschen weg und nur noch Zombies da waren, hatte von meinem sonst so rationalen Denken Besitz genommen und ließ sich nicht mehr verdrängen. Mir war übel.
»Wieso freust du dich nicht?« Du warst schon wieder voller Tatendrang und beinahe glücklich über die neue Situation, das ultimative Abenteuer.
»Weil man sich nicht über den Weltuntergang freut, Ed. Du verstehst das nicht. Du hast schon immer an Zombies und den ganzen Scheiß geglaubt. Aber ich... mein ganzes Weltbild ist kaputt, Mann. Wenn ganze Städte über Nacht zu Geistern werden, und dafür die Toten wieder lebendig, dann kann alles passieren. Verstehst du, Eddie? Dann kann es genauso gut sein, dass wir selbst morgen tot oder auch untot sind.«
» - «
»Alles ist möglich, verstehst du? Ich weiß nicht, wie ich damit klarkommen soll. Für mich wär es einfacher, wenn der Typ gerade einfach nur besoffen war und die Menschen einfach geflohen sind, vor etwas Natürlichem, einem Tsunami meinetwegen.«
»Ich fürchte, so einfach ist es nicht, Aaron.«
»Ich weiß. Das ist ja die Scheiße.«
»Aber vielleicht war er ja echt besoffen...«
»Ihm fehlte ein Stück vom Arm.«
»Echt? Tja, vielleicht war er sehr besoffen...«
»... und hatte auf einmal Hunger auf sich selbst?«
»Kann doch sein. Aber hör zu, Aaron. Auch wenn es ein Zombie war, auch wenn es hier bald vor Zombies wimmelt, die langsam aus ihren Gräbern kriechen, blutverschmiert, blutrünstig...«
»Eddie! Hör auf damit.«
»Sorry.«
»Und hör auf zu grinsen!«
»Ist gut, Aaron. Hör zu. Ähm.Was ich sagen wollte: Wir sind stärker als die. Wir wissen, wie man sie bekämpft. Wir haben genügend Zombiefilme gesehen. Oder? Oder?«
»Jaja...«
»Wir besorgen uns ein paar Waffen und dann treten wir denen in den Arsch, verfickt noch mal... da, du grinst doch!«
»Ist gut, Alter. Lass gut sein.«
»Außerdem können wir gar nicht sterben. Wir sind Legenden, Alter. Wir sind die Auserwählten, die dafür sorgen, dass die Menschheit nicht stirbt. Ich sag dir, irgendwo in der Nähe laufen zwei übergeile Schlampen rum, die einzig und alleine dafür da sind, um von uns gefickt zu werden. Junge, die ganze Menschheit wird von uns abstammen. Von dir und Megan Fox. Oder von mir und der 20-jährigen Salma Hayek.«

Ich vermisse diese Gespräche, Eddie. Gespräche, die sich über Stunden hinziehen konnten. Gespräche, die von allem handelten, und dann wieder von nichts. In einsamen Stunden lasse ich sie gerne aufleben, krame ich deine Stimme aus dem Keller meines Gedächtnisses und fühle mich besser unterhalten als von jeder Fernsehserie. Auch dieses Gespräch ging noch ewig so weiter. Du philosophiertest über die beste Art, einen Zombie zu töten, während ich mich mit deiner Hilfe langsam aus dem Stimmungstief herauskämpfte, in das mich der streunende Zombie gestoßen hatte. Wir beschlossen, später zurück in die Stadt zu gehen, um uns mit Lebensmitteln und Waffen einzudecken. Wir drifteten immer weiter vom eigentlichen Thema ab, redeten über Leben und Tod, über unsere Träume und Albträume, über schöne und hässliche Mädchen. Es lohnt nicht, weiter auszuführen. Wichtig ist nur, dass ich uns mit einer einzigen Frage wieder zum Kern des Gesprächs brachte:
»Wieso leben wir noch?«
»Weil wir die Auserwählten sind, Aaron.«
» Hör auf, Alter. Nein, es muss irgendetwas geben, das uns von allen anderen Menschen unterscheidet, das uns quasi immun gemacht hat, oder unauffindbar.«
»Vielleicht...«
»Und es wäre unlogisch, wenn es ein Gen oder so was wäre, weil der Zufall doch schon verdammt groß sein müsste, dass ausgerechnet wir beide es hätten.«
»Vielleicht waren es...«
»Nein, es muss irgendwas sein, was uns in der letzten Nacht von allen anderen unterschieden hat.«
»Vielleicht waren es die Drogen.«
»Die... Drogen?«
»Ja. Der Typ, von dem ich sie habe, meinte, er hätte den Stoff eigenhändig aus Norwegen hierher geschmuggelt. Er meinte, niemand sonst in ganz Deutschland würde ihn anbieten und wir wären seine ersten Kunden.«
»Die Drogen. Fuck, weißt du, was das bedeutet?«
»Was?«
»Scheiße, wenn wir am Leben bleiben wollen, brauchen wir dringend Nachschub.«

Wir waren die wahrscheinlich ersten wirklichen Drogenabhängigen, Eddie: Ohne Drogen drohte uns der Tod. Zum Glück erinnertetest du dich daran, wo der Dealer gewohnt hatte. Wir zogen sofort los, da wir fürchteten, dass der Stoff, unsere Impfung gegen den Tod, bereits dabei war, unseren Blutkreislauf wieder zu verlassen. Schnellen Fußes gingen wir zurück in die Stadt, in der sowohl der Tod als auch das Leben auf uns warteten. Zurück in die Höhle des untoten Löwens, in der Hoffnung, dass irgendwo in seinem haarigen Arsch ein Päckchen Drogen versteckt war. Wir durchquerten diese Höhle einmal vollständig (die Wohnung des Dealers lag am anderen Ende der Stadt), ohne den Löwen auch nur zu sehen. Einmal meinten wir kurz, sein Brüllen zu hören. Du bliebst stehen und sahst mich mit diesem bedauernden Blick an. Sorry, dass ich dich gleich essen muss, schien er zu sagen. Du glaubtest, zu einem Zombie zu mutieren, doch es waren bloß Kopfschmerzen.

Ohne größere Komplikationen kamen wir schließlich rechtzeitig an der Dealerwohnung an. Ohne große Mühe traten wir die Tür ein, und ohne lange zu suchen, fanden wir den Stoff am ersten Ort, an dem wir suchten (und das war nach dem Zombie das nächste Filmklischee): im Toilettenkasten. Es war bloß ein kleines Päckchen, aber wir verdrängten die Sorge, es könnte allzu schnell verbraucht sein, mit einem tiefen Zug, bevor wir einigermaßen entspannt weiter zogen. Als nächstes brachen wir die Tür des riesigen Supermarktes im Zentrum der Stadt auf und nutzten die einzigartigen Rabatte des Weltschlussverkaufs, um uns mit Lebensmitteln einzudecken. Wir "kauften", was wir tragen konnten: Toastpackungen, Baguettes, Sechserpacks von Cola, Fanta und Sprite - und die, so nahmen wir an, letzten Steaks und Bratwürste unseres Lebens. Wir legten alles auf das Kassenlaufband und bedienten uns selbst. Dann gingen wir, mit vier gefüllten Beuteln bepackt, weiter zum Waffenladen, dessen Tür uns freundlicherweise offen stand. Wir schulterten jeder ein Gewehr, stopften vierhundert Patronen in unsere Taschen und steckten uns je ein Jagdmesser in die Socken, bevor wir schwer bepackt den Heimweg antraten.
Als wir wieder zuhause waren, und uns endlich doch auf unsere Betten schmissen, fiel ein so großer Stein von unseren Herzen, dass wir auf der Stelle einschliefen und erst aufwachten, als die Morgensonne wieder am anderen Ende des Horizonts stand.

