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Sterben


Die Nacht war so schwarz und undurchdringlich wie der Tod. Das Scheinwerferlicht kämpfte sichtlich gegen diese fast körperliche Dunkelheit an und konnte sie nur ein paar Meter zurückdrängen.
Der Schatten bleibt auch ohne Sonne, dachte der Busfahrer.
Dann stellte er die Frequenz der Scheibenwischer höher. Das schwarze Plastik bewegte sich in einem derartigen Tempo hin und her, dass er die Szenerie vor sich nur noch wie einen alten, ruckeligen Film vor sich ablaufen sah. Ein paar Reihen hinter ihm beobachtete und dachte eine junge Frau dasselbe. Sie fand, dass die Nacht in schwarz-weiß echter wirkte als in dieser durch das Scheinwerferlicht künstlich restaurierten Version. „Mögen Sie alte Filme?“, fragte sie ihren Sitznachbarn, einen dürren Riesen mit freundlichen Augen. Die beiden hatten sich in den letzten Minuten angefreundet. Tom hieß er. Sie mochte den Namen, aber der Andere hatte kaum einen Halbsatz gewartet, bis er auf seine Freundin zu sprechen gekommen war.
Jetzt schlich sich ein Lächeln in den braunen Bart, der seine spröden Lippen umrahmte.
„Ist das Leben nicht schön?“, fragte er seinerseits und fand sogar eine Antwort: „Mein Lieblingsfilm. Ich freue mich immer wie ein kleiner Junge, wenn es wieder auf Heiligabend zugeht. Mich begeistert die ganze Stimmung dieses Films, und dieser Zeit. Da ist noch kein Gangster im Bild, keine schlecht platzierten Apple-Logos. Und diese Menschlichkeit...“

Sein Blick schien abzuschweifen, wegzulaufen, durch Raum und Zeit.
Das Herz der Frau tickte einen Zentimeter höher.
„James Stewart ist ein wundervoller Schauspieler gewesen, Capra ein toller Regisseur.“, sagte sie. „Und beide sind... beide waren bestimmt unheimlich interessante und herzensgute Menschen. Wissen Sie, Tom, das ist das einzig Schlimme an alten Filmen: ich persönlich kann nur schlecht vergessen, dass die Menschen, denen ich da gerade beim Leben zuschaue, schon längst tot sind.“
Der Andere nickte, während er sich langsam nasse, braune Haare hinter rote Ohren strich.
„Manchmal wünschte ich, ich könnte ihnen noch einmal begegnen, wie sie damals gewesen sind.“, fuhr sie fort. „Einen Tag an ihrem Leben teilhaben, an ihrer Zeit. Wie Sie schon sagten: es war eine schöne Zeit damals. Die kulturell Hochwertigste von allen, meiner Meinung nach. Technischer Fortschritt ist nicht alles, wie ich finde. Ab einem bestimmten Punkt nimmt er den Leuten mehr weg, als er ihnen gibt.“
Als sie ihn wieder ansah, waren seine Ohren wieder von Haaren bedeckt. Schon wieder schien er ganz woanders zu sein.Weil er nicht antwortete, schaute die Frau an ihm vorbei aus dem Fenster. Draußen durchschnitten weiße Fahrspurbegrenzungen in endlosen Linien die regnerische Nacht, wiesen ihnen den Weg, zurück ins Licht.
„Schreckliches Wetter heute, nicht wahr?“
Er bewegte seinen Kopf langsam auf und ab, einige Sekunden lang und länger, bevor er sich endlich aufrappelte. „Ja, allerdings.“ Er rieb sich die Hände an seiner Jeans trocken.
„Wo wollen Sie eigentlich noch hin, zu solch später Stunde?“

Die Frau lächelte mit den Augen. „Ich sehe mal, wo der Bus mich so hinbringt; und entscheide dann spontan.“
Sie lachte sein Stirnrunzeln weg. „Nein, ich bin da noch an so einer Sache dran, um die ich mich kümmern muss.“
Er war schnell. „Welche Sache?“
Sie lächelte mehrdeutig und kramte danach in ihrer kleinen, schwarzen Handtasche herum.
Zwinkerte, nachdem sie Stift und Papier gefunden hatte.
„So etwas sage ich nur Leuten, deren Telefonnummer ich habe.“
Sie bemerkte, wie ihre Hand leicht zitterte, als sie die Zahlen aufschrieb, die Tom ihr diktierte. Und wie brüchig ihre Stimme war, während sie ihm ihre eigene Nummer nannte.
„Also?“, forderte er dann.
Sie lächelte wieder, als sie zum Sprechen ansetzte. Doch bevor sie auch nur das erste Wort aussprechen konnte, stockte ihr der Atem. Ihre Augen weiteten sich. Draußen wurden aus der unendlichen weißen Gerade viele kleine Abschnitte, während der Bus notgedrungen langsamer wurde. Der Fahrer sah die Linien bald ganz aus seinem Sichtfeld verschwinden, während er wie wild am Lenkrad drehte und sein Gehirn umso ruhiger analysierte, dass er die Ausfahrt übersehen hatte. Der Film vor ihm kam zum Stehen, als ein kleiner Lastwagen den Wagen gerade da traf, wo die junge Frau sich eben noch so angeregt mit ihrem Sitznachbarn unterhalten hatte. Er seufzte in den Lärm hinein.
Der Tod war so schwarz und undurchdringlich wie die Nacht und kein Scheinwerfer dieser Welt konnte ihn vertreiben.

