Die Leiden der Marie Kasaar
Dicke Regentropfen trommeln an diesem tristen Morgen im April, auf die hölzernen Planken.
Die Planken gehören zu einer kleinen Brücke, eine Brücke die eine kleine Insel mit dem Montpellierer Festland verbindet. Ein junges Mädchen kauert zitternd auf durchtränktem Holz,
ihre kleinen Finger klammern sich krampfhaft am Geländer fest. Marie ist nun 19 oder vielleicht auch schon 20 Jahre alt, so genau weiß sie das nicht mehr. Denn ihr genaues Geburtsdatum hatte das Mädchen längst vergessen. Marie war die ganze Nacht umhergelaufen, Zeit hatte sie ja genug. Den Kundenfang hatte sie schon gegen Mitternacht abgebrochen, sie eine Prostituierte, die jüngste Hure von Montpellier. Marie begann zu weinen, sie schrie, Schmerzen wünschte sie sich jetzt. Jeden Abend war sie gegen 19 Uhr losgezogen, hatte ihren Stammplatz am Platze eingenommen. Der Platz war ein 40x40 Meter großer, runder Marktplatz von dem aus nur eine Straße direkt ins Zentrum führte. Ihr Stammplatz war in unmittelbarer Nähe des ersten Geschäftes angesiedelt, ein Brautmodenladen; welch Ironie.
Seit ungefähr 2 Jahren verdiente Marie nun schon ihr Geld auf diese Weise, weshalb denn auch nicht. Einen Freund hatte Marie nie gehabt, Familie hatte sie ebenfalls keine mehr, doch viel wichtiger noch war sie hatte Talent. Sie liebte es mit ihren jugendlichen Reizen, mit ihren wohlgeformten Brüsten die vorbeilaufenden Ehemänner zu verwirren. Das brachte den meisten dann eine schellende Ohrfeige ein, da sich auch fast jeder zu ihr umdrehte.
Marie lachte dann immer, für einen Moment im Mittelpunkt zu stehen gefiel ihr gut. Leider hielt dieser Glücksmoment meist nicht lange an, sie würde wieder alleine nach Hause gehen! Niemand der auf sie wartete wenn Marie nach Hause kam, keiner dem sie eine warme Mahlzeit bereiten konnte . Marie fühlte sich verflucht. Wieder kehrte ihr liebster Gedanke zurück, ein Gedanke an Kinder. Oh ja, Kinder das war ihr größter Wunsch. Schon seit Marie 15 Jahre alt war, hatte der Gedanke an Kinder sie beschäftigt.
Wie ein gefrorener Eiszapfen hockte Marie auf dem hölzernen Steg, an eine Brücke geklammert, vom Leben verlassen. Ihre Augen zogen sich nun zu verengten Schlitzen zusammen, ihr Leib bebte. Sie fluchte, Gott verfluchte sie. War er doch an allem schuld gewesen, daran das sie alleine war, daran das Marie ihr Leben als welkende Dirne fristete. Eine Hure ohne jede Zukunft. In Wirtshäusern und Eckkneipen konnte man des Nachts belauschen, wie die Gemeinde sich das Maul über sie zerriss. Kartenspielende kleine Gruppen von Männern, saßen jeden Abend am Marktplatz in Montpellier und ließen sich über die Dirne aus. Dieselben Männer waren es, die sich schon früher Maries Dienste bedient hatten. Gerne nahmen sich das, was sie zu Hause nicht bekamen. Unzählige Schläge musste Marie schon einstecken, Schläge, Beschimpfungen, Demütigungen.
Sie erinnerte sich an ihren ersten Abend, naiv war sie damals gewesen. So voller Hoffnung, genug Geld zu verdienen um dieses Kaff irgendwann verlassen zu können. Die große Stadt, das reizte sie. Tausende Lichter, ständig Leben auf den Straßen und die tollsten Kleider und schönsten Hüte gab es da.
Carlos, ein 68 jähriger Immigrant war vor etwa 2 Jahren ihr erster Kunde gewesen. „Guten Abend Carlos“, hatte Marie den Greis damals begrüßt. „Hallo Marie, was tust du hier um diese Uhrzeit“, entgegnete ihr der Mann. Eine Stunde später hatten es sich beide auf einem nahegelegenen Dachboden der mit Stroh und Wolldecken ausgelegt war, gemütlich gemacht. Marie setzte nicht viel Hoffnung in den Alten. Ständig kicherte sie albern, als der Alte ihre Brüste begrabschte. Sie trieb ihr Spiel soweit, das der geile Bock sie nach mehreren gescheiterten Versuchen schließlich gewaltsam nahm. Immer wieder stieß er sie, fester und fester stieß er sie. Sie genoss es sichtlich und stöhnte sich zum Höhepunkt.
Von nun an trafen sich die beiden ein, zwei mal in der Woche in ihrem Liebesnest. Als Lohn für Maries Dienste steckte Carlos ihr ein paar Franc in den kleinen Beutel den Marie um den Hals trug. So war er sicher das es wenigstens für eine nächste Mahlzeit, oder eine warme Dusche reichen würde. Etwa ein Jahr ging das so, bis zu der Nacht als er sich mal wieder schwitzend, keuchend von ihr herunter rollte. Es war die Nacht da Marie das erste Mal ihren Kinderwunsch zum Ausdruck brachte. „ Bist du verrückt, Marie ich bitte dich , ich bin verheiratet und habe 3 Kinder.“ Der alte erhob sich im Zorn, zog sich an, sortierte sein verbliebenes Haar und stellte sich ans Fenster, mit dem Rücken zu Ihr gewannt. „ Marie, so geht das nicht mehr, es ist schön ja aber ich werde es Hier und Heute beenden“. Carlos wirkte verärgert !