Der folgende Abend, das kann ich jetzt, wo mein Leben langsam zuende geht, voll und ganz behaupten, war einer der schönsten meines Lebens. Im Nachhinein denke ich, dass es an der unterbewussten Gewissheit, dass unser Leben bald vorbei sein würde, lag, die uns dazu brachte, jede einzelne Sekunde auszukosten. Jede einzelne kostbare Sekunde, die uns dem Ende näher brachte. Jeden einzelnen Zug des Grases, das in seinem leichter werdenden Päckchen wie der Sand einer grauenhaften Sanduhr war, der die Zeit herunterzählte.
Ich werde die Geschichte dieses Abends nun an dem Moment beginnen, da du mit einem Streichholz eine Flamme entzündetest, um sie an deinen provisorischen, mit ebenjenem Gras gefüllten, Joint zu halten. Die Geschichte dieses Abends ist in gewisser Weise auch die Geschichte dieser Flamme, mit deren Erlischen ich sie später auch beenden werde.
Als das dünne Papier jedenfalls Feuer gefangen hatte, schütteltest du das Streichholz mit erprobter Handbewegung aus und sogst den am anderen Ende der Papierspirale entstehenden Rauch tief in deine Kehle, bevor du mir den Joint weitergabst. Ich nahm einen ebenso tiefen Zug, gab dir den Joint zurück und krümmte mich hustend.
Wir wiederholten diese Prozedur einige Male, bis das Gras verbrannt war. Die glimmenden Papierreste schmissen wir auf einen großen Stapel Holz vor unseren Füßen, der auf der Stelle Feuer fing. Das Lagerfeuer erhellte die heranbrechende Nacht:
Wir saßen auf der leeren Landebahn des Flughafens. In der Dunkelheit des Abends schien sie zu allen Seiten ins Unendliche zu gehen und gab uns jenes fremde und bedrohliche, doch erhabene Gefühl vollkommener Leere und Einsamkeit, wie es sonst nur Astronauten im Weltraum fühlen konnten. Das Einzige, was wir sahen, waren die weißen Bahnmarkierungen und, weit entfernt, das viereckige Flughafengebäude, welches schüchtern vor der riesigen, untergehenden Sonne stand.
Das Lagerfeuer loderte ruhig vor sich hin und spendete Geborgenheit. Zum ersten Mal an diesem Tag dachte ich weder an Zombies, noch an den Tod. Meine ganze Wahrnehmung fokussierte sich bloß auf die Flammen, die vor mir in den Himmel schossen, und auf die Holzscheite, die eben noch unter irgendwelchen Bäumen im Wald gelegen hatten und jetzt hier vor meinen vom Kiffen erröteten Augen vor sich hin knisterten. In diesem Moment konnte ich mir nichts Schöneres auf der Welt vorstellen und ich versank in der Leere meiner Gedanken. Da riss mich plötzlich eine Gewehrsalve aus der Trance. »AARON!«, schriest du. »HILF MIR!« Mit wild wedelnden Armen standest du vor mir, deine weit aufgerissenen Augen tickten wild hin und her und rissen deinen Kopf mit. Mit fahrigen Fingern kramtest du Munition aus deiner Hosentasche und ludst das Gewehr nach. »ZOMBIES, ÜBERALL!«
Du verschosst die kostbaren Kugeln in alle nur möglichen Richtungen, während du immer wieder um mich und das Lagerfeuer herumsprangst, wie ein hyperaktiver Indianer beim Regentanz. Tatsächlich prasselte in der Ferne etwas auf den betonierten Boden, doch es waren keine Regentropfen, sondern nur leere Patronenhülsen. Sie fielen nutzlos vom Himmel, ohne ein Ziel getroffen zu haben. Was wahrscheinlich daran lag, dass es gar kein Ziel gab: Der Flughafen war nach wie vor menschenleer. Eine Gänsehaut jagte meinen Rücken hinunter. »Eddie...«, raunte ich. »Hier ist niemand.«
Du kämpftest nun mit der Luft, tratst sie, schlugst sie, versuchtest, sie zu erwürgen.
»Eddie...« Plötzlich richtetest du das Gewehr zitternd auf mich. »Nein...«, stottertest du. »Nein, lasst ihn in Ruhe. Nehmt mich.« Mit rot anlaufendem Kopf schafftest du es, die Waffe in den Himmel zu richten und sie entlud sich in einem Kugelhagel. »EDDIE!«, brüllte ich in den Lärm hinein. »WACH AUF!« Du blinzeltest verwirrt und ließt das Gewehr fallen. Es krachte auf den Boden. Ein letzter Schuss löste sich und schlug knapp neben mir in den Boden ein. Ich schrie. »Hier ist niemand.«, wiederholte ich dann, leise, als könnte uns doch jemand hören. »Aber...«, stammeltest du. »Hier war doch gerade...« Kopfschüttelnd setztest du dich direkt vor das lodernde Feuer und starrtest minutenlang in die Flammen. Ich beobachtete dich wachsam, meine Gänsehaut war noch immer nicht verschwunden. Plötzlich begannst du, zu kichern. Das Kichern wurde zum Lachen und schließlich zum lauten Brüllen. Dann konnte auch ich mich nicht mehr halten und ich lachte, lachte mir die Gänsehaut vom Rücken, lachte die Sorgen weg, lachte, bis meine Stimme versagte.

Nachdem wir am frühen Abend aufgewacht waren, hatten wir auf der Stelle alles, was wir morgens eingekauft hatten, in einen großen Rucksack gepackt, unsere Gewehre geschultert und waren wieder losgestiefelt. Du hattest außerdem noch deine Gitarre mitgenommen. Auf dem Weg zum Flughafengelände hatten wir trockene Äste und Stöcke eingesammelt, die wir, am Ziel angekommen, zusammen mit dem Rucksack und den Gewehren über einen zwei Meter hohen Stacheldrahtzaun geworfen hatten. Wir selbst waren auf einen Baum mit tiefhängenden, jedoch einigermaßen stabilen Ästen geklettert, von dem aus wir über den Zaun gesprungen und unsanft auf dem harten Beton der Bahn gelandet waren. Wir hatten alles in die Mitte dieser riesigen Landefläche getragen, das Holz gestapelt, Rucksack, Gitarre und Gewehre daneben geworfen und es uns so bequem wie nur möglich gemacht. Es waren seitdem an die zwei Stunden vergehen, ohne dass ich mich von der Stelle bewegt hatte. Jetzt, nachdem ich mich langsam von meinem Lachkrampf erholt hatte, brach ich meinen Sitzstreik erstmals. Auf allen Vieren kroch ich in Richtung des Rucksackes, kramte kurz, öffnete eine Coladose und schmiss dir eine Packung Bratwürstchen vor den Hinterkopf. »Essen fassen.«, sagte ich.
»Essen fassen.«, wiederholtest du und kichertest wieder los. Ich prustete den Schluck Cola, den ich gerade trinken wollte, ins Feuer und es zischte laut. »Eddie.«, ermahnte ich dich. »Lass das.«
»Was? Ich mach doch gar nichts.«
»Hör auf zu lachen, verdammt.«
Ich kicherte wie ein kleines Schulmädchen und der einzige Grund, aus dem ich keinen erneuten Lachkrampf bekam, war der Schmerz, den meine angestrengten Bauchmuskeln verursachten.
Wir hielten das Fleisch knapp über das gleißende Feuer und vergaßen dabei, dass auch wir aus Fleisch waren und dass das Feuer mit uns dasselbe machte wie mit der Bratwurst. Als die Würste nach gut fünf Minuten essbar waren, konnte man dasselbe auch von meiner Hand behaupten. »Fuck.«, sagte ich. »Wenn die Zombies jetzt kommen, schmeckt ihnen meine Hand sogar.« Du schütteltest energisch den Kopf, sodass deine schwarzen Haare wie Propeller um deinen schmalen Kopf schwirrten. »Aaron, glaub mir: Zombies sind keine Feinschmecker.«
Ich kicherte wieder. »Da hast du wohl recht.« Dann, mit einem feierlichen Unterton: »Ed, bist du bereit?« Langsam bewegtest du deinen Kopf auf und ab. »Okay. Auf drei: Eins...« Wir hoben die Wurst an unsere Lippen. »Zwei...« Die Erwartung der ersten Mahlzeit seit über einem Tag ließ meinen Mund beben und den Speichel in ihm zusammenlaufen. »Drei!« Ich biss ab und die Aromen wirbelten wie in einem Strudel meine Kehle hinab. Es war eines der schönsten Gefühle meines Lebens.