1

Leben

Tom glaubte, zu träumen, kaum, dass er seine Augen öffnete. Und sein letzter Gedanke, der noch vor der Bewusstlosigkeit in seinem Gehirn entstanden war, wurde von seinem Gegenteil abgelöst.
Aus Ich werde sterben wurde Ich lebe.
Tom überlegte noch, ob das überhaupt einen Unterschied machte. Er setzte sich leicht auf und suchte seinen Körper nach Kabeln ab. Eines führte von einem Tropf in seinen Handrücken, ein weiteres entdeckte er nicht.
Er richtete sich weiter auf.
Tom lag in einem anonymen Krankenhauszimmer, karg und klinisch sauber, dessen einziges Möbelstück neben dem Tropf und seinem Bett ein laut summendes Gerät war, das über seinen Herzschlag informierte.
Sonst war der Raum leer. Tom verlor sich in den kahlen, weissen Wänden und erinnerte sich langsam wieder an den Unfall. Das Mädchen, Lena, hatte ihm gerade etwas anvertrauen wollen, da waren sie von grellen Scheinwerfern geblendet worden. Ein Licht am Ende eines langen Tunnels, erst in weiter Ferne, dann immer näher, bis aus Dunkelheit grelles Weiß geworden war.
Tom wusste noch, dass er sich in einem seiner letzten Gedanken um Lena gesorgt hatte, deren blonde Haare das helle Licht in Millionen von Funken verwandelt hatten. Dieses letzte Bild, es war derart schön gewesen, dass er sich noch jetzt für einen Augenblick dabei erwischte, an sie statt Lisa, seiner Freundin, zu denken. Doch der Moment war kurz und schon fragte Tom sich, wo seine Familie blieb.

Wo überhaupt alle waren.
Noch immer hatte sich keine Menschenseele in sein Zimmer bequemt, hatte keine Krankenschwester sein Erwachen festgestellt, kein Arzt ihn über seinen Zustand in Kenntnis gesetzt. Gerade überlegte er, zu rufen, da sah er, wie sich die Türklinke drehte. Ein kalter Luftzug wehte herein und ließ Tom frösteln, bevor er aufatmen konnte. Als die Tür ganz geöffnet war, fror er bereits und ein Gefühl von unbegründeter Panik machte sich in seinem Körper breit.
Im Flur schien keine Lampe zu brennen, denn der schwarze Körper schälte sich nur langsam aus der Dunkelheit. Breite Schultern in schwarzer Seide quetschten sich durch die schmale Tür. Tom setzte sich auf, angespannt, beide Fäuste unter der Bettdecke geballt. Das Licht schnappte sich nun ein freundlich grinsendes Gesicht, an dem jedoch irgendetwas falsch schien. Tom löste eine Faust und umfasste das Kabel an seinem Handrücken. Der Andere hatte beide Arme hinter seinem Rücken verschränkt. Langsam schritt er auf ihn zu. Dann schnellte sein rechter Arm hervor und in Toms Augen glitzerte es. Schnell riss er das Kabel heraus, schlug die Decke zurück und offenbarte seine Faust. Eine traumähnliche Sicherheit nahm von ihm Besitz und die ihr eigene Logik ließ ihn nicht daran zweifeln, auch einen um einiges kräftigeren und bewaffneten Gegner besiegen zu können. Er stand auf, atmete ein und aus, stürmte danach auf den Mann zu, und meinte, einen überraschten Ausdruck in dessen aalglatter Miene festzustellen, kurz bevor er ihn mitriss. Der Mann schien nur ein Schatten seines Körpers zu sein, leistete keine Gegenwehr, als er durch die Tür auf den leeren, schwach beleuchteten Krankenhausflur gestossen wurde.
Tom schleuderte ihn noch einmal gegen die Wand, dann rannte er los.

Sprintete durch stille, menschenleere Korridore, ohne dass sich auch nur ein lädierter Knochen bemerkbar machte. Und blieb erst wieder stehen, als er aus dem Krankenhaus heraus war.
Tom kniff sich in den Unterarm. Er wachte nicht auf, doch Schmerzen verspürte er auch keine.
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In Tom schrien sich dutzende Gedanken gegenseitig an. Zwei solcher Stimmen unterhielten sich über das Wetter. Strahlender Sonnenschein, nicht wahr?, meinte die Eine. Es gibt nur eine Sache, die mich bei dieser Hitze frösteln lässt...
Es war Regen angekündigt, für die gesamte Woche, kam die Andere schon zuvor. Dann vereinigten sie sich zu einem markerschütternden, kreischenden Kanon: Wie lange war ich bewusstlos? Was ist mit mir geschehen?
Es gab auch noch andere Stimmen, sie witterten eine Verschwörung, schoben Panik ob eines vielleicht oder vielleicht auch nicht nahenden Mannes in Schwarz und schlugen vor, schleunigst zu Lisa, seiner Freundin, nach Hause zu gehen oder nein, besser noch, zu laufen. Seltsamerweise wunderte sich keine, warum sie keine Schmerzen spüren konnte, so kurz nach einem üblen Verkehrsunfall. Aber vielleicht ging sie auch nur unter in dieser irrsinnigen Lautstärke, die Tom keinen einzigen klaren Gedanken fassen, ihn auf den flirrenden Beton vor dem Krankenhauseingang fallen ließ. Ein ohrenbetäubender Chor aus dutzenden brüllenden Gedanken. Dann tauchte eine neue Stimme auf und sie brauchte nur zu flüstern, damit alle anderen verstummten. Dieser Gedanke kam nicht von Tom, sondern von außerhalb. Er echote zwischen seinen Gehirnwindungen hin und her und ließ ihn aufkeuchen.
„Komm zurück!“, befahl er. „Komm zurück, Tom!“
Ein Moment der Stille.

