"Und Liebe wagt, was irgend Liebe kann."
William Shakespeare Romeo und Julia
2. Akt, 2. Szene, Zeile 832
Feuer.
Das war das erste, was ich dachte, als er den Raum betrat.
Es brennt wie Feuer.
Ein Wimmern dringt an meine Ohren und etwas Lebendiges schlägt schnell und hart gegen ein warmes Gefängnis. Es ist ein Geräusch, dass ich schon längst aufgegeben hatte, ein Geräusch, das in meiner Wahrnehmung schon fast nicht mehr existierte.
Ich rieche ihre Angst, rieche, wie der Schweiß über ihre Stirn rinnt, wie sich jede Pore öffnet und das Adrenalin durch ihren Körper gepumpt wird.
Sie weiß nicht, dass sie es dadurch eigentlich nur noch schlimmer macht.
„Ich habe dir ein Willkommensgeschenk mitgebracht.“ Ich hatte mir die Stimme des Teufels irgendwie anders vorgestellt. Dunkler… rauchiger… und eher einem Flüstern gleich. Doch diese Stimme war fest und ich hörte einen Anflug von Spott mitschwingen.
Spricht so etwa der Teufel?
„Bitte.“
Eine zweite Stimme. Eine gebrochene Stimme.
Langsam drehe ich den Kopf, wende meinen Blick von dem kalten Marmorboden ab, den ich schon seit geraumer Zeit anstarre. Wie lange sitze ich schon hier, ohne mich auch nur ein einziges Mal gerührt zu haben?
Tage?
Wochen?
Jahre? Sie zuckt zusammen, als meine toten Augen sich tief in ihre Seele bohren, jedes noch so winzige Detail an ihr wahrnehmen, auf der Suche nach dem geringsten, körperlichen Widerstand.
Einen Augenblick lang sehe ich sie an. Beobachte, wie sich ihre Pupillen vor Schreck weiten. Rieche, wie die Angst aus ihrem Körper kriecht. Schmecke, wie eine salzige Flüssigkeit ihre braunen Augen verlässt.
Braune Augen… sie erinnern mich an etwas.
Erschöpft schließe ich meine Lider, dann stehe ich träge auf, gehe langsam auf sie zu. Ich ignoriere ihr Betteln und Flehen, beachte weder ihr Wimmern noch ihr vor Angst schlagendes Herz.
Ich kenne ihren Namen nicht und vermutlich wird es nicht einmal eine Stunde dauern, da werde ich sogar ihr Gesicht vergessen haben.
Vergessen.
Das ist es, was ich will. Einfach nur vergessen.
Und ich weiß, das Monster in mir wird mich vergessen lassen.
Langsam, ganz langsam öffnete ich meine Augen. Ein süßlicher Duft lag mir in der Nase und augenblicklich kuschelte ich mich ein wenig mehr in die warme Decke. Die Sonne schien hell durch das große Fenster in Emmetts Zimmer. Sie kitzelte mich im Gesicht und ließ ihre Strahlen weit über die Wälder streifen, fast so, als lud sie jedes Lebewesen zu einer Umarmung ein. Mein verträumter Blick glitt über die dichten Baumkronen, ich sah das Moos, wie es sich an den Stämmen empor schlängelte und sich wie eine zweite Haut darüberlegte. Vereinzelt flogen ein paar Vögel durch das dichte Geäst und sangen dabei ihre liebliche Melodie.
Ein wohltuender Seufzer kam mir bei diesem friedlichen Anblick über die Lippen. Heute war es soweit. Heute war der große Tag. Die letzten Wochen und Monate waren wie im Fluge vergangen. Ich hatte das Gefühl, als würde es noch Jahre dauern, bis ich all die Empfindungen und gesammelten Erfahrungen richtig verarbeitet hätte. Die Stunden, die ich in der Schule verbracht hatte. Das viele Lernen. Die Zeit mit Emmett. Irgendwann standen die Prüfungen vor der Tür und ehe ich mich versah, hielt ich bereits meinen Abschluss in Händen. Ich erinnerte mich an den gefüllten Saal, die hunderten von Augenpaaren, die mich verfolgten, als mein Name aufgerufen wurde und ich auf die Bühne trat. Esmes und Carlisles Jubelrufe, das Klatschen meiner anderen Familienmitglieder und schließlich Emmetts verschmitztes Grinsen, als er einen leichten Kuss auf meine Schläfe hauchte. Ja, in den letzten Wochen hatte ich das bekommen, was ich geglaubt hatte, für immer verloren zu haben. Einen Ort, an dem man mich willkommen hieß. Einen Ort, an dem man mich immer willkommen heißen würde. Eine Familie. Vielleicht war das der Grund, warum ich Emmetts und meine Zeit lieber hier bei ihm verbrachte. Weil ich zum ersten Mal seit langem nicht mehr das Gefühl hatte, alleine zu sein. Weil ich die Anwesenheit der anderen spürte, wusste, dass sie durch das Haus liefen oder sich in einem der Zimmer aufhielten. Auch wenn ich sie nicht hörte, wie sie Treppen emporstiegen oder nur selten eines ihrer Gespräche vernahm, wenn Emmett mich mal wieder in sein Zimmer entführte und die Tür hinter uns verschloss. Ich wusste, dass sie da waren und das allein bescherte mir ein Gefühl, was ich in den letzten Jahren unbewusst vermisst hatte. Und heute war endlich der große Tag gekommen. Der Tag, der die Freundschaft zwischen Bella und mir vertieft hatte. Der Tag, der in der letzten Zeit schon mit einem süßlichen Geschmack in der Luft hing und einen jeden von uns umhüllte. Bellas und Edwards Hochzeit.
Erneut entfloh mir ein wohliger Seufzer und genüsslich streckte ich meine Glieder. Doch noch bevor ich sie gänzlich aus ihrem dämmerigen Zustand wecken konnte, hielt ich plötzlich überrascht inne. Seit wann war Emmetts Couch so hart? Verwundert wandte ich meinen Blick von der atemberaubenden Landschaft vor mir ab. Ich versuchte mich zu drehen, doch ein fester Griff um meinen Körper vereitelte dies. Langsam hob ich meinen Kopf an, ergab mich der steinernen Gestalt hinter mir und versank schließlich in flüssigem Karamell. Mein Herz schlug augenblicklich schneller, das Blut rauschte in meinen Ohren und nur mit Mühe konnte ich mich dazu bewegen, weiter zu atmen. Er war wieder da!
Emmett lächelte mich verschmitzt an, zog mich näher zu sich heran und vergrub seine Nase in meinem Haar. Wohlig seufzte er, nachdem er einen tiefen Atemzug genommen hatte und ein süßliches Kribbeln durchfuhr meinen gesamten Körper. Ich schloss meine Augen, genoss seine Nähe, so wie er die meine. Sein männlich herber Geruch lag mir in der Nase und nie im Leben wollte ich etwas anderes riechen. Woher dieser Geruch nur kam?
Einmal hatte ich an seinem Duschgel Probe gerochen. Ich wusste auch nicht, was mich dazu bewegt hatte. Doch leider hatte ich feststellen müssen, dass es nur halb so gut wie Emmett roch. Ein kleiner Teil des Geruchs konnte ich an ihm feststellen, doch irgendwie… Es war, als würde er dem ganzen noch eine eigene Note geben. Ein Stück von sich selbst. Und diese Kombination raubte mir zusehends den Verstand. Langsam öffnete ich wieder meine Augen und blickte in die Emmetts, die mich spitzbübisch anfunkelten. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen wohlgeformten Lippen.
„Hi“, hauchte ich, von seinem Blick gefesselt und das verräterische Beben meines Körpers ignorierend.
„Hi“, hauchte er ebenfalls als Antwort und sein Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Dann zog er mich noch ein Stückchen näher zu sich heran, blickte mir tief in die Augen und ich hatte das Gefühl, er würde mit seinem Blick direkt meine Seele berühren. Automatisch senkten sich meine Lider, ich blendete meine Umgebung komplett aus und konzentrierte mich nur auf Emmetts Gesicht, ein paar Millimeter von meinem entfernt. Sein kalter Atem traf auf meine Haut und erhitzte diese schlagartig. Das Kribbeln in meinem Körper wuchs stetig an, ein ungewöhnlicher Druck baute sich in mir auf und ich hatte das Gefühl, diesem nicht gewachsen zu sein. Dann strich er hauchzart mit seinen Lippen über die meinigen und ein Stromstoß durchzuckte mich. Weg war das Kribbeln. Weg war der Druck. Stattdessen machte sich eine ungewöhnliche Spannung in mir bereit und ließ mich bei jedem leichten Windhauch erzittern. Ich war wie elektrisiert.
Erneut strich er sanft über meine Lippen, doch dieses Mal drückte er leicht gegen sie. Ganz zart, fast so, als hätte er Angst sie zu verletzen. Die ganze Zeit über hatte ich meine Augen geschlossen, ich wollte mich nur auf das Gefühl seiner Lippen auf den meinigen konzentrieren und alles andere vergessen. Ein drittes Mal kam er meiner stummen Bitte nach und versiegelte meinen Mund mit dem seinen. Meine Hände wanderten automatisch in seinen Nacken, zogen ihn noch näher zu mir heran und ließen somit kein Stückchen Luft zwischen uns. Genüsslich vergrub ich meine Hände in seinen Haaren und gab mich vollends diesem süßen Geschmack hin.
Ich kannte diese Reaktion nicht von mir. Noch nie hatte ich mich einer anderen Person gegenüber so unkontrolliert verhalten. Seine Lippen, die mir noch nie so weich vorgekommen waren, wie in diesem Moment, fuhren immer wieder zart über meinen Mund. Er küsste sich einen Weg zu meinen Mundwinkeln, über meine Wange, bis zur Stirn herauf. Mein ganzes Gesicht kribbelte und ein süßer Stich fuhr mir durch mein Herz. Dann legte er sein Stirn gegen meine, verweilte dort und atmete immer wieder genüsslich ein und aus. Ich konnte einen leisen Seufzer aus seinem Munde vernehmen und unweigerlich schlich sich ein vergnügtes Lächeln auf meine Lippen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich den Rest meines Lebens in dieser Haltung verbracht. Emmetts starke Arme um mich geschlungen, sein unverkennbarer Geruch in meiner Nase und die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut.
Langsam schlug ich meine Augen auf und war für einen kurzen Moment von dem Funkeln seiner Haut geblendet. Er hingegen hielt seine Augen weiterhin geschlossen und eine Strähne meines langen Haares hatte er sich um den Finger gewickelt. Es war immer noch ein wenig seltsam für mich, Emmetts Haut funkeln zu sehen, jedes Mal wenn er ins Sonnenlicht trat. Ich selbst hatte dieses Phänomen schon oft an meinem eigenen Körper beobachten können… früher zumindest. Ein Unterschied war es jedoch, ihn so zu sehen. Doch auch wenn er sich jedes Mal dagegen sträubte, ins Sonnenlicht zu treten. Auch wenn er jedes Mal sagte, dass es ihm nicht stünde und er nur meinetwegen den Tag mit mir in der Sonne verbrachte, versteckt vor neugierigen Blicken, irgendwo tief im Wald. Dennoch war dieses Funkeln in meinen Augen ein Teil von Emmett. Es machte ihn auf eine unerklärliche Art und Weise komplett. Es ließ ihn noch ein Stück mehr wie meinen Engel aussehen.
Aber so sehr ich mir auch wünschte, dieser Moment würde nie enden. So sehr sich auch mein komplettes Inneres dagegen sträubte, mich jetzt von ihm zu lösen. Der heutige Tag war bedeutend. Bedeutend für Bella und Edward. Und um nichts in der Welt wollte ich diesen Tag verpassen.
„Und? Wie lange wart ihr unterwegs?“, durchbrach ich die friedvolle Ruhe.
Auf meine Frage hin öffnete Emmett langsam die Augen und blickte tief in die meinigen. Einen Moment lang herrschte Stille, in der wir beide uns nur ansahen und das Gefühl der Nähe zu dem jeweiligen anderen genossen. Dann setzte Emmett zu einer Antwort an: „Lange. Ich bin erst vor kurzem nach Hause gekommen. Wie versprochen wollte ich wieder da sein, bevor du aufwachst.“
Ein glückliches Lächeln stahl sich auf meine Lippen und verträumt sah ich ihn an, als ich mich daran erinnerte, wie er mir gestern, kurz bevor er gegangen war, an die 100 Mal hoch und heilig versprochen hatte, wieder da zu sein und mich im Arm zu halten, wenn die Nacht vorbei sein würde. Ich hatte ein wenig Unbehagen gefühlt, als Emmett gestern mit Edward und Jasper zum „Junggesellenenabschied“ verschwunden war. Ich wusste nur allzu gut, was man dort eigentlich machte: Alkohol trinken, noch ein letztes Mal die Nacht in Freiheit genießen und andere Frauen begutachten. Es waren keine Situationen, in denen ich Emmett gerne sehen wollte. Und auch wenn ich mir sicher war, dass Edward sich für keines dieser Themen interessierte und die Nacht vermutlich wieder bei Bella verbracht hätte, hätten Emmett und Jasper ihn nicht dazu gezwungen… Emmett und ich hatten in letzter Zeit so viel Zeit miteinander verbracht, dass es mir komisch vorkam, ihn auch nur für ein paar Stunden gehen zu lassen.
Ein verschmitztes Lächeln breitete sich auf Emmetts Lippen aus und seine Augen begannen zu leuchten. „Es war ein wirklich unterhaltsamer Abend gewesen.“
„Inwiefern?“ Ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme leicht angekratzt klang und aufmerksam musterte ich ihn. Hatten sie vielleicht doch…
„Nun, wir haben das gemacht, was man an solchen Abenden halt macht. Wir sind durch Bars gestrichen, haben hier und da eine Kleinigkeit getrunken. Eine der Kellnerinnen hat uns eine Runde ausgegeben, weil wir so gut drauf waren. Sie sah aber auch zum Anbeißen aus.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen und in Gedanken versunken, starrte er einen Punkt hinter mir an.
Ich konnte nicht verhindern, dass sich ein flaues Gefühl, irgendwo in meiner Magengegend, breit machte. Ich schluckte ein paar Mal, um den beklemmenden Kloß in meinem Hals loszuwerden und versuchte meine wirren Gedanken zu ordnen. Er war in mehreren Bars gewesen. Er hatte Alkohol getrunken. Und er hatte eine Kellnerin zum Anbeißen gefunden.
„Ihre langen blonden Haare vielen ihr wirklich sehr elegant herunter. Fast wie Seide. Am liebsten wäre ich ein paar Mal hindurch gefahren.“
„Oh.“ Ich wollte weg. Irgendwie hatte ich das Bedürfnis mich von Emmett zu lösen. Und dennoch sagte ein anderer Teil von mir, dass ich ihn noch fester an mich ziehen sollte. Ihm noch näher kommen sollte, damit er diese blonde Kellnerin vergaß. Verwirrt über meine eigenen Gedanken schloss ich meine Augen. Die verschiedensten Bilder schossen in meinem Kopf hin und her. Emmett, wie er gut gelaunt in einer Bar saß und mit Jasper und Edward lachte. Wie ihm eine blonde Kellnerin schöne Augen machte, ihm einen Drink ausgab und ihre Hand ein bisschen zu lange auf seiner verweilte. Wie er durch ihr blondes, seidiges Haar fuhr und ihre Gesichter sich unweigerlich nahe kamen. Genau so, wie Emmett es immer bei mir tat.
Ich öffnete meine Augen wieder. Ein leichtes Zittern hatte mich ergriffen und ich ließ meinen Blick überall hin schweifen – nur nicht zu Emmett. Ich wollte ihm nicht in die Augen sehen. Wollte nicht sehen, wie er sich glücklich an die letzte Nacht erinnerte, als er weit weg war - weg von mir war. Noch einmal versuchte ich das beklemmende Gefühl, welches mir mittlerweile schon im Hals steckte, herunterzuschlucken. „Oh. Das ist… ähm… das klingt…“ Nervös fuhr ich mir ein paar Mal durch meine braunen Haare. Braun. Vielleicht war das ja der Grund. Vielleicht mochte Emmett lieber blonde Haare, als braune. Nach den richtigen Worten suchend, glitt mein Blick überall durch den Raum. „Das klingt wirklich interessant. Ihr hattet sicher eine Menge Spaß.“
„Oh ja, den hatten wir.“ Aus den Augenwinkeln sah ich Emmetts verschmitztes Grinsen.
Mein Herz fühlte sich in diesem Moment nicht mehr so locker und luftig leicht an, wie noch vor ein paar Minuten. Es fühlte sich jetzt träge und schwer an, fast so, als würde etwas Bleiernes auf ihm liegen. Was war das nur für ein Gefühl, dass mich innerlich zu zerfressen drohte? Langsam drehte ich mich weg von ihm. Ich wollte aufstehen, wollte weg von dieser beklemmenden Situation, weg von dem Gefühl, hier irgendwie fehl am Platze zu sein. „Ich… ähm… ich sollte mich langsam fertig machen. Alice ist bestimmt schon ganz aufgeregt und ich sollte mal schauen, ob sie vielleicht Hilfe braucht.“
Eine Ausrede. Eine dumme Ausrede. Ich wusste ganz genau, dass Alice mich wieder wegschicken würde, sobald ich ihr meine Hilfe anbot. Sie hatte bisher sich von niemanden in ihrer Organisation reinreden lassen, warum sollte sie das jetzt machen?
Doch noch bevor ich mich richtig erheben konnte, wurde ich schnell am Handgelenk gepackt und sanft wieder zurück auf Emmetts Schoß gezogen. „Sag mal Amylin…“ Sein Mund war ganz nahe an meinem Ohr, ich spürte seinen kalten Atem über meine Haut streichen und ein intensives Kribbeln erfasste mich, „Sag… bist du etwa eifersüchtig?“
Hitze schoss plötzlich in meinen Kopf, ein Brennen legte sich auf meine Wangen und ich war mir sicher, dass ein leichter Rotschimmer sie umgab. Eifersüchtig? Ich? Ich war doch nicht eifersüchtig. Das hatte überhaupt nichts mit Eifersucht zu tun, dass ich ihn in Ruhe in seinen Erinnerungen schwelgen lassen wollte. Eifersüchtig? Warum sollte ich eifersüchtig sein?
„Das ist… das war… das hat…“, begann ich zu stottern und nach den richtigen Worten zu suchen. Gott, Amylin, reiß dich zusammen! Du wirst doch wohl noch einen vernünftigen Satz hinbekommen. „Nein… also ich… Nein. Ich bin nicht eifersüchtig.“ Innerlich schüttelte ich den Kopf über mich selbst. Wieso in Gottes Namen konnte ich ihm nicht vernünftig antworten?
„Das Zittern deines Körpers und das Überschlagen deiner Stimme, sagen mir etwas ganz anderes.“
„Mir ist nur kalt“, erwiderte ich schnell. Wow… endlich mal ein vernünftiger Konter. Der erste am heutigen Tage.
Vorsichtig zog Emmett die Decke unter mir hervor, ließ mich dabei jedoch keinen Augenblick los. Mit ein paar kurzen Handgriffen hatte er sie sanft um mich gelegt und drückte mich dann wieder eng an sich. Erneut vergrub er das Gesicht in meinen Haaren und nahm einen tiefen Atemzug. „Besser?“, fragte er leise. Ob er das vielleicht auch gestern bei der Kellnerin…? Sofort lag mir ein bitterer Geschmack im Mund und ich grummelte nur etwas Unverständliches. Nichts war besser.
Ich hörte Emmett leise lachen und ein Beben erfasste den Körper unter mir. „Du bist süß, wenn du eifersüchtig wirst“, raunte er mir ins Ohr.
„Ich bin nicht eifersüchtig“, erwiderte ich eine Spur zu schnell und wandte meinen Kopf in eine andere Richtung, damit er das Gefühlschaos in meinem Inneren nicht erkennen konnte.
Ein herzhaftes Lachen ergriff ihn und seine Arme drückten mich fest an seinen Körper. Trotz der bizarren Situation und des verwirrenden Gesprächsthemas konnte ich nicht verhindern, dass mein Körper positiv auf seine Umarmung reagierte. Plötzlich spürte ich einen kalten Atemzug an meinem linken Ohr und mit leiser Stimme flüsterte Emmett: „Das muss dir doch nicht peinlich sein. Es macht mich glücklich zu wissen, dass ich dir so viel bedeute, dass du dieser Kellnerin am liebsten die Augen auskratzen möchtest.“
Ich schluckte unwillkürlich und mein Herz hämmerte ununterbrochen in seinem Gefängnis, wie als würde es seinen Worten bedingungslos zustimmen. Na klasse. Das war ja mal wieder so klar. Kaum kam er mir näher, da konnte ich jegliche vernünftige Reaktion meines Körpers in eine Schublade packen. Das hatte er doch bestimmt wieder mit Absicht gemacht! Er musste doch wissen, wie ich und vor allem mein Körper auf ihn reagierte. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn er irgendwo einen Schlachtplan zu liegen hatte, wie er mich am besten aus der Fassung bringen konnte. So oft, wie er es tat, konnte es doch gar kein Zufall mehr sein.
„Bella und ich hatten auch eine Menge Spaß.“ WAS? Was erzählte ich da? Was in Gottes Namen hatte mich dazu veranlasst das zu sagen? Er wusste ganz genau, dass ich gestern nicht bei Bella gewesen bin. Er wusste ganz genau, dass ich die ganze Nacht hier auf seiner Couch verbracht hatte. Das bestärkte ihn doch nur noch mehr in seiner Annahme, ich sei eifersüchtig. Der Satz war schneller aus meinem Mund gewesen, bevor ich überhaupt richtig darüber nachgedacht hatte. So viel zum Thema unkontrollierte Reaktionen des eigenen Körpers. Ich hätte mir am liebsten die Hand vor die Stirn geschlagen, in Anbetracht meiner eigenen Dummheit.
Die Augen geschlossen haltend, saß ich weiterhin auf Emmetts Schoß und wartete auf den großen Knall. Er würde lachen. Er würde definitiv lachen. Meine Antwort war so stupide und gegenstandslos gewesen, es wäre ein Wunder, wenn er nicht lachen würde. Emmetts Gesicht verharrte immer noch gefährlich nahe neben dem meinigen, sein kalter Atem traf immer wieder auf mein vor Scham brennendes Gesicht.
„Wir sind nur Jagen gewesen“, flüsterte er schließlich. Überrascht von dieser Erwiderung schlug ich schlagartig die Augen auf. Es dauerte einen Augenblick bis die Worte in ihrer ganzen Bedeutung zu mir durchdrangen. Sie waren nur Jagen gewesen? Einfach nur Jagen? Kein Besuch in irgendeiner Bar? Kein Alkohol? Keine blonde Kellnerin? Sie waren einfach nur Jagen? Das erste, was ich nach dieser Erkenntnis fühlte, war nicht Wut. Es war auch nicht Empörung oder Verbitterung. Ich fühlte mich auf eine eigenartige Art und Weise… erleichtert.
Doch diese Erleichterung verflog schnell in Anbetracht dessen, dass er mich die ganze Zeit an der Nase herumgeführt hatte. Wütend auf ihn und auch wütend auf mich selbst, dass ich überhaupt mit diesem Thema angefangen hatte, versuchte ich mich aus seiner Umarmung zu lösen. Dieser Tag hatte so wunderbar angefangen und er musste es einmal mehr wieder mit seinen Witzen ruinieren.
Wie zur Bestätigung lachte Emmett lauthals auf, als er meinen mühseligen Versuch, mich aus seinen Armen zu lösen, bemerkte. Doch vergebens. Da hätte ich genauso gut versuchen können, einen Felsen vom Fleck zu bewegen. Mit einem Seufzer ergab ich mich meinem aussichtslosen Schicksal und stellte meinen Fluchtversuch ein. Irgendwann würde er mich loslassen müssen, spätestens dann, wenn die Hochzeit anfing. Schließlich konnte er mich nicht in seinen Armen festhalten, während ich neben Alice als Brautjungfer die Treppe herunter schritt. Obwohl… bei ihm war ich mir da nicht so sicher. Emmett würde es sicherlich für einen heiden Spaß halten.
„Warum regst du dich so auf? Bist du nicht froh, dass Ed, Jasper und ich nur jagen waren?“ Seine rauchige Stimme drängte sich in mein Ohr und meine innere Aufruhr schnurrte versöhnlich. „Bist du nicht froh, dass wir nicht in einer Bar waren und keinen Alkohol getrunken haben?“ Langsam fuhr er mit seinen Fingern meinen nackten Oberarm auf und ab und ein intensives Kribbeln bereitete sich an meinem ganzen Körper aus. Das machte er doch definitiv mit Absicht! „Bist du nicht froh darüber, dass ich keine blonde Kellnerin getroffen habe? Die ich nicht zum Anbeißen fand und deren Haare mich auch nicht interessiert haben?“ Dieser Baseballschläger an der Wand sah einfach zu verlockend aus. Wenn ich...
Doch weiter kam ich nicht, denn in genau diesem Moment spürte ich Emmetts kalte Lippen sanft mein Ohr liebkosen. Sofort vergaß ich alles um mich herum und eine Hitze erfasste meinen kompletten Körper. Wie konnte ich ihm nur sauer sein? Wie konnte ich ihm in Anbetracht dieser Situation sein kleines Spiel verübeln? Jetzt kamen mir mein Verhalten und meine Gedanken schon fast lächerlich vor. Ein kleiner Seufzer verließ meine Lippen und wohlwollend schloss ich meine Augen, gab mich einfach nur der zarten Berührung seines Mundes hin, der jetzt langsam meine Schläfe hinauf wanderte. Vorsichtig löste Emmett seine Arme von mir, umschlang mit seinen Händen mein Gesicht und drehte mich ein Stück mehr zu ihm herum. Willenlos ließ ich ihn gewähren. Ich spürte, wie er kurz an meiner Stirn verharrte, wie er genüsslich einatmete und dann mit seiner Nase über meine erhitzte Haut strich. Sanft hauchte er kleine Küsse auf meinen Nasenrücken, wanderte immer tiefer, bis er schließlich meine Oberlippe erreichte. Vorsichtig nahm er sie zwischen seine eigenen, saugte daran und ließ sie wieder frei, nur um sich dann meiner unteren Lippe zuzuwenden. Mein ganzer Körper stand mittlerweile unter Strom, mir wurde heiß und kalt zugleich und nur mühselig konnte ich irgendeinen Gedanken fassen.
„Alice wartet sicher schon auf uns“, kam es mir schwach über die Lippen, die Augen immer noch geschlossen haltend.