Eine halbe Stunde später hatten wir alles aufgegessen. Glücklich und zufrieden lagen wir auf dem Bauch und betrachteten das Lagerfeuer, das langsam aber beständig herunterbrannte. Mittlerweile war die Sonne verschwunden und Sterne, tausende Sterne, wie ich sie vorher und nachher nie wieder gesehen habe, besprenkelten den schwarzen Himmel. Der Mond hingegen war an diesem Tag bloß eine schmale Sichel.
Rot flackerte die Nacht um uns herum und plötzlich war ich mir sicher, dass wir immun waren. Dass kein Zombie es wagen würde, uns anzugreifen. Fast, ja fast zweifelte ich schon an ihrer Existenz.
Auf einmal untermalten zarte Gitarrenklänge die stille Nacht, während das Feuer langsam kleiner wurde. Vier Töne rauf, zwei wieder runter. Eines der bekanntesten Riffs der Welt. Metallica. Nothing else matters. Und nichts war mehr von Bedeutung. Nichts außer diesem Lied. Ich fing an, zu singen.
»So close, no matter how far
Couldn't be much more from the heart
Forever trust in who we are
And nothing else matters«
Nichts war mehr von Bedeutung. Nichts außer dem Feuer, das knackte und knisterte und an Leuchtkraft verlor.
»Never opened myself this way
Life is ours, we live it our way
All these words, I don't just say
And nothing else matters«
Niemand war mehr von Bedeutung. Niemand außer uns selbst.
»Trust I seek and I find in you
Every day for us something new
Open mind for a different view
And nothing else matters«
Nur das Hier und Jetzt zählte noch. Scheiß auf die Vergangenheit. Scheiß auf das, was die Zukunft bringt. Der Moment war von Bedeutung, dieser Moment, dieser eine.
»Never cared for what they do«
Das rote Leuchten wurde auf ein Minimum gedimmt, als die letzte Flamme erlosch und die Reste des Holzes vor sich hin glimmten.
»Never cared for what they know«
Wir standen auf und traten auf die letzten Funken des Feuers.
»But I know!«
Das Feuer erlisch in einem letzten Knacken, das wie ein Todesschrei durch die Nacht fuhr.

Eddie, die nächsten beiden Tage waren die Besten meines Lebens. Die besten verdammten achtundvierzig Stunden, in denen wir uns in der Stadt, die nun uns gehörte, austobten, in denen wir mehr erlebten als manch einer in seinem ganzen Leben. Es waren wunderbare, wunderbare Tage. Die schlechte Nachricht, das muss ich leider gestehen, ist nur, dass ich große Probleme habe, mich an sie zu erinnern. Zu meiner Verteidigung bleibt zu sagen, dass die Ereignisse mittlerweile mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen - die Jahre fressen zwar zuerst die schlechten, aber irgendwann auch die guten Erinnerungen auf, als wären es saftige Steaks. Um in der Metapher zu bleiben: der Teller dieser Tage ist fast leer; vier Happen, und das ist die gute Nachricht, sind aber noch da. Ich kann weder garantieren, dass es sich genau so zugetragen hat, noch, dass sie chronologisch in der richtigen Reihenfolge sind, doch das sind die vier Erinnerungen, vier Videos sozusagen, die mein Kopf noch abspielen kann:

Das erste Video erinnert an ein Killerspiel. Vor meinen Augen wackelt der Lauf eines Gewehrs auf und ab. Ich renne mit diesem Gewehr in der Hand durch den dichten Kiefernwald. Unscharf bist du neben mir zu erkennen, wie du dasselbe tust: Die Waffe im Anschlag, und Gas. Unsere Schritte fliegen über den schmalen, nadelübersäten Weg, und jeder Schritt hallt wie ein Donnerschlag. Vereinzelte Vogelrufe, sonst herrscht Stille. Plötzlich wackelt das Bild. Wir sind abrupt stehengeblieben. Langsam richtet sich das Gewehr in meiner Hand in den Himmel. Neben mir knallt es, dann lachst du wie verrückt los. Das Zieldreieck des Gewehrs schiebt sich nun in die Mitte des Bildes und in dessen Mitte kann man das Ziel ausmachen: eine Taube im Wipfel einer Kiefer. Das Bild wackelt weiterhin wild, dann löst sich endlich ein Schuss, der jedoch schnurstracks an der Taube vorbeischnellt. Der Vogel kreischt und fliegt hektisch los. Ein Kugelhagel scheint ihn zu erwischen, doch er fliegt daraus hervor, als sei es bloß Nebel gewesen. »Fuck!« Das ist meine Stimme. Sie hat sich kurz über dein noch immer anhaltendes Lachen gelegt, das daraufhin jedoch nur noch lauter wird. »Ich kann es nicht, Mann.« Das Lachen erstickt; anscheinend bist du doch noch nicht verrückt. »Egal.«, sagst du. »Probier's weiter.« Wir rennen jetzt wieder, hinaus aus dem Wald, durch die Gassen der Stadt. Als das Bild erneut stockt, nimmt ein großes Bürogebäude die gesamte Sicht ein. »Zweiter Stock, fünftes Fenster von links.«, tönst du neben mir. Das Bild wackelt hin und her, bis es ebenjenes Fenster im Mittelpunkt hat, das daraufhin spontan zerschellt. »Wo hast du das gelernt?«, frage ich begeistert. »Naturtalent.«, meinst du nur.
Jetzt schiebt sich mein Visier wieder vor die Linse und ich zögere nicht lange, bevor ich meine Gewehrsalve auf die Fenster des Gebäudes loslasse. Wild brüllend, Filmszenen in meinem Kopf. »Nehmt das!«, schreie ich. »Nehmt das, ihr Schweine! I AM LEGEND!«
Nach und nach zerspringen dutzende Fenster und ein feiner Scherbenregen nieselt auf uns herab. Ein erhabenes Gefühl hat von mir Besitz genommen. Mein Blick wandert am Gebäude herab, knallt auf die Straße, dann in dein Gesicht. Du grinst breit. Erst wandert dieses Grinsen auch in meine Züge, doch plötzlich gefriert es. Hinter dir ist jetzt schemenhaft etwas auszumachen. Ein gekrümmter, unförmiger Schatten, der langsam größer wird. Eddie!«, schreie ich. »Auf den Boden!« Dann ballere ich wild über deine zusammengekauerte Gestalt am Boden, auf die zusammengekauerte Gestalt dahinter. »Ein Zombie!« Wie der Vogel zuvor scheint ihm keine Kugel etwas anhaben zu können. Er marschiert langsam auf uns zu, die Arme ausgestreckt, die Augen leer wie ein wolkenloser Himmel. Dann fällt mir etwas ein und das Bild wird schwarz. Als ich die Augen wieder aufmache, ist der Zombie verschwunden.

Okay, stell dir lauten Motorenlärm vor, dröhnend, immer wieder abgehackt und dann wieder aufkommend, wie orkanartige Windstöße. Stell dir quietschende Reifen vor. Und stell dir das allzu trügerische Gefühl vor, nicht sterben zu können, unsterblich zu sein.
Wenn du das hast, starte ich jetzt das zweite Video. Es beginnt mit einem Blick in den Rückspiegel eines VWs, den ich vor einigen Minuten mit steckendem Schlüssel am Straßenrand gefunden habe. In diesem Rückspiegel ist dein Auto zu erkennen, ein roter Flitzer, dessen Marke mir leider entfallen ist. Das Bild schwenkt wieder hinauf zur Frontscheibe, besser gesagt auf die Straße davor. Mit atemberaubender Geschwindigkeit jage ich das Auto durch die enge Straßenschlucht, drücke das Gaspedal bis zum Anschlag durch, als wäre alles nur ein Videospiel. Plötzlich taucht eine Kurve auf, und das Bild verwischt. Es dauert einige Sekunden, bis es wieder aufklärt und offenbart, dass ich noch lebe und nicht in die Leitplanke gerast bin. Dann ein erneuter Blick in den Rückspiegel - du liegst mittlerweile weit zurück. Ich kurbele, das Gas weiterhin voll durchgedrückt, ein Fenster herunter und fahre meinen Mittelfinger aus. Langsam drossele ich das Tempo und balle dann die Hand zur Faust. »Sieg!«, brülle ich gegen den böenartigen Lärm der Motoren an. Das Bild stockt, als ich ebenjenen Motor schließlich abwürge. Kurz darauf verstummt auch deiner und du trittst vor und gegen meine Windschutzscheibe. »Fick dich!«, wetterst du. Ich lache laut und lange. »Hab dir doch gesagt, dass ich gewinne.«
»Nur weil du nen fucking Führerschein hast und ich nicht?«
»Right.«
»Ach, scheiße. Warte, bis wir wieder Need For Speed zocken können. Da hilft dir dein Schein da auch nichts mehr.«
»Wie sollen wir denn zocken ohne Strom?«
Das Video endet just in dem Moment, als Erkenntnis und Enttäuschung in dein Gesicht kriechen.