Dann schrien alle Stimmen zusammen, geballter, lauter und einstimmiger als je zuvor.
Renn!, riefen sie
Renn um dein Leben!
Und Tom folgte.
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Unter einer gleißenden Mittagssonne rannte der dürre Mann in seinem Krankenhemd von einem ihm unbekannten anderen Mann davon, floh aus einem Krankenhaus, das er noch nie gesehen hatte, durch Straßen, für die dasselbe galt. Tom hoffte nur, dass...
Eine Straße sah wie die nächste aus, er fegte wie ein Berserker durch die Fußgängerzonen, riss verdutzt dreinblickende Passanten mit sich und rannte weiter, bis er nur noch laufen konnte.
Es gab anscheinend kein Zentrum in diesem Teil der Stadt, keine Geschäfte, keine Büros, kein gar nichts; nur Wohnhäuser und er lief an ihnen vorbei, ohne eins von ihnen wiederzuerkennen, bis er nur noch gehen konnte.
Irgendwann war er dann doch an so etwas wie einem Mittelpunkt der Stadt angekommen, einem riesigen Jachthafen, an dessen keilförmiger Bucht sich eine Vielzahl von Fußgängern, Fahrradfahrern und Inline-Skatern die breite Promenade teilte und er ging fassungslos weiter, bis er schluchzend zusammenbrach.
Tom kannte diesen Hafen nicht, er war hier noch nie in seinem Leben gewesen und hatte auch von keinem derartigen Ort gehört. Die bittere Wahrheit erschlug ihn fast: Dies war nicht die Stadt, in der er noch vor seinem Unfall gewesen war. Er rollte sich am Boden zusammen wie ein Embryo, kreischte wie ein Baby und trat um sich wie ein Kind.
Eine Frau kniete sich in Sicherheitsabstand neben ihn.

„Alles in Ordnung?“, fragte sie und Tom hörte einen ostdeutsche Dialekt heraus. Dresden?
Ein etwas älterer, immer noch junger Mann sprach seinerseits mit der Frau. „Was ist los mit ihm?“, wunderte er sich und Tom hätte schwören können, dass er einen amerikanischen Akzent hatte. Der nächste war eindeutig süddeutsch und als ein pubertierenden Mädchen auf einem Fahrrad vorbeigefahren kam und die den Weg blockierende Menschenmasse up platt anfuhr, schüttelte es Tom erneut.
Er biss sich auf die Lippe, um aufzuwachen oder sich zumindest zusammenzureißen und richtete sich langsam wieder auf. Unter zwei Schluchzern begrub er die Aufforderung an alle, ihn in Ruhe zu lassen und als niemand reagierte, schrie er dieselben Worte mit dünner Stimme noch einmal. „Verpisst euch!“, kreischte er und kroch wie ein verschrecktes Tier an den äußersten Rand des Weges. Die Leute verschwanden kopfschüttelnd und Tom fiel auf, dass es sich ausschließlich um Menschen im relativ jungen bis mittleren Alter handelte. Er machte kaum ein graues Haar an ihren Hinterköpfen aus, als sie sich von ihm abwandten. Die junge Frau aus Ostdeutschland betrachtete ihn noch eine Weile im Kampf mit sich selbst, bevor auch sie sich umdrehte.
Tom kam eine Idee. „Warten Sie!“, sagte er mit zittriger Stimme. Sie fuhr erschrocken herum, lächelte ihn vorsichtig an. „Haben Sie ein Handy bei sich?“, fragte er, nicht sonderlich zuversichtlich. Doch die Frau überlegte nur einen Moment, bevor sie in ihre Jeanstasche griff und ein Apple-Logo in die Linse hinter Toms Augen hielt. Er erinnerte sich an sein Gespräch mit Lena und lachte schmal. Mit dem Handy gab die Frau ihm einen warmen Händedruck und stellte sich als Elisabeth vor. „Tom.“, entgegnete er. „Danke, dass Sie mir vertrauen.“

Sie lächelte breiter. „Ich hoffe nur, dass es kein Fehler war.“
Tom schüttelte den Kopf, dann tippte er die Zahlen auf die glatte Oberfläche. Er merkte, dass er die Vorwahl vergessen hatte, löschte alles, fing von vorne an. Seine Hand zitterte die falsche Nummer auf das Display und verlegen gab er Elisabeth ihr Handy wieder zurück.
„Könnten, könnten Sie die Zahlen für mich eintippen?“
In ihrer Stimme steckte Mitleid. „Kein Problem, lassen Sie hören!“
Er holte Luft, nannte die Nummer. Elisabeth wirkte erst entrüstet, dann schlich sich so etwas wie Erkenntnis in ihre Züge, woraufhin das Mitleid umso stärker wiederkam.
Sie öffnete ihren Mund und schloss ihn wieder.
Tippte stumm die Nummer ein und drückte schon auf den imitierten Hörer. Tom riss ihr das Smartphone aus der Hand. Seine eigene zitterte vor Aufregung und sein Herz gesellte sich zur Sonne an den Horizont. Drei Töne erklangen und Tom keuchte auf, denn es waren die Falschen. „Kein Anschl...“ Er ließ die Frau nicht ausreden und beendete die Verbindung. Drückte seine knochigen Finger ein paar Mal auf das Display und überprüfte die Nummer. Sie stimmte. Tom wollte es nicht glauben und wiederholte die Wahl. Als der Dreiklang erneut ertönte, fiel Toms Herz vom Himmel und riss ein Loch in den sandigen Boden der Promenade. Er biss sich erneut in die Unterlippe, holte tiefer Luft und begegnete dem Blick von Elisabeth.
„Kein Anschluss unter dieser Nummer.“, zitierte er.
Elisabeth schien wenig überrascht, als sie ihn in ihre Arme schloss.