„Hm“, brummte Emmett nur zustimmend. Zärtlich nahm er meine Unterlippe zwischen seine Zähne, zog daran und ließ sie wieder los. Kurz danach begann er das Spiel von neuem. Er schien nicht in Betracht zu ziehen, irgendwann damit aufzuhören. Erneut musste ich aufgrund seiner Liebkosung leicht seufzen und nur zu gerne hätte ich mich auf ewig seinen Lippen hingegeben.
Doch in den weiten Tiefen meiner Erinnerungen drängte sich ein Gedanke immer mehr in mein Bewusstsein. „Bella und Edward heiraten heute und es wäre nicht gut, wenn wir den ganzen Tag verschwunden bleiben“, flüsterte ich ihm lächelnd zu und öffnete meine Augen.
Emmetts Blick hing an meinen Lippen, während er sie immer wieder mit leichten Küssen bedeckte. „Sie werden das Ja-Wort auch ohne unsere Hilfe aussprechen können“, antwortete er und küsste sich einen Weg hinab zu meinem Kinn. Mit der einen Hand hob er meinen Kopf leicht an, während seine Lippen sanft über meinen entblößten Hals strichen. Früher hatte mich diese Art von Berührung schockiert. Sie hatte mich an Dinge erinnert, die ich vergessen wollte, Dinge, dich hinter Schloss und Riegel versteckt hielt und nie wieder hervorholen wollte. Doch mittlerweile verband ich mit dieser Berührung etwas ganz anderes. Keinen stechenden Schmerz. Keine feste Umklammerung meines Kopfes. Und auch kein Brennen, dass meine Seele zu zerfressen drohte. Mit dieser Berührung verband ich nur noch eines – Emmett.
Ich zuckte zusammen, als sein Mund eine besonders empfindliche Stelle berührte und ein leises Lachen entkam meinen Lippen. „Wir müssen wirklich langsam aufstehen, Emmett“, versuchte ich ihn zu überzeugen, was mir irgendwie misslang, denn ich konnte nicht aufhören zu lachen, „Alice wird sonst noch sauer und dann wird sie uns beide aus dem Zimmer schleifen.“
„Sie wird sich hüten gerade jetzt zu stören. Es sei denn sie will wirklich, dass ihr Porsche ein Rendezvous mit meinem Jeep hat.“ Sofort nahm er mein Gesicht wieder in seine Hände und drückte mir einen bestimmenden, aber dennoch zarten Kuss auf die Lippen. Ich hatte den Eindruck, zu schweben, als er seine Arme verlangend um mich legte und mich näher zu sich heranzog. Der Boden wurde mir unter den Füßen weggerissen und ein Gefühl von Schwerelosigkeit erfüllte mich. Wohlig seufzend vergaß ich einmal mehr meine Umgebung und konzentrierte mich vollends auf den Kuss, den ich mit meinem Engel tauschte. Doch so sehr er mich auch gefangen nahm. So sehr ich mir nichts sehnlicher wünschte, in seinen Armen zu liegen… zu leben. So sehr ich mich dafür hasste. Der Gedanken an Bellas und Edwards Hochzeit verschwand nicht. Und mit ihm auch nicht die Verantwortung, die aufgrund dessen, auf mir lag.
So löste ich mich, wenn auch widerstrebend, von Emmett und blickte in seine warmen Augen. Ein genervtes Stöhnen entfuhr seinen schönen Lippen. „Du gibst echt nicht auf, oder?“, brummte er und sah mich ernst an. Trotz des mürrischen Untertons konnte ich ein leichtes Funkeln in seinen Augen erkennen.
Ein Lächeln umspielte meinen Mund, als ich ihm antwortete: „Nein. Jedenfalls nicht heute.“
Genervt rollte er mit den Augen und starrte aus dem Fenster, obwohl ich mir sicher war, dass er seine Empörung nur spielte. Mein Lächeln wurde breiter und mit einem beflügelten Herzen, versteckte ich das Bild meines mürrischen Engels ganz tief in meinem Gedächtnis. An einem Ort, den ich nur für ihn geschaffen hatte.
„Komm.“ Mit einer raschen Bewegung erhob ich mich leichtfüßig von seinem Schoß und streckte ihm meine Hand entgegen. Langsam drehte Emmett seinen Kopf herum, wandte seine Aufmerksamkeit wieder mir zu und bedachte mich mit einem intensiven Blick. Ich spürte, wie mir die Hitze in den Kopf stieg, das Blut in meinen Adern zu kochen anfing und meine Beine leicht zitterten. Dieser Blick. Dieser unglaubliche Blick seinerseits. Schon oft hatte er mich so leidenschaftlich und viel sagend angesehen und obwohl ich diesen Blick nur zu gut kannte, war ich alles andere als immun dagegen. Es fühlte sich jedes Mal auf‘s Neue genau so aufregend und verwirrend an wie beim ersten Mal. Meistens war es die Wärme seiner Augen, die mich einlullte, mir das Gefühl gab, geborgen zu sein und mich alles vergessen ließ. Doch jetzt bedachte er mich mit solch einer Hitze, dass ich das Gefühl hatte, er würde mein Körper zum Brennen bringen.
Bewegungsunfähig sah ich ihn an. Seine Augen funkelten spitzbübisch und ein teuflisches Grinsen trat auf seine Lippen. Ich schluckte einmal kräftig, als ich sah, wie er sich von seinem Platz erhob und einen Augenblick später so nahe bei mir stand, dass ich die Haare auf seinem Nacken hätte zählen können. Normalerweise kühlte die Nähe seines Körpers mich ab, brachte meine Gedanken wieder in eine gewisse Ordnung und ließ mich einigermaßen vernünftig agieren.
Doch dieses Mal war sie selbst dieser Hitze nicht gewachsen, die stetig durch meinen Körper floss. Vorsichtig legte er einen Arm um meine Taille, zog mich noch ein Stückchen mehr zu sicher heran und flüsterte mir dann mit rauer Stimme ins Ohr: „Was ist los, Amylin? Warst du nicht eben noch davon überzeugt, Alice zu helfen oder gibt es jetzt etwas, dass deine Aufmerksamkeit mehr beansprucht?“
Ich spürte das schiefe Grinsen auf meiner Haut, so nahe war er mir. Sein kalter Atem traf immer wieder mein Ohr und jedes Mal schickte es Stromstöße durch meinen Körper. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er machte das mit Absicht. Aber vielleicht wusste ich es ja wirklich nicht besser. „Wir sollten wirklich…“, begann ich mich aus diesen liebevollen Fesseln zu lösen und stellte gleich darauf meinen kläglichen Versuch wieder ein. Mein Widerstand hörte sich einfach erbärmlich an.
„Was sollten wir, Amylin?“ Das tiefe Raunen seiner Stimme traf mich unvorbereitet und erschrocken keuchte ich auf. Spätestens jetzt wusste ich, dass er das mit Absicht machte. Und diese Erkenntnis brachte mir ein Stück meines Verstandes und Kampfgeistes wieder. So einfach würde ich nicht klein beigeben. Erneut spürte ich Emmetts weiche Lippen, wie sie zart über meine Ohrmuschel wanderten und zarte Küsse hauchten. Die wohlige Wärme, die mich nur bei ihm ergriff, pflanzte sich in mein Herz und wiegte es in einer sicheren Umarmung. Hilfesuchend klammerte ich mich an die erstbeste Erwiderung, die mir einfiel, bevor sich mein Verstand von neuem verabschieden konnte.
„Wenn du mich nicht gehen lässt…“, seufzte ich, einen kurzen Moment zögernd, da ich mir nicht sicher war, ob ich diesen Satz wirklich beenden oder mich doch lieber dieser liebevollen, engelsgleichen Berührung hingeben sollte, „dann… dann färbe ich deinen Jeep pink.“
Wie gesagt… es war das erste, was mir in diesem Moment in den Sinn kam. Und obwohl ich mir sicher war, dass die Drohung nicht ganz dieselbe Wirkung hatte, wie wenn Alice sie sagte, spürte ich dennoch, dass Emmett kurz stockte und seinen Griff um mich lockerte. Ohne großartig darüber nachzudenken, was mir in dieser Situation vermutlich auch nicht geglückt wäre, schlüpfte ich unter seinen Armen hindurch und ging hastig ein paar Schritte rückwärts. Mein Herz raste immer noch unverkennbar in der Brust, ich spürte das Brennen in meinen Wangen und die widerstrebende Kälte packte mich am ganzen Körper, jetzt da ich seinen Körper nicht mehr spürte. Kurz senkte ich den Blick zum Boden und versuchte meine Gedanken zu ordnen, ohne dabei wieder eine Gefangene seiner Augen zu werden. Mein Herz würde sich wohl nie in seiner Nähe ruhig verhalten können. Doch wollte ich das überhaupt? Das Zittern meines Körpers… das Brennen in meinen Adern, wie als würde flüssige Lava statt Blut durch ihnen fließen… die unkontrollierten Reaktionen meines Körpers… Es würde ab jetzt mein ständiger Begleiter sein. Aber wenn ich recht darüber nachdachte, wollte ich auch gar nicht, dass es aufhörte. Auch, wenn es bedeutete, dass mein Verstand mich immer wieder im Stich ließ. All diese Reaktionen waren ein Zeichen dafür, dass Emmett mein Engel war. Und um nichts in der Welt wollte ich das jemals ändern.
Ich hörte Emmett seufzen und aus meinen Gedanken gerissen, hob ich wieder meinen Blick. Er hatte seinen Kopf leicht schräg gelegt und lächelte mich sanft an. Ein Glanz lag in seinen Augen, den ich bisher nur selten bei ihm gesehen hatte. Normalerweise sprühten sie vor Energie oder funkelten amüsiert. „So langsam habe ich das Gefühl, dass ich nicht mehr die gleiche Wirkung auf dich habe, wie zu Anfang. Die alte Amylin hätte sich nicht so leicht von mir lösen können.“ Wenn der wüsste.
Vorsichtig ging ich ein paar Schritte auf ihn zu, streckte meine Hand nach seiner aus. Irgendwie bekam ich das Gefühl nicht los, dass ich ihn mit meiner Abweisung verletzt hatte. Dabei hatte ich ihn nicht einmal wirklich abgewiesen. Ich hatte nur versucht einen Ausweg aus meinem irrationalen Zustand zu finden. Er wusste schließlich nicht, wie es war, nicht mehr klar denken zu können. Wenn sich plötzlich jede noch so winzige Gehirnzelle einfach umdrehte und sich mit dem gleichen verschmitzten Grinsen, wie Emmett es immer trug, verabschiedete. Selbst meine Gabe half mir da nicht sonderlich weiter.
Doch offensichtlich schien das Emmett ein wenig missverstanden zu haben, denn seine Augen bohrten sich regelrecht in die meinigen. Ein mulmiges Gefühl machte sich in meiner Magengegend breit und vorsichtig schenkte ich ihm ein Lächeln. Ich wollte nicht, dass er dachte, ich würde vor ihm fliehen. Und noch weniger wollte ich, dass er das Gefühl hatte, meine Gefühle für ihn wären nicht mehr dieselben wie am Anfang. Dabei irrte er sich gewaltig. Ich konnte nicht mehr ohne ihn. Ich brauchte ihn, wie nichts anderes auf der Welt. Er hielt mich aufrecht, er stützte mich und schenkte mir so viel, von dem ich nie erwartet hätte, es je bekommen zu dürfen. Er war es, der es schließlich geschafft hatte, die Gitterstäbe meines Gefängnisses aufzubrechen und mich zu befreien. Er war mein Engel. Warum also sollte ich ihn von mir stoßen?
„Ich…“, begann ich, nicht wissend, was ich wirklich sagen sollte. Ich hatte das Gefühl, dass Worte nicht einmal annähernd beschreiben konnten, wie viel er mir bedeutete. Jeder noch so schön formulierte Satz… jedes noch so fein geschwungene Wort… Sie wären nie dazu fähig, das zu verkörpern, was ich empfand. Wie also sollte ich ihm verdeutlichen, dass seine offensichtlichen Sorgen unberechtigt waren?
Ich spürte wie plötzlich jemand sanft gegen meine Stirn schnippte und aus meinem Tagtraum gerissen, blickte ich in Emmetts breites Grinsen. „Denk nicht so viel nach, sonst brennen sich diese Sorgenfalten noch für immer auf dieser schönen Stirn ein.“ Verwundert über den plötzlichen Themenwechsel, starrte ich ihn nur ungläubig an. Was sollte das denn jetzt auf einmal? „Das war ein Scherz, Amylin“, hauchte er, immer noch amüsiert über meinen verwirrten Gesichtsausdruck, „Du würdest dich nie von mir lösen können, wenn ich es nicht wollte. Und dafür müsste ich dich nicht einmal festhalten.“ Seine Stimme war in diesem Moment so rau und tief, dass es unkontrollierte Stromstöße durch meinen gesamten Körper jagte. Ich hatte das Gefühl, erneut unter Spannung zu stehen und jedes Mal, wenn Emmetts Atem an meinen Hals traf, zuckte ich leicht zusammen. Sein für ihn so typischer Geruch drang mir wieder in die Nase und versuchte mich erneut einzulullen, mir ein weiteres Mal die Kontrolle über mein Denken zu entreißen. Doch ich wehrte mich dagegen.
Wollte er mir mit dieser Aussage etwa verdeutlichen, dass er mich bereits so um den Finger gewickelt hatte, dass ich ihm willenlos überall hin folgen würde? Ein säuerlicher Geschmack bereitete sich in meinem Mund aus, als mir die Erkenntnis dieser Wahrheit ins Gesicht schlug. Vermutlich hatte er Recht. Vermutlich war ich von ihm und dem Gedanken, er sei mein Engel so sehr gefangen, dass ich gar nicht anders konnte, als ihm zu vertrauen. Das Gefühl, jemanden mit seiner bloßen Anwesenheit zu bereichern, erfüllte mein Herz mit solcher Wärme. Und die Vorstellung, dass ich diese Person für Emmett war, ließ mich unwillkürlich verträumt lächeln. Ja, er hatte Recht. Warum sollte ich mich auch von ihm lösen, wenn ich wusste, dass meine Anwesenheit alles war, was er wollte… und seine, alles war, was ich wollte? Ja, er hatte Recht mit seiner Annahme. Doch das würde ich ihm nicht so einfach unter die Nase reiben. Jetzt würde ich einmal den Spieß umdrehen. Nur ein einziges Mal.
„Wer weiß“, antwortete ich untypischerweise und zuckte mit den Schultern. Ein leichtes Lächeln lag auf meinen Lippen, welches sich bei Emmetts verdutztem Blick nur noch verbreitete. Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, ging ich an ihm vorbei und verließ das Zimmer. Ich hatte es geschafft. Ich hatte es geschafft, mich einmal nicht von ihm einlullen zu lassen. Ein Mal, indem er der Verdutzte von uns beiden war. Auch, wenn ich ein bisschen Zweifel hatte, ob Emmett meine Aussage vielleicht etwas zu ernst nehmen würde, konnte ich nicht umhin mich über diesen kleinen Sieg ein wenig zu freuen. Außerdem war er derjenige, der mich heute schon mehrfach auf den Arm genommen hatte. Wenn ich da den Spieß ein bisschen umdrehte, würde ihm das schon nicht schaden.
Doch kaum da ich die Hälfte der Treppe passiert hatte, schlang sich plötzlich ein kräftiger Arm um meine Taille und zog mich fest an einen steinernen Körper. „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich das auf mir sitzen lasse, oder?“ Emmetts Lippen berührten leicht die spitze meiner rechten Ohrmuschel und mein Herz setzte kurz aus. Sowohl des Schreckens, als auch seiner Nähe wegen.
Schnell lief er ein paar Stufen runter, sodass er vor mir stand und ich mich leicht zu ihm herabbeugen musste, als er mein Gesicht in seine Hände nahm und mich zu sich heranzog. „Lass mich nie wieder irgendwo einfach stehen“, raunte er gegen meine Lippen, bevor er diese verlangend auf die meinigen legte und somit jegliche Erwiderung von mir vereitelte.
Der Kuss, den wir wechselten, war anders als die unzähligen davor. Er war leidenschaftlicher, fordernder… und auf eine gewisse Art und Weise auch besitzergreifend. Mein ganzer Körper stand in Flammen, automatisch krallte ich meine Hände in seine Schultern und klammerte mich wie eine Ertrinkende an ihn. Ich spürte, wie sich mein Verstand mit winkendem Taschentuch verabschiedete. Nach einer Ewigkeit, die mir trotz allem viel zu kurz vorkam, löste er sich von mir und einen kurzen Moment behielt ich meine Augen geschlossen, um die erregenden Gefühle, die durch meinen Körper strömten, einigermaßen in den Griff zu bekommen. Mein Atem ging schneller als sonst und ich spürte das Brennen in meinem Gesicht, das mir verriet, dass sich die Röte in meinen Wangen sammelte. Kalte Hände strichen mir zärtlich ein paar Strähnen meines Haares aus dem Gesicht und plötzlich spürte ich Emmetts Lippen, wie sie kleine, sanfte Küsse auf meiner Stirn verteilten. Diese Berührung stand so im Widerspruch mit der Leidenschaft, die wir beide gerade geteilt hatten, dass ich nur ein leichtes Seufzen herausbrachte.
Emmetts Liebkosungen fanden schließlich ein Ende, als er den Kopf leicht in meinen Haaren vergrub und genüsslich einatmete. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass jemand meinen Geruch so faszinierend fand, dass er ihn tagtäglich einatmen musste. Vor allem nicht ein Vampir. Doch Emmett überraschte mich immer wieder.
„Würde es dir etwas ausmachen, die zweite Brautjungfer heute auch noch einmal aus deinen Klauen zu lassen? Immerhin möchte ich nicht eine Stunde damit beschäftigt sein, ihr ihre Röte aus dem Gesicht zu pudern.“
Überrascht öffnete ich meine Augen und blickte hinter Emmett. Dort, am Treppenabsatz, stand Alice und lächelte mich augenzwinkernd an. Ihre Haare fielen ihr heute in sanften Locken um das liebliche Gesicht und ließen sie noch eine Spur mehr wie eine Elfe aussehen. Emmett drehte sich mit einem Fluch auf den Lippen um und starrte wütend auf Alice herab. „Du brauchst dir erst gar keine Erwiderung zurechtzulegen“, fuhr sie ihm ins Wort, noch bevor er etwas sagen konnte, „Du weißt ganz genau, dass Amylins zweitwichtigste Aufgabe heute darin besteht, Bella abzuholen.“
„Es ist erst halb neun“, konterte Emmett brummig, „Bella wird vermutlich noch schlafen.“
„Trotz allem musst du sie ja nicht komplett durcheinander bringen. Sie muss nachher diese Treppe noch hinunterlaufen können, wenn die Zeremonie anfängt.“
„Sollte sie das nicht schaffen, trage ich sie eben herunter“, grinste Emmett jetzt verschmitzt und blickte Alice herausfordernd an. Ich räusperte mich, um ihnen somit zu verdeutlichen, dass ich noch anwesend war. Beide wandten sich mir kurz zu, dann lächelte Alice wieder vergnügt.
„Ich bin gespannt, ob Bella dir das verzeihen wird, wenn du ihre Hochzeit ruinieren wirst. Vor allem, nachdem sie sich erst einmal verwandelt hat.“ Noch einmal blickte sie Emmett sowohl amüsiert als auch herausfordernd an und verschwand dann im Wohnzimmer.
Knurrend wandte sich Emmett wieder mir zu. „Heute wird ihr Kleiderschrank dran glauben! Heute wird ihr Kleiderschrank dran glauben!“, brummte er, wie als würde er ein Mantra rezitieren.
Kurz lachte ich auf, was Emmett aus seinem Trübsal riss und er mich wieder intensiv anblicken lies. Dann verzogen sich seine Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen und ohne ein weiteres Wort zu sagen, legte er seine Lippen noch einmal kurz auf die meinen, bevor er sich komplett von mir löste und die Treppen leichtfüßig hinunterging.
Verwirrt über diesen plötzlichen Sinneswechsel, folgte ich ihm, doch mit Verwunderung musste ich feststellen, dass Emmett nicht ins Wohnzimmer ging, und dafür stattdessen die Tür zur Garage anvisierte.
„Wo willst du hin?“, fragte ich ihn überrascht und blickte ihm vom Treppenabsatz skeptischen hinterher.
Immer noch breit grinsend drehte er sich zu mir um und erwiderte augenzwinkernd: „Ich hol‘ die Heckenschere. Der Fetzenlook soll wieder in sein. Ich werde ihr schnell helfen, ihren Kleiderschrank auf Vordermann zu bringen.“ Dann war er auch schon in der Garage verschwunden.
Verdutzt blickte ich auf die Stahltür, die soeben ins Schloss fiel. Das hatte er doch jetzt nicht ernst gemeint, oder? Emmett konnte doch nicht einfach Alices kompletten Kleiderschrank verunstalten, nur weil sie ihn ein bisschen geneckt hatte?! Würde ich das jedes Mal mit seinem Jeep machen, für all die Male, in denen er mich neckte, hätte ich ihm schon längst davon abgeraten, sich je wieder einen neuen zu kaufen.
Immer noch leicht verwirrt und unsicher darüber, ob er nur Spaß machte oder seinen Worten wirklich Taten folgen lassen wollte, ging ich in das bereits wunderschön dekorierte Wohnzimmer, dass trotz der frühen Uhrzeit schon fast vollständig für die Zeremonie umgeräumt war. Ein himmlischer Duft lag in der Luft und ich konnte nicht umhin, ein paar Mal tief einzuatmen. Orangen… Flieder… Rosen… und noch etwas, dessen Geruch ich jedoch nicht ganz einordnen konnte. Es wunderte mich, dass trotz der Überfülle an weißen Blüten, die den kompletten Raum und sogar das gesamte Haus schmückten, sich diese Gerüche verfestigten konnte.
Zwischen den Blütengirlanden hingen weiße Seidenbänder von den Decken herab und an der gegenüberliegenden Glasfront stand ein großer Bogen, ebenfalls mit weißen Blüten und Seidenbändern verziert. Davor reihten sich ungefähr 20 mit Satin geschmückte. Es sah aus, wie im Himmel.
Ich konnte Alice erkennen, wie sie weiterhin ein paar Möbel und Gegenstände, die heute definitiv nicht Teil der Dekoration sein würden, aus dem Zimmer räumte und jedes Mal den frei gewordenen Platz kritisch beäugte. Carlisle, Esme und Jasper lehnten am Tresen, der zur Küche führte und beobachteten Alice aufmerksam. Offensichtlich hatte Alice ihnen verboten, ihr zu helfen und jetzt schienen sie nicht wirklich zu wissen, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen sollten.
Ich wünschte allen drei einen guten Morgen und ging dann zu Alice, die gerade zielstrebig ein paar weitere satinbestückte Stühle aufstellte. „Alice, Emmett ist gerade in der Garage verschwunden, um die Heckenschere zu holen und damit deine Kleider zu ruinieren“, teilte ich ihr meine Bedenken mit. Denn bislang war Emmett immer noch nicht aus der Garage gekommen und ich machte mir ernsthafte Sorgen.
Doch zu meiner Überraschung ließ sich Alice in ihrer Arbeit nicht beirren und schenkte mir kurz ein Lächeln. „Das wird er nicht tun.“
„Woher bist du dir so sicher?“ Kurz half ich ihr, indem ich das Ende eines langen Bandes hielt, mit dem sie eine weitere große Schleife an die Blumen band. Wie sie das bewerkstelligte, ohne dass auch nur ein einziges Blütenblatt herunterfiel, war mir schleierhaft.
„Nun, weil er gewaltige Probleme mit Esme, Carlisle und Jasper bekommen würde, sollte er das wirklich tun. Und er weiß das genau.“ Noch einmal lächelte sie mich vergnügt an, dann bedankte sie sich und widmete sich der nächsten Schleife.
Verwundert beobachtete ich sie einen kurzen Augenblick, doch wie als hätte Emmett ihre Aussage gehört, erschien er keine zehn Sekunden später brummend im Raum. Kurz glitt sein Blick verbissen zu Alice, die sich in ihrer Arbeit nicht stören ließ, dann lehnte er sich neben Carlisle an den Tresen und verschränkte die Arme vor der Brust.
Ein leicht amüsiertes Lächeln legte sich auf meine Lippen, als mir der Gedanke kam, dass Emmett wie ein kleines, schmollendes Kind aussah. „Alice, kann ich dir irgendwie helfen? Ich habe noch genug Zeit, bevor ich Bella abhole“, wandte ich mich von diesem unterhaltsamen Bild ab und wieder Alice zu.
„Nein, trotzdem danke. Du könntest aber etwas frühstücken. Esme hat ein paar Pancakes für dich gemacht. Schließlich möchte ich nicht, dass du auf der Zeremonie einen Schwächeanfall erleidest und die Treppe herunterfällst.“
„Der Part ist schon für Bella reserviert“, lachte Emmett, woraufhin Alice ihm einen wütenden Blick zuwarf. Herausfordernd grinste er sie an.
Noch einmal ließ ich meinen Blick kurz über die Dekoration schweifen, während ich ihrer Aufforderung nachkam und mich zu den anderen gesellte. Esme stand hinter der Kochinsel und lächelte mich freundlich an. Dann schob sie mir einen Teller mit frischen Pancakes zu und stellte eine Flasche Ahornsirup und Butter dazu.
„Hmmmm“, atmete ich den köstlichen Duft ein, „Das sieht lecker aus. Danke!“
Esmes Lächeln wurde eine Spur wärmer. „Gerne, mein Schatz. Lass es dir schmecken. Wenn du noch mehr möchtest, sage Bescheid.“
Ich nickte ihr lächelnd zu und wollte gerade zum Sirup greifen, als mir Emmett zuvorkam. Mit einem breiten Grinsen schnappte er ihn sich und zog den Teller näher zu sich heran. Verwundert blickte ich ihn an. Was hatte er denn nun schon wieder vor? Auch Esme schien von seiner Aktion leicht irritiert. „Ähm… Schatz. Wenn du auch ein paar Pancakes möchtest, kann ich dir welche machen.“ Offensichtlich wusste sie nicht genau, wie sie mit Emmetts Verhalten umgehen sollte.
Doch dieser hob nur breit grinsend die Hand und zwinkerte mir noch einmal zu. Dann lockerte er ein wenig die Schultern, öffnete mit einem >Plopp< den Sirup und nahm eine leicht geduckte Haltung ein. „Ok, es geht los“, sagte er, während er den Sirup über die Pancakes hielt. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Jasper mit hochgezogenen Augenbrauen skeptisch über Emmetts Schulter blickte.