Mh, ein weiterer Knackpunkt, Eddie. Der Zeitpunkt, an dem wir merkten, dass es nicht ewig so weiter gehen konnte. Wir brauchten einen Plan - später oder am besten früher, damit wir dieses neue Leben irgendwie bewältigen konnten, auch wenn es bald keine Drogen mehr gab, die diese graue, traurige, leere Welt in Rosarot tauchten.
Davon handelt das dritte Video in meinem Kopf, das am Abend des zweiten Tages geschossen wurde.
An diesem Abend sitzen wir im Schneidersitz auf dem Medien-Tower von Kaff, dem höchsten Gebäude im Umkreis mehrerer hundert Kilometer, das sich wie eine Stecknadel in den Himmel bohrt. Auf seinem knapp zehn Quadratmeter großen Dach veranstalten wir, auf zwei Klappstühlen sitzend, einen mit Silvesterraketen gefüllten Bierkasten vor unseren Füßen, ein großes Abschlussfeuerwerk unserer Sorgenlosigkeit. (Frag mich nicht, wo wir die ganzen Raketen herhatten, Eddie, denn ich hab keinen blassen Schimmer) Aber sie sind da und durchstechen den schwarzen Himmel und besprühen ihn mit explodierender Farbe.
Mein Blick folgt den Raketen seltsam teilnahmslos, meine Ohren nehmen ihr ohrenbetäubendes Kreischen kaum wahr. Trotz dieser lauen Sommernacht scheint eine dicke Gewitterwolke über meinem Kopf zu schweben. Und dir fällt auf, dass etwas nicht stimmt. »Was ist los mit dir?«, fragst du.
»Wie geht es weiter? « Ich friemele mit einem brennenden Streichholz an der Lunte einer Rakete herum, die partout kein Feuer fangen will. Das Streichholz brennt auf meine Finger herunter und ich schmeiße es fluchend in die Tiefe.
»Wir können nicht ewig so weiter machen. Wir können nicht ewig Streichhölzer verschwenden. Weil es bald keine mehr gibt.«
»Dann machen wir's mit zwei so Steinen wie die Steinzeitmenschen.«
»Eddie, das ist es ja. Wir sind quasi Steinzeitmenschen.«
»Äh, nein! Ich weiß nicht, was mit dir ist, aber ich kann noch geradeausdenken. Kein Uga Uga in meinem Kopf.«
»Das bezweifel ich stark. Nein... wir sind Steinzeitmenschen, weil wir keine Technik mehr haben. Weil wir allein auf uns und die Natur gestellt sind. Das ist das Problem. Wir verdrängen das, indem wir die Überreste auskosten - Autos fahren, mit Gewehren um uns schiessen und was weiß ich alles machen. Aber bald wird das alles ausgehen, wenn wir nicht aufpassen. Kein Benzin mehr in den Autos, keine Munition mehr für die Gewehre.«
»...keine Drogen mehr.«
»Daran gar nicht zu denken.«
»Gab es in der Steinzeit Zombies?«
»Nicht, dass ich...«
»Siehst du, sind wir doch keine Steinzeitmenschen!«
»Hurra! Darauf sollten wir trinken!«
»Aber wir haben keinen Champagner da...«
»Ironie, du Depp. Ironie!«
»Hatten die in der Steinzeit auch nicht.«
Das Video zeigt jetzt die Rakete, die ich endlich abgefeuert habe, und die in leuchtendem Gelb in den Nachthimmel schießt, um sich dann in den Ausläufern des eigenen Lichts wieder selbstmörderisch auf den Boden tief unter sich zu stürzen.
»Worauf ich hinauswill, Ed, ist: Wir brauchen einen Plan.«
Das Bild erhebt sich mit mir und dreht sich einmal um mich herum, als ich die schlafende, nein, die tote Stadt, betrachte, die mich im fahlen Mondlicht einmal mehr an einen Friedhof erinnert.
»Was machen wir, wenn die Drogen ausgehen?«
»Wir kämpfen.«
»Was machen wir, wenn die Munition ausgeht?«
»Wir rennen weg.«
»Das ist unser Plan? Wegrennen?«
»In Filmen gibt es immer einen Ort, wo die letzten Menschen sich zusammengeschlossen haben. Einen Ort, wo keine Zombies sind. Einen Ort... Norwegen! Norwegen! Das ist es!«
»Was, Ed?«
»Der Dealer hatte den Stoff aus Norwegen. Ganz Norwegen raucht das Zeug, hat er gesagt. Und wenn ganz Norwegen das Zeug raucht...«
Das Video endet hier, Eddie. Der Abend ging mit Sicherheit noch weiter, doch alles, was ich noch sehe, sind Konturen. Schemen. Da ist ein Bild, in dem wir wieder im Supermarkt sind und zwei Einkaufswagen mit Proviant befüllen (wir hatten uns anscheinend dazu entschieden, sofort wegzurennen anstatt erst zu kämpfen). Ein Bild, in dem wir lachend am Boden liegen und das ich in keinen Zusammenhang setzen kann.
Und ein Bild, in dem wir einem hübschen, blonden Mädchen gegenüberstehen. Zombie!, steht in den Sprechblasen über unseren Köpfen. Auf dieses Bild folgt das vierte und letzte Video in meinem Kopf:

»Zombie! Zombie!« Sie steht mitten auf der Straße, als wir aus dem Eingang des Medien-Towers treten. Der Mond bestrahlt sie wie ein Bühnenscheinwerfer. Sie ist wunderschön. Das blonde Haar hat sie sich in einer geflochtenen Strähne hinter ihr rechtes Ohr gesteckt, ansonsten berieselt es ihre schmalen, sonnengebräunten Schultern. Lebhafte, grünblaue Augen funkeln uns aus einem mit Sonnensprossen übersäten Gesicht entgegen. Sie ist wunderschön. Und ich wünsche mir, sie an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit getroffen zu haben, als ich die Waffe hebe und auf ihre Stirn - ihre reine, zarte, wunderschöne Stirn - richte, um sie zu erschiessen. Tränen steigen mir in den Augen, als sich meine zittrigen Finger dem Abzug nähern. »Fuck.«, sagst du neben mir. »Von der würde ich mich gerne beißen lassen. Überall wo sie will.« Du lachst. »Soll ich oder willst du?«
Ich nicke und weiß selber nicht, was ich damit sagen will. Ich schaue sie wieder an. Sie hat ihre zarten Arme gehoben - halb nach vorne, halb nach oben - und in ihrem grauen Sweatshirt und der hellen Jeans ist sie... wunderschön... ich drücke ab.
Sie schreit schrill auf. »NICHT ZOMBIE!«, kreischt sie mit klarer Stimme. Du lachst, visierst ihre Brust an. »Leck mich!« Das Bild rast jetzt auf dein Gewehr zu, als ich mit einem beherzten Sprung die Kugel, die sich aus deinem Gewehr löst, in den Abendhimmel ablenke. Dann zurück auf die Straße, wo sie nun weinend am Boden liegt. »NICHT ZOMBIE!«, wiederholt sie, beinahe singend. Und leiser: »Nicht Zombie, Emilie!«