---
Tom beobachtete das Meer.
Große Wellenberge zogen sich bis an den Horizont.
Er betrachtete eine Einzelne dieser Wellen, wie sie kurz vor dem felsigen Ufer brach und um ein Vielfaches ihrer Größe beraubt wurde, kaum, dass ihr das Wasser unter den Füßen fehlte, bis sie nur noch ein kleines Rinnsal war, das die schwarzen Steine umspülte.
So lange war sie unverändert ihres Weges geflossen, doch kaum zog eine größere Macht sie aus ihrem gewohnten Umfeld, wurde sie klein, schwach und angreifbar. Unbedeutend.
Und sie konnte nichts dagegen tun.
Tom saß am äußersten Rand der Promenade, auf einer kleinen, maroden Holzbank. Zwei Meter vor ihm tat sich ein fünf Mal so tiefer, ungesicherter Abgrund auf.
Bloß ein paar Schritte, und...
Er starrte das Handy auf seinem Schoss an. Elisabeth hatte es ihm überlassen, als sie sich plötzlich verabschiedet hatte. „Ich muss los, Manfred, mein Mann, wartet bestimmt schon.“, hatte sie erklärt, bevor sie ihm viel Glück gewünscht und sich eilig umgedreht hatte, verschwunden war, ohne noch einmal zurückzublicken.
Tom lachte in sich hinein.
Manfred und Elisabeth, was ein Traumpaar!
Schnell wurde er wieder ernst. Betrachtete erst die riesigen Wellengebirgee, dann den einzelnen Ausläufer.
Manche Dinge werden kleiner, wenn man sie genauer unter die Lupe nimmt, dachte er, während er jetzt die Leere des Horizonts anvisierte, Dinge auf diese Leinwand projizierte, die nicht mehr da waren und sich nicht traute, auch noch den letzten Funken Hoffnung zu löschen.
Irgendwann, nach fünf Minuten oder Stunden, nahm er dann das Smartphone in die Hand.

Es war leicht, wog doch die Welt. Die Nummern kamen dieses Mal mühelos. Tom blickte auf eine Stelle knapp neben der Sonne, als er tief durchatmete. Dann drückte er fahrig auf das Display, kurz darauf ein zweites Mal. Dann brüllte er ins Meer hinaus. Seine Mutter war verschwunden.
Eine Minute später hatte er seinen Arbeitsplatz verloren, drei Minuten darauf seinen Bruder und seinen besten Freund. Die metallene Frauenstimme, und vor allem die drei hohen Töne vibrierten in seinem Kopf wie ein makabrer Ohrwurm.
Und Tom schrie die Wellen an, warum er sich nicht auch einfach in Luft auflösen konnte. Wie sie und alles, was ihm jemals etwas bedeutet hatte. Er schrie, bis er nur noch rufen konnte, bis er nicht mehr in der Lage war, zu sprechen. Dann dachte er dunkle Gedanken, die ihn auch dort enden ließen, wo die Wellen es taten. Nur, dass seine Rinnsale rot sein würden...
Tom stand auf und näherte sich dem Abgrund.
„Tu das nicht, Tom!“
Vor Schreck wäre er fast gefallen. Der Mann in Schwarz, fast hatte er ihn vergessen. Doch Tom fuhr nicht herum.
Er glaubte, die Stimme existierte noch immer lediglich in seiner Fantasie. Dann jedoch tippte ihm jemand auf die Schulter und er wirbelte herum.
Nichts im Gesicht des Anderen deutete auf das hin, was Tom ihm noch vor wenigen Stunden angetan hatte.
Es war so rein und furchteinflößend wie eh und je.
„Tom, mein Junge.“, sprach der Mann freundlich, zu freundlich. „Was soll das?“
Tom rannte auf ihn zu und prügelte auf seine Brust ein. „Was habt ihr mit mir gemacht?“, fand er seine Stimme wieder. Der Mann in Schwarz stieß Tom zu Boden wie einen lästigen, anhänglichen Hund.

„Wir haben nichts...“, fing er an und irgendetwas in seiner Stimme hatte sich verändert.
„Ihr verdammten Wichser!“, unterbrach Tom. „Bringt mich zurück!“
Der Andere kramte in seiner Jackentasche und Tom wusste instinktiv, dass dort ein Messer war. Er trat mit voller Wucht gegen sein Schienbein. „Gott...!“, stöhnte der Mann in Schwarz mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Das können wir nicht, beileibe nicht“ Dann baute er sich vor Tom auf. Wieder kroch dieser auf allen Vieren bis an den äußersten Rand - eine Sackgasse: Gleich unter ihm brachen die Wellen.
Der Andere grinste siegessicher. „Wissen Sie, Tom, man bemerkt nie den Rückenwind, der einen antreibt, immer nur den Gegenwind, der einem entgegenschlägt. Und in Ihrem Fall, Tom, in Ihrem Fall gibt es den nicht einmal.“
Tom verstand nicht und wollte es auch nicht. Er wagte einen letzten Versuch, sprang auf und gab seinem Gegenüber eine Kopfnuss. Der sackte zusammen und Tom nutzte seine letzte Chance. Er packte ihn mit letzter Kraft an beiden Schultern und zerrte ihn Richtung Abgrund. „Ihr habt mir meine Frau genommen, meine Familie, meine Freunde. Ihr habt mein Leben genommen und mir ein neues gegeben. Wieso?“, heulte er. „Wieso habt ihr mich nicht sofort getötet?“
Der Mann in Schwarz lachte, obwohl Tom ihn schon bis an die Kante gedrängt hatte. „Tom, verstehen sie doch! Es ist alles anders, als sie glauben!“ Tom verharrte, die Hände ausgestreckt. Der Andere wehrte sich nicht mehr.
„Es ist doch so einfach, verdammt!“, sagte er. „Tom, Sie sind...“ Er gab dem breiten Körper einen letzten Ruck.
Unten knackte es und der Wind peitschte ein letztes Wort zwischen die Felsen, das er nicht verstand, weil er die Augen verschlossen hielt.
Epilog
Tom und Lena