„Der Sirup wartet hoch konzentriert an der Home-Plate auf den Wurf. Der Pancake-Pitcher schleudert dem Sirup einen Fast-Ball entgegen. Der Sirup… trifft. Ein herrlicher Schwung und der Ball fliegt weit“, sagte Emmett mit einer Stimme, die jedem Stadionsprecher alle Ehre gemacht hätte. Vorsichtig neigte er die Flasche ein bisschen mehr dem Boden entgegen, sodass die goldfarbene Flüssigkeit sich langsam über mein Frühstück verteilte, „Er rennt los… oh mein Gott ist der schnell. Sicher erreicht er die erste Base, doch das ist dem Sirup nicht genug. Der Ball schlägt erst jetzt an der hinteren Bande auf und der Gegner hat ihn noch nicht zu fassen bekommen. Genug Zeit, um auch die zweite Base zu erreichen… Geschafft! Doch jetzt hat ein gegnerischer Spieler den Ball erreicht und wirft ihn zurück. Aber der Sirup ist nicht zu stoppen. Er zieht durch und versucht auch noch die dritte Base zu erreichen. Die gegnerische Mannschaft wirft sich gegenseitig den Ball zu, versuchen den Sirup aus dem Spiel zu kriegen. Das Stadium jubelt und explodiert. Alle Augen sind auf den Sirup gerichtet, der jetzt wie in Rekordzeit die dritte Base erreicht… Safe! … Doch was ist das? Er läuft tatsächlich weiter! So etwas habe ich lange nicht mehr gesehen.“ Emmetts Stimme überschlug sich regelrecht vor Euphorie. „ Oh mein Gott, er wird doch nicht… Ah, das wird eng… das wird eng… aber, nein… das ist Unmöglich… aber doch… er… Jaaaaa!“, rief Emmett plötzlich und reckte die Faust siegreich in die Luft. Vor Schreck wäre ich beinahe vom Hocker gefallen. „Das ist unglaublich! Er hat es geschafft! Ein Inside-the-park Home Run! Das habe ich ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen! Die Menge tobt und jubelt. Was für ein Lauf, meine Damen und Herren, was für ein Lauf! Der Sirup hat die Frühstücksmeisterschaft gewonnen und darf jetzt zur Belohnung von der bezauberndsten Frau der Welt verspeist werden.“ Breit grinsend schob Emmett mir wieder meine Pancakes zu, die jetzt mehr als genüge vom Sirup überschwemmt waren.
Einen Moment lang sah ich ihn nur verdutzt an. Dann musste ich lachen und kopfschüttelnd zog ich den Teller noch ein Stückchen näher zu mir heran. „Danke.“ Das war wieder einmal so typisch Emmett. Nicht einen einzigen Moment konnte er stillsitzen oder nicht irgendetwas Verrücktes anstellen. Und dafür liebte ich ihn.
Ich spürte seine kalten Lippen sanft auf meiner Schläfe, während er ein „Guten Appetit“ murmelte und immer noch breit grinste. Amüsiert blitzten seine Augen und ich musste eingestehen, dass er sich einmal wieder selbst übertroffen hatte.
Eine jedoch schien von der ganzen Aktion nicht ganz so unterhalten worden zu sein, wie der Rest. Mit hochgezogenen Augenbrauen und in die Hüfte gestemmten Händen stand Alice neben uns und bedachte Emmett zähneknirschend. „Du musst dich immer noch wie ein Kind benehmen, nicht wahr Emmett? Jetzt sieh dir nur mal die Sauerei an! Du hast den kompletten Tresen mit Sirup bespritzt, als du deiner jubelnden Ekstase verfallen bist.“ Mit einer ausladenden Handbewegung deutete sie auf die Sirupflecken vor mir. Immerhin sah es noch nicht so aus, wie damals in meiner Küche. „Heute ist Bellas wichtigster Tag und du hast allen Ernstes nichts Besseres zu tun, als nur Unsinn zu machen. Zur Strafe kannst du gleich mal die komplette Küche putzen.“
Emmett lachte lauthals auf. Alice hingegen stimmte in sein Lachen nicht mit ein. Entschlossen verschränkte sie die Arme vor der Brust und bedachte ihn mit einem Blick, was ihn sofort verstummen ließ. „Ich meine es ernst, Emmett. Du putzt die Küche blitzblank! Ach, und wenn du eh schon dabei bist, mir zu helfen…“, nun wurde ihre Stimme wieder lieblich und mit einem elfengleichen Lächeln fuhr sie fort, „Die Veranda muss noch hergerichtet, der Tanzboden aufgebaut, und die Getränke aus der Garage in den Kühler geräumt werden. Also los… das macht sich alles nicht von alleine.“ Mit einem Augenzwinkern drehte sie sich um und widmete sich wieder den Blumengirlanden.
Skeptisch blickte Emmett ihr hinterher. „Das meinte sie doch nicht wirklich ernst?“
Während ich meine Pancakes verputzte, sagte ich: „Ich denke schon.“
Und wie zur Bestätigung trat Jasper breit grinsend und einen Wischmopp in der einen, einen Eimer in der anderen Hand haltend vor ihm. „Viel Spaß“, sagte er nur und drückte ihm beides in die Hand.
Verdutzt blickte ihn Emmett an. „Wo hast du das Zeug denn plötzlich hergezaubert?“
„Aus der Kammer“, zuckte Jasper zur Antwort mit den Schultern.
„Wir haben eine Kammer?“ Emmett schien überrascht. Jasper lachte kopfschüttelnd.
„Und sogar einen Staubsauger.“
Einen Augenblick lang bedachte Emmett die Utensilien in der Hand mit einem skeptischen Blick. Ich konnte mir mittlerweile ein Lachen nicht mehr verkneifen und hielt zur Vorsicht die Hand vor dem Mund, damit Emmett es nicht mitbekam.
Zehn Minuten später hatte ich mein Frühstück aufgegessen und sah nun Emmett beim Putzen zu. Seine Lippen waren zu einer ärgerlichen, schmalen Linie verzogen und ständig grummelte er etwas vor sich hin, was ich jedoch nicht verstand. Ich hatte meinen Kopf mit meiner Hand auf dem Tisch abgestützt und beobachtete vergnügt, wie Emmett sich immer mehr mit Seifenwasser bespritzte. Es war noch reichlich Zeit, bis ich Bella abholen musste und bis dahin musste ich irgendwie die Zeit totschlagen.
„Du musst mir nicht zusehen. Du kannst dich auch anderweitig beschäftigen“, hielt er kurz in seiner Arbeit inne und sah mich durchdringend an. Lächelnd schüttelte ich mit dem Kopf.
„Ich kann mir nichts Unterhaltsameres vorstellen.“ Emmett grummelte nur zur Antwort und fuhr dann mit seiner Arbeit fort.
Verträumt ließ ich den Blick aus dem Fenster schweifen und betrachtete den Wald. Ein paar Vögel flogen durch die Baumkronen und ich konnte mir den Geruch des Mooses ganz genau vorstellen. Dann, ganz plötzlich, überkam mich eine Idee und kurzerhand sprang ich vom Hocker auf, kramte meine Schlüssel aus meiner Jackentasche und zog mir die Schuhe an.
„Wo willst du hin?“ Emmett stand plötzlich hinter mir. Ein leichter Geruch von Fit haftete an ihm, konnte jedoch nicht seinen natürlichen Geruch überdecken.
Genießerisch atmete ich einmal tief ein, bevor ich ihm antwortete: „Joggen.“
„Joggen?“ Überrascht sah Emmett mich an. „Mit ein paar Wanderstiefeln und ‘nem Autoschlüssel?“
„Nein“, antwortete ich ihm lächelnd und drehte mich zu ihm um, „Aber ich wollte von zuhause aus joggen. Dort habe ich meine Sportsachen und es wäre kürzer zu Bella.“
Einen Moment schien Emmett ernsthaft zu überlegen, ob er mich wirklich gehen lassen sollte. Offensichtlich missfiel ihm der Gedanke, dass ich in den Wald gehen könnte. Aber warum? Wir waren schließlich schon oft zusammen im Wald gewesen und es war nichts passiert. Was sollte auch schon passieren? Glaubte er etwa, ein großer Bär oder Wolf würde mich anfallen? „Bitte“, fügte ich hinzu, als ich mir nicht sicher war, ob er je nachgeben würde, „Ich bin lange nicht mehr joggen gewesen und ich habe wirklich Lust darauf.“
Intensiv blickte er mich an. Fast so, als suchte er etwas in meinen Augen. Dann merkte ich, wie seine Anspannung ein klein wenig nachgab und seufzend erwiderte er: „Gut.“
Ein breites Lächeln bildete sich auf meinen Lippen aus und freudig umarmte ich ihn. „Danke.“
„Sei aber vorsichtig“, ermahnte er mich, kaum da ich mich wieder von ihm gelöst hatte, „Und bitte, Amylin. Bitte halte dich nah genug an der Landstraße und wenn es geht in der Nähe der Stadt.“
Verwundert sah ich ihn an. „Warum?“
Emmett schüttelte mit dem Kopf. „Da ist es sicherer.“
Einen Moment blickten wir uns an. Ich sah, dass es ihm offensichtlich immer noch ein klein wenig behagte, dass ich alleine im Wald joggen gehen wollte. Doch er wusste auch, dass es mir guttun würde.
„Ich würde dich ja gerne begleiten…“, setzte Emmett an und grinste plötzlich wieder. Flüsternd fuhr er fort: „Aber ich glaube nicht, dass mich die Sklaventreiberin gehen lassen würde.“
„Das habe ich gehört“, ertönte Alices Stimme aus dem Wohnzimmer.
Emmett rollte nur mit dem Augen. Zum Abschied gab er mir noch einen Kuss und blickte mir erneut tief in die Augen. Dann ließ er mich los und machte sich wieder auf den Weg in die Küche.
Die Heimfahrt dauerte eine halbe Stunde und kaum da ich die ersten paar Minuten an der Straße entlang gejoggt war, spürte ich, wie jegliche Anspannung von meinen Schultern fiel und ich mich einfach nur treiben lassen konnte. Ich war lange nicht mehr joggen gewesen und jetzt, nach so langer Zeit, merkte ich doch, wie sehr es mir gefehlt hatte. In New Orleans hatte ich meist anderen Sport getrieben, sodass ich eher selten joggen war. Doch hier in Forks, in einer Stadt, die so klein war und in der es so ruhig von dannen ging, war es ein guter Ausgleich zu dem ganzen Prüfungsstress gewesen. Man konnte einfach mal alles vergessen und den Körper zu Höchstleistungen treiben. Das Gefühl, wenn das Blut durch die Adern gepumpt wurde, wenn das Herz raste und die kalte Luft in der Lunge brannte. Erst dann merkte man doch, dass man… lebte.
Plötzlich hielt ich inne, als ich an einer Weggabelung vorbeikam. Der Weg links von mir führte tiefer in den Wald hinein, der Rechte verlief weiter an der Landstraße entlang. Einen Moment zögerte ich. Emmetts Worte hallten in meinem Kopf wieder und ich wollte schon den rechten Weg nehmen, als ich erneut inne hielt. Auch, wenn mich Emmett gewarnt hatte… was sollte mir schon passieren? Soweit ich wusste, hatte es in den letzten Monaten keinen Tierangriff mehr gegeben. Und wenn man bedachte, was die meisten Tierangriffe hier bedeutete, wusste man eh, dass die Statistik nicht ganz stimmte. Ein Seufzen drang über meine Lippen. Dann ignorierte ich die mahnende Stimme in meinem Kopf und entschied mich für den linke Weg. Tiefer in den Wald.
Kalte Morgenluft schlug mir entgegen und fühlte sich angenehm auf meiner heißen Haut an. Die moosbewachsenen Bäume flogen an mir vorbei. Ein paar Vögel begrüßten schon eifrig den anbrechenden Tag und vereinzelt konnte ich den Tau noch von den Blättern tropfen sehen. Obwohl es bereits nach neun Uhr war, war die alltägliche Morgenfrische noch nicht verschwunden. Das war wohl eines der Besonderheiten an Forks. Das alles so wirkte, als wäre es gerade erst aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht. Seit gut einer Stunde lief ich schon durch den Wald. Immer in Richtung Bella.
Es war lange her, seit ich das letzte Mal richtig joggen gewesen war. Wenn ich mich recht erinnerte, irgendwann kurz vor meinem Umzug nach Forks. Jetzt bekam ich die Quittung dafür. Jeder Atemzug brannte kalt in meiner Lunge. Meine Muskeln schrien vor Schmerz und ich spürte, wie meine Beine immer schwerer wurden. Ab und zu geriet ich ins Straucheln. Doch ich hörte nicht auf. Ich lief immer weiter. Unabkömmlich in Richtung Bella. Denn so fühlte sich das pure Leben an. Wenn das Blut in den Adern pulsierte. Wenn es in den Ohren rauschte und pochte. Wenn der Körper erhitzt war und jede Muskelfaser unter der Haut brannte. Wenn jeder einzelne Pulsschlag spürbar war. Ein Herz. Eines, das wie im Wahn hart gegen die Rippen schlug. Immer wieder. Keiner einzigen Sekunde seiner Arbeit ermüdend. Wenn man spürte, dass das Leben durch jede einzelne Pore kroch, sich einnistete und nicht wieder losließ. Es war, als würde man seinen eigenen Herzschlag hören.
Die Erinnerungen an das Szenario von vor ein paar Wochen waren nur allzu deutlich im meinem Kopf verankert. Ich hatte mir eine schlimme Erkältung zugezogen gehabt und Carlisle hatte gerade seine alltägliche Visite beendet, da hatte ich ihn danach gefragt. Wie es war. Wie es sich anhörte. Welches Gefühl einen ergriff, wenn man das Pulsieren des Lebens wahrnahm. Im Nachhinein konnte ich auch nicht sagen, warum ich ihn ausgerechnet danach gefragt hatte. Vielleicht war es reine Langeweile gewesen. Vielleicht hatte mich der Fieberwahn erneut in seinen Klauen gehabt und mich unerklärliche Dinge sagen lassen. Vielleicht… vielleicht war es aber auch eine tief verborgene Sehnsucht gewesen. Die Sehnsucht nach dem eigenen Herzschlag… die Sehnsucht nach der Bestätigung, dass das Leben in einem noch wandelte. Viel zu lange hatte ich auf dieses Gefühl verzichten müssen. Viel zu lange hatte mich Schmerz und Angst ergriffen. Viel zu lange hatte ich keine Hoffnung gehabt. 5 Jahre, um genau zu sein. War es dann verwerflich, dass ich mich nach genau dieser Bestätigung sehnte? Dass ich mich nach dem Geschmack des Lebens so sehr sehnte?
Im ersten Moment hatte mich Carlisle nur verdutzt angesehen. Dann jedoch hatte sich ein leicht erheitertes Lächeln auf seine Lippen gelegt und mit den Worten >Hör es dir selbst an< hatte er mir sein Stethoskop gereicht.
Und als ich zum ersten Mal meinen eigenen Herzschlag gehört habe… Als das laute Pochen in meinen Ohren erklang, sich durch jede Faser meines Körpers fraß und in meinen Adern vibrierte… Da hatte mich ein unglaubliches Gefühl überkommen. Unbeschreiblich. Fast, als wäre ich dieses Mal diejenige gewesen, die aus einem hundertjährigen Schlaf erwachte.
Ich kannte das Geräusch. Jeder wusste, wie es sich anhörte, wenn ein Herz schlug. Es war nichts Neues oder Unerwartetes. Doch es so klar und deutlich zu hören… in dem Wissen, dass es aus der eigenen Brust kam, hatte eine ganz andere Bedeutung.
In diesem Moment spürte ich ganz deutlich, dass ich lebte. Dass dieses Pochen der Grund war, warum ich atmete… warum ich aß… und warum ich liebte.
Dass etwas so kleines und normalerweise nicht wahrnehmbares alle Funktionen im Körper erst möglich machte. Und dass, wenn dieses Geräusch verstummte… alle mit ihm verstummen würden. Wie ein Uhrwerk, bei dem ein Zahnrad stehen blieb. Wie eine bedingungslose Liebe. Als könnten sie die Abwesenheit des Schlagens nicht ertragen.
In diesem Moment hatte ich einmal mehr gespürt, dass das Leben vergänglich war.
Und als Emmett dicht an mich heran getreten war und sein Ohr ebenfalls auf meine Brust gelegt hatte, fühlte ich zum ersten Mal nicht nur meine Liebe ihm gegenüber. Zum allerersten Mal konnte ich sie auch hören.
Das Stolpern meines Herzens. Das Rauschen des Blutes, welches lautstark und kraftvoll durch meinen Körper gepumpt wurde. Fast so, als befürchtete es, mein Körper würde unter der Sanftheit seiner Berührung zusammenbrechen. Als wünschte es sich nichts sehnlicher, als dieser bedingungslosen Liebe entgegenzukommen.
Ich sprang über eine große Wurzel und lief keuchend weiter. Mein Herz schlug unermesslich gegen meine Rippen. Wie in dem Versuch, aus seinem kleinen aber sicheren Gefängnis auszubrechen. Die Ketten seiner Gefangenschaft abwerfend.
Wie oft hatte ich versucht, aus meinem Gefängnis auszubrechen? Bevor ich Emmett traf, kein einziges Mal. Warum auch? Es war ein Schutz. Ein Schutz vor mir selbst. Ein Schutz für alle anderen.
Es war sicherer, gefangen zu sein. So konnte ich niemanden verletzen. So konnte ich mich selbst nicht verletzen. Es war ein Schutz vor dem Schmerz und der Unerträglichkeit dessen, was ich war.
Doch seit Emmett in mein Leben getreten war, war dieses Gefängnis durchsichtiger geworden. Es hatte Risse bekommen.
Jetzt sah ich ihn. Wie er auf der anderen Seite stand und lächelnd seine Hand nach mir ausstreckte. Wie sie sich durch die Gitterstäbe schoben, in dem Versuch mich zu erreichen.
Wie oft hatte er das schon getan? Wie oft hatte er mir mit seinen Worten… mit seinen Berührungen… mit seinen Augen zu verstehen gegeben, dass er immer für mich da sein würde. Mich immer schützen würde.
Wie oft hatte er ein eigenes Gefängnis für mich geschaffen? Eines, das die Welt nicht vor mir schützte. Sondern mich vor der Welt.
Langsam streckte ich meine Hand nach seiner aus. Ergriff sie. Schloss meine Finger um sie. Spürte eine unbekannte Wärme, die von ihnen ausging. Den Schutz und die Liebe, derer es keiner Worte benötigte. Die ich in jeder seiner Bewegungen erkannte. In jedem einzelnen Augenblick, den er mich ansah.
Emmett war mein Engel. Emmett war derjenige, den ich als einzigen je so sehen würde. Emmett war mein neues Gefängnis. Er war das neue Leben, das durch meine Poren kroch. Er war es, den ich in meiner Brust hatte schlagen hören.
Er würde es verstehen, oder? Er würde mich lieben, ganz gleich, was ich war. Ganz gleich, was ich gemacht hatte… oder?
Ich sah in seine Augen. Sah das warme Karamell, das sich wie eine Decke schützend um mich legte. Sah mein Leben.
Und sah, was ich wirklich war. Ich sah Aro. Ich sah den Schmerz, den er mir zugefügt hatte… den er mir jeden einzelnen Tag zufügte.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und meine Atmung ging schwerfälliger. Meine Beine wurden schneller und ich ignorierte die Sträucher, die gegen meinen Körper peitschten.
Ich sah meine Eltern. Sah ihre bedingungslose Liebe zu mir. Und ich sah das, wozu sie diese Liebe letzten Endes gebracht hatte. Wozu sie letzten Endes bereit waren, zu tun. In dem Glauben, mich zu schützen.
Emmett konnte nicht mein neues Gefängnis sein. Und ich konnte es ihm genauso wenig sagen.
Was, wenn Aro mich doch eines Tages fand? Wenn er herausbekam, mit wem ich alles Kontakt hatte? Wenn er Emmett als meinen Schutz sah. Als denjenigen, der ihm im Weg stand?
Ich hatte meinen Eltern gegenüber Wort gehalten. Ich hatte ihr Opfer akzeptiert. Ein weiteres Mal könnte ich das nicht.
Und somit ließ ich seine Hand wieder los.
Das Gefühl des Lebens war mein neuer Schutz. Es war das, was mir versicherte, dass ich mit dem Monster in mir nichts gemeinsam hatte. Es war das, woran ich mich immer klammern würde.
Atemlos blieb ich stehen. Mein Herz hämmerte lautstark in meiner Brust, sodass ich mir sicher war, dass man es auch noch Meilen weiter schlagen hören konnte. Meine Beine zitterten und haltesuchend stützte ich mich an dem dicken Stamm einer Eiche ab.
Rannte ich eigentlich noch des Rennens Willen?
Oder rannte ich vor etwas weg?
Plötzlich riss mich eine Bewegung in den Augenwinkeln aus meinen Gedanken und ruckartig wandte ich mich um. Außer einer Gruppe von Ameisen, die über einen umgefallenen Baumstamm liefen, konnte ich nichts Lebendes erkennen. Verwundert glitt mein Blick durch die moosbewachsenen Bäume.
Es war still. Für meinen Geschmack etwas zu still. Kein Zwitschern der Vögel mehr. Keine Motorengeräusche, die von einer entfernten Straße hätten kommen können. Selbst der Wind schien still zu halten. Das einzige, was ich hörte, war mein keuchender Atem.
Ein leichter Schauer lief mir den Rücken entlang und ich musste unwillkürlich an eine Szene aus einem Horrorfilm denken. Wenn die Welt zu verstummen schien, kurz bevor etwas Schreckliches passierte.
Ich konnte die Anwesenheit der anderen Person spüren. Wusste, dass sie mich beobachtete.
Eine einzelne Schweißperle löste sich von meiner Stirn. Hastig wischte ich sie weg, noch bevor sie meine Wange erreichen konnte.
War es…?
Ich schluckte und versuchte den bitteren Kloß, der sich bei dem Gedanken in meinem Hals gebildet hatte, zu lösen. Mein Herz begann wieder schneller zu schlagen.
War es möglich, dass Aro… dass er mich gefunden hatte?
Ich zitterte. Und das nicht wegen der kalten Luft, um mich herum. Erneute Angst nistete sich in meinem Körper ein.
Lauf weg!
In diesem Moment hallte nur ein einziger Gedanke in meinem Kopf wieder.
Laufweg!Laufweg!Laufweg!Laufweg!Laufweg!Laufweg!
Das Zittern meines Körpers und die Schwäche meiner Beine ignorierend, drehte ich mich um…
Und stieß einen spitzen Schrei aus, als ich bemerkte, dass jemand dicht hinter mir stand. Mein Herz setzte für einen kurzen Augenblick lang aus. Bis es hart und schnell wieder weiterschlug, als ich erkannte, dass die Person mir gegenüber weder Aro noch einer seiner Anhänger war.
Es war ein Junge. Er war nicht älter als 15 oder 16 Jahre, überragte mich aber dennoch um mehr als einen Kopf. Ich blickte in sein strahlendes Gesicht, während ich eine Hand auf mein wild wummerndes Herz legte und versuchte, meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen.
„Sorry. Wollt’ dich nicht erschrecken“, grinste er und seine braunen Augen leuchteten regelrecht vor Heiterkeit.
„Schon okay“, erwiderte ich immer noch leicht außer Atem.
Sein Grinsen wurde noch eine Spur breiter und unwillkürlich musste ich an Emmett denken. Offensichtlich schien er bester Laune zu sein, obwohl es weit und breit nichts gab, das ihn hätte erheitern können. Was machte er überhaupt so weit abseits der Zivilisation? Und dann auch noch ohne T-Shirt, wie ich mit einem Blick auf seine nackte Brust feststellte. Dafür war es doch viel zu kalt.
„Ich bin Seth. Seth Clearwater.“ Das breite Grinsen nicht verlierend, streckte er mir seine Hand entgegen.
Leicht überrumpelt und auch ein wenig verwirrt, schüttelte ich sie. „Amylin Lamar.“
Sein Name kam mir in keinster Weise bekannt vor. Ich konnte mich nicht erinnern, dass jemand mit dem Nachnamen Clearwater in Forks lebte.
„Aaah. Du bist also das Mädchen, das mit den Cullens läuft“, druckste er. Verwundert blickte ich in seine braunen Augen. Das hörte sich ja fast so an, als wäre ich das Stadtgespräch Nummer 1. Das Mädchen, das mit den Cullens lief. Eine komische Formulierung für einen Teenager. Offensichtlich hatte er meine Verwunderung bemerkt, denn er fügte an: „Ich kenne die Cullens ganz gut. Oder wohl eher kenne ich Edward und Bella.“
„Edward und Bella?“ Ein Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus und die Anspannung, die meinen Körper ergriffen hatte, legte sich augenblicklich. „Kommst du dann heute auch zur Hochzeit?“
Breit grinsend nickte er. „Zusammen mit meiner Ma und Jakes Dad.“
„Jake?“, wiederholte ich den Namen. So langsam bekam ich das Gefühl, gerade mal die Hälfte von Forks Einwohnern zu kennen.
„Jacob Black. Er ist irgendwie… nun ja… man kann ihn als Bellas besten Freund bezeichnen. Hat sie dir nie von ihm erzählt?“
Ich schüttelte den Kopf. Beim besten Willen konnte ich mich nicht daran erinnern, dass sie jemals von einem Jake erzählt hatte. Wenn ich mich recht erinnerte, hatten die Cullens mir noch nie von irgendeinem Bekanntenkreis ihrerseits erzählt. Ich wusste von Emmett, dass sie ein paar Freunde in Alaska hatten. Aber ich dachte eigentlich, dass sie hier eher weniger Kontakte geknüpft hätten. Allein schon der Sicherheit wegen.
Das Grinsen in Seths Gesicht ließ etwas nach und leicht verunsichert fragte er: „Hat sie dir von uns erzählt?“
„Uns?“, hakte ich verwirrt nach.
Seth zuckte mit den Schultern. „Sam... Paul... Embry… Lea?“
Ich schüttelte leicht mit dem Kopf. „Tut mir leid.“
Kurz schien er verunsichert zu sein. Dann breitete sich wieder ein Grinsen auf seinen Lippen aus. „Nicht so wichtig. Nun denn… ich muss weiter meine Runden laufen. Sam wird mir den Kopf abreißen, wenn ich den Zeitplan nicht einhalte. Ich denke, wir werden uns bei der Hochzeit sehen. War nett, dich kennengelernt zu haben, Amylin.“ Mit einem Augenzwinkern drehte er sich um und lief tiefer in den Wald hinein.