Bald darauf saßen wir auf den Stühlen vor deiner Hütte, und diskutierten über den Verbleib von Emilie, die sich gerade in der Hütte umschaute.
»Was meinst du? Einmal ficken, weiterschicken?«
»Eddie!«
»Gib zu, dass du sie knallen willst. Jeder Junge dieser Welt will sie knallen, so geil wie sie aussieht.«
» - «
»Was?«
»Wir können sie nicht wegschicken! Sie ist alleine. Sie ist fünfzehn, sie ist neu in diesem Land.«
»Aus Norwegen, oder? Hast du sie gefragt, ob sie zuhause ein paar Drogen genascht hat?«
»Sie meinte, nein.«
»War wahrscheinlich irgendwer, der sie ficken wollte. Das Zeug kannst du bestimmt auch als Vergewaltigungsdroge benutzen...«
»Kann sein, kann sein. Auf jeden Fall lebt sie noch und ist hier bei uns und wir schicken sie nicht weg wie einen streunenden Hund.«
»Du willst sie ficken, oder?«
»Nein... ich...«
»Ja, Aaron! Ich seh es dir an, die Gier in deinen Augen!«
»... ich meine...«
»Oh ja, Emilie, kleine, heiße, norwegische Emilie!«
»... küssen vielleicht...«
»Sie ist Cheerleaderin, oder? Was meinst du, was sie alles kann?«
»...ich... Scheiße ja, vielleicht will ich sie ficken! Vielleicht will ich das! Vielleicht will ich aber auch nur mein Leben mit ihr verbringen, aber egal, das ist egal, weil ich sie auch mitnehmen würde, wenn sie fett wär und ne Pferdefresse hätte. Alleine stirbt man hier. Wir können nicht einfach über Leben und Tod entscheiden, Mann!«
»Zu dritt gehen die Drogen noch schneller aus, das weißt du?«
»Ja.«
»Gut. Meinst du, sie liegt schon im Bett?«
»Kann sein.«
»Sehr gut. Dann geh ich jetzt zu ihr rein und besorg's ihr.«

Das waren die letzten Worte, die ich je aus deinem Mund gehört hab, Eddie. Dann geh ich jetzt zu ihr rein und besorg's ihr.
Das war das letzte Gespräch, das wir je geführt haben. Nicht unser Bestes, beileibe nicht und ich wünschte, du könntest mir jetzt antworten, damit wir ein tiefsinnigeres Tüpfelchen auf das I unserer Freundschaft setzen können. Doch so einfach ist das nicht, so einfach ist das leider nicht. Alles, was mir bleibt, ist, zu reden und zu hoffen, dass du mich, wo auch immer du gerade bist, hörst. Wenn ich mir vorstelle, dass du irgendwo bei mir bist, fühlt sich das verdammt gut an. Es ist ein gutes Gefühl, wieder mit dir zu reden, Eddie. Die Last dieser Ereignisse lag mein ganzes Leben lang auf meinen Schultern und es befreit mich ungemein, nicht auch noch mit dieser Last begraben zu werden. Also rede ich einfach mal weiter, egal, ob du noch zuhörst (sofern du jemals zugehört hast). Denn jetzt kommt der eigentlich spannende Teil, Eddie: der Teil nämlich, den du noch nicht kennst.

Es war Morgen und ich tat das, was man morgens so macht: ich wachte auf. Ich stellte fest, dass Emilie ihre zarten Arme um meinen Bauch geschlungen hatte. Wir hatten nur zwei Betten und nach deinem missglückten Anmachversuch hatte Emilie sich für mein Bett entschieden. Ich hätte mich wundervoll fühlen müssen, mit dem schönsten Mädchen der Welt an meiner Seite, dem besten Freund der Welt in meinem Rücken, dem größten Abenteuer meines Lebens vor der Brust. Aber ich tat es nicht. Ein schreckliches Gefühl lag in meiner Magengegend und signalisierte mir, dass etwas nicht stimmte, kaum, dass ich die Augen aufschlug. Ich blinzelte schläfrig, wischte mir den Schlaf aus den Augen und versuchte dabei, den Ursprung meines Gefühls zu lokalisieren. Ich bin mir nicht mehr sicher, aber ich glaube, dass er im Geruch lag. Im faden Schleier eines Geruchs besser gesagt, der durch das geöffnete Fenster in die Wohnung wehte: Erbrochenes. Und, ein wenig tiefer, noch etwas anderes, etwas Schlimmeres: der Tod. Mein Kater hatte so gerochen, als wir ihn nach einem zweiwöchigen Urlaub auf unserem Balkon entdeckten, wie ein Teppich flach auf dem Boden liegend, eine Armee von Fliegen um ihn herum schwirrend. Ich stand auf und kratzte mich am Kopf, wie ich es immer tat, wenn ich etwas nicht verstand. Im Augenwinkel bemerkte ich, dass dein Bett leer war, doch mein Gehirn war zu müde, um seine beiden Entdeckungen in Zusammenhang zu setzen.
Und plötzlich war da noch etwas, das ich nicht verstand: draußen lagst du quer auf einem Stuhl. Mund und Augen waren geöffnet, Fliegen surrten um deinen Kopf. Auf dem Gartentisch lag die Packung Drogen und ein Zettel. Die Packung war leer und als ich den Zettel in die Hand nahm, begann ich langsam, zu verstehen.
aaron, stand da in deiner krakeligen Schrift geschrieben. Rot wie Blut.
ich hab euch die entscheidung wer von uns dreien hier bleibt mal abgenommen. zu dritt hätten wir es eh nie im leben geschafft. zu zweit habt ihr eine chance. nutzt sie! see ya later.
Die Worte verblichen vor meinen Augen, bevor ich sie verstehen konnte. Eine Erkenntnis jedoch brannte sich in mein Gehirn: Ed ist tot. Mehr verstand ich nicht und viel mehr hab ich bis heute nicht verstanden. Und Eddie, ich bin mir ziemlich sicher, dass du selbst nicht verstanden hattest. Nicht verstanden hattest, was der Tod bedeutet. Oder, dass man, wenn man sich schon umbringt, um Proviant zu sparen, nicht allen Proviant beim Selbstmord verbrauchen sollte.
Ich stand stocksteif da und bemerkte seltsam ruhig, dass mein Mund offen stand. Als ich ihn schloß, bekam ich keine Luft mehr. Die Wahrheit stürzte auf mich ein wie eine Lawine. Ich zerknüllte das Papier und schmiss es weg. Ich sprang auf deine Leiche und rüttelte sie, als könnte ich ihr mit jedem einzelnen Stoß etwas Leben zurückgeben. Du bliebst tot. Ich stürzte in Richtung des Tisches und schüttelte die Packung Drogen, als könnte ich sie so wieder füllen. Sie blieb leer. Dann fiel deine Leiche auf den Waldboden und es knackte und irgendetwas an diesem Knacken umschloss mich wie eine Zwangsjacke. Ich versuchte, zu schreien, doch es ging nicht. Wieder stand ich stocksteif da, hielt die Arme seitlich am Körper, als wären sie festgeklebt. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich auf meinen Atem.
Emilie kreischte. Alles, was ich dachte, war, wie schön sie kreischen konnte, wie glaskar und melodiös. Alles, was ich tat, war blinzeln. »Is he...?«, begann sie leise.
Ich räusperte mich und die Zwangsjacke lockerte sich ein bisschen. »Yeah. Ed's dead.«, flüsterte ich tonlos. Emilie kam angerannt und klammerte sich an mich, als wäre ich ein Rettungsanker auf tosender See. »Did you know him well? 'cause... I only knew him for a few hours and he.. he was kind of an...an... Arschloch.« Sie lächelte bitter. Wie lächelt man nochmal?, fragte ich mich. Ich hatte keine Ahnung. »He was the best friend I ever had.«
Ein wunderschönes Schluchzen schüttelte ihren zarten Körper an meiner Brust. »I'm in Germany for three days now. All that happened is... SÓREN! Shit. I've taken the wrong plane, flown to the wrong city. This isn't berlin, is it? « Wieder dieses traurige Lachen.
»Alles nicht so schlimm, I told myself. Alles nicht so schlimm. Got no money? Stuck in the wrong city? Kein Problem. I called my guest family in Berlin and they said they'll come and get me the other day. I tried and found myself a bridge to sleep under. The next day... whole city's empty like an empty glass - sóren! But I told myself: Alright, Emilie. Could be worse, could be worse. At least you're alive. Now he's dead. We're all dying in the end, aren't we?« Ihre Worte tröpfelten wie Sommerregen auf meine Schulter. Ich nahm sie kaum wahr. Stattdessen redete ich emotionslos an ihr vorbei: »We gotta bury him. And then we gotta run away.« Ich blinzelte und atmete und blinzelte wieder. Mit aller Kraft deutete ich dann auf deine Leiche. Es war mehr ein Schulterzucken. »Will you help me?«