Tom und Lena sitzen am Hafen jener Stadt, mit baumelnden Beinen über dem tosenden Meer.
Er hat die Hand in ihren Haaren und lässt sie dort, weil es besser ist. Sie sehen der Sonne beim Untergehen zu und denken nach. Eine Frage schwebt in der heißen Sommerluft. Er hofft, dass sie verglüht, doch sie kühlt sich in den Wellen ab und sein Blick folgt ihr. Schemenhaft erkennt man ihre Gesichter in dem blau-grauen Chaos unter ihnen. Die Antwort wird darüber entscheiden, ob sie sich vollkommen trennen oder eher noch näher aneinander rücken.
Tom denkt wie so oft über die Vergangenheit nach, über Dinge, die einmal waren, jetzt gerade nicht mehr sind, aber wieder werden können. Er weiß, wie lange sie waren, doch er weiß nicht, wie lange sie weg sind, wielange er noch warten muss. Er kennt die Antwort trotzdem, weil er weiß, wie er diese Zeit überbrücken kann. Lena hat ihm versichert, dass sie einverstanden ist, denn auch sie wartet nur darauf, dass die eine Welt und die Andere wieder näher aneinander rücken, wie die eine Welle, die die nächste überrollt. Tom weiß, es ist nicht perfekt. Es war perfekt und es wird wieder. Aber es ist nicht. Aber trotzdem...
„Ja.“, sagt er dann und sie reckt sich seiner streichelnden Hand entgegen.
„Schön.“, entgegnet sie und der Worte sind genug gewechselt.
Sie umarmen sich vor der untergehenden Sonne.
Dann springen sie die Klippe hinab in die Fluten und vereinigen ihre Spiegelungen.
2

Fantasieren


Es gibt immer diese eine Illusion, die es schafft, das Reale zu verdrängen, dachte Tom, während er den nächsten tiefen Schluck nahm. Der Alkohol rann seinen Gaumen hinab, schmeichelte seinem Inneren, weckte das Eine auf und machte das Andere schläfrig. Er war ein Aphrodisiakum, das alles vergessen machte. Tom schwebte auf einer Wolke, die weit über der siebten war. Er war befreit, doch dann beging er einen Fehler: Er stellte das Glas ab, machte eine Pause.
Und augenblicklich war die Wirkung wieder aufgehoben. Wolken verschwanden viel zu schnell, sie regneten zu oft und man musste über ihnen bleiben, um zu überleben.
Jetzt stand er erneut im Regen, aber endlich trank er wieder und verleibte sich eine Sonne ein, die stärker als Trauer war.
Es gibt immer diese eine Illusion, die man nicht verlieren will.
Er hatte die Klippe am Rande der Promenade schnellen Fußes verlassen und hatte sich erneut auf endlosen Straßen wiedergefunden, immergleich, nur aus Wohnhäusern bestehend. Mit der gleißenden Sonne hinter sich hatte er fieberhaft in seinem Kopf gekramt, nach einem Ort, irgendeinem nur, der diesem hier ähnlich war.
Mit strömendem Regen in sich hatte er diese Stadt beim besten Willen nicht einordnen können, obwohl er immer geglaubt hatte, alle deutschen Großstädte wenigstens ansatzweise zu kennen, die Millionenstädte sowieso. Tom hatte die Ruhe bewahren wollen, doch irgendwann war er wieder gerannt, durch diese schrecklich schönen Alleen, auf der fieberhaften Suche nach irgendetwas Bekanntem.

Nach einem Geschäft, einem öffentlichen Gebäude, einem Restaurant, irgendetwas, das es auch zuhause gegeben hatte.
Gerade war er langsamer geworden, hatte umdrehen wollen, um sich zum Mann in Schwarz zu gesellen, ihm in die ewige Nacht zu folgen, da war sein Blick auf irgendetwas am Ende der Straße gefallen. Genauer: Auf einen dumpf leuchtenden Fleck, über dem ein Schild prangte. Alkohol, hatte das Schild geschrien und mit dem Klecks pulsiert. Tom war wieder losgerannt, immer schneller auf den Fleck zu, bis er schließlich eins mit ihm geworden war.
Jetzt stellte er das leere Glas neben die anderen beiden und räusperte sich kehlig. Der Wirt hob kurz seine buschigen Brauen, sagte jedoch nichts und zapfte das flüssige Gold erneut in ein silbern glänzendes Glas. Tom fuhr sich über spröde Lippen. Sie konnten ihm alles nehmen, aber seine Fantasie blieb unantastbar. In seinem Kopf waren sie alle noch da, und trockneten sich nun im künstlich gleißenden Licht jener goldenen Sonne. Während er den nächsten Schluck nahm, und es immer wärmer in ihm wurde, sah er sich die kleine Kneipe genauer an. An der groben Theke saßen noch zwei weitere Männer, etwa in seinem Alter, die ihn mit großen Augen angeglotzt hatten, als er in seinem blau-weiß karierten Krankenhemd in die Bar gehetzt war. Aber keiner hatte etwas gesagt. Tom sah noch zwei Paare an den runden Tischen, die wie das verdammte Glück aneinander hingen, sonst war die Bar leer. An den Wänden hingen Fotos von prominenten Besuchern der Bar und es waren einige. Früher musste hier der Teufel los gewesen sein. Früher. Tom kicherte leise in sein Glas. Alle Gesichter, die ihm hier entgegenschimmerten, sie waren allesamt längst tot. Es gibt immer eine Illusion, die aufrechterhalten wird, egal wie schlimm es in der Realität steht; und die stärkste von allen ist die Erinnerung.