Die Situation nicht richtig einordnen könnend, sah ich ihm verdutzt hinterher. Was meinte er damit, er musste weiter seine Runden laufen? Und wer waren überhaupt Sam, Paul und all die anderen?
Offensichtlich ging er davon aus, dass Bella oder jemand der anderen mich über ihn aufgeklärt hätte. Aber was gab es schon aufzuklären? Vielleicht die Tatsache, warum er bei gerade mal 8 °C nur in einer Jeans durch den Wald lief.
Einen Moment blieb ich noch stehen und starrte auf die Stelle, an der er gerade verschwunden war.
Dann überkam mich das flaue Gefühl, dass ich schon längst bei Bella hätte sein sollen. Alice würde es mir nie verzeihen, wenn ich Bella zu spät zur Hochzeit brachte. Immerhin musste sie noch ihr Kleid anziehen und sich zu Recht machen.
Somit drängte ich das eben geführte Gespräch beiseite und machte mich auf den Weg zu Bella, meinen Pflichten als Brautjungfer nachkommend.
Eine halbe Stunde später erreichte ich Bellas Haus. Charlies Dienstwagen stand in der Einfahrt, dahinter parkte der neue Mercedes Guardian. Bellas Mercedes Guardian.
Schwarz. Getönte Scheiben. Raketensicheres Glas. 2000 Kilo-Panzerung.
Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, als ich an dieser Limousine vorbeiging und mich daran erinnerte, wie Edward ihn Bella geschenkt hatte.
Emmett hatte sich über ihr unübersehbares Entsetzen köstlich amüsiert und hatte es nicht lassen können, ein paar Witze auf Kosten Bellas vom Besten zu geben. Als ich in ihr Gesicht geblickt hatte, konnte ich nicht genau sagen, wen von beiden sie zuerst umbringen wollte.
Emmett für sein nicht vorhandenes Taktgefühl… oder Edward… dass er es überhaupt in Erwägung zog, dass sie mit diesem Auto fahren würde.
Vor allem, da sie ihn immer noch heimlich verdächtigte, Schuld am stillen Ableben ihres geliebten Transporters zu sein. Viel zu lange hatte er sie darum gebeten, ihr ein neues Auto kaufen zu dürfen. Und nach einiger Zeit hatte sie letzten Endes klein beigegeben, unter dem Versprechen, dass dies erst geschah, wenn sich ihr Transporter keinen Zentimeter mehr vorwärts bewegte.
Wie passend also, dass eben dieser Transporter nur ein paar Wochen später dann wirklich seinen Geist aufgegeben hatte. Jetzt diente er nur noch als Dekoration in der Garage.
Mit einem leicht amüsierten Lächeln auf den Lippen erinnerte ich mich an Bellas Gesicht. Ihren Mund, der sich zu einer schmalen Linie verzogen hatte. Das bedachte Ein- und wieder Ausatmen, um so der Hyperventilation entgegenzuwirken.
Sie war kurz davor gewesen auszuflippen.
Erst als Edward ihr versicherte, dass es nur der „Vorher-Wagen“ war, wie er es nannte, und sie nach den Flitterwochen definitiv den „Nachher-Wagen“ bekam, beruhigte sie sich etwas und ergab sich schlussendlich ihrem Schicksal. Sie konnte nur hoffen, dass der „Nachher-Wagen“ weniger protzig war. Und ich konnte nur hoffen, dass sich Emmett nicht irgendwann an meinem Volvo vergreifen würde.
Kaum dass ich an der Haustür geklopft hatte, öffnete sie sich auch prompt und eine übermüdet aussehende Bella begrüßte mich.
„Guten Morgen.“ Obwohl sie mich freundlich anlächelte, konnte ich dennoch ihr aufgeregt schlagendes Herz in ihrer Stimme hören. Die Gedanken an das bevorstehende Ereignis heute ließen sie anscheinend keine einzige Sekunde lang in Ruhe.
„Morgen“, erwiderte ich und trat an Bella vorbei ins Haus. Eine kurze Umarmung folgte und nachdem ich mich wieder von ihr gelöst hatte, musterte ich leicht besorgt ihr Gesicht. „Bist du die ganze Nacht auf gewesen?“, wies ich auf ihre Augenringe hin.
„Fast“, erwiderte sie nur und seufzte.
„Du weißt, dass mich Alice umbringen wird, wenn sie dich so sieht?“
Ihr Gesicht verzog sich bei der Vorstellung, was Alice heute alles mit ihr machen würde, zu einer missbilligenden Mine. Es war kein Geheimnis, dass Bella schon das Grausen bekam, wenn man die Worte „Tüllkleider“ und „Blumenbuketts“ in einem Satz verwendete. Die Vorstellung, sie müsste all das heute in Massen über sich ergehen lassen, hatte sie vermutlich die ganze Nacht wach gehalten.
Aber so war es nun einmal, wenn man einer Alice Cullen freie Hand beim Organisieren der eigenen Hochzeit überließ. Ich war mir sicher, dass Bellas sehnlichster Wunsch momentan einfach der war, Edward so schnell wie möglich zu heiraten und das alles hinter sich zu lassen. Ich hoffte nur, sie würde dem Pfarrer nachher nicht ins Wort fallen.
Nachdenklich folgte ich Bella in die Küche, in der Charlie gerade sein Frühstück genoss. Ich begrüßte ihn freundlich und seine Mine erhellte sich leicht, als er mich sah.
Auch wenn er die Cullens mochte und viel von Carlisle und Esme hielt… so war in der Vergangenheit doch so einiges passiert, was sie in ein etwas anderes Licht gerückt hatten. Zumindest für ihn. Umso erleichterter schien er offensichtlich zu sein, dass Bella auch normale Freunde hatte. Obwohl ich mir sicher war, dass er nicht einmal annähernd eine Ahnung davon hatte, inwieweit das Wort normal weder auf die Cullens noch auf mich zutraf.
„Also“, riss Bella mich aus meinen Gedanken und sie stellte sich Charlie direkt gegenüber. „Um drei holst du Mr. Weber ab.“
Ein Murmeln entfloh Charlies Mund und ich konnte geradeso die Worte „einzige Aufgabe vergessen“ hören. Dezent hielt ich mich im Hintergrund und beobachtete das Schauspiel der beiden.
Wie Bella vor ihrem Vater stand und den Verlauf des gesamten Tages noch einmal rezitierte, in dem Versuch sich all das nicht zu bildlich vorzustellen. Charlies Blicke, die immer wieder sehnsüchtig zu seinen Angelutensilien unter der Treppe huschten. Schließlich beendete Bella ihr fast schon rezitiertes Mantra, indem sie sich von ihrem Vater verabschiedete und ihm einen kleinen Kuss auf den Kopf gab. Ein Grummeln seitens Charlies war zu vernehmen und ein kleiner Stich des Neids durchzog mein Herz.
Doch ich schüttelte den Gedanken daran sofort wieder ab.
Ich verabschiedete mich von Charlie und folgte Bella zur Tür, wo sie sich bereits ihre Schuhe anzog. Mit einem Schlenker ihrer rechten Hand griff sie nach den Autoschlüsseln und hatte bereits die Tür geöffnet, als sie plötzlich noch einmal innehielt.
Einen Moment lang stand sie in der geöffneten Tür, dann wandte sie sich noch einmal um und ihr Blick glitt durch das gesamte Haus.
Ich wusste, welche Gedanken sie gerade erfasst hatten. Dies war womöglich der letzte Augenblick, in dem sie als Mensch hier war.
Falls sie überhaupt je hier wiederkommen würde. Denn nach der Verwandlung würde sie sich eine ganze Weile von Charlie fern halten müssen. Und je mehr Zeit verging… je weniger sie sich veränderte… desto weniger würde sie zurückkommen können.
„Hast du alles?“ Ihre braunen Augen blickten mich leicht überrascht an. Sie wusste genau, was ich mit der Frage gemeint hatte und ein bitterer Geschmack lag in der Luft.
Kurz atmete sie tief durch, dann antwortete sie: „Ja.“
„Auch das Pfefferspray?“, rief Charlie aus der Küche und mit einem Mal war die erdrückende Melancholie, die sich im Raum ausgebreitet hatte, verschwunden.
„Dad!“, erwiderte Bella empört, doch ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
„Nur für den Fall“, fügte Charlie an.
Verwundert blickte ich Bella an, doch sie schüttelte nur mit dem Kopf. „Wir sehen uns nachher“, rief sie noch an Charlie gewandt, bevor sie sich letzten Endes komplett abwendete und das Haus verließ.
Auf dem Weg zum Auto nahm ich ihr die Schlüssel ab und dirigierte sie zum Beifahrerplatz. „Anweisung von Edward“, erwiderte ich auf ihren verwirrten Gesichtsausdruck, „Er will nicht, dass du mit deiner Nervosität fährst.“ Augenrollend seufzte sie leise, kam meiner Anweisung allerdings nach und stieg auf der anderen Seite ein.
„Also. Was genau hat es nun mit dem Pfefferspray auf sich?“
Erneut legte sich ein Lächeln auf ihre Lippen und sie antwortete: „Charlie hatte mir einmal ein Pfefferspray besorgt. Ursprünglich sollte es mich schützen, als Victoria das erste Mal nach Forks kam. Emmett hatte dir davon erzählt, oder?“
Ich nickte. „Grob.“
„Natürlich wusste Charlie nichts von Victoria oder James. Wie jeder andere ging er davon aus, dass es sich um einen Tierangriff handelte. Nichtsdestotrotz dachte er wohl, dass ich mit einem Pfefferspray sicherer wäre. Als dann jedoch die Sache mit James eskalierte und wir ihm die Version erzählen mussten, in der ich vor Edward weggerannt war und mir sämtliche Knochen bei einem Sturz von der Treppe gebrochen hatte, änderte er wohl seine Sichtweise und hält Edward jetzt für die größere Bedrohung. Deswegen die Andeutung mit dem Pfefferspray.“
Ich musste unwillkürlich bei der Vorstellung lachen, Bella würde bei der Hochzeit auf Edward mit einem Pfefferspray losgehen. Da könnte sie ihn auch gleich mit Knoblauch bewerfen.
Ein Glück wusste er nichts davon, dass Edward ein Vampir war. Sonst würde Charlie sie vermutlich nur noch mit Holzpflöcken und Kreuzen aus dem Haus lassen.
„Ich hatte eigentlich gehofft, dass sich die Wogen um Edward geglättet hätten“, riss sie mich aus meinen Gedanken, „Aber offensichtlich versucht er mich immer noch vor ihm zu schützen. Und dabei sind sie in weniger als 10 Stunden miteinander verschwägert.“
„Er ist dein Vater“, erwiderte ich auf ihre Bedenken, „Er wird dich immer beschützen wollen. Vor allem und jedem. Das machen Väter nun einmal aus. Dafür sind sie da.“
Gedankenverloren lehnte Bella ihre Stirn gegen das kühle Glas der Fensterscheibe und starrte die vorbeirauschenden Bäume an.
„Und ich glaube nicht, dass es irgendwelche Wogen zu glätten gibt. Klar, der Gedanke, dass Edward schuld daran ist, dass du dir sämtliche Knochen gebrochen hattest und schließlich ins Krankenhaus musstest, macht ihn vielleicht in Charlies Augen nicht zu dem perfektesten Schwiegersohn. Aber ich bin mir dennoch sicher, dass er deine Entscheidung akzeptiert und dich nie zu etwas anderes zwingen würde.“
Während Bella offensichtlich meine Worte verinnerlichte, musste ich unweigerlich an meinen Vater denken. Wie er mit einem einzigen Handgriff dafür sorgte, dass ich mich geborgen fühlte. Wie er meine beiden Hände immer mit einer seiner umschlossen hatte, als ich noch klein war. Sie gehalten und mir mit seiner Wärme und seinem festen Griff verdeutlicht hatte, dass er immer da sein würde.
Was er wohl sagen würde, wenn er mich jetzt sah? Was er an Charlies statt wohl tun würde? Zu gern würde ich ihm Emmett vorstellen. Zu gerne würde ich in sein Gesicht sehen, wenn er sah, was aus seiner kleinen Tochter geworden war. Wie sehr ich gekämpft hatte.
Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Ich überließ Bella ihren Gedanken, wohlwissend, dass sie nichts, was ich hätte sagen können, von der bevorstehenden Hochzeit hätte ablenken können. So ergriff Bella erst wieder das Wort, als wir bereits die Auffahrt der Cullens entlang fuhren.
„Alice scheint die Dekoration von der Abschlussparty wieder hervorgekramt zu haben.“
Während sie im Seitenspiegel die weißen Blüten in der Auffahrt betrachtete, parkte ich den Mercedes in der Garage.
Ein erleichterter Seufzer entfloh Bellas Lippen. „Ich muss sagen, ich bin nicht wirklich traurig darüber, dass dies wohl die letzte Fahrt in diesem Wagen war.“
Unwillkürlich musste ich lachen und auch Bella konnte ein Schmunzeln nicht verhindern. Doch bevor sie die Garage verlassen konnte, hielt ich sie zurück. Verwundert starrte sie mich an, als ich ihr ein dunkles Tuch hinhielt.
„Das ist nicht wirklich dein ernst, oder?“, fragte sie mich, kaum dass ihr die Bedeutung des Tuchs klar geworden war.
„Anweisung von Alice“, lächelte ich nur und stellte mich hinter sie.
„Ich bin die Braut und darf nicht die Dekoration sehen?“ Trotz ihres kleinen Protests ließ sie sich widerstandlos die Augen verbinden.
„Doch darfst du. Nur eben jetzt noch nicht. Es soll eine Überraschung werden.“
„Nicht dass ich dann vor Überraschung die Treppe herunter falle“, erwiderte sie mürrisch.
Sarkasmus seitens Bellas. Und das am heutigen Tag. Das gefiel mir. Wenn wir ihr jetzt noch ihre Panik vor Rüschen und Tüll nehmen konnten, würde dieser Tag selbst für sie entspannt verlaufen.
Vorsichtig geleitete ich sie aus der Garage und hinein ins bereits prachtvoll geschmückte Haus. Alice war mittlerweile komplett mit der Dekoration fertig und alles war erfüllt mit einem strahlenden weiß – weiße Blüten, weiße Bänder, weiße Stühle.
„Himmlisch“, murmelte Bella. Verwundert blickte ich sie an und sah, wie sie ihre Nase etwas hoch streckte und tief einatmete. „Es riecht traumhaft.“
„Ja“, erwiderte ich und geleitete sie am Wohnzimmer vorbei, „Alice hat sich wieder einmal selbst übertroffen.“
„Was ist das alles? Orangen… Flieder…“
„Freesien und Rosen“, beendete Alice ihren Satz und trat uns breit lächelnd entgegen. „Es freut mich, dass es dir gefällt. Warte erst, bis dich die Dekoration umhaut.“
Unwillkürlich musste ich an Bellas Erwiderung in der Garage denken und mir ein Lachen verkneifend, übergab ich Bella an Alice weiter. Kurz zuckte sie zusammen, als meine warme Hand auf ihrem Arm durch Alice kalte ersetzt wurde.
„Ach Amylin“, wandte sich Alice jetzt direkt an mich und kam einen Schritt auf mich zu, um flüsternd fortzufahren, „Vielleicht solltest du Emmett kurz ‚Hallo‘ sagen. Seit du weg bist, tigert er die ganze Zeit umher und grummelt immer nur irgendwas zur Antwort. So komisch hat er sich noch nie...“
Sie stockte plötzlich und ein leicht verwunderter Ausdruck trat auf ihr Gesicht. Dann kam sie mir noch ein Stückchen näher und atmete kurz ein. Verwirrt über diese Aktion, trat ich automatisch einen Schritt zurück.
„Du hast Emmetts Anweisung ignoriert, nicht wahr?“ Ihren Gesichtsausdruck konnte ich nicht ganz einordnen. Es war eine Mischung aus Schockierung, Besorgnis und… Angst?
„Ich war zu sehr mit den Visionen für die Dekoration beschäftigt, deswegen habe ich nicht darauf geachtet. Sonst hätte ich bemerkt, dass ich ihre Zukunft nicht mehr hätte sehen können“, sprach sie mehr zu sich selbst als zu mir.
„Wovon sprichst du?“
„Vielleicht ist es besser, wenn du erst duschen gehst und dann Emmett beruhigst“, wandte sie sich jetzt wieder direkt an mich.
„Warum?“, war meine einzige Erwiderung. Irgendwie verstand ich die gesamte Situation nicht ganz. Auch Bella schien verwundert zu sein, denn trotz ihrer verbundenen Augen konnte ich ein großes Fragezeichen auf ihrer Stirn erkennen.
„Amylin, nimm das bitte nicht persönlich, aber du riechst…“, sie machte eine kurze Pause, um wieder einen Schritt näher zu kommen.
„Nach was? Orangen… Flieder… Freesien… Rosen?“, rezitierte ich scherzend ihre Zutatenliste.
Sie schüttelte mit dem Kopf und flüsterte: „Nein. Du stinkst nach nassem Hund.“
Im ersten Augenblick war ich perplex. Ich roch nach nassem Hund? Was für ein absurder Vergleich war das denn? Nun gut, ich war anderthalb Stunden joggen gewesen und war noch nicht dazu gekommen, mich zu duschen. Aber ich konnte mich nicht daran erinnern, dass man nach nassem Hund roch, wenn man Sport getrieben hatte.
„Ähm… ok…“, erwiderte ich immer noch etwas perplex, „Gut. Vielleicht bin ich wirklich etwas verschwitzt. Wenn es Emmett so sehr stören sollte...“
Ein freudiges Lächeln legte sich auf ihre Lippen, was so gar nicht zu der momentanen Situation passte. „Genau. Verschwitzt. Und wir wollen schließlich nicht, dass Emmett dich sieht, bevor du nicht zu der umwerfenden Brautjungfer geworden bist. Dein Kleid habe ich in Emmetts Zimmer gehangen und ich habe ihm verboten, das Zimmer zu betreten, bis du nicht fertig bist“, sprudelte es aus ihr hervor und während sie Bella weiter Richtung Treppe geleitete, schob sie mich gleichzeitig am Rücken ebenfalls vorwärts.
Doch da hatte sie die Rechnung ohne Emmett gemacht. Denn keine Sekunde später kam er uns auch schon breit grinsend entgegen. „Ich hab gehört, wie ihr gekommen seid.“
Noch bevor Alice protestieren konnte, hatte er mich bereits in seine Arme gezogen und mir einen Kuss auf meine Stirn gehaucht.
Ein Kribbeln breitete sich in meinem Bauch aus und allein mit dieser kleinen Berührung hatte er jegliche Gedanken an meinen eventuell unangenehmen Geruch weggefegt.
Jedoch nur solange bis ein tiefes Knurren aus seiner Kehle empor kroch und er mich mit einem leicht wütenden Ausdruck im Gesicht von sich schob.
„Du bist im Wald gewesen.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.
Überrascht über diesen plötzlichen Stimmungswechsel sah ich ihn an. „Es… es tut mir leid“, kam es mir über die Lippen, nicht genau wissend, was ich eigentlich tun oder sagen sollte.
Diese ganze Situation verwirrte mich zusehends. Erst Alice, die mir riet mich von Emmett fern zu halten und schnell duschen zu gehen, nur weil ich etwas verschwitzt war. Und jetzt Emmett, der mir nichts dir nichts erraten hatte, dass ich seine Anweisung ignoriert hatte. Aber ich hätte nicht gedacht, dass eine kleine Missachtung seiner Bitte ihn so wütend werden ließ.
Ein erneutes Knurren brach zwischen seinen Lippen hervor und in seinen Augen lag etwas Bedrohliches. Überrascht und auch etwas von Angst ergriffen, wollte ich unbewusst einen Schritt zurück treten, doch Emmett hielt mich weiterhin fest an den Armen gepackt.
„Ich habe dir gesagt, du sollst dich vom Wald fern halten.“ Ein Schauer lief durch meinen Körper, der dieses Mal jedoch alles andere als angenehm war. Hilfesuchend sah ich mich nach Alice um. Ich wusste ja, dass ich ihm eigentlich versprochen hatte, in der Nähe der Landstraße zu bleiben und den Wald zu meiden… Aber es war ja nichts passiert. Warum um alles in der Welt war er plötzlich so wütend? Wäre ich von einem Tier angefallen worden, hätte ich es ja vielleicht noch verstanden, aber…
„Emmett“, mischte sich jetzt auch Alice mit ein, in dem offensichtlichen Bestreben den heutigen Tag so perfekt wie möglich zu machen und jedwede Störung schnellstmöglich aus dem Weg zu räumen, „Beruhige dich wieder. Amylin geht es gut, sie war nur ein bisschen im Wald joggen und es ist nichts passiert, was dein Verhalten…“
„Wen hast du getroffen?“, ignorierte er Alices Einwendungen und zog mich wieder zu sich heran. Ruckartig wandte ich meinen Blick von ihr ab und sah wieder in seine braunen Augen, die trotz ihrer warmen Farbe immer noch etwas Bedrohliches hatten.
Woher wusste er davon? Hatte Alice was gesehen und es ihm verraten? Aber hatte sie vorhin nicht gesagt, dass sie nicht darauf geachtet hätte?
„Du stinkst so sehr nach nassem Köter, als hättet ihr euch auf dem Waldboden gesuhlt.“
„Emmett…!“, protestierte Alice, doch erneut wurde sie überhört.
„Sag schon! War es ihr Möchtegernanführer gewesen? Sam?“ Seine Augen ruhten unverwandt auf mir und strahlten so etwas wie leichte Verzweiflung aus. „Oder war es vielleicht sogar Paul?“ Er spuckte den Namen regelrecht aus.
„Nein…“, wollte ich erklären, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen.
„Hat er dir gesagt, du sollst dich von uns fern halten, weil wir nicht gut für dich sind?“
„Nein, ich…“
„Hat er dich vielleicht sogar umgarnt? Hat er dir gesagt, wir seien alle Monster und bei ihnen würde es dir besser ergehen?“
„Nein, ich… Was?“
Sein Gesicht war mir so nahe. Ich konnte mich nicht rühren. Zu sehr nahm mich Emmetts Wutausbruch mit. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, die Welt stünde still. Dass selbst der Wind den Atem angehalten hatte. Leicht verzweifelt sah ich ihm in die Augen und er erwiderte den Blick genauso intensiv.
Was war passiert? Warum regte ihn diese kleine Missachtung seiner Bitte so auf. Warum ließ ihn das so wütend, ja fast schon panisch werden?
„Emmett McCarty Cullen, das reicht jetzt!“ Alices Stimme riss mich einmal mehr aus meinen Gedanken und aus den Augenwinkeln sah ich, wie sie Bella kurz losließ und sich mit in den Seiten gestützten Händen neben uns aufbaute. Doch ich konnte meinen Blick einfach nicht von Emmett lösen. „Ich lass nicht zu, dass du diesen Tag wegen einer kleinen Lappalie ruinierst und aus ein bisschen Eifersucht eine Shakespeare-Tragödie veranstaltest.“ Sie zog mich sanft, aber bestimmend aus Emmetts Griff. „Du übertreibst vollkommen, was ihren Geruch angeht. Sie geht jetzt duschen und in der Zeit wirst du wieder runter kommen und dich selbst fertig machen. Wenn dir langweilig ist, dann mach dich zur Abwechslung mal nützlich. Und solltest du es wagen, heute auch nur noch ein einziges Mal aus der Reihe zu tanzen, dann sei dir gewiss, dass ein pinkfarbener Jeep die Geringste deiner Sorgen sein wird!“
Wie aus weiter Ferne nahm ich war, wie Alice meinen Arm ergriff und mich zusammen mit Bella die Treppe herauf führte. Wie sie mich in Emmetts Zimmer brachte und mit den Worten „Du solltest als erstes einmal duschen gehen“ wieder alleine ließ. Wie meine Füße sich von selbst in Bewegung setzten und ich mich letzten Endes im Badezimmer wiederfand. Die ganze Zeit über hatte ich Emmetts verzweifelten Gesichtsausdruck vor mir. Seine Augen, die zu mir hinauf starrten, während ich mich immer weiter von ihm entfernt hatte.
Ohne groß darüber nachzudenken, zog ich mir meine Kleidung aus und stieg in die Dusche. Eine Gänsehaut erfasste mich, als das Wasser kalt auf meinen Körper traf und sich erst nach wenigen Sekunden erwärmte.
Ich hatte das Gefühl, mich in einem Delirium zu befinden. Als wäre nicht ich es, die das Duschbad ergriff und meinen Körper einseifte. Als hätte mich irgendetwas eingesperrt. Als hätte mein Gefängnis sich wieder verfestigt.
Ich beobachtete den Schaum, wie er erst an meinem Körper klebte und dann erbarmungslos vom Wasser vertrieben wurde. Wie er über meine Beine lief, über meine Füße, um schließlich im Abfluss zu verschwinden. Warum konnten sich nicht alle Probleme so einfach wegwischen lassen? Man spülte sie einfach weg. Wie ein bisschen Schaum.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit schon verstrichen war, in der ich einfach nur den Boden der Dusche angestarrt hatte, doch als meine Haut schon ganz schrumpelig wurde, drehte ich das Wasser wieder ab. Ich kuschelte mich in eines der warmen, flauschigen Handtücher und trat aus der Dusche heraus.
Der Spiegel war durch den Dampf des heißen Wassers komplett beschlagen und so wischte ich mit meiner linken Hand darüber. Meine nassen Haare klebten an meiner Haut und feine Wassertropfen waren an meiner Stirn haften geblieben. Ich starrte mich regelrecht selbst an. Mein Blick hing an meinen blauen Augen und einen winzigen Moment befürchtete ich in ihnen einen roten Schimmer zu sehen.
Seth hatte sich nichts anmerken lassen. Die ganze Zeit über, während wir uns unterhalten hatten. Er hatte einen freundlichen Eindruck gemacht, redete über die Cullens fast so, als wären sie Freunde. Würde er sonst zur Hochzeit kommen, wenn es anders wäre?
Doch warum war dann Emmett so wütend, dass ich einen von ihnen getroffen hatte? Wieso glaubte er, sie würden versuchen, mich von ihnen fern zu halten oder die Cullens gar als Monster bezeichnen?
Lag es vielleicht daran, dass sie ihr Geheimnis kannten? Warum sonst würden sie sie so sehen, wenn sie nicht über ihre wahre Identität Bescheid wussten?
Doch wer hatte es ihnen verraten? Es war ein gut behütetes Geheimnis. Jeder, der es verriet, wurde bestraft. Das hatte ich selbst erlebt.