Erinnerst du dich an den Bunker, besser gesagt das Erdloch, das unsere kindlichen Hände einst gegraben haben, Eddie? Die Erinnerung daran reicht freilich noch viel weiter in die Vergangenheit zurück als dein Tod, bis hinein in die Zeit, als wir noch Kinder waren, sieben Jahre alt, vielleicht acht. Unsere Freundschaft war zu diesem Zeitpunkt noch recht jung und ungestüm, sodass wir bei einem unserer stundenlangen Streifzüge durch den Wald spontan beschlossen, ein Loch bis nach China zu graben. Zwei Wochen später war es an die vier Meter tief und damit gaben wir uns zufrieden. Alle paar Tage schoben wir die Baumstämme, die wir zum Schutz über das Loch gelegt hatten, an die Seite und sprangen in die Tiefe, hinein in unsere eigene kleine Höhle, ohne uns der Gefahr bewusst zu sein, der wir uns dabei aussetzten. Die Seiten hatten wir eher schlecht als recht mit Ästen gesichert und mit brüchigen Stufen aus Erde versehen. Oft regnete es Erdklumpen auf unsere kleinen Köpfe, doch wir bemerkten sie kaum. Einmal, als wir am Grunde unseres etwa einen Quadratmeter breiten Lochs kauerten, sagtest du jedoch etwas, an das ich mich einige Jahre später, mit deiner Leiche vor Augen, wieder erinnerte: »Irgendwann...«, meintest du damals. »Irgendwann wird mich die ganze Erde hier noch unter sich begraben.«
Irgendwann war jetzt, Eddie.
Wir luden deine Leiche auf einen Schubkarren und zogen los. Nach einigen Umwegen hatte ich das Loch, das tatsächlich noch da war, gefunden. Wir hievten die inzwischen morschen Baumstämme an die Seite, dann umklammerte ich deinen erschlafften Körper und wagte den mühseligen Abstieg. Die ersten paar Stufen hielten tatsächlich, doch plötzlich brach eine unter meinen Füßen weg und ich fiel bis zum Grund des Lochs. Ohne mir darüber Gedanken zu machen, wie ich wieder hochkommen sollte, erhob ich meine Stimme: »Emilie!«, rief ich und sie ließ deine Gitarre den Rand des Lochs hinunterrutschen. »You okay?«, fragte sie. Ich ignorierte es.
Stattdessen klemmte ich die Gitarre in etwa so zwischen deine Arme, wie du sie selbst gehalten hättest. Ich schloss deine Augen und deinen Mund. Dann erinnerte ich mich ein paar Tage zurück, an unser Lagerfeuer am Flughafen, und beschwor die Melodie deiner Gitarre in meinem Kopf herauf, die du der Stille jener Nacht entgegengesetzt hattest. »So close, no matter how far«, begann ich, zu singen - und dieses Mal sang ich das ganze Lied, im Wissen, es nie wieder singen zu werden, um es unmittelbar mit dir zu verknüpfen.
Tatsächlich habe ich seit jenem Tag kaum noch einmal gesungen. Es ist einfach nicht mehr dasselbe ohne dich. Denn Eddie, eins musst du wissen: nichts war mehr dasselbe ohne dich. Alles veränderte sich - und das Meiste zum Schlechten.

Hast du je etwas von den fünf Phasen der Trauer gehört, Eddie? Jeder Mensch durchläuft sie, wenn er eine schwere Wahrheit zu verdauen hat: Verdrängung, Wut, Verhandeln, Depression, Akzeptanz. Meine Trauerbewältigung deines Todes ging exakt in dem Moment in die erste Phase - die Verdrängung - als ich dein Grab geschlossen hatte und mir klar wurde, dass ich dich nie wiedersehen würde. Es sollte seine Zeit dauern, bis ich die letzte der Phasen erreichte, nämlich genau bis zum Ende dieser Geschichte.
Kommen wir nun aber erstmal zu dem, was zwischen dem einen und dem anderen Moment lag; kommen wir zur letzten Episode: der Flucht.

Verdrängung... Verdrängte ich deinen Tod oder eher meine Trauer? Ich weiß es nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass mir nicht nach Reden zumute war. Mein Mund war wie zugefroren. Ich wollte, ich brauchte die Stille, oder zumindest sagte ich mir das. Doch Emilie gönnte mir keine ruhige Minute.
Sie redete und redete, erst über ihr Leben, und sie erzählte mir ihr ganzes Leben, wie auch immer sie sich an ihre Säuglingsphase erinnerte, sie tat es, sie redete und redete und als es aus ihrem Leben nichts mehr zu erzählen gab, erzählte sie mir Geschichten, endlose Geschichten, dutzende Geschichten und sie sprach und sprach und sprach ohne Punkt und mit nur wenigen Kommata.
Genauso. Die ganze Zeit. Es war eine Qual, doch im Nachhinein weiß ich, dass es genau das war, was ich brauchte. Denn jedes Wort, das aus ihrem Mund kam, war eine kleine Flamme, die mich langsam auftaute.
Derweil ließ ich, einen mit Proviant prall gefüllten Rucksack und eine mit Munition prall gefüllte Waffe auf den Schultern, deine Hütte, unseren Wald, mein altes Leben für immer zurück, ohne mich auch nur einmal umzudrehen. Nur die Kiefernnadeln unter meinen Sneakers zeugten noch von meinem alten Leben, doch mit jedem Schritt über den harten Asphalt der Stadt legte ich auch sie ab wie eine alte, vertrocknete Haut.
Bald schon waren wir auf dieser großen, aufwärtsführenden Schnellstraße am anderen Ende der Stadt, die sich im weiteren Verlauf gabelte - sich in der einen Richtung dem Atomkraftwerk, in der anderen dem Autobahnnetz näherte -, aber an deren Namen ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern kann.
Es war jedenfalls zu dieser Zeit, dass Emilies Dauergerede mich aufgetaut hatte. Ich brauchte es also nicht mehr, und was ich am allerwenigsten brauchte, waren diese kleinen Flammenwörter. Emilie ahnte davon nichts und schwadronierte fröhlich weiter:
»You know, I never wanted to be a model. They all said I should become one, but I just don't wanna vomit all the time.« Zu einem anderen Zeitpunkt wäre ihr folgendes Lachen bezaubernd gewesen. »No, I always wanted to be a journalist. Or maybe a writer, I don't know. Something with words. I like words. They treat me well. They never hurt me. They don't want to play with me or rape or fuck me.« Sie kicherte wieder und es war zuviel. Die Hitze ihres Monologes ließ eine Sicherung in mir durchschmoren. Trauerphase zwei, die Wut, hatte sich angeschlichen: »SHUT UP!«, brüllte ich - noch lauter als sowieso schon beabsichtigt. Emilie fiel vor Schreck fast hin. Dann kicherte sie auch schon weiter. »Look who's awake!«, stichelte sie. »SHUT THE FUCK UP!« Ich verzweifelte jetzt und als sie erneut ansetzte, nahm ich die Waffe von meiner Schulter und schoß.
Keine Angst, natürlich nicht auf Emilie - im Prinzip war sie ja unschuldig. Aber auf den Himmel über ihr, um wenigstens ein paar Sekunden Ruhe zu haben und meine Gedanken zu sortieren.
Und sie war still. Mucksmäuschenstill. Auf einmal bereute ich, laut geworden zu sein, entschuldigte mich hastig und gefror wieder. Stumm gingen wir weiter über den Mittelstreifen der von Bürogebäuden übersäten Straße, die uns langsam aus Kaff hinausführte. Eine kleine Steigung schälte sich vor uns aus dem Asphalt und dahinter, so glaubte ich, war auch schon besagte Weggabelung. Die Autobahn und das symbolträchtigte Ortsschild mit dem durchgestrichenen Namen (statt Kaff hätte dort genausogut Eddie stehen können, Sorgenfreies Leben - oder Jugend) waren nicht mehr weit entfernt. I'm sorry, wiederholte ich und Emilie nickte stumm, gab mir ein Zeichen, dass sie mir verzeihen würde, wenn sie soweit war. Ich schwor mir, nie wieder zu schiessen, wenn sie in der Nähe war. Plötzlich ein Schrei. »Shoot him!«, kreischte Emilie panisch und äußerst kontraproduktiv in Anbetracht meines eben geschlossenen Schwurs.
Vor uns war ein nackter Mann aus einer dunklen Seitengasse gesprungen. Es war, so stellte ich fest, derselbe Zombie, dem wir beide, Eddie, auch schon in der Königsallee begegnet waren. Aber etwas war anders: sein Arm - er war ganz. Auch sonst hatte der Mann nur noch wenig von einem Zombie und viel mehr von einem nackten besoffenen Penner. Ich beschloss, erst einmal nichts zu tun. Es stellte sich heraus, dass das die richtige Entscheidung war.
Der Zombie stellte sich als Wolf vor und grinste schief. »Ihr wollt wohl raus aus der Stadt, hä?« Seine wenigen Zähne waren schief und tiefgelb, und eher notdürftig in seinem Zahnfleisch verteilt. »Frag ich mich wieso? Auch am Wochenende. Sind se alle mir nix dir nix abgehaun. Naja, is wohl deren Pech, hä? Bleibt mehr Alkohol für'n Wolfi!«
Geräuschvoll sammelte er Spucke in seinem Mund zusammen und spuckte sie gelb und zäh an den Straßenrand. Emilie blinzelte angewidert in die Sonne.
»Wissen Sie, wo sie hingegangen sind, oder wieso?«, fragte ich distanziert.
»Keine Ahnung, Jung. Sind alle plötzlich wech und ham den guten alten Wolfi unter der Theke liegengelassen wie nen Köter. Als ich aufgewacht bin, sind dann auch schon du und dein Freund gekommen und habt dem Wolfi nen ordentlich Schreck eingejagt, habt gesacht, er wär'n blöder Zombie und ich hab echt erst gedacht, Kacke, jetzt gammelste hier für immer auf dem Scheißplaneten rum und darfst kein Alkohol saufen, sondern nur noch Blut. Aber... schmeckt immer noch! « Mir fiel erst jetzt auf, dass er einen Humpen Bier in der zuttrigen rechten Hand hielt. Wild grinsend hob er ihn nach oben. »Auf'n Weltuntergang oder was auch immer das hier is'.« Ich musste lachen. Wie gut das tat. »Schätze, Sie wollen nicht mit?«, fragte ich höflich, obwohl ich die Antwort schon kannte. Kurz darauf liefen Emilie und ich die Steigung hinauf und ließen die Stadt für immer hinter uns.