Toms Kichern erstickte und er leerte das Glas in einem langen, panischen Zug. Er starrte auf einen Spiegel neben der Zapfanlage. In ihm spiegelte sich die Vergangenheit und als Lisa ihn umarmte, spürte er, dass sie trocken war.
Er wollte sie nicht mehr loslassen und verlor sich in der Welt hinter dem Spiegel, bis dieser in tausend Stücke zerbarst. „Tom?“ Jemand hatte ihn eingeworfen und Tom wieder in die Einsamkeit der Kneipe zurückgeholt, wo ihm nur noch Scherben von seiner Vergangenheit blieben. „Tom!“ Er fuhr herum und glaubte für einen kurzen Moment an ein Wunder. Doch kaum war er von seinem knarzenden Barhocker aufgesprungen, kaum war ein breites Grinsen auf sein Gesicht getreten, da fiel der Hocker auch schon und sein Lächeln zersprang. Kurz hatte er gedacht, Lisa war gekommen, um ihn zu holen. Kurz hatte er gehofft, wieder bei seiner Familie zu sein. Aber diese Frau ähnelte Lisa nur entfernt und sie war eindeutig ein paar Jahre älter.
Warum also...
„Da bist du ja! Mensch, wir haben uns schon Sorgen gemacht!“ Die Frau strich sich mit einer knochigen Hand blonde Strähnen hinter die Ohren und kam auf ihn zu.
Sie breitete die Arme aus. Tom hob abwehrend seine Hände und wich zurück. „Wer sind Sie?“, fragte er stirnrunzelnd. Unverständnis kroch in die Miene der Frau. Es schien, als hielte sie es nicht für notwendig, sich vorzustellen.
„Was ist bloß los mit dir, mein Junge? Du bist so anders...“ Tom verspürte plötzlich einen Brechreiz. Ihre Stimme erinnerte ihn an die des Mannes in Schwarz: samtweich und falsch. Er biss sich auf die Unterlippe. „Wer zum Teufel sind Sie?“, quetschte er zwischen geschlossenen Zähnen heraus. „Mein Gott, Tom. Wir sind es doch: deine Familie!“ Tom würgte.
„Du wirst doch wohl deine eigene Familie erkennen.“

Erst jetzt bemerkte er, dass noch zwei andere Personen die Bar betreten hatten. Eine Brünette im selben Alter stand zwei Meter hinter ihrer blonden Begleiterin. Der erste alte Mensch, den Tom an diesem Tag sah, stand darüber hinaus noch zweifelnd in großer Entfernung.
„Ich wusste schon immer, dass der Typ nicht zu gebrauchen ist.“, nörgelte er mit krächzender Stimme. „Verdammte Scheiße, dass es ausgerechnet ihn so früh erwischt hat, wenn du mich fragst.“
Tom hatte keine Geduld, sich dieses Theater auch nur eine Sekunde länger anzutun, also kotzte er all seinen Hass aus:
„Verdammte Scheiße...?“, begann er murmelnd.
Dann schrie er los. „Verdammte Scheiße! Seid ihr betrunken, oder was? Könnt ihr die Wahrheit nicht mehr von der Einbildung unterscheiden? Ich hab eure scheiß Fressen noch nie in meinem verdammten Leben gesehen! Wer seid ihr überhaupt und woher kennt ihr meinen gottverdammten Namen?“ Er hielt an und überlegte. Sie sahen ihn mit ihren leeren Augen und offenen Mündern an wie hirnlose Marionetten. „Steckt ihr da auch mit drin, hä? Dann sagt mir mal bitte: Was soll das? Deine Familie, dass ich nicht lache! Meine Familie ist weg! Und jetzt kommt ihr und wollt euch eintauschen? Dass ich mich nicht vor Lachen übergebe! Was ist das nur für ein verfickter Albtraum? Verdammte Scheiße!“
Er ignorierte die hohlen Blicke, die auf ihm lagen und raufte sich die Haare. In der Kneipe war es völlig still geworden und er musste zusehen, dass er verschwand, bevor der Sturm die Ruhe ablöste. Er schubste die blonde Holzfigur gegen ihr brünettes Alter Ego und ignorierte den Alten, der ihn mit vor Hass glänzenden, braunen Augen anstarrte, als er die
Kneipe zusammen mit dem Auge des Wirbelsturms verließ.
Manche Realität ist wohl die bessere Illusion.
---
Der Himmel ist nach dem Sturm immer am klarsten, dachte Tom. Die Wolken sind verschwunden und haben Platz für das Wichtigste gemacht.
Er atmete jene frische Luft tief ein und schwebte plötzlich anstelle der Wolken am Firmament. Beobachtete diese kleine Welt von oben und betrachtete von hier aus auch sich selbst, wie er da stand und Luft holte. Er bemerkte, dass er wieder aufrechter ging. Zielstrebiger. Und endlich sah er die Dinge klar, endlich waren die Antworten nicht länger im Nebel verborgen. Die Lösungen, sie lagen endlich frei.
Wieso das alles mit ihm geschah...
Diese Sache, hatte Lena gesagt. Ich habe da noch diese Sache zu erledigen. Sie hatte ihn in irgendwelche Machenschaften hineingezogen und jetzt hatten sie ihn mit ihr entführt, weil sie dachten, er wisse Bescheid. Klar, ganz klar.
Eine Ungerechtigkeit erster Güte, aber Tom wurde nicht wütend, denn er hatte noch diese andere Lösung:
Wie er all das hier beendete.
Einfach wegfahren, war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Ich muss einfach weg von diesem Ort.
Folglich sah er sich nun von seinem Sitz hoch über den Wolken die Straßenseite wechseln, und zu einem bärtigen Mann um die vierzig gehen. Und auch aus dieser Höhe bekam er das Gespräch mit, als stünde er daneben. „Entschuldigen Sie, mein Herr. Wo geht’s denn hier zum Bahnhof?“
Die faltige Stirn des Mannes kräuselte sich bis hinauf in Toms himmlischen Sitz.
„Ich glaube... was Sie suchen... finden Sie auf dem alten Marktplatz.“ Der Mann fuhr sich über den Mund, während er laut überlegte.