Seth hatte auf mich nicht den Eindruck gemacht, als würde er sie als Monster ansehen, im Gegenteil. Doch was war mit den anderen? Sam… Paul… Jake...
Und woher wussten sie von mir? Ich war keinem von ihnen jemals begegnet. Dennoch wussten sie, dass ich viel Zeit hier verbrachte.
Wer genau waren sie? Und warum war Emmett so aufgebracht gewesen, während Alice es schnellstmöglich herunter spielen wollte?
Ein lautes Klopfen riss mich aus meinen Gedanken und in einer Schreckenssekunde blieb mein Herz stehen.
„Amylin?“ Emmetts besorgte Stimme drang durch die Tür und ich musste unwillkürlich erleichtert aufatmen. So langsam schien ich paranoid zu werden.
„Ja?“, erwiderte ich und versuchte meiner Stimme etwas mehr Festigkeit zu geben.
„Ich… also…“, begann er und ich konnte ein dumpfes Pochen von der Tür hören. Offensichtlich hatte Emmett sich rücklings dagegen gelehnt, „Also, ich wollte mich entschuldigen. Für das, was vorhin passiert ist.“ Eine kleine Pause entstand in der er anscheinend nach den richtigen Worten suchte. „Ich weiß auch nicht genau, was da mit mir passiert ist. Hab vermutlich einfach die Nerven verloren. In letzter Zeit war ich immer in deiner Nähe. Konnte ein Auge auf dich werfen. Du warst nie weit genug weg, sodass ich mir hätte ernsthafte Sorgen machen müssen. Doch heute… als du joggen warst… Es hat mich einfach nervös gemacht, dich nicht in meiner Nähe zu wissen. Am liebsten wäre ich dir sofort hinterher gelaufen. Aber ich wusste, dass das nicht ging. Nicht nur, weil Alice mich zur Hausarbeit verdonnert hatte,“, unwillkürlich musste ich lächeln, „sondern auch weil… nun ja… weil ich dir gewisse Freiheiten lassen will. Ich will dich nicht dazu zwingen, in meiner Nähe zu bleiben. Ich will, dass du es aus freien Stücken heraus tust. Und dass, wenn du nun einmal gerne alleine joggen gehen willst, du auch alleine joggen gehen kannst.“
Erleichtert und wieder glücklicher zumute, ging ich auf die Tür zu und lehnte meine Stirn dagegen. Vorsichtig strich ich über das kalte Holz und hoffte so, Emmett wieder etwas näher zu sein. „Ich will mich auch bei dir entschuldigen. Dass ich deine Bitte ignoriert habe und trotzdem im Wald gewesen bin.“
„Schon in Ordnung“, hörte ich Emmetts Stimme näher als zuvor und war mir sicher, dass er sich umgedreht hatte und nun ebenfalls seine Stirn an der Tür anlehnte, „Ich hätte mir denken können, dass du so ungezogen bist und nicht auf mich hörst.“ Er lachte und ich konnte mir ebenfalls ein Schmunzeln nicht verkneifen.
„Warum warst du so wütend deswegen? Was ist so schlimm daran, dass ich Seth kennengelernt habe? Ist er nicht mit Edward befreundet?“
„Nun, solange es nur Seth gewesen ist…“, erwiderte er leise.
„Aber was ist, wenn es dieser Sam oder Paul gewesen wäre?“, unterbrach ich ihn wieder, „Wer sind sie? Und woher wissen sie von… euch?“ Beinahe hätte ich uns gesagt.
„Ich denke, es ist das Beste, wenn wir heute Abend darüber sprechen. Wenn die Hochzeit vorbei ist, Bella und Edward auf den Weg in ihre Flitterwochen sind und der Rest auf dem Weg nach Hause. Alice wird mich umbringen, wenn sie erfährt, dass ich das Zimmer betreten habe, nachdem sie es mir verboten hatte. Obwohl sie es wahrscheinlich eh schon gesehen hat. Da will ich ihre Gutmütigkeit nicht überstrapazieren, indem ich dich noch länger davon abhalte, dich für die Hochzeit fertig zu machen.“ Ich konnte den Schalk aus Emmetts Stimme hören. „Ich werde mich dann besser wohl auch so langsam fertig machen. Und du solltest dich ebenfalls hübsch machen. Obwohl du dich dafür nicht groß anstrengen brauchst.“
Meine Wangen brannten leicht und ich spürte das angenehme Kribbeln in meinem Bauch.
„Bis dann“, flüsterte ich. Und keine Sekunde später war ich mir sicher, dass er bereits gegangen war.
Alices Planung war einfach perfekt. Ehe ich mich versah, stand ich bereits oben am Treppenabsatz und wartete auf meinen Einsatz. Die letzten Stunden und Vorbereitungen waren wie im Fluge vergangen.
Ich erinnerte mich, wie ich dabei half, Bella für die Zeremonie fertig zu machen. Das Make-Up und das Flechten der Haare überließ ich dabei nur zu gerne Alice – sie konnte das viel schneller und auch filigraner. Meine Aufgabe basierte somit lediglich auf das Unterhalten und Ablenken Bellas. So, wie auch in den letzten Tagen.
Kaum da Alice und ich Bella das Kleid angezogen hatten, hatte bereits René den Kopf durch die Tür gesteckt. Zusammen mit Charlie war sie in das Zimmer getreten und hatte ihre Tochter mit leichten Tränen in den Augen begutachtet. René war noch aufgeregter gewesen als in den Tagen davor schon und Charlie hatte alles versucht, um sich seine aufflammenden Gefühle nicht anmerken zu lassen. Die traditionellen Geschenke waren ausgetauscht worden – von ihren Eltern hatte sie die zwei alten silbernen Kämme ihrer Großmutter bekommen, die zusätzlich mit blauen Saphiren besteckt worden waren und von Alice das geborgte Strumpfband. Ich hatte mich im Hintergrund gehalten und mit einem Lächeln das Szenario verfolgt.
„Von dir bekomme ich hoffentlich nicht auch noch etwas?“, hatte Bella mir zugeflüstert als wir gemeinsam den Raum verließen und René zu den anderen Gästen im unteren Bereich des Hauses verschwunden war.
Ein aufmunterndes Lächeln hatte sich auf meine Lippen gelegt. „Nein“, hatte ich zurückgeflüstert, konnte aber nicht umhin, sie ein wenig zu ärgern. „Von mir bekommst du lediglich die Schulter, an der du dich festhalten kannst, wenn du die Treppe herunter stolperst.“
Ein leicht verzweifeltes Seufzen war Bellas Lippen entflohen. „Emmett hat einen wirklich schlechten Einfluss auf dich.“ Doch als ich mich grinsend zu ihr umgedreht hatte, sah ich es auch um ihre Mundwinkel leicht verdächtig zucken.
„Es ist soweit.“ Mit diesen Worten riss mich Alice aus meinen Erinnerungen und holte mich in die Gegenwart zurück.
Eine kaum merkliche Anspannung ergriff Bella am ganzen Körper. Ich konnte nahezu hören, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Beruhigend strich ich ihr über den Arm und lächelte ihr aufmunternd zu.
„Ich frage mich, warum wir das ganze hier überhaupt machen. Neben Alice und dir werde ich doch eh vollkommen lächerlich und unscheinbar aussehen“, sprudelte es leise aus ihr hervor. In ihren Augen sah ich leichte Verzweiflung.
„Bella, glaube mir. Heute stehst allein du im Mittelpunkt und alle Augen werden nur auf dich gerichtet sein“, versuchte ich sie aufzumuntern.
„Und das soll mich jetzt beruhigen?“
Ein amüsiertes Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus und ich war froh, als in diesem Moment Charlie an Bellas Seite trat und ihre Hand nahm. Dabei sah er mindestens genau so aufgeregt aus wie seine Tochter. Na wenn das mal gut ging.
Dankend nahm ich den Brautjungfernstrauß einer freudestrahlenden Alice entgegen und gemeinsam stellten wir uns an den Rand des Treppenabsatzes. Charlie und Bella dicht hinter uns.
Ich wusste nicht mehr, wie oft wir das ganze schon geprobt hatten, bis Alice mit dem Ergebnis zufrieden gewesen war. Es waren ein paar sehr viele Nachmittage gewesen, die vor allem Charlie so einige Nerven gekostet hatten.
Alice und ich würden zuerst die Stufen herab schreiten. Fünf Sekunden später hätten dann die Braut und ihr Vater ihren Auftritt. Eigentlich ganz einfach. Doch ich war mir sicher, dass jetzt, unter all dieser Aufregung und Anspannung, die Übungsstunden wieder vergessen waren.
Ein letztes Mal lächelte Alice uns allen aufmunternd zu. Als unsere beiden Blicke sich trafen, verstand ich plötzlich Bellas leichte Verzweiflung. Ob es an dem einfallendem Licht, dem Kleid, dem lieblichen Duft im Raum, oder einfach an der Situation lag, konnte ich gar nicht so genau sagen. Ich erinnerte mich plötzlich daran, wie mein früheres Spiegelbild ausgesehen hatte.
Seidig glänzende Haare, bei denen jede Strähne perfekt in Alice geflochtenem Zopf lag. Ein fein geschwungener Mund, der keiner zusätzlichen Farbe bedurfte, so rot und vollkommen sah er in natura aus. Eine widerstandsfähige und dennoch zarte Haut, die mit leichtem Rouge von Alice noch verschönert wurde. Warme, goldene Augen, die einen gefangen nahmen und… Ich stockte.
Mein Spiegelbild hatte immer rote Augen gehabt. Rot. Nicht golden. Nicht Karamell. Sondern Rot.
Unweigerlich rissen mich diese Augen in die Gegenwart zurück. Sie erinnerten mich an das Schlimmste in meinem Leben. Sie verfolgten mich nachts in meinen Träumen und ließen mich nie vergessen, was ich eigentlich war. Sie zeigten mir, dass nichts an meinem damaligen Bild wunderschön gewesen war. Und dass ich heute, dank meiner Gabe, wieder ein normaler Mensch war.
Gerade noch rechtzeitig schüttelte ich die trübenden Gedanken weg, denn genau in diesem Moment begann jemand Wagners Hochzeitsmarsch in einer veränderten Version auf dem Flügel zu spielen. Gleichzeitig setzten Alice und ich uns in Bewegung und schritten im Takt die Treppe herunter. Ich erinnerte mich an den heutigen Tag, wie wichtig er für Bella und die ganze Familie war und automatisch legte sich ein glückliches Lächeln auf meine Lippen.
Ich spürte die Blicke der Gäste auf mir ruhen, doch im Gegensatz zu Bella machte mir dies nichts aus. Vielleicht lag es daran, dass ich wusste, dass dies nicht mein Tag war. Dass die Blicke in ein paar Sekunden verschwinden und einer ganz anderen Person gelten würden.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen gehabt, nicht nach Emmetts Blick zu suchen. Ich befürchtete, er würde mich aus dem Konzept bringen, so wie er es immer tat. Doch vielleicht ließ mich die Erinnerung an das Rot nach so etwas wie Geborgenheit und Schutz suchen.
Und genau in dem Augenblick, als Alice und ich das Ende der Treppe erreichten und sich nun der Gang zum Altar vor uns erstreckte, trafen sich unsere Blicke.
Sein Karamell strahlte mich so intensiv an, dass mir das Lächeln noch eine Spur leichter fiel. Vereinzelt drangen geflüsterte Bewunderungen an mein Ohr, als jeder im Raum seine Aufmerksamkeit vollkommen Bella zuteilwerden ließ. Emmett hingegen wandte seine Augen jedoch nicht von mir ab und mit jedem weiteren Schritt wurde ich mir des heutigen Tages und meiner Situation mehr und mehr wieder bewusst. Ich erinnerte mich an die glückliche Zeit, die ich mit meiner neuen Familie verbrachte hatte. An die unzähligen Stunden mit Bella und Alice. An die Zweisamkeit mit Emmett.
Dann löste er den Blick von mir und wandte sich ebenfalls der Braut zu. Ich hatte keine Ahnung, wie Bella sich hinter mir schlug und am liebsten hätte ich mich zu ihr umgedreht und mich vergewissert. Doch anhand der staunenden und bewundernden Blicke der Gäste, war ich mir sicher, dass auch sie die Treppe erfolgreich gemeistert hatte.
Gemeinsam mit Alice schritt ich die letzten Meter den Gang entlang und nahm schließlich meinen Platz neben dem Traualtar ein. Charlie übergab seine Tochter an Edward und ohne den Blick voneinander zu lösen, wandten sie sich zu dem mit Seidenbändern verzierten Bogen um und Mr. Weber erhob das Wort.
Das Eheversprechen war traditionell und einfach. Es war das gleiche, zu dem sich unzählige Paare vorher schon hatten trauen lassen. Mein Blick ruhte unverwandt auf Bella, die wiederum ihrerseits ihre Augen nicht von Edward nehmen konnte. Mein Lächeln wurde eine Spur größer, als mir klar wurde, dass sie vermutlich nur die Hälfte von der Rede mitbekam. Sie verlor sich regelrecht in Edwards Augen. Ob sie wohl die gleiche Wirkung auf sie hatten wie Emmetts Augen auf mich? So beschützend und geborgen? Lag das an der Farbe oder daran, wie sie einen ansahen?
Bella würde ihre Augenfarbe aufgeben… und nicht nur das.
Ich erinnerte mich, wie Charlie heute Morgen mit ihr umgegangen war. So unbeschwert und ahnungslos. Hätte er sich anders verhalten, wenn er gewusst hätte, was Bella vor hatte? Hätte er Bella dann noch so bereitwillig an Edward übergeben, wie vor ein paar Sekunden?
Sie gab alles auf und niemand außer uns wusste das. Niemand außer uns wusste, dass sie die Flitterwochen nicht „überleben“ würde.
Mein Blick glitt zu Charlie und René hinüber, die gerührt der Zeremonie folgten. Sie hatten beide keine Ahnung, was dieser Tag bedeutete. Dass es nicht einfach nur eine Bindung zweier Liebenden war, die sich bis zum Ende ihrer Zeit die Treue schworen. Dass es nicht einfach nur ein Ehegelübde war. Sondern dass es in Wirklichkeit ein Versprechen Bellas gegenüber Edward war. Genau so, wie es ein Versprechen Edwards gegenüber Bella war, sie in den Flitterwochen zu verwandeln.
Würden sie immer noch genau so gerührt da sitzen, wenn sie wüssten, dass ihre Tochter im Begriff war Abschied zu nehmen? Sie für immer zu verlassen? Um in eine Zukunft zu gehen, die sie selbst nicht einmal so genau kannte?
Ich blickte zurück zu Bella. Sie gab alles auf. Ihre Freunde… ihre Familie… ihr Zuhause… ihre ganze Existenz, um sich in ein Terrain zu begeben, von dem sie nur den Hauch einer Ahnung hatte. Die vage Vorstellung eines Lebens, dessen Schattenseiten sie nur aus Erzählungen kannte. Die Schmerzen, die sie erleiden würde. Der unausweichliche Durst. Die Sucht. Der Verlust der Kontrolle, wenn man sich beidem hingab. Der bittere Geschmack, wenn der Rausch nachließ. Die innerliche Zerrissenheit und Angst.
Sie gab ihr ganzes Leben auf. Für all das. Nur um bei Edward sein zu dürfen. Um nie wieder auch nur einen Tag von ihm getrennt sein zu müssen. Um für immer mit ihm zu leben. All das. Freiwillig.
Denn sie hatte die Wahl, die ich nie gehabt hatte. Sie hatte die Möglichkeit der Entscheidung und sie wählte genau den Weg, der mir aufgezwungen worden war. Sie entschied sich für ein Leben ohne ihre Eltern. Ein Leben, welches mir unweigerlich vor die Füße geworfen worden war. Ohne ein Wort der Widerrede. Ohne eine Möglichkeit der Entscheidung.
Ich hasste Bella nicht dafür, dass sie genau diesen Weg wählte, obwohl sie eine Alternative hatte. Ich machte ihr keine Vorwürfe oder würde sie eines Besseren belehren. Ich bewunderte sie. Für ihre Entscheidung, ihren Mut und ihre Kraft.
Denn ich hätte diese Kraft nie gehabt. Ich hätte diesen Mut nicht. Ich wusste, wie es sich anfühlte. Wenn das Gift den Körper nach und nach zerfraß. Wenn es sich langsam in der Seele einnistete. Keine Möglichkeit des Entkommens oder des Versteckens. Vor allem aber wusste ich, wie es sich anfühlte, wenn man seine Eltern verlor. Dieses Gefühl der Leere. Diese Unvollkommenheit. Das konnte auch keine noch so starke Liebe füllen. Denn ein Teil von einem selbst würde immer leer sein. Wenn einem der Ursprung des eigenen Lebens genommen wurde. Wenn die Erinnerungen daran verblassten. Wenn die Erinnerungen an das Menschsein verblassten. Dann blieb nichts weiter als ein Loch und der krampfhafte Versuch es füllen zu wollen.
Bella wusste, dass dies womöglich ihr letzter Tag mit Charlie und René war. Der letzte Tag für die Ewigkeit. Und dennoch stand sie da und entschied sich für Edward. Wich keine Sekunde zurück. Hatte keinen einzigen Moment Zweifel in ihren Augen.
Ich könnte das nicht… oder?
Mein Blick glitt zielstrebig über die Köpfe der Gäste und blieb schließlich bei Emmett hängen. Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle, ich spürte wie leichte Panik mich ergriff. Mein Gefängnis wankte und für einen kurzen Moment drohte alles einzustürzen, was ich all die Jahre mühselig aufgebaut hatte.
Ich würde alles dafür geben, wieder mit meinen Eltern zusammen sein zu können. Selbst nur für eine einzelne Sekunde. Um ihnen in die Augen zu blicken. Nur ein einziges Mal noch ihre Stimme zu hören. Ihnen zu sagen, wie sehr ich sie liebte und wie sehr mir alles leid tat.
Emmett musste meinen Blick gespürt haben, denn er wandte sich von dem Szenario ab und blickte mich durchdringend an. Ein Grinsen legte sich auf seine Lippen, gefolgt von einem Augenzwinkern.
Ich würde einfach alles dafür geben. Einfach alles… oder?
„Ja, ich will.“ Bellas Ja-Wort riss mich aus meinen Gedanken und holte mich zurück in die Gegenwart. Gerade noch rechtzeitig sah ich, dass Bella vor Glück ein wenig weinte. Dann schloss sie ihre Augen und küsste Edward. Am liebsten hätte ich geklatscht, doch das hätte wohl den Moment zerstört.
Vereinzelt wurde gekichert, als Bella den Kuss nicht lösen wollte und Emmett konnte es sich nicht nehmen lassen anzüglich zu pfeifen. Mit leicht gerötetem Gesicht löste sie sich schließlich doch von Edward und sofort brachen die Gäste in Applaus aus.
René, tränenüberströmt, war die erste, die Bella freudig umarmte. Danach lief das frisch vermählte Paar durch die Gästeschar und wurde von Umarmung zu Umarmung gereicht. Als ich Bella endlich erreichte, fiel sie mir eher erleichtert in die Arme. „Danke“, flüsterte sie mir ins Ohr und ich spürte, dass wohl der schwerste Teil des Tages gut überstanden war.
„Für dich immer“, flüsterte ich und drückte sie kurz. „Alles Gute!“
Edwards und mein Blick trafen sich und wir lächelten uns beide an. Dann zog er mich in eine leichte Umarmung. „Danke, dass du heute und auch in letzter Zeit für Bella da warst.“, löste er sich wieder von mir.
„Immer wieder gerne“, erwiderte ich und grinste ihn breit an. „Obwohl ich nach einer Gehaltserhöhung fragen sollte“, scherzte ich und Edward schmunzelte leicht. Auch wenn wir einen etwas schwierigen Start hatten, so musste ich doch feststellen, dass so etwas wie eine normale Freundschaft zwischen uns entstanden war. So, wie sich irgendwie vieles in letzter Zeit zum Positiven entwickelt hatte. Dann überließ ich anderen Gratulanten das Feld und gesellte mich zum Rest meiner Familie am Rande des Geschehens.
Ab heute würde wohl vieles nicht mehr so sein wie vorher. Denn mit Bellas Entscheidung zur Verwandlung, hatten auch Emmett und ich eine Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die mich mit unglaublichem Glück und Vorfreude, aber auch mit leichtem Wehmut erfüllte.
Heute war auch für mich der vorerst letzte Tag gekommen, an dem ich Bella sehen würde. Für mindestens ein Jahr.
Denn als Neugeborener würde Bella lernen müssen, ihren Durst nach Menschenblut zu kontrollieren. Nicht zu vergessen, dass meine Anwesenheit ihr unglaubliche Qualen bereiten würde. Qualen, die ich selbst nur zu gut kannte.
Es wäre mittlerweile ein Leichtes für mich, sie davor zu schützen. Nur zu gerne hätte ich ihr geholfen und versucht, ihr Eingewöhnen so einfach und schmerzfrei wie möglich zu gestalten. Genau so, wie ich Jasper hätte helfen können.
Doch ich hatte ein Versprechen abgegeben. Ich musste meine Gabe schützen. Und ich durfte nicht riskieren, dass irgendein Verdacht auf mich fiel. Nicht nach so langer Zeit des Weglaufens und Versteckens. Nicht nachdem ich endlich wieder eine Familie gefunden hatte.
Deswegen hatte ich mich dafür entschieden, es für alle Beteiligte leichter zu machen. Deswegen hatte ich mich für einen Trip quer durch die Staaten entschieden. So hatte Bella genug Zeit und Abstand um sich an ihr neues Leben zu gewöhnen und es war ein leichtes, den Trip um ein paar Monate zu verlängern, sollte es länger als ein Jahr dauern. Außerdem war es nicht ungewöhnlich, dass College-Absolventen erst einmal ein bisschen in der Welt umher reisten. Genug Zeit, um sich darüber klar zu werden, was danach folgen sollte.
Plötzlich spürte ich einen kühlen Hauch hinter mir und eine steinerne Hand ergriff meine. Ich wusste sofort, wer es war und leise seufzend lehnte ich mich an Emmetts kalte Brust. Genüsslich schloss ich meine Augen, als ich seine Lippen an meinem Nacken spürte und die bedrückenden Gedanken von der Zeremonie waren sofort wie weggeblasen.
Was machte ich mir überhaupt Gedanken darüber, was ich tun würde, wenn die Realität anders aussähe? Die Vergangenheit konnte ich nicht ändern, ganz egal, was ich mir wünschte und bereit wäre zu geben. Aber das Hier und Jetzt konnte ich nach meinen Wünschen gestalten.
Ich drehte mich in Emmetts Armen um und sah in seine warmen Augen. Auf Zehenspitzen stellend hauchte ich ihm einen Kuss auf den Mund. Ich spürte, wie sich ein Grinsen auf seine Lippen legte, als er mein Gesicht zärtlich umfasste und den Kuss vertiefte.
In den nächsten Wochen würde für uns ein neuer Lebensabschnitt losgehen. Ich würde das Hier und Jetzt sowie meine Zukunft in die eigene Hand nehmen und es, zum ersten Mal seit langem, in vollen Zügen genießen.
Nachdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, eröffneten Edward und Bella den anschließenden Empfang. Sie traten als erstes in den Garten hinaus und einmal mehr konnte Alices perfekte Organisation bewundert werden. In den Bäumen leuchteten vereinzelt kleine Lampen, die die Umgebung in ein warmes und ruhiges Licht tauchte. Zwei alte Zedern ragten zwischen den Rundtischen hervor und trennten so die Tanzfläche von der restlichen Gästeschar ab. Die herabhängenden Blütengirlanden wurden in ein goldenes Licht getaucht und schienen von innen heraus zu leuchten. Mit einem ehrfurchtsvollen Blick nach oben sah ich, dass sie an den Ästen der dicht stehenden Bäume befestigt waren. Ich musste unweigerlich schmunzeln, als mir der Gedanke kam, dass Emmett es sich vermutlich nicht hatte nehmen lassen, in die Bäume zu klettern und sie dort anzuhängen.
Der süßliche Duft aus dem Haus setzte sich auch hier fort, nur dass er jetzt zusätzlich mit dem Geruch der Natur gemischt war und so eine viel leichtere Note hinterließ. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, dies wäre das Paradies.
Sofort änderte sich die aufgeregte Stimmung in eine ruhige Atmosphäre, als die restlichen Gäste dem Beispiel des frischvermählten Paares folgten.
„Hast du Durst?“, fragte Emmett mich und hauchte mir einen Kuss auf die Schläfe. Er hatte seinen Arm um meine Taille gelegt und folgte zielstrebig Esme und Carlisle, die bereits ihre Plätze an einen der Rundtische einnahmen. Ich nickte zur Antwort und sofort ließ mich Emmett bei den beiden stehen.
Während ich meinen Blick über die Gästeschar schweifen ließ, unterhielt ich mich angeregt mit Esme über die Zeremonie und Alices perfekte Dekoration. Wir waren beiden sehr angetan davon und ich merkte, dass auch die anderen Gäste immer wieder staunend ihre Blicke schweifen ließen.
An einem der anderen Rundtische erkannte ich meine Freunde aus der High-School. Jessica, Mike und Eric waren in ein angeregtes Gespräch vertieft. Offensichtlich ging es um die Hochzeitstorte, denn immer wieder schwenkten ihre Blicke zu ihr herüber. Angela hielt sich wie üblich aus den Diskussionen ihrer Freunde heraus. Sie war zusammen mit ihrem neuen Freund Ben Cheney gekommen, den ich nur flüchtig kennengelernt hatte. Aber er schien nett zu sein. Immerhin hing er förmlich an Angelas Lippen.
Überall sah ich bekannte Gesichter aus der Stadt. Sogar Seth erkannte ich, wie er zusammen mit Charlies bestem Freund Billy und Sue zusammen stand. Als sich unsere Blicke kreuzten, nickten wir uns gleichzeitig lächelnd zu.
Dann erblickte ich eine andere Sorte von Gast und ihre Anwesenheit ließ im ersten Moment einen Schauer über meinen Rücken gleiten. Ihre Grazie und Anmut, die sie selbst beibehielten, wenn sie sich bewegten, passten perfekt zu den weißen Blüten und den zarten weichen Lichtern ihrer Umgebung. Sie stachen unweigerlich hervor, auch wenn sie versuchten, sich im Hintergrund zu halten.
Leichte Panik ergriff mich und ich war kaum in der Lage klar zu denken. Esme neben mir wandte sich verwundert zu mir um. Sie musste mein schneller schlagendes Herz gehört haben, doch das war mir egal.