»He called it paradise. Said, there would be free beer all over the place and he never felt that happy in his entire life.« Ich war dabei, mein Gespräch mit Wolfi zusammenzufassen, da Emilie kein Wort verstanden hatte.
»But he didn't know, what the fuck is happening, either?«, erkundigte sie sich zum wiederholten Mal. Wieder schüttelte ich nur den Kopf.
Wir waren auf der 51, die uns in einer geschätzten Woche über Konz, Trier und Bitburg bis nach Nordrhein-Westfalen führen würde. Von dort aus mussten wir dann weitersehen, vielleicht einen Plan kaufen, da jede weitere Ortskundnis außerhalb meines begrenzten Teenager-Horizonts lag.
»Okay. So where are we heading?«, fragte Emilie. Sie hatte sich ihren Pullover um die Hüfte gebunden und ihr T-Shirt so geknotet, dass es knapp über ihrem Bauchnabel endete. Die Sonne stand hoch über unseren Köpfen, sie war heiß und lähmend. Als Emilie einen Schluck aus ihrer Wasserflasche trank, glänzte ein dünner Schweißfilm auf ihrer Oberlippe. Sie bot mir die Flasche an und ich nahm sie dankend an.
»Eddie and I were thinking of Norway.«
Emilie setzte an.
»Let me explain! The day before it all started Eddie bought some drugs from a local dealer. We didn't do drugs before, we just wanted to try some and believe me: I won't ever do 'em again. But, the point is: these drugs are the only thing that seperated us from everyone else in this town: The dealer said, we were the first to ever do this drugs in Germany. So something in these drugs kinda prevented us from whatever happened to all of the others. I personally don't think it is a zombie apocalypse, but who knows? It must be something, right?«
»But why Norway?«
»Yeah. The dealer said another thing. He said: I bought this shit in Norway. Everyone does it over there. So... when our theory is right, and the drugs are the reason we survived, then we gotta head to Norway to find other people...«
»Okay. Sounds pretty reasonable. But why do I live?«
»You're from Norway, aren't you?«
»Are you implying I took some drugs?« Sie tat beleidigt und stemmte ihre geballten Fäuste in die Hüfte.
Ich feixte fast: »Did you?«
»No, stupid!«
Sie boxte mir an die Schulter und kicherte. »Why the fuck would I do that?«
»Maybe you didn't know.«, sagte ich, wieder ernster. »Have you been on a party or something like that before you left to Germany?«
»I threw a goodbye-party, yes. You mean...?«
»Could be, couldn't it?«
»No... well, maybe.«
»Alright.« Dann erklärte ich ihr den kargen Plan, den ich mir in der Nacht zurechtgelegt hatte.
Wie gesagt, Kaff lag irgendwo an der französischen Grenze, was einen verdammt langen Weg bis nach Norwegen bedeutete. Wir mussten irgendwo an die Nord- oder Ostsee, vielleicht auch durch ganz Dänemark hindurch, bevor wir irgendwie über das Meer mussten. Aber darüber machte ich mir noch keine Gedanken; erst einmal mussten wir halb Deutschland durchqueren. Die 51 schien mir am geeignetsten, um direkt nach NRW zu kommen; danach mussten wir immer weiter nach Norden, nach Niedersachsen, vielleicht sogar weiter bis nach Schleswig-Holstein. Ich schätzte, dass wir ungefähr einen Monat brauchen würden, um bis an die Küste - bis nach Bremerhaven, oder Kiel - zu gelangen, was im Nachhinein gesehen eine grandiose Untertreibung war. Zum Glück kam alles anders.

Während wir Schritt vor Schritt setzten, die eine halbe Stunde mit Reden, die Nächste mit Schweigen und Nachdenken (ich wünschte mir in diesen Minuten immer öfter, statt dir gestorben zu sein, ich schien also bereits in Trauerphase drei, dem Verhandeln zu sein) verbrachten, wurde der Mittag zum Abend. Als sich schließlich die Nacht auf leisen Sohlen anschlich, hatte sich nichts an unserer Umgebung geändert. Noch immer gingen wir auf dem äußeren rechten Seitenstreifen der vierbahnigen Autobahn, die noch immer von dichtem Buschwerk und hohen Laub- und Nadelbäumen gesäumt war. Vor einigen Kilometern waren wir an einer Baustelle vorbeigekommen, auf der die Bagger, Kräne und Betonmischer noch immer so einsatzbereit herumgestanden hatten, als wären die Arbeiter nur kurz in den Schatten des Waldes verschwunden, um etwas zu essen. Danach jedoch wieder jener öde Asphalt, der sich wie ein riesiger, unendlicher Teppich über die Landschaft gelegt hatte. Und mit der Nacht kam ein zweiter Teppich, so lang wie der erste, doch ebenso endlos in der Breite, der sich über alles legte, und dieser Teppich hieß Dunkelheit. Wir waren gerade in ein Gespräch vertieft (»So Aaron, what's your favorite band?«
»Definitely Metallica. I love them!«
»Yes, I like them, too.«
»And I like girls with a good taste of music.«
»You're sweet... no, Nothing else matters is uber-great. I liked you singing it back when we were burying Eddie, too.«
»Thanks. Yeah, it's one of their best songs.«
»Wait... they have other songs? I always thought they were like a... what's it called?... one hit wonder...«), als wir plötzlich ein Licht am Horizont ausmachten, das die Dunkelheit durchschnitt wie ein Stück Butter. Ich biss mir auf die Zunge, um mir den zynischen Kommentar zu verkneifen und deutete stattdessen auf dieses ferne Licht. »Do you see that?«, fragte ich zaghaft. Ich hatte in den letzten Tagen zu viele Dinge gesehen, die nicht wirklich da gewesen waren und ein Licht in der Nacht einer untergegangenen Welt kam mir vor wie eine Fata Morgana. Doch Emilie nickte aufgeregt. »What is it? What do you think?«
»Could be soldiers saving us. Could be zombies killing us. Could be nothing.«
»May be good, may be bad...«
Ein treffender Satz. Entweder der Tod oder das Leben wartete an diesem Licht. Sollten wir das Risiko eingehen?