„ Was hast du denn erwartet, Marie sag´s mir, Liebe, ein Heim, Familie, du spinnst.“ Marie begann zu weinen, sie zog ihre Beine zusammen, legte sich eine von den karierten Decken um und sprach kein Wort. Der Mann am Fenster drehte sich um und sah ihr in die kindlichen Augen. „ Marie, ich bin fast 69 Jahre alt und du bist eine Hure. Sonst nichts! Verstehst du das?“ Sie gab ihm keine Antwort. Er schloss das Fenster, entfernte Strohreste aus seiner Kleidung und ging.
Hier und Heute, hatte er damals gesagt. Marie fror. Von diesem Tage an, stand Marie nun noch früher an der Ecke, schlief mit allen und jedem, egal ob Alt oder Krank, Behindert , Geistlicher oder Frau. Nun nahm sie sich alles was sie in die Finger bekam, bumste sich regelrecht von Tag zu Tag.
Ihr letzter Kunde war nun 6 Stunden her, auch er schlug sie, fesselte sie, bediente sich ihrer in jeglicher perversen Art und Weise. Doch diesmal würde es das letzte mal gewesen sein, da war sie sich sicher. Unmöglich noch tiefer zu sinken, dachte sich Marie. Sie betete, betete bis zum nächsten Morgen. Nachdem sich Marie am darauf folgenden Tage etwas aufgewärmt, gewaschen und etwas gegessen hatte, machte sie sich auf, um Pater Reamalies zu besuchen. Nur ein einziges mal hatte Marie in ihrem Leben eine Kirche betreten und war zu Tode erschrocken. Der Mann, blutend am einem Kreuze hängend, hatte sie strafend angesehen. Eine Madonna die hoch oben über allem auf einem Sockel thronte, sie mit leidvoller Miene gestraft.
Es war 4 Uhr als Marie das Gotteshaus betrat, die Hände gefaltet ging sie direkt zum Altar! Sie kniete nieder und begann zu beten. „Lieber Gott, ich bitte dich, strafe mich aber erlöse mich von diesen Qualen. Von den schrecklichen Alpträumen, jede Strafe akzeptiere ich. Wohlwollend! Nur hilf mir jetzt“. Kurze Zeit später fand sich die kleine Marie in einem Beichtstuhl wieder, gegenüber, nur getrennt von fein geschnitzten Holzmustern, saß Pater Reamalies. Gebannt und geschockt, lauschte er Maries Ausführungen, die sich weit über eine halbe Stunde erstreckten. Hin und wieder war es möglich den Pater stöhnen zu hören. Nach der Beichte erteilte er ihr die Absolution und verlies den Beichtstuhl kreidebleich. „ Marie“, sagte er beim verlassen des Beichtstuhls. „Ich weiß nicht genau was Gott davon halten wird, das war nicht gerade die übliche Beichte“. Der Pater zuckte die Achseln ! „ Eines Nacht`s habe ich Gott sagen hören, mit einer guten Tat vergeltest du zwei schlechte. Ich hoffe das es stimmt, ich hab vor es zu versuchen.“ Marie lächelte ihn an.
Von diesem Tage an, sah man Marie nicht mehr am Straßenrand stehen, man konnte aber eine Frau entdecken die mit langen Hosen bekleidet, den Bettlern und Kranken die überall herumlungerten Essen brachte. Die Frau nahm sich Zeit, spendete Trost oder hörte einfach nur zu! Jede Nacht erlitt Marie nun Höllenqualen, von Dämonen verfolgt, Kreaturen jenseits aller Vorstellungskraft folterten sie mit brennenden Nägeln. Im Traum, hängte die Frau Kinderleichen mit Männerköpfen an die Wäscheleine. Kleine Babys mit blutenden Bärten. Nacht für Nacht, ein Ende nicht in Sicht! Nach 7 weiteren Jahren endete nun das Martyrium und Marie war sichtlich gezeichnet. Faltige, kleine Hände erschienen zum Gebet! Sieben volle Jahre Schmerz, jede Nacht unendliche Schmerzen. Folter dieser Art war nicht göttlich, der Zweifel am Paradies und doch kein Laut des Klagens! Im darauffolgenden Frühling, gebar eine Frau namens Marie Kasaar 4 Söhne in einer außerhalb gelegenen Abtei. Die Jungen wuchsen ungewöhnlich schnell heran und erreichten bereits nach wenigen Jahren das volle Mannesalter. Die Unheimlichkeit der Umstände , lies keinen Zweifel, am göttlichen oder doch teuflischen Funken. Nach nicht allzu langer Zeit entließ nun Marie, ihre 4 Söhne mit 4 Beigaben; Fisch, Wasser, Brot und einer Bibel in alle vier Himmelsrichtungen der Erde. Am siebten darauffolgenden Tage verstarb Marie Kasaar, friedlich und ohne jeglichen Schmerze zu erdulden. Sie starb in einem Bett aus 4 blättrigem Klee, der zu ihren Füßen wuchs, die Hände gefaltet und ein Lächeln im Gesicht!
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Texte: Falk Peter Scholz
Tag der Veröffentlichung: 14.10.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Diese Geschichte ist aus einem Traum heraus geboren.Träume werden zu Geschichten. Geschichten zu Büchern.