Ich kannte keinen von ihnen. Hatte er sie etwa geschickt? Hatte ich etwa einen Fehler begangen und nicht alle Spuren meiner letzten Flucht verwischt? Hatte ich schon wieder verloren?
Doch dann traf ein Blick meinen und ich erkannte, dass ihre Augen die gleiche Farbe hatten, wie die der Cullens.
Soweit ich wusste, hatte Aro niemanden mit goldenen Augen. Sie alle bevorzugten Menschenblut. Oder war das nur ein neuer Trick von ihm?
„Wer sind sie?“, fragte ich an Esme und Carlisle gewandt, dabei bemüht, meiner Stimme einen ruhigen Ton zu verleiten.
Sie folgten meinem Blick und Carlisle antwortete zuerst. „Das sind die Denalis.“ Er hob seine Hand und winkte ihnen zu, nachdem sie offensichtlich unsere Blicke gespürt hatten. „Gute Freunde. Wir zählen sie mittlerweile zu unserer Familie. Sie leben oben in Alaska und teilen wie wir die zivilisierte Lebensweise.“
Erleichtert atmete ich aus und mein Puls senkte sich wieder. Gute Freunde. Ein Teil der Familie. Und ich hatte schon gedacht… Ich konnte nur über mich selbst den Kopf schütteln.
Eine kühle Hand legte sich auf meine rechte Schulter und während mir mit der anderen ein Glas Champagner hingehalten wurde, flüsterte mir Emmett plötzlich ins Ohr: „Tanya, die mit den rotblonden Haaren, hatte mal ein Auge auf Edward geworfen. Aber der hat sie eiskalt abblitzen lassen.“
„Emmett!“, tadelte Esme ihn.
Emmett lachte. „Jaja, unser lieber Eddy. Der kleine Herzensbrecher. Gegenüber Bella tut er immer so unschuldig, aber in Wirklichkeit hat er es faustdick hinter den Ohren. Komm, ich stelle sie dir vor.“ Mit diesen Worten griff Emmett nach meiner freien Hand, ohne eine Antwort von mir abzuwarten. Zielstrebig lenkte er uns zwischen der Gästeschar hindurch, die sich für die restlichen Gratulationen eingereiht hatten, direkt auf die Denalis zu. Je näher wir ihnen kamen, desto mehr brannten sich ihre neugierigen Blicke in mich.
„Hallo, Eleazar“, begrüßte Emmett den großen Mann als erstes und umarmte ihn herzlich. „Schön, dich wiederzusehen… und euch natürlich auch, Ladys.“
„Charmant wie eh und je“, erwiderte die Blondhaarige und grinste ihn neckisch an.
„Du kennst mich doch, Kate“, grinste er zurück. „Na, wie vielen Männern hast du dieses Mal den Verstand heraus gebrutzelt?!“
„Offensichtlich nicht genug, wenn du noch aufrecht stehen kannst.“
Emmett lachte nur, legte dann wieder einen Arm um meine Taille und schob mich mehr in den Blick der anderen. „Ich wollte euch Amylin vorstellen. Ein weiterer Familienzuwachs.“ Mit diesen Worten hauchte er wieder einen Kuss auf meine Schläfe und unter den interessierten Augen der Denali lief ich augenblicklich rot an.
„Deine Gefährtin?“, fragte Kate und er nickte stolz. „Wie? Freiwillig? Weiß sie überhaupt, worauf sie sich da eingelassen hat?“, entgegnete sie gleich darauf belustigt. Emmett knurrte nur. Dann wandte sie sich lachend mir zu. „Ich mache nur einen kleinen Spaß mit einem alten Freund. Es freut mich jedenfalls, dich kennenzulernen.“
Ich nickte zur Antwort und verfolgte das Blickduell zwischen ihr und Emmett. Sie schienen sich gut zu verstehen. Ob zwischen ihnen auch mal so etwas war wie zwischen Edward und Tanya?
„Auch ich bin erfreut, dich kennenzulernen, Amylin. Ich bin Carmen.“ Sofort schloss mich die schwarzhaarige Frau in eine kurze Umarmung. Perplex über diese Geste, konnte ich nicht anders, als sie zu erwidern. Sie hatte etwas von Alice, kam es mir plötzlich in den Sinn. Sie hatte mich auch sofort umarmt.
Als sie sich wieder von mir löste, legte Eleazar augenblicklich seinen Arm um sie. „Auch mich freut es, dich kennenzulernen“, sagte er höflich und lächelte mich freundlich an. Tanya und Kate wurden mir als Edwards Cousinen vorgestellt. Ich war mir nicht sicher, ob es sich dabei um die Wahrheit handelte oder lediglich eine der perfekten Notlügen der Vampire, mit denen sie die Menschen in ihrer Umgebung täuschten. Im Grunde spielte es aber auch keine Rolle, denn wie ich in den letzten Monaten nur allzu gut erfahren habe, war Familie nicht eine Frage des Blutes. Ein glückliches Lächeln breitete sich auf meinen Lippen aus, als mir der Gedanke kam, dass meine gerade um ein paar Personen größer geworden war.
„Bitte entschuldige, dass Irina sich dir nicht persönlich vorstellen kann“, wandte Carmen sich an mich.
„Irina?“, fragte ich nach und blickte sie interessiert an.
„Unsere Schwester“, antwortete Tanya und ließ ihren Blick über die Gäste schweifen. Fast so, als suchte sie jemanden. „Sie fühlte sich leider nicht so gut und hat deswegen die Feier schon früher verlassen.“
Verwundert sah ich sie an. War es das, woran ich gerade dachte? „Ich verstehe. Schade, dass sie nicht zur Hochzeit kommen konnte.“
„Oh, sie war bei der Hochzeit“, erwiderte Tanya lächelnd. „Dann allerdings… nun ja…“ Ihr Lächeln starb etwas ein und sie fixierte kurz einen Punkt hinter mir. Als ich mich umsah, blickte ich direkt in Seths Augen. Sein Blick war nachdenklich und etwas… traurig? Ich wollte Tanya gerade um weitere Erklärungen bitten, da verwickelte mich Carmen plötzlich in ein Gespräch. Sie interessierte sich anscheinend brennend dafür, wo ich herkam und wie ich nach Forks gekommen war. Umgekehrt interessierte ich mich natürlich auch für ihre Lebensweise in Alaska. Natürlich war es einfach dort oben zu leben, wenn die Kälte einem nichts anhaben konnte. Aber dann so fernab jeglicher Zivilisation?! Noch abgeschiedener als die Cullens?!
„Liebes, du solltest Kate nicht allzu nahe kommen. Sie steht ganz schön unter Strom“, grinste Emmett und zog mich näher zu sich heran. Überrascht sah ich ihn an. Was meinte er damit?
„Pass auf, Großer. Mich juckt es schon in den Fingern“, lachte Kate und zuckte mit ihrer Hand in Emmetts Richtung worauf dieser um ein paar Millimeter zurück wich.
„Treibe es nicht zu weit, Zitteraal“, lachte er. Ich jedoch blickte erstaunt zu Kate. Es war das erste Mal, dass ich Emmett vor etwas zurückweichen sah. Auch wenn es nur wenige Millimeter waren.
„Die gute Katie hat nämlich eine elektrisierende Gabe“, flüsterte er mir zu, konnte seinen herausfordernden Blick aber nicht von Kate nehmen.
„Du weißt, ich mag es nicht, wenn du mich so nennst“, erwiderte sie ebenfalls grinsend und zuckte erneut mit ihrem Arm in Emmetts Richtung. Dieser allerdings blieb dieses Mal an seinem Platz. Dann wandte sie sich wieder an mich, Emmett im Auge behaltend. „Ich habe die Gabe, mit bloßer Berührung Stromstöße durch den Körper eines anderen zu leiten. Das kann ziemlich weh tun, wie unser Emmett aus Erfahrung berichten kann.“
„Tse“, gluckste Emmett. „Als ob das weh getan hätte. Damit könntest du nicht einmal eine 20 Volt Glühbirne zum Leuchten bringen.“
„Willst du mich wirklich herausfordern? Du weißt, wie das letzte Mal ausgegangen ist, oder?“
Emmett lachte. „Ja klar, weiß ich das. Ich habe ja noch so getan, als würde ich zu Boden gehen. Schließlich wollte ich ein Mädchen nicht zum Weinen bringen, weil es plötzlich an ihrer Gabe zweifelt.“
Ich sah in ihren Augen, dass sie ihm am liebsten hier und jetzt einen ihrer sogenannten Stromstöße verpasst hätte. Ich hätte das nur zu gerne gesehen, auch wenn nicht unbedingt Emmett das Versuchskaninchen sein musste. Aber sie war sich wohl bewusst, dass ihre Gabe hier zu viel Aufsehen erregen würde. An ihrem Blick konnte ich allerdings erkennen, dass sie die Angelegenheit nicht so schnell vergessen würde.
„Wissen sie eigentlich von ihr?“, fragte Kate plötzlich wieder vollkommen ernst.
Emmetts Griff um mich wurde augenblicklich etwas fester und verwirrt blickte ich ihn an. Sie? Wen meine Kate mit sie?
„Nein“, erwiderte er ernst, dann jedoch lockerte sich seine Haltung etwas. „Und das ist auch gut so. Das mit Bella damals war ein unglücklicher Zufall. Ich glaube nicht, dass es notwendig sein wird, sie davon zu unterrichten, geschweige denn, dass sie Informationen darüber erhalten werden. Sobald Bella verwandelt ist, werden sie sich mit einem einfach Beweis wie einem kurzen Besuch zufrieden geben. In Bellas Gedanken können sie ja eh nichts sehen. Außerdem werden Amylin und ich uns auch für einige Zeit von der Familie lösen. Ein bisschen die Welt umfahren und nie allzu lange an einem Ort bleiben.“ Naja… Welt umfahren war jetzt doch ein wenig übertrieben. „Die Wahrscheinlichkeit, dass sie also von Amylin erfahren, ist somit äußerst gering. Und wer weiß schon, was die Zukunft so bringt.“
Plötzlich lenkte Tanya unsere Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen der Feierlichkeiten. Die restlichen Beglückwünschungen hatten ihr Ende gefunden. Stattdessen ging es jetzt zu den üblichen Bräuchen über. Bella und Edward schnitten die riesige Geburtstagstorte an und schoben sich abwechselnd Stückchen in den Mund.
Der Brautstrauß wurde geworfen und Alice zerrte mich regelrecht da hin. Eigentlich legte ich nicht sonderlich viel Wert auf ausgerechnet diesen Brauch, doch Bella zuliebe fügte ich mich. Letzten Endes wurde er direkt in Angelas Arme geworfen, die daraufhin knallrot anlief. Bellas Gesicht lief ebenfalls knallrot an, als Edward ihr mit den Zähnen das geliehene Strumpfband auszog und es direkt in Mikes Gesicht schnippen ließ. Emmett und Jasper brüllten vor Lachen, doch ich konnte darüber nur mit den Augen rollen. Männer.
Nachdem unter den kritischen Augen Alices kein Brauch zu kurz gekommen war, eröffnete das frisch getraute Ehepaar den Hochzeitstanz. Überall blitzten Kameralichter und einmal mehr sah ich, wie sich Bella in den Augen von Edward verlor. Sie strahlte regelrecht vor Glück und ich war mir sicher, dass ich meine Aufgabe als Brautjunger doch ganz gut hinbekommen hatte.
„Darf ich bitten?“, flüsterte Emmett mir ins Ohr und umarmte mich von hinten. Er hauchte leichte Küsse auf meinen Nacken, was mir Gänsehaut bescherte und mich wohlig seufzen ließ.
Ohne eine Antwort von mir abzuwarten, nahm er mich bei der Hand und führte mich auf die Tanzfläche, auf der sich schon bereits ein paar andere Paare dazu gesellt hatten. Er drehte mich einmal um mich selbst, bevor er mich dicht zu sich heran zog und uns in Haltung brachte.
Hoffentlich würde ich das überleben, dachte ich in diesem Moment. Ich hatte zwar mit Bella zusammen ein paar Übungsstunden genommen und ein bisschen war mir auch aus der Zeit vor Forks in Erinnerung geblieben. Wenn ich mir allerdings Alice und Jasper ansah, verflog mein Optimismus augenblicklich. Doch Emmett beließ es anscheinend nur bei dem Grundschritt und ein paar einfachen Drehungen, wofür ich ihm wirklich dankbar war. Langsam und vielleicht auch ein wenig elegant bewegten wir uns auf der Tanzfläche vorwärts. In meinem Inneren breitete sich ein warmes Gefühl aus und lächelnd legte ich meinen Kopf auf Emmetts Brust. Meine Sinne wurden regelrecht vernebelt. Durch die Umgebung, die Atmosphäre, dem Duft, der in der Luft lag und den, den Emmett verströmte… und vermutlich auch durch den Champagner, den ich während des Gespräch mit den Denalis getrunken hatte. Es schien alles nahezu perfekt zu sein. Bellas Hochzeit. Emmetts und mein Leben. Für einen kurzen Moment hatte ich sogar das Gefühl, dass ich wirklich in Sicherheit war. Dass mich Aros Handlanger nie finden würden. Dass ich tatsächlich eine Chance hatte, in Frieden den Rest meines Lebens zu verbringen. Mit Emmett an meiner Seite. Für immer…
„Ich muss mich bei Alice bedanken“, raunte Emmett mir ins Ohr und riss mich so aus meinen Gedanken. Verwundert löste ich mich leicht von ihm und blickte ihm ins Gesicht. Ein schelmisches Grinsen lag auf seinen Lippen. Flüsternd beugte er sich zu mir herab: „Das Kleid, welches sie für dich ausgesucht hat, ist unglaublich schnell auszuziehen.“
Seine Hand streichelte leicht über meinen Rücken und verursachte eine Gänsehaut. Im ersten Moment verstand ich nicht, was er mir damit sagen wollte. Was war so besonders daran, dass mein Kleid schnell auszuziehen war? Er war schließlich nicht derjenige, der…
Oh.
Mein Gesicht brannte plötzlich als mir die Bedeutung seiner Worte klar wurde. Ein tiefes zufriedenes Brummen drang an meine Ohren, als sich Emmett noch näher zu mir herunter beugte. „Der Stoff ist hauchdünn. Es fühlt sich so an, als würde ich direkt deine Haut berühren. So zart und warm. Wie muss es sich erst ohne Stoff anfühlen?“ Seine Lippen ruhten an meinem Ohr.
Mein Herz begann plötzlich zu stolpern und in einem unglaublich schnellen Rhythmus zu schlagen, sodass ich letzten Endes nicht mehr unterscheiden konnte, welcher Takt zu mir und welcher zum Lied gehörte. Ich strauchelte.
Emmett lachte leise und zog mich noch näher zu sich heran. „Nur nicht so schnell, Liebes. Du musst nicht gleich losstürmen, wir haben alle Zeit der Welt.“
„Ich wollte nicht… Das war nicht…“, begann ich zu stottern, doch Emmetts Lachen unterbrach mich. Na toll. Er hatte mich mal wieder auf den Arm genommen. Missmutig wollte ich mich von ihm lösen, doch er hielt mich die ganze Zeit fest im Arm. Die Situation erinnerte mich irgendwie an die von heute Morgen.
„Ich werde kurz mit Bella eine Runde tanzen. Den Spaß lasse ich mir nicht nehmen, wo sie doch heute wahrscheinlich den letzten Abend ein Mensch und noch so schön tollpatschig ist.“ Er drückte mir einen sanften Kuss auf die Lippen. „Sei schön artig, wenn ich weg bin… und geh mit keinen fremden Männern mit.“ Er zwinkerte mir zu und küsste mich erneut. Dann ließ er mich los und verschwand in der Menge. Durch die anderen Tanzpaare sah ich, wie er Jasper auf die Schulter klopfte und ihn somit als Bellas Tanzpartner ablöste. Heute musste sie wohl mit jedem tanzen.
Gerade als ich mich umdrehte und die Tanzfläche verlassen wollte, versperrte mir plötzlich eine andere Person den Weg.
„Mike.“ Überrascht sah ich den Jungen vor mir an.
Er nickte leicht lächelnd. „Darf ich um den nächsten Tanz bitten?“ Offensichtlich war er nervös, denn er konnte mir nicht direkt in die Augen sehen und seine Stimme war etwas brüchig.
„Natürlich“, erwiderte ich frei heraus, da ich den anderen Tanzpärchen nicht allzu lange im Weg stehen wollte. Sofort trat er einen Schritt auf mich zu und etwas zögerlich nahm er meine Hände. So kannte ich ihn ja gar nicht. Wenn ich mich daran erinnerte, wie temperamentvoll er damals gewesen war.
Langsam bewegten wir uns im Takt der Musik. Es war nicht so graziös und leicht wie mit Emmett, er war definitiv der bessere Tänzer. Dennoch konnte man behaupten, dass Mike zumindest die Grundschritte beherrschte und das hatte ich bei jemanden wie ihm nicht erwartet.
Eine Weile schwiegen wir uns an. Ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen. Wir hatten damals nie wirklich eine Aussprache gehabt. Als das mit Emmett offiziell wurde, hatte dieser mich in der Schule die meiste Zeit von den anderen abgeschirmt gehabt. Ab und zu hatte ich mit ihnen im Unterricht oder in den Pausen reden können, doch es gab nie die Möglichkeit, dass ich mit Mike allein die Sache klären konnte. Und dann hatte auch schon der Abschluss vor der Tür gestanden und wir verloren uns aus den Augen.
„Ich bin wieder mit Jessica zusammen.“ Mike ergriff als erster das Wort.
„Das freut mich“, antworte ich und lächelte ihn an. Ich meinte das ernst. Jessica war eigentlich schon immer hin und weg von ihm gewesen und ich fand, dass sie gut zusammen passten. Auch vom Charakter her.
„Jupp“, erwiderte Mike nur und starrte auf einen Punkt hinter mir. Somit war das Gespräch dann anscheinend auch schon wieder beendet. Die letzten Töne des Liedes erklangen und ein neues begann wieder, doch Mike machte keine Anstalten, den Tanz zu beenden.
„Weißt du…“, setzte er wieder an und in seinem Blick sah ich, dass er offensichtlich nach den richtigen Worten suchte. „Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Weil ich mich damals so dumm benommen hatte.“ Verwundert sah ich ihn an. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht unbedingt damit. „Forks ist ein kleines Städtchen. Hier kennt jeder jeden und man wächst mit den gleichen Leuten auf, mit denen man schon im Kindergarten gespielt hatte. Meist kennt man sich durch die Eltern auch schon von Geburt an. Es ist schwierig, da jemanden richtig gut kennenzulernen, den man vorher noch nicht kannte und der einen fasziniert.“ Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, worauf er hinaus wollte. „Als du dann kamst, war das irgendwie… aufregend. Du warst die Neue. Keiner kannte dich. Allein weil du aus einer Großstadt kamst, warst du schon etwas Faszinierendes. Verstehst du, was ich meine? Ich will damit nicht sagen, dass du unattraktiv oder hässlich bist oder so. Ganz im Gegenteil.“ Er lachte, doch es klang leicht verzweifelt, als würde er seinen eigenen Witz schlecht finden. „Aber ich glaube, ich wollte unbedingt… naja… mit dir zusammen sein, weil du eben die Neue warst. Aufregend. Unbekannt. Faszinierend. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Ich glaube, man kann es mit einer neuen Eissorte vergleichen, die man unbedingt probieren will, obwohl die altbekannten einem doch am besten schmecken.“ Verglich er mich gerade wirklich mit Eis? „Jessica kenne ich schon seit der Grundschule. Es ist schwierig mit jemanden eine Bindung einzugehen, der einen quasi in und auswendig kennt. Da übersieht man Leute und Gefühle gerne einmal. Kann zwischen Zuneigung und Freundschaft nicht unterscheiden. Und dann war da noch die Sache mit Bella. Sie ließ uns in gewisser Weise wegen Edward sitzen. Von heute auf morgen verbrachte sie ihre Pausen und freie Zeit nur noch mit ihm. Wir waren für keine Strandbesuche mehr gut oder Kinobesuche in der Gruppe. Und als das dann auch mit dir und Emmett drohte zu passieren… ja… keine Ahnung… da sind mir irgendwie die Sicherungen durchgebrannt. Cullens hier, Cullens da. Immer das gleiche irgendwie. Und als…“
„Entschuldigung angenommen“, fuhr ich ihm ins Wort und grinste ihn an. Bevor die Situation wieder eskalierte.
„Wirklich?“ Er schien ernsthaft überrascht, denn er sah mich zum ersten Mal direkt an.
Ich nickte. „Wirklich.“
Auf seinem Gesicht breitete sich ein freudiges Grinsen aus. Er wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als sein Blick hinter mich glitt und sich seine Augen leicht weiteten. Bevor ich fragen konnte, was los war, bekam ich auch schon eine Antwort. „Was machst du da?“ Diese Stimme konnte nur einer Person gehören… und es war ein Wunder, dass er ihn nicht im gleichen Atemzug beleidigte.
Ich löste mich von meinem Tanzpartner und drehte mich zu Emmett um. „Wir haben nur ein wenig getanzt und uns unterhalten“, kam ich Mike zuvor. Ich befürchtete, dass er mit seinen verwirrenden Reden alles wieder vermasseln würde.
Emmett würdigte mich eines kurzen Blickes, danach wandte er sich wieder Mike zu. „Das war jetzt lang genug. Deine Freundin wartet sicherlich schon.“ Ohne ihn noch weiter zu beachten, nahm Emmett mich bei der Hand und zog mich quer über die Tanzfläche auf die andere Seite. Wenn ich mich Recht erinnerte, kam das seinem früheren Verhalten in der Schule ziemlich gleich. Hatte er mich da nicht auch immer von Mike weggezerrt, wenn es ihm nicht passte, dass ich mich mit ihm unterhielt? Ich wollte mich zu Mike umdrehen, um mich von ihm zu verabschieden, doch da war er schon aus meinem Blickfeld verschwunden.
„Na klasse. Kannst du nicht einmal freundlich bleiben?“, fragte ich ihn, als er mich wieder zu sich heran zog und uns im Takt des Liedes führte.
„Ich war doch freundlich. Wäre ich nicht freundlich gewesen, wäre er jetzt um einen Kopf kürzer“, grinste er mich breit an. Skeptisch hob ich eine Augenbraue. Fand er das wirklich lustig?
„Bist du etwa eifersüchtig?“ fragte ich ihn plötzlich frei heraus. Die Szene von heute Morgen, wo ich so empfindlich auf die erfundene Blondine reagiert hatte, kam mir wieder in den Sinn. War es möglich, dass er vielleicht auch…?
„Unsinn“, meinte er grinsend und lehnte sich zu mir herunter. „Wenn hier jemand eifersüchtig sein müsste, dann all die anderen Gäste hier auf mich. Weil ich mit der bezauberndsten Frau der Welt tanze.“ Ein angenehmer Schauer erfasste mich, als Emmett seine kühlen Lippen auf meine legte und mich leidenschaftlich küsste. Ich schloss genießerisch die Augen und gab mich ganz dem wohligen Gefühl hin, was seine Lippen auf meiner Haut hinterließen.
Spinner, dachte ich nur.
Doch plötzlich hielt Emmett inne, sowohl in seinem Kuss als auch in unserem Tanz. Er löste sich von mir und fixierte einen Punkt hinter mir. Sein Gesicht war verzerrt. Verwundert blickte ich ihn an.
„Emmett, was…?“, begann ich, doch er unterbrach mich. „Ich muss kurz weg. Egal, was passiert, bleibe bitte hier.“ Eindringlich sah er mich an. Seine Augen hatten einen besorgten Ausdruck. Er machte mir Angst.
„Was ist los?“, fragte ich ihn. Ich folgte seinem kurzen Blick nach rechts und sah Jasper, der anscheinend auf ihn wartete.
„Das kann ich dir nicht sagen. Ich verspreche dir, ich komme gleich wieder. Nur bitte, bleibe hier bei den anderen Gästen. Meinetwegen tanze noch einmal mit Newton, aber bleibe auf alle Fälle hier.“ Er drückte einen kurzen Kuss auf meine Stirn, dann verließ er die Tanzfläche und gemeinsam mit Jasper machte er sich auf den Weg. Weg von den Feierlichkeiten und um das Haus herum.
Verwirrt blickte ich den beiden hinterher. Was war nur los? Bis vor ein paar Minuten war noch alles in Ordnung gewesen. Eben hatte Emmett noch seine Scherze gemacht und plötzlich verschwand er von der Feier.
Ich sah mich um, doch außer ihm und Jasper schienen alle den gewohnten Feierlichkeiten nachzugehen. Keiner schien etwas Ungewöhnliches oder Beunruhigendes bemerkt zu haben. Sie alle tanzten ausgelassen und munter weiter.
Am meisten beunruhigte mich jedoch, dass Emmett sogar vorgeschlagen hatte, ich könnte mit Mike tanzen… und das nach der Szene, die er gerade eben noch abgezogen hatte. Was war nur passiert, dass er sogar seine Abneigung gegenüber Mike vergas, nur damit ich hier blieb?
Nachdenklich ließ ich meinen Blick wieder über die Hochzeitsgesellschaft gleiten und als ich Bella nirgendwo entdecken konnte, wurde das mulmige Gefühl in meinem Magen größer. Ohne noch weiter groß drüber nachzudenken, folgte ich Emmett.
Eilig verließ ich die Feierlichkeiten auf genau dem gleichen Weg wie Emmett und Jasper und versuchte so wenig Aufmerksamkeit wie nur möglich auf mich zu ziehen. Als ich endlich das Ende des Hauses erreichte und um die Ecke bog, dauerte es eine Weile, bis ich in der Dunkelheit etwas erkennen konnte. Hier hingen keine Lichter mehr in den Bäumen und nur die spärliche Beleuchtung des Hauses erhellte den Waldrand etwas. In einiger Entfernung konnte ich eine Ansammlung von Personen erkennen. Eine davon war Bella und als ich bemerkte, dass sie und Edward im Streit mit einer dritten Person waren, dachte ich nicht groß darüber nach und eilte schnell zu ihnen.
Den Jungen, auf den Edward gerade versuchte beruhigend einzureden, hatte ich hier noch nie gesehen. Doch sein Gesicht erinnerte mich an etwas. Seth war ebenfalls ein Teil der Truppe und redete beruhigend auf den Jungen ein.
Und dann erkannte ich ihn plötzlich. Es war das gleiche Gesicht wie auf den Vermisstenanzeigen, die von Charlie vor ein paar Wochen überall in der Stadt aufgehängt worden waren. Als ich Bella damals darauf angesprochen hatte, war sie mir ausgewichen und ich hatte nicht weiter nachgebohrt. Sie kannten sich also.