Oh, Eddie. Jetzt kommt die Auflösung! Bist du genauso aufgeregt wie ich? Ist das nicht das Schönste in jeder Geschichte: das Ende, an dem sich alles aufklärt? Und das kribbelige Gefühl davor? Natürlich, man hat vorher immer die eine oder andere Theorie, und manchmal liegt man sogar richtig. Doch selbst wenn man sich ganz sicher ist, will man trotzdem noch die Bestätigung haben, dass man Recht hatte, nicht wahr? Weißt du mittlerweile, was wirklich passiert ist an jenem schwülen Sommertag zu Beginn des 21. Jahrhunderts, das sich jetzt schon fast wieder dem Ende zuneigt? Hast du eine Vermutung oder wenigstens eine Ahnung?
Ich selbst war damals ratlos. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was mit mir und der Welt passierte. Emilie genausowenig. Ich schätze, das war der Grund, wieso wir das Licht anvisierten: die Antwort. Wir wollten endlich wissen, was zum Teufel hier vor sich ging. Und eins kann ich dir schonmal verraten: wir wurden nicht enttäuscht.

Ja, es waren tatsächlich Soldaten, die uns im Licht erwarteten. Und ja, es war das Leben - nicht der Tod.
Zuerst durchbrachen zwei Jeeps des Militärs die Ketten der Nacht. Sie waren quer auf die Straße gestellt und blockierten auf diese Weise die gesamte Fahrbahn in beiden Richtungen. Komisch, dachte ich. Da können die Zombies doch einfach außen dran vorbeilaufen. Dann rief ich mir ins Gedächtnis, dass es keine Zombies gab und ich glaube, es war zu dieser Zeit, dass ich anfing zu ahnen, was wirklich geschehen war. Je näher wir an diese seltsame Straßensperre herankamen, desto besser sahen wir auch die beiden Soldaten in ihren Jeeps. Eins kann ich dir sagen: es war nicht die Art von Soldaten, die ich erwartet hatte. Das waren keine toughen Überlebenskünstler; sie hatten weder kantige Gesichter, noch breite Schultern. Und sie waren, so schien es zumindest auf den ersten Blick, im Gegensatz zu uns unbewaffnet. Auf unserer Fahrbahn parkte ein dürrer Mittzwanziger, dessen Gesicht von Aknenarben übersät war. Er hielt eine Ausgabe des Playboys in seinen knochigen Händen und hatte ein ekelhaftes Grinsen auf dem Gesicht. Als wir uns ihm näherten, sah er noch nicht einmal auf und ich bezweifelte, dass er in seinem derzeitigen Zustand eine fünf Meter hohe Flutwelle bemerkt hätte, wenn sie auf ihn zugerast kam. Auf der Gegenfahrbahn jedoch sprang sofort ein fetter, alter Glatzkopf aus seinem Jeep. Er musterte uns kühl, während er - ohne den Blick auch nur einmal von uns abzuwenden - über den Mittelstreifen zum anderen Wagen tapste und auf dessen Motorhaube hämmerte. Der Junge schreckte auf, als hätte ihn seine Mutter mit dem Heft erwischt. »Noch'n paar, die wir vergessen haben.«, dröhnte uns die Stimme des Fetten entgegen. Lustlos stolperte der Jüngere aus seinem Jeep, wo er sich mit hängenden Schultern neben seinem Kollegen aufstellte.
Wir blieben etwa fünf Meter vor dem kümmerlichen Duo stehen. Ich nahm mein Gewehr von der Schulter und öffnete den Mund. Der Alte schnitt mir das Wort ab:
»Tu die Waffe weg, mein Junge. Weißt du überhaupt, wie man damit umgeht?«
Ich rührte mich nicht. »Können wir euch trauen?«
»Uns trauen?«
»Oder werdet ihr uns töten?«
»Euch töten? « Die beiden lachten, einer schäbiger als der Andere.
»Was glaubst du, was passiert ist?«
»Ich weiß es nicht.«
Der Mann drehte sich zu seinem dürren Kollegen um: »Er weiß es nicht.« Er schüttelte den Kopf, wie ein Lehrer, der seine Schüler tadelt. »Erklär's ihnen.«
Der Junge räusperte sich laut. Seine Stimme klang kehlig und gepresst: »Die Stadt hier, äh, Kaff oder wie die heißt... wurde, äh, evakuiert, weil, äh, weil in dem Kraftwerk da ne Kernschmelze befürchtet wird.«
»Und das, wo ihr gerade rauskommt...«, übernahm der Alte mit einem fetten Grinsen im Gesicht, »...ist die Quarantänezone.«

Sie brachten uns in ein nahgelegenes Motel und steckten uns in ein einfaches Doppelzimmer, in dem wir warten sollten, bis unsere Eltern kamen. Wir legten uns auf das einzige Bett des Zimmers und schwiegen uns an. Ich steckte tief im Sumpf der Depression, unfähig, den Mund zu bewegen, geschweige denn meine Stimmbänder. Seit zwei Stunden hatte ich kein Wort mehr gesagt. Die Sinnlosigkeit deines Todes erschlug mich geradezu.
Nach einiger Zeit kuschelte sich Emilie an mich, schlang ihre dünnen Arme um meinen ihr abgewandten Rücken. Und in diesem Moment fällte ich eine Entscheidung: Was nutzte es, in Trauer zu versinken; tagein, tagaus? Es reichte doch, wenn einer gestorben war, da musste der Andere nicht auch noch halbtot durch die Gegend laufen. Mit diesem Credo kämpfte ich mich aus meiner Depression und drehte mich in Emilies Griff um. Starrte ihr tief in die grünblauen Augen, die trotz der unendlichen Müdigkeit in ihnen noch immer strahlten wie die Mittagssonne, wenn sie sich im Meer spiegelt. Ein Grinsen fuhr durch meine Gesichtszüge. Emilie lächelte zurück.
»You? Me? Kiss Kiss?«, raunte ich und Erregung durchfuhr mich wie ein Stromschlag. Emilie lachte. Dann biss sie sich auf die Unterlippe, hob einen Finger ans Kinn. »Yes.«, sagte sie.

Emilie. Damals, im durchgelegenen Bett des Motels, lag sie noch stundenlang neben mir und hielt meine Hand, während ich ihre Schulter nass weinte. Jetzt, in meinem Sterbebett, sitzt sie wieder neben mir und dieses Mal ist sie es, die weint. Das ist gut, nicht wahr? Tränen sind die letzte Phase der Trauer. Tränen sagen: Ja, ich finde es zwar nicht schön, was passiert ist, es ist verdammt traurig und scheiße, aber ich akzeptiere es. Ich lebe weiter.
Akzeptanz, Eddie. Du weißt, was das bedeutet: Das Ende.
Die Geschichte jener Tage ist vorbei, so wie die Geschichte meines Lebens gleich vorbei ist.
Ich welke langsam dahin wie eine vertrocknete Blume im Wind, von der Blatt um Blatt abfällt. Das Leben, Eddie, das bei dir wie die Luft in einem zerplatzenden Luftballon im einem Moment da und im nächsten weg war, es entweicht bei mir nur langsam und schmerzhaft, wie bei einem kaputten Reifen, der immer langsamer durch die Gegend rollt. It's better to burn out than to fade away. Aber ich merke, dass es bald vorbei ist. Bald kippt der Reifen um. Und ich bin froh, dass ich diese Geschichte noch beenden konnte, bevor es soweit ist. Ich habe Frieden geschlossen - mit mir und mit meiner Vergangenheit. Jetzt schließe ich die Augen und lasse den Tod kommen. Ich danke dir, dass du dir die Zeit genommen hast, mir zuzuhören. Vielleicht sehen wir uns ja gleich!

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Tag der Veröffentlichung: 05.08.2012

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