„Ähm... ähm... die nächste links... dann die... äh... übernächste... nein nein nein... drittnächste nochmal... dann sofort rechts... und dann... äh... ja... dann immer geradeaus.“
„Danke.“, hörte Tom sich sagen. Dann wurde es still und er verfolgte sein in den Ausläufern des Sturms flatterndes Krankenhemd, wie es auf sein Ziel zustrebte.
Aus seiner Vogelperspektive konnte er jenes bereits sehen: Der Bahnhof war unfassbar groß und die Schienen verschwanden zu allen Seiten in der Ferne. Auf den ersten Blick erkannte er zehn Züge und alle fuhren weg von einer Stadt, die hier oben all ihre Bedrohlichkeit verlor.
Das Krankenhemd bog jetzt zum ersten Mal ab und es gelangte in eine Hauptstraße, auf der ihm lauter Menschen entgegenkamen, unter ihnen Kinder, Rentner. Die von Geschäften gesäumt war, Restaurants, sogar einem Kino.
Erleichtert seufzend glitt sein Geist zurück in den blau-weiß gestreiften Körper, gerade als dieser erneut abbog.
Diese Straße war nun wieder kleiner. Tom betrachtete die Welt jetzt erstmals durch geöffnete Augen und obwohl hier Wohnhäuser vorherrschten, erkannte er weitere Zeichen einer normalen Zivilisation. Riesige Werbeplakate preisten am größten Haus der Straße eine Show an, die mit gleich zwei Entertainern aufwartete: Loriot und Rudi Carrell. Moment.
Jetzt war Tom es, der die Stirn in Falten legte.
Dann wandte er den Blick ab. Über derart Makabres konnte und wollte er nicht weiter nachdenken.
Er bog ein weiteres Mal ab.
Am Ende des menschenübersäten Marktplatzes schimmerte ihm das altehrwürdige Bahnhofsgebäude entgegen.
Vor lauter Freude sprang Toms Seele erneut in die Luft.

Prolog

Tom und Lisa


Die ruhige See vor seinen nackten Füßen.
Die langsam hereinbrechende Sommernacht.
Ein Lächeln im Gesicht seiner Frau, ja tatsächlich, das ihn ansteckt wie der schönste Virus.
Dieser Moment, er ist perfekt.
Tom starrt in die Wasseroberfläche, die jene perfekte Szenerie leicht verzerrt spiegelt und doch nur einen Bruchteil des Glücks, was hinter, vor und in ihnen liegt, einfangen kann.
Lisa ist schwanger.
Sie hat den kleinen Tom vor einer knappen Woche empfangen.
In ihren Flitterwochen.
Sie sitzen an einem bayrischen See, diesem wunderbaren Ort, der in den letzten zwei Wochen trotzdem hauptsächlich aus dem großen Holzbett im Gasthaus bestanden hatte.
Tom starrt weiter in das blaue Nass, sieht sein Gesicht und daneben ihres.
Irgendetwas stört und er blickt ihr stattdessen direkt in die wasserblauen Augen.
„Ich liebe dich.“, sagt und fühlt er.
Als sie ihm dieses atemberaubende Lächeln gibt, fügt er hinzu: „Ich werde dich immer lieben.“
Bis, dass der Tod uns scheidet.
Er hat schon lange nicht mehr über die Zukunft nachgedacht.

Erst, weil er nicht gewusst hat, ob es sie überhaupt geben würde, dann, weil er sich noch nicht sicher sein konnte.
Doch jetzt denkt er.
Perfekt.
Immer wieder: Perfekt.
Perfekte Aussichten.
Lisa und er haben sich vor einem Jahr während einer Zugfahrt nach München kennen gelernt, und er fragt sich oft, ob es wirklich schon so lange her ist.
Sie hat ihre Eltern besucht, er ist geschäftlich dort gewesen, sie haben sich gefunden, wie es nicht oft passiert.
Vor einem halben Jahr hat Tom ihr die wichtigste Frage von allen gestellt und sie hat sie mit dem schönsten Wort der Welt beantwortet.
Ja, Tom, ich will dich heiraten.
Ja, Lisa, ich kann es auch nicht glauben.
Ja, Tom, und weißt du den Grund? Der Grund ist, dass ich seit dem Tod meiner Mutter kein Glück mehr verspürt habe. Und jetzt ist es wieder da. Dank dir.
Und so ist es weiter gegangen:
Ja, Lisa, ich möchte ein Kind.
Ja, Lisa, jetzt, von dir, hier.
Ja, ja, ja, Tom. Ja.
Es war perfekt.
Es ist perfekt.
Es wird so bleiben.
Tom hebt einen flachen Stein auf und lässt ihn auf der glatten Wasseroberfläche tanzen.
Ihre Ebenbilder trennen sich im Chaos des aufkommenden Gewichts, dann finden sie wieder zueinander.

3

Aufwachen


Tom lag auf verrosteten Schienen und wartete auf einen Zug, der längst abgefahren war.
So etwas wie Hoffnung existierte nicht und der Himmel schien unerreichbar.
Sehnsüchtig blickte er in die untergehende Sonne, doch er wusste, dass es kein Entrinnen gab.
Der Bahnhof war stillgelegt, war eine Attraktion geworden, ein überflüssiges Denkmal seiner selbst.
Dabei hatte es so gut ausgesehen:
Vor Glück strahlend war Tom ins warme Licht des Gebäudes eingetreten, als einer von vielen, nur dass er der einzige war, der wirklich reisen, nicht nur gucken wollte.
Er war schnurstracks an der langen Reihe von winzigen Geschäften, Bäckereien und Schnellimbissen vorbeigehastet, an der riesigen, blinkenden Informationstafel, direkt auf die Gleise zu, die erstbeste Treppe hinauf und dann hatte er gewartet.
Irgendein Zug, hatte er gedacht.
Egal wohin. Hauptsache weg von hier.
Er hatte gewartet und bald war ihm aufgefallen, dass er alleine war und er hatte gewartet und bald war er sicher gewesen, dass er es umsonst tat.
Dass alles nur Nebel war, der sich niemals lichtete.
Dass Glück endete, aber Unglück auch unendlich war.
Jetzt wartete er auf den Schienen weiter, um alles zu beenden.