Jasper und Emmett standen in einigem Abstand in leichter Angriffsstellung und beobachteten das Geschehen. Sie sahen aus, als würden sie bei dem kleinsten Anzeichen von Reaktion sofort eingreifen wollen.
Als Emmett mich bemerkte, löste er sich aus seiner Haltung und sah mich leicht wütend an. „Ich habe dir doch gesagt, dass du bei den anderen bleiben sollst“, zischte er und stellte sich vor mich. „Geh wieder zurück.“ Sein Blick war eindringlich und ließ keine Widerworte zu. Doch das war mir egal. Ich lief einfach an ihm vorbei, direkt zu Bella.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich sie. Sie nickte zögerlich, wandte ihren Blick aber nicht von dem Jungen ab. Edward stand immer noch schützend neben ihr. „Komm, wir sollten wieder zurück auf die Feier gehen“, versuchte ich sie von dieser bizarren Situation wegzulocken, doch sie schüttelte den Kopf.
„Bella, bitte geh mit Amylin mit“, pflichtete Edward mir bei, ließ den Jungen allerdings keinen Moment aus den Augen.
„Was hast du vor, du Bastard?“, blaffte dieser Edward an. Es war mir schleierhaft wie dieses Geschrei bis jetzt unbemerkt geblieben war. „Willst du sie umbringen?“ Erschrocken sah ich ihn an.
Warum sprach er von umbringen? Wusste er etwa von dem Versprechen zwischen Bella und Edward? Das würde bedeuten, dass er auch wusste, wer die Cullens waren. Aber woher? Jagten die Volturi nicht jeden, der ihr Geheimnis kannte und nicht zu Ihresgleichen gehörte? Oder gehörte er gar zu ihnen? Aber das war unmöglich, wenn Aro sich nicht plötzlich dazu entschlossen hatte, Menschen für seine Zwecke zu missbrauchen.
„Jake, das geht dich nichts an.“ Bella hatte wieder das Wort ergriffen. Leicht wütend und auch leicht traurig sah sie den Jungen vor sich an. Dieser ließ sich weder von Bellas Worten beruhigen, noch von der Anwesenheit Emmetts und Jaspers beeindrucken. Nicht einmal mich schien er wahrzunehmen, obwohl ich direkt neben Bella und somit nur einen Meter von ihm entfernt stand. Sein wütender Blick, der sich langsam in Hass zu verwandeln schien, galt weiterhin Edward.
„Ich bringe dich um, du verdammter Blutsauger! Ich bringe dich eigenhändig um, wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst!“, schrie er. Die Anspannung in der Luft bauschte sich zusehends auf.
Ich spürte, wie Emmett dich hinter mir stand. Sein Körper wirkte angespannt, bereit bei einer drohenden Eskalation sofort eingreifen zu können. Jasper behielt etwas Abstand zu unserer Truppe, nicht minder kampfbereit. Ihm musste klar sein, dass jeder Zug seinerseits auf unsere Truppe zu, eine Eskalation bei Jake hervorrufen konnte.
Denn nach dem Wort Blutsauger war ich mir sicher, dass er wusste, wen er da vor sich hatte. Und dass ihn das in keiner Weise zu beirren schien, ließ darauf deuten, dass er entweder ziemlich waghalsig oder ziemlich mutig war.
Ich musste Bella hier wegbringen. Sie stand irgendwie zwischen Edward und diesem Jake. Wie ein kleines Lamm zwischen zwei kämpfenden Löwen. Das Beste war also, sie schnell von diesem Ort zu entfernen. Kein Lamm, kein Kampf.
„Bella, bitte komm mit mir mit. Du schuldest mir noch einen Tanz mit der Braut“, versuchte ich es auf die Weise. Gleichzeitig stellte ich mich direkt vor sie, mit dem Rücken zu Jake. Durch den Abbruch des Blickkontaktes hoffte ich, Bella einfacher von diesem Szenario lösen zu können und für einen kurzen Moment hatte es auch den Anschein, als würde es funktionieren.
Ihre Augen trafen meine und sie sah aus, als nehme sie mich erst jetzt wirklich wahr. Ich nahm ihre Hand und versuchte sie rückwärts von hier weg zu dirigieren. Immer darauf bedacht, zwischen Jake und ihr zu stehen.
Doch gerade, als sie einen Schritt nach hinten gesetzt hatte – ob aus Überrumpelung oder weil sie es wirklich wollte-, packte mich plötzlich jemand am Arm. Hitze breitete sich an der Stelle aus und für einen winzigen Moment konnte ich nur auf die mich umklammernder Hand schauen. „Sie bleibt hier!“, blaffte Jake.
Ich wollte mich umdrehen. Wollte mich lösen und verteidigen. So wie man es aus Reflex in solch einer Situation tat.
Doch plötzlich strich ein kühler Windhauch über meine Haut und Bella und ich standen nicht mehr an der gleichen Stelle. Mit einer einzelnen schnellen Bewegung hatte Emmett uns beide außer Reichweite gebracht. Leicht hatte er seine Arme ausgestreckt und versuchte so, uns hinter seinem großen Körper abzuschirmen, während er weiterhin das Szenario beobachtete, welches sich jetzt gute 5 Meter von uns entfernt abspielte.
„Komm Jake, wir hauen ab.“ Seth hatte den Dunkelhaarigen nun von hinten umklammert und versuchte diesen zurück in den Schutz des Waldes zu ziehen. Weg von der Situation. Edward war an Ort und Stelle geblieben und versuchte anscheinend im schlimmsten Fall Jake aufzuhalten, sollte sich dieser aus Seth Umklammerung befreien.
Doch etwas Anderes machte mir gerade mehr Sorgen als ein möglicher Kampf zwischen Edward und diesem Jungen. Verwirrt blickte ich erst zu Emmett und dann wieder auf das Szenario vor uns. Schien denn keiner zu merken, dass gerade etwas Anderes viel dringender war?
„Edward, er muss in ein Krankenhaus.“ Ich trat hinter Emmett hervor und wollte wieder auf die drei zulaufen, doch dieser packte mich am Arm und zog mich zurück. „Hiergeblieben“, knurrte er nur und bedachte mich mit einem strengen Blick.
„Aber Emmett“, widersprach ich und sah ihn besorgt an. „Als Jake mich angefasst hatte… Sein ganzer Körper brennt förmlich. Er scheint hohes Fieber zu haben und muss in ein Krankenhaus. Oder zumindest zu Carlisle.“
„Glaub mir, um den räudigen Köter musst du dir keine Sorgen machen. Dem geht’s bestens“, brummte er nur und schob mich wieder hinter sich.
„Aber…“ Ein strenger Blick seinerseits brachte mich wieder zum Schweigen.
Verwirrt ließ ich meinen Blick über die anderen Anwesenden schweifen. Warum ignorierten alle meinen Einwurf? Stattdessen stritt Edward weiterhin mit diesem Jungen und Bella blickte besorgt zu ihnen herüber. War ihnen denn so egal, dass Jake vielleicht kurz davor war zusammenzubrechen? Seth musste es doch auch spüren, so sehr wie er ihn umklammert hielt. Warum ignorierte er es einfach?
„Glaube mir, der wird das schon überleben“, raunte Emmett mir zu, dann wandte er seinen Blick wieder den anderen zu und ein viel tieferes und bedrohlicheres Knurren entrang seiner Kehle plötzlich.
Was war denn jetzt schon wieder los? Ich sah zu den drei Jungs herüber, als ich einen Schatten nicht unweit der anderen wahrnahm. Er schlich leicht hinter Jake und Seth her, dann teilte er sich und zu beiden Seiten traten plötzlich zwei riesige Wölfe aus dem Waldrand hervor.
Einen kurzen Augenblick wusste ich nicht, was ich denken oder fühlen sollte. Ob Erstaunen… Angst… Verwirrung… Ihre schwarzen Augen brannten sich kurz in meine, dann glitt ihr Blick weiter zu Emmett.
In dem Moment fuhr ein Pochen durch meinen gesamten Körper. Es war wie ein einzelner Pulsschlag, der sich um das vielfache intensiver durch meine Adern zog. Das Blut rauschte in meinen Ohren und machte mich für einen Moment taub. Ich spürte, wie sich in mir etwas regte und wehrte. Etwas, was schon lange eingesperrt war. Etwas, was definitiv nicht raus durfte.
„Das tut hier nichts zur Sache“, vernahm ich Edwards Stimme wie aus weiter Ferne.
Eine bedrohliche Kälte stieg in mir auf und ich konnte mein eigenes Herz laut in meiner Brust hämmern hören. Meine Ohren klingelten und meine Nackenhaare stellten sich unweigerlich auf. Ich spürte meine Umgebung um ein vielfaches klarer. Das Rauschen des Windes, das sich in meinen Ohren wie ein Dröhnen anhörte. Emmetts Kälte, die sich von seiner Haut auf meiner ausbreitete und durch jede meiner Poren kroch. Der Geruch nach Moos, Moschus und Regen.
Mein ganzer Körper schrie. Schrie, ich solle mich verteidigen. Schrie mich an, ich solle es Emmett gleich tun und in Angriffsstellung gehen. Meine Muskeln spannten sich leicht an. Meine Atmung beschleunigte sich und ich spürte, wie die Kapsel in mir zu Beben anfing. Als wehrte sie sich gegen einen unsichtbaren Gegner.
Nein. Nicht jetzt. Nicht hier. Bitte nicht.
Ich hatte keine Ahnung, was dieses Gefühl verursachte. Wieso gerade jetzt meine lang trainierte Verteidigung plötzlich ins Wanken geriet. Doch je länger ich diese Wölfe ansah, desto mehr schien mein Innerstes Widerstand zu leisten. Desto mehr schien das Monster Widerstand zu leisten… und desto mehr bekam ich Panik.
Ich versuchte mir klar zu machen, dass ich es unter Kontrolle hatte. Hart hatte ich dafür trainiert. Lange hatte ich dafür trainiert. Selbst im Schlaf konnte ich die Mauern aufrechterhalten. Warum setzte sich auf einmal alles so zur Wehr? Wieso raubte es mir plötzlich so immense Kraft dem standzuhalten?
Meine Atmung geriet einmal mehr aus dem Takt. Meine Sicht verschleierte sich und nur mit Mühe konnte ich erkennen, wie einer der Wölfe Jake tiefer in den Wald drückte, während Seth ihn weiter umklammert hielt und in die gleiche Richtung zog. Der andere Wolf blieb einen Augenblick länger und Edward schien etwas zu ihm zu sagen. Dann verschwand auch er.
Ein Augenaufschlag später war Bella nicht mehr alleine und Edward zog sie in seine Arme. Sie entschuldigte sich unzählige Mal bei ihm und er versuchte sie zu beruhigen.
„Warum kannst du nie auf das hören, was man dir sagt?“, hörte ich Emmetts Stimme immer klarer werden. Verwirrt blickte ich ihm in seine Augen, ohne ihn wirklich anzusehen.
Was war das eben gewesen? Dieses Gefühl? Dieses Pochen? Diese Rebellion?
Mein Puls verlangsamte sich wieder und der Widerstand in meinem Inneren war genauso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war. Nur ein leichtes Zittern durchfuhr noch meinen Körper.
Ich hatte solche Angst gehabt, dass die Kapsel brechen würde. Dass meine Kraft nicht ausreichen würde, um sie aufrecht zu halten. Dass es gewinnen würde.
„Amylin?!“, drang Emmetts Stimme wieder klar und deutlich an mein Ohr.
Wer waren diese riesigen Wölfe? Was hatten sie hier zu suchen? Warum hatte ihre Anwesenheit dieses Pochen nur noch verstärkt? Oder hatten sie es gar hervorgerufen?
„Amylin?“ Ich blinzelte ein paar Mal und meine Sicht klarte sich wieder auf. Emmetts karamellfarbene Augen sahen mich besorgt an.
„Ja?“, fragte ich mit kratziger Stimme. Ich fühlte mich auf einmal so unglaublich müde und erschöpft.
„Hey, Amylin. Es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit.“ Sanft schlossen sich seine Arme um mich. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust und blendete für einen kurzen Moment meine Umgebung aus. Nach und nach stellte sich das Zittern ein und meine Atmung legte sich.
„Was war das gerade?“, fragte ich leise. Mein Hals kratzte und ich hatte unglaublichen Durst.
Ein leiser Seufzer entfloh Emmetts Lippen. „Genau deswegen habe ich dir gesagt, dass du auf mich warten sollst.“ Er hob mein Kinn an und als ich aufsah, blickte ich wieder in sein schelmisches Grinsen. „Du bist aber auch ein böses Mädchen.“ Ich ging auf seinen Scherz nicht ein, sondern sah ihn weiterhin fragend an. Ich erwartete immer noch eine Antwort von ihm.
Ein erneuter Seufzer. „Das stur hatte ich vergessen.“ Seine Lippen legten sich auf meine Stirn und verweilten dort ein paar Sekunden. Dann hauchte er: „Ich erzähle es dir später. Wenn alle gegangen sind und wir unsere Ruhe haben.“ Leicht strich seine Hand meinen Rücken hinab und sofort jagten kleiner Schauer durch meinen Körper. Beruhigende Schauer.
Es war wieder alles wie vorher. Mein Körper. Meine Reaktionen auf ihn. Das Gefühl seiner Haut auf meiner. Das Funkeln seiner Augen, die mich augenblicklich gefangen nahmen. Mein Gefängnis.
„Obwohl ich dann viel bessere Beschäftigung wüsste“, lachte er leise und sofort schoss mir die Röte in die Wange, als ich den Zusammenhang seiner Worte von vorhin verstand.
Doch noch immer wollte sich mir diese Situation nicht erklären. Keiner hatte sich gewundert oder verängstigt ausgehen, als plötzlich diese riesigen Wölfe aus dem Wald aufgetaucht waren. Ihre Aufmerksamkeit hatte weiter auf Jake gelegen, der sich nur mühselig vom Ort des Geschehens wegbringen ließ. Es war fast so, als sei es das natürlichste auf der Welt, dass diese Tiere um das Dreifache größer waren als ihre Artgenossen. Dann noch Jakes extrem erhöhte Körpertemperatur und niemand, der das genau so verwundernd und beängstigend fand wie ich.
„Du denkst schon wieder so viel nach, hübsche Frau“, riss mich Emmett einmal mehr aus meinen Gedanken und strich sanft über die Sorgenfalte, die sich auf meiner Stirn gebildet hatte.
„Tut mir leid“, nuschelte ich und konnte nur schwer die Gedanken beiseiteschieben. Er hatte gesagt, er wolle es mir nachher erklären.
Ein herzhaftes Lachen ergriff ihn, was in dieser menschenleeren Umgebung unnatürlich laut von den Bäumen widerhallte. „Du entschuldigst dich aber auch wirklich für alles, oder?!“ Amüsiert drückte er mir einen Kuss auf die Lippen.
Dann merkte ich, wie sich plötzlich jemand neben uns stellte und als ich aufblickte, sah ich in Bellas gerötetes Gesicht. Na hoffentlich würde Alice keine Krise bekommen.
„Es tut mir leid, dass ihr da mit reingezogen wurdet. Das wollte ich nicht. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, was ich sage und wie er es auffassen könnte. Es tut mir wirklich unglaublich leid.“
Ich schüttelte abwehrend mit dem Kopf. „Schon in Ordnung, du brauchst dich dafür nicht entschuldigen. Wir haben schließlich alle freiwillig geholfen. Das macht man in der Familie.“ Ich lächelte sie aufmunternd an und zögernd nickte sie.
„Nun, was ich vorhin gesagt habe, habe ich aber ernst gemeint“, fügte ich hinzu, löste mich von Emmett und machte einen Schritt auf sie zu. Stirnrunzelnd sah sie mich an und ich lächelte breit, als ich einfach ihre Hand ergriff. „Die Braut schuldet mir noch einen Tanz.“
Der restliche Teil des Abends verlief ohne weitere Zwischenfälle. Ich tanzte ein paar Minuten mit Bella, in der sie mir einiges über Jake erzählte. Dass Edward sie damals verlassen hatte. Dass sie sich monatelang von allen abgekapselt hatte. Dass Jake der einzige gewesen war, der sie aus ihrem Loch herausholen konnte und dass jetzt, wo Edward wieder da war und sie heirateten, er derjenige war, der sich zurückzog und monatelang sogar verschwand. Deswegen hatte Charlie überall die Vermisstenanzeigen in der Stadt aufgehängt. Sie erzählte mir, wie sie sich gefreut hatte, als er plötzlich auf ihrer Hochzeit aufgetaucht war. Ihr schönstes Geschenk. Und wie es sich plötzlich in eine Katastrophe verwandelt hatte.
Ich hörte all das zum ersten Mal. Auch, dass die Cullens für einige Zeit verschwunden waren und Bella allein in Forks gelassen hatten. Keine Ahnung, wie ich mich fühlen würde, wenn Emmett plötzlich seine Sachen packen und von heute auf morgen verschwinden würde. Vermutlich ähnlich wie Bella.
Ich versuchte ihr zu verdeutlichen, dass sie nicht schuld an dem Szenario gewesen war. Dass sie es sich nicht zu Herzen nehmen solle. Dass Jake, wenn er wirklich ihr bester Freund war, ihre Entscheidung respektieren und verstehen wird und dass heute der wohl schönste Tag in ihrem Leben war. Als der Tanz endete und ich an den nächsten abgeben musste, konnte ich wieder ein kleines Lächeln auf ihren Lippen sehen.
Die restliche Zeit verbrachte ich mit Emmett. Wir tanzten einige Male und ich genoss seine Nähe. Auch wenn ich versuchte, meinen eigenen Rat zu beherzigen und nicht an das beängstigende Szenario von eben zu denken, so konnte ich nicht leugnen, dass es mich zumindest körperlich immer noch entkräftete. Emmetts Halt kam mir da gerade Recht.
Als die Feierlichkeiten sich dem Ende neigten, verschwand Bella zusammen mit Alice im Haus und zog sich für die Reise in die Flitterwochen um. Auch wenn das jetzt Abschied nehmen für ungefähr ein Jahr bedeutete, fühlte es sich nicht ganz so schrecklich an, wie ich die letzten Tage befürchtet hatte. Vielleicht weil es dieses Mal keine Flucht und kein Abschied war sondern einfach nur ein Auf Wiedersehen für bestimmte Zeit.
Die Gästeschar versammelte sich vor dem Eingang des Anwesens, wo bereits Edwards Auto zur Abfahrt bereitstand. Nach wie vor hatte Bella keine Ahnung, wo es hinging und auch mir wollte niemand etwas verraten. Vermutlich glaubten sie alle, ich würde mich verplappern.
„Alles Gute“, flüsterte ich und zog Bella in eine lange und feste Umarmung. „Und melde dich, sobald du kannst.“ Wir wussten beide, was damit gemeint war. Auch wenn ein genauer Termin nicht feststand, so war Bellas bisherige Planung gewesen, dass sie spätestens nach den Flitterwochen verwandelt werden wollte. Und dann mussten Emmett und ich hier weg sein.
Zum Schluss verabschiedete sie sich von ihren Eltern. Ich sah ihr an, wie bewusst ihr plötzlich ihre Entscheidung wurde. Tränen schimmerten ihr in den Augen und René machte sich gar nicht erst die Mühe, ihre zurückzuhalten. Dann stiegen Edward und Bella ins Auto und während wir zum Abschied noch einmal winkten, fuhren sie den Waldweg entlang und in ihre gemeinsame, ewige Zukunft.
Die Gästeschar löste sich auf und nacheinander trat jeder den Heimweg an. Emmett tanze mit mir noch eine Weile, doch der lange Tag und auch die heutigen Strapazen und Erlebnisse saßen mir bereits tief in den Gliedern, sodass ein Gähnen für mich unvermeidbar war.
Höflich verabschiedete ich mich von den anderen. Der Rest meiner Familie würde wohl die ganze Nacht durchtanzen.
Emmett ließ es sich nicht nehmen, mich die Treppen zu seinem Zimmer herauf zu tragen und ich war viel zu erschöpft, um zu protestieren. Im Badezimmer tauschte ich das Kleid gegen meinen Schlafanzug und begnügte mich mit einer Katzenwäsche. Der Rest musste einfach bis morgen warten.
Auf nackten Sohlen schlich ich mit in Emmetts Zimmer und warf mich wohlig seufzend auf die Couch und somit in seine Arme. Er lachte leise und wickelte mich sofort in eine warme und weiche Decke. Dann zog er mich eng zu sich heran und ich bettete meinen Kopf auf seiner Brust während ich in die tiefschwarze Nacht hinaussah. Sanft strich er mir über mein Haar.
„Wer war das heute? Oder besser gesagt, was?“, fragte ich leise. Obwohl ich bereits so unglaublich erschöpft war und mich regelrecht zwingen musste, wach zu bleiben, so wollte ich das Thema jetzt noch geklärt haben. Zu sehr befürchtete ich, dass es mich im Traum verfolgen würde.
Ein langgezogener Seufzer kam von hinter mir. „Ich hätte dir vielleicht doch das Kleid vom Leib reißen sollen. Das hätte dich zumindest auf andere Gedanken gebracht“, brummte er und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Ich war viel zu müde, um mich davon jetzt aus dem Konzept bringen zu lassen.
„Selber schuld“, zog ich ihn auf und er lachte leise.
Dann herrschte für einen Augenblick Stille. Ich wartete darauf, dass er zu erzählen anfing.
„Ich weiß ja nicht… Inwieweit kennst du dich mit den alten Legenden und Sagen über Vampire aus?“
Ich zuckte leicht mit den Schultern. „Insoweit, um sagen zu können, dass manches stimmt und manches nichts.“ Worauf wollte er hinaus?
„Dann wirst du sicherlich auch schon einmal etwas von Werwölfen gehört haben“, fügte Emmett trocken hinzu.
„Was? Die, die sich bei Vollmond verwandeln?“
„Genau die. Nur, dass sie sich in der Realität eben nicht nur bei Vollmond verwandeln.“ Ich drehte mich zu ihm um. „In der Realität? Soll das heißen, diese riesigen Wölfe waren Werwölfe?“
Im Dunkeln konnte ich erkennen, wie er nickte und grinsend hinzufügte: „Sie bevorzugen das Wort Gestaltwandler. Ich bevorzuge das Wort Köter.“
Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Es klang… absurd. Sollte etwa alles der Wirklichkeit entsprechen? Ich hatte immer geglaubt, Vampire seien die einzigen übernatürlichen Wesen und in meiner Vergangenheit hatte ich auch nie etwas anderes gehört. Weder von Aro noch von jemand anderen.
„Und was meinst du damit, dass sie sich nicht nur bei Vollmond verwandeln?“
„Dass sie nicht daran gebunden sind. Sie können sich verwandeln, wann immer ihnen danach beliebt. Vorausgesetzt sie haben so ein merkwürdiges Gen in sich und Vampire befinden sich in der Nähe. Sind keine da, reagiert es nicht und es kann nie zum Ausbruch und zu einer Verwandlung kommen.“
Ich versuchte mir die Situation von vorhin in Erinnerung zu rufen. „Gehört Jake zu ihnen?“
Emmett nickte leicht. „Genauso wie Seth. Deswegen war ich heute Morgen auch so wütend auf dich, als du einmal mehr meine Anweisung ignoriert hattest. Ich konnte ihn überall an dir riechen.“
„Bitte was?“ Es war schneller aus meinem Mund gekommen, als ich wirklich darüber nachdenken konnte. Er konnte ihn riechen? Das klang absurd.
„Sagen wir es so: Wir verabscheuen diese elenden Köter und umgekehrt sind sie auch nicht so gut auf uns zu sprechen. Nach den Legenden zufolge sind wir so etwas wie Erzfeinde und unter uns gesagt: Wer will auch schon mit so etwas befreundet sein, der ununterbrochen nach nassem Hund stinkt“, lachte er.
Nachdenklich starrte ich wieder in die Nacht hinaus. Den Legenden zufolge so etwas wie Erzfeinde. War das der Grund, warum mein Innerstes so heftig reagiert hatte? Weil es automatisch auf seinen Feind reagiert hatte? Dieser starke Widerstand. Die Anspannung der Muskeln. Der Drang, sich in Angriffsstellung zu begeben. Das alles ergab jetzt einen Sinn.
„Deswegen war Jacobs Körpertemperatur auch so hoch“, riss mich Emmett wieder aus meinen Gedanken. „Werwölfe haben das immer. Ich schätze das ist so eine Gleichgewichtssache der Natur.
Dieses Yin und Yang zwischen einer coolen und einer stinkenden Spezies. Kalt wie Stein. Heiß wie Feuer. Die einen unverwundbar, die anderen mit einer schnellen Regeneration gesegnet. Wer versteht sowas schon?“
Darum hatten alle meinen Einwand ignoriert und darum hatte Seth auch nichts bemerkt. Für ihn musste es sich ganz normal anfühlen, jemanden wie Jake zu berühren.
„Wo kommen sie her? Wo leben sie? Sind sie den ganzen Tag im Wald? Solche großen Wölfe müssen doch auffallen.“
Emmett lachte leise. „Sie rennen doch nicht den ganzen Tag als Köter rum. Normalerweise sind sie in ihrer menschlichen Gestalt. Abgesehen von ihrer hohen Körpertemperatur und ihrer schnellen Heilungsgabe unterscheiden sie sich nicht viel von den Menschen. Allerdings dürftest du noch nicht viel mit ihnen zu tun gehabt haben. Sie kommen alle aus dem Reservat. Da, wo die Quileute leben. Billy, Charlies bester Freund, ist einer von diesen Ureinwohnern. Jacob ist sein Sohn und er hat ihm offensichtlich das Gen vererbt.“
Nachdenklich drehte ich mich in Emmetts Armen. Es war alles so verwirrend. Da glaubte man, man hätte schon alles im Leben gesehen, ging durch die Hölle und dann wurde einem eröffnet, dass es da noch andere Fabelwesen gab. Musste ich mir jetzt auch über Feen und Elfen Gedanken machen? Das war doch alles so absurd.