Am Horizont leuchtete es unwirklich. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte er. Die Schönheit vor dem Grauen.
Noch einmal zeigte sich die Farbenvielfalt der Welt, noch einmal bot Gott alles auf, was er hatte, bevor er es im Nihilismus erstickte. In Schwärze, der ewigen Dunkelheit.
Die untergehende Sonne, ein riesiger orangener Kreis, tauchte die Restwelt vor sich, die von Bäumen umgebenen und Rost angefressenen Schienen, in bunte Schatten. Aus Orange wurde im weiteren Verlauf des Horizonts das satteste Rot, das Tom in seinem ganzen Leben je gesehen hatte und er bestaunte es und während er es bestaunte, schälte sich ein neuer Schatten aus dem Feuer.
Da war das Grauen schon, bevor der Sturm überhaupt begonnen hatte. Es kam kein Zug, doch trotzdem würde Tom endlich den Tod empfangen.
Denn er erkannte den Gang dieses Menschen, dessen breite Schultern. Und die Stimme, die in seinen Gehirnwindungen vibrierte.
Tom, echote es. Bleiben Sie ruhig sitzen. Bitte wehren Sie sich nicht weiter. Dazu besteht kein Anlass!
Tom! Tom. Tom...
Der Mann in Schwarz, er lebte.
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Zitternd erwartete Tom den Tod. Der schwarze Anzug des großen Mannes zeigte keinen Anflug von Nässe, sein Gesicht nicht einen Kratzer. Wie konnte das sein?
„Wie kann das sein?“, fragte Tom, als der schwarze Mann vor ihm stand. Aus seiner Froschperspektive sah er noch bedrohlicher aus und selbst die Sonne schaffte es nicht, ihn in Schatten zu tränken. Seine glatte Stirn versuchte, sich in Falten zu legen, doch es gelang ihr nicht.
„Wie meinen Sie das, Tom?“


„Wieso leben Sie?“, keuchte Tom. „Sie müssten doch...“
„Tot sein?“, unterbrach der Mann. „Nun, genaugenommen... bin ich das.“
Toms Atem erbrach sich in die warme Luft. Sein Gehirn war überfordert und er sah Sterne.
„In Wirklichkeit bin ich schon sehr lange tot.“, sagte der Geist und setzte dann zum finalen Schlag an.
„Viel länger als Sie.“ Tom überlegte.
„Wo führen diese Schienen hin?“, fragte er das Gespenst.
„Ins Nirgendwo, sprichwörtlich wie wahrhaftig.“, antwortete es, ohne die Lippen zu bewegen. „Es gab einmal andere Orte, doch wir beschlossen, dass Einigkeit das höchste Gut dieser Welt sein muss, wenn dies schon in der Anderen nicht der Fall ist.“
Tom verschloss die Augen. „Es kann nicht sein.“, sagte er immer wieder, wiederholte es wie ein Mantra, das ihn in einen besseren Schlaf wiegen konnte.
Der Geist in Schwarz starrte ihn finster an. „Denken Sie nach, Tom.“ Er weigerte sich, wollte den Kopf schütteln. „Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Menschen, zu viele von den einen, den Alten, zu viele von den Anderen, den Toten? War das Wetter plötzlich anders, fühlten Sie sich wie ein Fremdkörper in einer Welt, die Sie nicht im Ansatz wiedererkannten?“ Der Mann sprach in Toms Kopf weiter: Kommt dir davon irgendwas bekannt vor, Tom? Tom. Tom, tatom tatom tom. TOM.
Und sein Kopf explodierte.
Jetzt war er wach. Jetzt sah er die Dinge klar.
Das schwarze Gespenst nahm feste Konturen an und seine Lippen lächelten auf einmal freundlicher.
Am Horizont stand ein Feuerball, der an Kraft verloren hatte. Die Dunkelheit war im Vormarsch. Und Tom nickte.


Der Andere beugte sich herab und half ihm auf die Beine.
Wankend fragte Tom ihn nach seinem Namen.
Als er sprach, zeigte er weiße Zähne, die nicht zu weiß waren: „Jules. Ich heiße Jules.“
„Hör mal, Tom.“, fuhr er dann freundschaftlich fort, den einen Arm um Toms Schultern gelegt, den Anderen in die Ferne gerichtet. „Dir mag der Tod gerade wie die Nacht vorkommen. Schwarz. Undurchdringlich. Vernichtend.
Du magst orientierungslos, ja, sogar ziellos sein und vielleicht hast du jede Hoffnung verloren; doch eins sei dir gesagt.“ Er holte Luft und schaute Tom tief in feuchter werdende Augen. „Irgendwann, irgendwo wirst du Licht finden, und, wie klein es auch sein mag, deine Augen werden sich an dieses Licht in völliger Schwärze gewöhnen, bis die nicht mehr ganz so undurchdringlich ist. Das Licht wird dir helfen, dich in dieser fremden Welt zurechtzufinden. Bis es Tag wird, und auch das sei dir gewiss, denn jede Nacht ist irgendwann vorbei.“ Jules schloss den schluchzenden Tom nun tief in seine Arme. Tom vergrub den Kopf in seinen breiten Schultern. Als er wieder aufsah, dachte er erst, die Sonne sei vollends untergegangen. Doch dann traten weitere Schatten aus dem letzten Rest des Feuers hervor, kamen ihm von den letzten Gluten des Tages umrahmt entgegen. Er erkannte die beiden Frauen und den älteren Mann aus der Bar wieder und wusste plötzlich, warum die eine Lisa so geähnelt hatte: Es waren die Gene.
Eine vierte Silhouette wurde langsam vom Licht aus dem Inneren des Bahnhofsgebäudes erobert und ihre Haare reflektierten dieses schäbige Licht auf so wundervolle Weise, dass Tom ihren Namen rief, bevor er ihn dachte. „Lena!“, schrie er und Gott trat die letzten Gluten des Tages aus. Lena war nun die einzige Lichtquelle.
War seine Kerze, bis die Sonne wiederkam.

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Tag der Veröffentlichung: 28.01.2012

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