„Und warum habt ihr euch gegenseitig in Ruhe gelassen, wenn ich doch eigentlich Feinde seid? Mal jetzt davon abgesehen, dass dieser Jake behauptete, er wolle Edward umbringen.“
Emmett begann wieder damit, mir über mein Haar zu streicheln. „Wir haben so ein Abkommen mit ihnen. Wir betreten ihr Land nicht, dafür lassen sie uns auf unserem in Ruhe. Außerdem haben wir versprochen kein Menschenblut zu trinken und solange wir uns daran halten, sehen sie keinen Grund darin, uns anzugreifen. Zwei Rassen, die friedlich nebeneinander leben. Obwohl ich gegen ein bisschen Kräftemessen schon nichts einzuwenden hätte.“
Nachdenklich strich ich über den Stoff von Emmetts T-Shirt, welches er gegen sein Hemd ausgetauscht hatte. Schon merkwürdig, da streifte man jahrelang als Vampir durch die Lande, trampte von Ort zu Ort und dann erfuhr man so etwas bei einer Gute-Nacht-Geschichte. Dass ich nicht schon früher auf sie gestoßen war. Ob das nun Glück oder Pech war, konnte ich nicht genau sagen.
Bei den Gedanken an trampen dachte ich unweigerlich wieder Emmetts und meine Reise durch die Staaten. Ein vorfreudiges Lächeln legte sich auf meine Lippen als ich an unsere Planung oder besser gesagt Nichtplanung dachte. Wir hatten uns überhaupt keine Route zurechtgelegt, keine Orte heraus gesucht, die wir vielleicht mal anfahren wollten. Wir würden einfach losfahren und irgendwann irgendwo halten.
Mindestens ein Jahr wären wir unterwegs. Was danach kam, hatten wir noch nicht besprochen. Ich ging eigentlich davon aus, dass wir Bella besuchen würden. Entweder hier oder an einem anderen Ort. Doch was dann? Wir hatten beide unseren High-Schoolabschluss, Emmett sogar nicht zum ersten Mal. Der Besuch eines Colleges? Für Emmett ebenfalls nicht das erste Mal. Eine neue Stadt und vielleicht ein Job… und Emmett müsste wieder die Schulbank drücken, um nicht aufzufallen.
Erneut strich ich über Emmetts Shirt und spürte die darunter liegende harte Brust. Sie war kalt. Ganz im Gegensatz zu der Wärme von mir. Ganz im Gegensatz zum menschlichen Leben.
„Vermisst du es manchmal?“, fragte ich ihn frei heraus, während ich meine Hand direkt über seinem Herzen zum Liegen brachte.
„Was meinst du?“, drang seine tiefe Stimme direkt an mein Ohr und sein kalter Atem strich sanft über meine Haut. Ein wohliger Schauer ergriff mich und ich kuschelte mich noch ein wenig mehr an ihn, während mein Blick verträumt an seiner Brust hing. Direkt dort, wo ich sein verstummtes Herz vermutete.
Aber war es wirklich verstummt? Hatte es wirklich aufgehört für immer zu schlagen? Wenn ja, wie konnte es dann sein, dass es trotz allem irgendwie lebte? Wie konnte es sein, dass er neben mir saß, mich im Arm hielt und diese Empfindungen mir gegenüber hatte?
„Das Leben“, hauchte ich. Ich spürte, wie sich Emmett etwas verkrampfte. Seine Hand, die mittlerweile sanft über meinen Rücken auf und ab gestrichen hatte, kam zum Erliegen. „Ich meine….“, fuhr ich fort und hob meinen Blick, um ihn direkt ansehen zu können. Seine Augen ruhten irgendwo auf einem Punkt hinter mir und etwas schien ihm durch den Kopf zu gehen. „Vermisst du nicht irgendwo die Wärme deines Körpers? Das Schlagen deines Herzens oder das intensive Pochen, wenn das Blut durch deine Adern rast?“ Ich senkte meinen Blick wieder auf die Stelle seines Herzens und strich sanft mit der Hand darüber. „Vermisst du nicht das Gefühl, was diese Berührung bei dir auslösen würde?“
Ich musste wirklich schon sehr müde sein. Oder das eine Glas Champagner von heute Abend entfaltete gerade seine Wirkung. Was gab ich da nur von mir? Was für Fragen verließen da gerade meinen Mund? Wie kam ich darauf, dass Emmett diese Berührung nicht fühlen würde? Dass er gar nichts mehr fühlen würde? Wäre dem so, wäre er dann mit mir zusammen? In meinem Kopf begann es sich langsam zu drehen.
Plötzlich wurde sein Griff um meinen Körper stärker. Verwundert hob ich den Kopf und keine Sekunde später lagen seine Lippen schon auf den meinen. Hart pressten sie sich gegen mich und die Hand an meinem Hinterkopf ließ mir kein Entkommen, drückte mich noch ein Stück mehr in seine Richtung.
Dieser Kuss war anders, als alle anderen davor. Er war leidenschaftlicher und intensiver. Und auch eine Spur… verzweifelter.
Gerade als ich mich von Emmett löste und nach Luft schnappte, zog er mich bereits wieder zu sich heran. Ein Schauer nach dem anderen jagte durch meinen Körper und vernebelte mir meinen Kopf. Die Gefühle in meinem Inneren überschlugen sich.
Dieses Mal löste er den Kuss von sich aus. Mein Puls raste und ich versuchte möglichst viel Sauerstoff in meine Lungen zu pumpen. Verwirrt erwiderte ich seinen Blick.
„Genau aus diesem Grund vermisse ich das Leben nicht.“ Sein Grinsen konnte ich in dem leichten Mondschein gerade so erkennen. „Ich würde dein wie wild pochendes Herz nicht hören. Ich könnte die süße Röte auf deinen Wangen bei dieser Dunkelheit nicht sehen. Den Duft deiner Pheromone, die du jetzt ausströmst, würden mich nicht um den Verstand bringen. Die Explosion in deinen Augen. Die Elektrisierung auf deiner Haut. Die Hitze, die du verströmst. Nichts von alledem wäre für mich so intensiv, wie ich es jetzt gerade in diesem Moment wahrnehme. Also nein… ich vermisse das Leben garantiert nicht.“
Mit so etwas hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Aber womit hatte ich auch gerechnet, wenn ich schon so eine bekloppte Frage stellte?! Ob er das Leben vermisste? Selbst wenn er es tat, war es nicht gerade charmant von mir, auch noch nachzufragen. Ich war froh, dass Emmett in seiner typischen Art und Weise reagiert hatte. Froh und erleichtert. In Zukunft sollte ich mich von Alkohol fern halten. Nicht auszumalen, was für Fragen bei zwei Gläsern aus meinem Mund kommen würden.
Wohlig seufzend und unbeschreiblich glücklich kuschelte ich mich mehr in die warme Decke und in Emmetts Umarmung. Genau so wollte ich den Rest meines Lebens verbringen.
Doch wie würde der Rest meines Lebens aussehen? Ich würde immer weiter altern. Mein Körper würde irgendwann schwächer werden, meine Haut faltiger. Würde Emmett mich dann noch lieben? Wäre es gerecht, wenn er mich so erleben würde. Mich vielleicht sogar pflegen müsste, um ihn dann allein in seiner Ewigkeit zurück zu lassen?
Es wäre ein leichtes, die Wirkung meiner Gabe aus meinem Körper zu ziehen. Ein leichtes, das Gift wieder wirken zu lassen. Mich erneut zu verwandeln, wie ich es während meines Trainings damals unzählige Male gemacht hatte, immer dann, wenn ich die Kontrolle wieder verloren hatte. Es wäre keine große Mühe, wieder das zu sein, was ich eigentlich war und somit die Ewigkeit an Emmetts Seite zu verbringen.
Doch ich konnte das nicht. Auch, wenn ich kein blutrünstiges Monster mehr sein müsste. Auch, wenn ich wie die Cullens ein „Vegetarier“ sein konnte und mithilfe meiner Gabe diese Umstellung ein leichtes für mich wäre. Ich konnte es einfach nicht. Denn ich konnte einfach nicht mehr das sein, was für den Tod meiner Eltern verantwortlich war.
- Emmetts Sicht -
Sie seufzte leise und kuschelte sich ein wenig mehr an mich. Ich festigte meine Umarmung um sie, ließ ihr aber dennoch genug Freiraum zur Bewegung und zur Atmung.
Amylins Frage hatte mich schon etwas verwundert. Wir hatten nie über so etwas gesprochen. Es war bisher immer so gewesen, dass wir einfach unsere Zweisamkeit genossen hatten und nie groß über unser beider verschieden Leben philosophiert hatten. Vor allem, wo ich eh nicht der Typ für’s philosophieren war. Das überließ ich dann doch lieber Edward.
Eigentlich wollte ich immer warten, bis Amylin den ersten Schritt machte. Genau wie Bella. Ich verstand Eddy nicht, warum er sich so verzweifelt dagegen gewehrt hatte, dass Bella sich verwandeln wollte. Gäbe es da nicht Amylins Vergangenheit mit ihren Eltern, hätte ich sie schon längst gefragt, ob sie die Ewigkeit mit mir verbringen wollte. Sie war so jung und wunderschön. Der perfekte Augenblick, um all das für die Ewigkeit festzuhalten. Die Vorstellung sie durch ihr menschliches Leben zu begleiten und sie dann eines Tages gehen zu lassen…
Nein, ich für meinen Teil wollte mit Amylin die Ewigkeit verbringen. Ewig Spaß haben. Ewig lieben. Doch wie fragt man jemanden, dessen Eltern durch jemand seinesgleichen ums Leben kam? Amylin hat nie von den Umständen erzählt und keiner von uns hatte je nachgefragt. Aber ich war mir sicher, dass das ein großes Hindernis darstellen würde.
Und jetzt… aus heiterem Himmel… fing sie mit so etwas an. Philosophierte über mein Leben oder Nichtleben. Hieß das, dass wir bereits diese Schwelle überschritten hatten? Durfte ich dann auch fragen?
Erneut seufzte Amylin leise. Ihre Hand lag weiterhin auf meiner Brust und ich spürte ihre Wärme. Vielleicht würde ich das ein ganz kleines bisschen vermissen, wenn sie wie wir wären. Aber der ewige Spaß mit ihr würde all das wieder wett machen.
„Würdest du das Leben vermissen?“, fragte ich sie frei heraus. Sie hatte die Schwelle zuerst überschritten. Einen Kopf kürzer konnte sie mich also nicht machen. Obwohl es vermutlich lustig wäre, wenn sie es versuchen würde.
Einen Moment herrschte Stille, dann wieder ein Seufzer.
„So jetzt rein eventuell…“ fügte ich hinzu. Gott, solche Gespräche lagen mir überhaupt nicht. Nicht umsonst hatte man mir die Muskelmasse und Edward seinen hingebungsvollen Masochismus gegeben. „Könntest du dir vorstellen, dich von mir verwandeln zu lassen?“
Dass ich der einzige war, der an ihren schönen Hals durfte, stand ja wohl außer Frage.
Ich lauschte ein paar Augenblicke in die Stille hinein. Keine Antwort. Auch kein Seufzen mehr. Würde sie doch versuchen, mir den Kopf abzureißen? Ich blickte zu ihr herunter und löste sie ein paar Zentimeter aus meiner Umarmung, um ihr in die Augen schauen zu können.
Nichts. Kein Funkeln. Keine Explosion. Sie war doch tatsächlich eingeschlafen.
Am liebsten hätte ich jetzt laut gelacht. Das war einfach mal wieder typisch. Typisch für sie, typisch für mich. Schläft doch tatsächlich ein, wenn ich sie fragte, ob sie die Ewigkeit mit mir verbringen würde.
Leicht den Kopf schüttelnd, rutschte ich etwas tiefer ins Sofa, sodass sie eine bequemere Position hatte. Ich beobachtete ihr schlafendes Gesicht, während ich ihr eine Strähne aus dem Haar strich.
Warte nur ab. In einem Jahr, wenn du Bella wiedersiehst, wirst du mich darum anbetteln, dass ich an deinem Hals knabber.
»Ich weiß, wie viel Sie von Miss Fairfax halten«, sagte Emma. Der kleine Henry lag ihr im Sinn, und hin- und hergerissen zwischen Befürchtung und Zartgefühl wusste sie nicht, was sie sonst sagen sollte.
»Ja«, erwiderte er, »es ist ja kein Geheimnis, wie viel ich von ihr halte.«
»Und doch«, begann Emma hastig und mit einem schelmischen Blick, unterbrach sich... es war besser, das Schlimmste gleich zu erfahren... und fuhr fort: »Und doch sind Sie sich vielleicht gar nicht darüber im Klaren, wie viel Sie von ihr halten. Das Ausmaß Ihrer Bewunderung könnte Sie eines schönen Tages noch selbst überraschen.«
Mr. Knightley beschäftigte sich intensiv mit den unteren Knöpfen seiner dicken Ledergamaschen, und entweder durch die Anstrengung, sie zu schließen, oder aus irgendeinem anderen Grunde schoss ihm das Blut ins Gesicht, als er antwortete:
»So! Darauf läuft es also hinaus? Aber du hinkst hoffnungslos hinterher. Mr. Cole hat schon vor sechs Wochen eine Anspielung darauf gemacht.«
Er schwieg. Emma spürte, wie Mrs. Weston ihr auf den Fuß trat; sie wusste auch nicht, was sie denken sollte. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:
»Ich kann dir allerdings versichern, dass es dazu niemals kommen wird. Miss Fairfax würde mich vermutlich gar nicht nehmen, wenn ich sie fragte, und außerdem bin ich sicher, dass ich sie nie fragen werde.«
Nun trat Emma ihrer Freundin mit Nachdruck auf den Fuß, und insgeheim angetan rief sie aus:
»Eitel sind Sie nicht, Mr. Knightley. Das muss man Ihnen lassen.«
Er schien es kaum zu hören, er wir in Gedanken versunken und sagte dann auf eine Art, die zeigte, wie wenig angetan er davon war:
»Du hast also beschlossen, dass ich Miss Fairfax heiraten soll?«
»Nein, keineswegs. Sie haben mich fürs Heiratspläneschmieden zu oft ausgeschimpft, als dass ich mir diese Freiheit Ihnen gegenüber herausnehmen würde. Was ich gesagt habe, hatte nichts zu bedeuten. Solche Sachen sagt man ja, ohne zu ahnen, dass etwas dahinterstecken könnte. O nein! Ich habe nicht das geringste Bedürfnis, Sie mit Jane Fairfax oder irgendeiner anderen Jane zu verheiraten. Sie würden nicht mehr vorbeikommen und uns so angenehm unterhalten, wenn Sie verheiratet wären.«
Mr. Knightley versank wieder in Gedanken. Das Ergebnis seiner Geistesabwesenheit war:
»Nein, Emma, ich glaube nicht, dass mich das Ausmaß meiner Bewunderung für sie je überraschen wird. In dem Zusammenhang ist sie mir nie in den Sinn gekommen, das kann ich dir versichern.« Und bald darauf: »Jane Fairfax ist eine sehr charmante junge Frau, aber nicht einmal Jane Fairfax ist vollkommen. Sie hat einen Fehler. Sie hat nicht die Offenheit, die sich ein Mann bei seiner Frau wünscht.«
Emma konnte nicht umhin, sich herzlich zu freuen, dass Jane Fairfax einen Fehler hatte.
»Aha«, sagte sie, »und Sie haben Mr. Cole also schnell zum Schweigen gebracht, nehme ich an?«
»Ja, ganz schnell. Er machte eine Anspielung; ich sagte ihm, er habe sich geirrt; er bat um Entschuldigung und sagte nichts weiter. Cole hat nicht das Bedürfnis, weiser und gewitzter zu sein als seine Nachbarn.«
»In dieser Hinsicht unterscheidet er sich von der guten Mrs. Elton, die weiser und gewitzter sein möchte, als die ganze Welt! Was sie wohl über die Coles sagt? Wie sie sie wohl nennt? Wie soll sie bloß eine Anrede finden, die das nötige Maß an plump-vertraulicher Gewöhnlichkeit hat? Sie nennt Sie >Knightley<; womit kann sie wohl Mr. Cole beglücken? Und ich habe also keinen Grund, überrascht zu sein, dass Jane Fairfax ihre Höflichkeiten hinnimmt und bereit ist, mit ihr umzugehen? Mrs. Weston, Ihr Argument überzeugt mich mehr. Ich kann weit eher die Versuchung nachvollziehen, Miss Bates zu entgehen, als an den Triumph von Miss Fairfax' Geist über Mrs. Elton glauben. Ich habe wenig Hoffnung, dass Mrs. Elton sich im Denken, Sprechen oder Handeln für unterlegen hält oder sich irgendwelche Zurückhaltung über ihre eigenen dürftigen Anstandsregeln hinaus auferlegt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihren Geist nicht ständig mit Lob, Ermutigung und Protektionsangeboten beleidigt; dass sie ihr nicht ständig bis ins Detail ihre eigenen großartigen Absichten vom Vermitteln einer dauerhaften Stellung bis zur Teilnahme an diesen zauberhaften Entdeckungsfahrten vorerzählt, die in der großen Kutsche stattfinden sollen.«
»Jane Fairfax hat Gefühl«, sagte Mr. Knightley. »Ich behaupte nicht, dass sie kein Gefühl hat. Sie hat vermutlich viel Feingefühl, ihre Fähigkeit zu Nachsicht, Geduld und Selbstdisziplin ist bewundernswert, aber ihr fehlt Offenheit. Sie ist reserviert; reservierter, als sie sonst war, finde ich, und mir gefällt Offenheit besser. Nein, bis Cole auf meine angebliche Schwäche für sie anspielte, war ich nie darauf gekommen. Ich habe Jane Fairfax immer mit Bewunderung und Vergnügen betrachtet und mich mit ihr unterhalten, aber an mehr habe ich nie gedacht.«
»Na, Mrs. Weston«, sagte Emma triumphierend, als er gegangen war. »Was sagen Sie nun zu Mr. Knightleys Absicht, Jane Fairfax zu heiraten?«
»Aber Emma, ich bitte dich, ich behaupte, er ist so mit dem Gedanken beschäftigt, nicht in sie verliebt zu sein, dass es mich nicht wundern würde, wenn er sich schließlich doch in sie verliebt. Aua, schlag mich nicht!«
(Jane Austen, Emma, Seite 340, Zeile 13 bis Seite 343, Zeile 14, RECLAM, 2007)
"Also, dass ihr Frauen immer interpretieren müsst, obwohl es rein gar nichts zu interpretieren gibt." Emmett unterbrach mich in meinem Vorlesen und warf mir einen kurzen Blick zu. "Ich meine, er hat doch klar und deutlich gesagt, dass er sie nicht heiraten will. Warum versteht ihr Frauen das nicht?"
Ich lächelte nur zur Antwort und blickte aus dem Autofenster, während Emmett mir seine Theorien über Männer und Frauen verdeutlichte. Landschaften flogen nur so an uns vorbei und ich vermied es einmal mehr einen Blick auf das Tacho zu werfen und Emmetts Geschwindigkeit zu überprüfen.
Fast 3 Wochen war nun die Hochzeit von Bella und Edward her. 3 Wochen, in denen ich immer wieder Ausreden gefunden hatte, um unsere Abreise noch ein wenig zu verzögern. Für Emmett hätte es gar nicht früh genug losgehen können. Am liebsten hätte er gleich nach Bella und Edward den Jeep gestartet und sie vermutlich noch auf einer der Landstraßen überholt. Doch irgendwie hatte ich mich noch nicht so wirklich von Forks lösen können. Ich konnte mir selbst nicht genau erklären, warum. In der Vergangenheit war ich so oft umgezogen. Hatte so viele Orte einfach hinter mich gelassen. Hatte sie vergessen. Doch Forks wollte ich nicht vergessen. Es war seit langem das erste Mal ein Ort, den ich wirklich mein Zuhause nannte. An dem ich mich Zuhause fühlte.
Emmett hatte bald meinen Plan durchschaut, doch er hatte Nachsicht mit mir gehabt. Zwar versuchte er mich immer wieder dazu zu bewegen, endlich den sogenannten nächsten Schritt zu wagen - einmal hatte er es so weit getrieben, dass er meine Ausgabe von Emma versteckt hatte und sich weigerte sie herauszugeben, bis wir endlich auf dem Weg zu unserem ersten Halt in San Francisco waren - doch er schien auch nachzuvollziehen, was in mir vorging. Also hatte er seine Bemühungen irgendwann aufgegeben. Bis zum heutigen Tag. Dem Tag, an dem wir endlich unsere einjährige, gemeinsame Reise starteten.
So wirkliche Gedanken hatten wir uns über unseren Trip noch nicht gemacht. Es sollte eher eine spontane Entscheidung sein, welche Städte wir wann als nächstes besuchten. Meine einzige Bedingung war gewesen, dass wir von dem lebten, was wir uns verdienten. Ich wollte nicht ein ganzes Jahr lang eine Reise von den Cullens gesponsert bekommen, auch wenn sie es uns mehr als einmal angeboten hatten. Ich war der Überzeugung, dass wir die Städte und das Land viel besser kennenlernten, wenn wir uns unter die Einwohner mischten. Ein Teil von ihnen wurden. Unseren Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisteten. Außerdem konnte ich es nicht erwarten zu sehen, wie Emmett mit alltäglicher, menschlicher Arbeit umging. Bei dem Gedanken musste ich schmunzeln.
Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass wir mittlerweile seit sechseinhalb Stunden die Westküste Richtung Süden entlang fuhren. Die Fahrt bis nach San Francisco würde insgesamt 14 Stunden dauern, also hatten wir gut die Hälfte unserer Strecke noch vor uns. Emmett hatte mit Absicht eine Route auf einer der entlegenen Landstraßen genommen, damit er unbekümmert sein mehr als nur erhöhtes Tempo fahren konnte. Auf der Interstate wäre das schlecht gegangen. Obwohl wir Forks bereits seit Stunden verlassen hatten, hatte sich das Wetter keineswegs gebessert. Es regnete zwar nicht, doch das schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wenn ich mir den wolkenverhangenen Himmel so ansah. Im Radio lief leise Hold Back the river von James Bay.
Ich lehnte meinen Kopf gegen die kalte Scheibe von Emmetts Jeep und sah ihm beim Fahren zu. An seine überhöhte Geschwindigkeit hatte ich mich mittlerweile gewöhnt. Das schien wohl Alltag bei Vampiren zu sein.
Mit seinen Erklärungen war er immer noch nicht zum Ende gekommen, im Gegenteil. Es war, als hätte er jetzt zum ersten Mal die Gelegenheit, jemanden seine Ansicht über Männer und Frauen näher zu bringen. Ich hätte nie gedacht, dass Emmett sich mal über etwas anderes Gedanken machte als Baseball und wie er am Besten den nächsten Unfug anstellen könnte.
Ein weiteres Mal musste ich über meine eigenen Gedanken schmunzeln.
Emmett schien zu spüren, dass ich ihn beobachtete, denn er hielt in seinen Erklärungen inne und wandte sich mir ebenfalls zu.
"Was?", fragte er nur. Kurz warf er einen Blick auf die Straße vor uns, dann sah er mich wieder an. Auch wenn es mir gefiel, wenn seine warmen, karamellfarbenen Augen meine trafen, so war mir nicht ganz wohl dabei, wenn er das bei fast 200 km/h tat.
"Nichts", grinste ich nur und schlug das Buch zu, nicht ohne vorher noch die Seite zu markieren, an der wir stehen geblieben waren.
"Manchmal wünschte ich mir, ich hätte Eds Gabe." Er hielt demonstrativ meinem Blick stand. Wollte er mich damit etwa ärgern?
"Dann wüsstest du trotzdem immer noch nicht, was ich denke", neckte ich ihn und streckte ihm die Zunge raus.
Kurzerhand trat er auf die Bremsen und erschrocken hielt ich mich am Armaturenbrett vor mir fest. Verwundert sah ich auf die Straße, um herauszufinden, was Emmett dazu bewegt hatte, so plötzlich anzuhalten. Doch ich erblickte nichts, was sein Verhalten rechtfertigen würde. Kein Reh oder Hirsch stand vor uns auf der Straße. Nicht einmal eine Katze. Die Landstraße war vollkommen verlassen. Sowohl vor uns, als auch hinter uns.
Verwundert wandte ich mich Emmett zu, der mich immer noch mit seinem Blick fixiert hatte.
"Warum hast du angehalten?", fragte ich ihn.
Ein breites Grinsen legte sich auf seine Lippen und er ergriff sanft mein Kinn, während er sich zu mir herüber beugte. "Weil du mir ein Angebot gemacht hast, welches ich definitiv nie abschlagen würde."
Dann küsste er mich. Seine kalten Lippen trafen auf meine und ein Schauer jagte mir durch den Körper. Für einen Moment vergaß ich zu atmen und es fühlte sich an, als würde ich außer meinem Mund nichts besitzen. Seine Zunge bahnte sich zielstrebend einen Weg zu meiner und liebkoste sie, forderte sie zum Tanz auf. Selbst wenn ich ein wenig Klarheit behalten hätte, so hätte ich dennoch nicht mit seiner Zunge mithalten können. Er gab den Takt vor und das auf eine Art und Weise, die mich nur noch mehr vernebelte. Die Hand an meinen Kinn wanderte leicht über meine Wange bis hin zu meinem Nacken und zog mich weiter zu ihm heran. Ich hätte ihn gerne für den Rest meines Lebens so geküsst. Auch wenn das nicht lange gewesen wäre, denn der Sauerstoffmangel tat sein übriges.
Dann löste er sich wieder von mir, nicht ohne noch einmal kurz mit seinem Daumen über meine Lippen zu streichen. "Wenn du nicht willst, dass ich das nächste Mal hier in diesem Jeep über dich herfalle, machst du mir am besten nicht noch einmal so ein unmoralisches Angebot und behältst deine süße Zunge in deinem hübschen Mund."
Mein Gesicht brannte und ich sah ihm in seine vor Verlangen leuchtenden Augen. Tief atmete ich ein und brachte nur ein kurzes Nicken zustande. Dann setzte er sein berühmtes breites Grinsen auf, wandte sich von mir ab und fuhr weiter.
Ich lehnte meine Stirn an die kalte Scheibe und sie bildete einen angenehmen Kontrast zu meinem brennenden Gesicht. Einer leiser Seufzer entfuhr mir.
"Du kannst auch zu mir kommen und dich abkühlen." Ich konnte den Schalk aus Emmetts Stimme nur zu deutlich hören. Es amüsierte ihn immer wieder, wenn er diese menschlichen Reaktionen bei mir hervorrufen konnte.
Doch noch bevor ich zu einer Erwiderung ansetzen konnte, klingelte plötzlich mein Handy in der Tasche. Ich warf einen kurzen, fragenden Blick zu Emmett, der nur mit den Schultern zuckte. Hatten wir etwas vergessen?
Doch als ich auf das Display starrte, wusste ich, dass es nichts dergleichen sein konnte.
Bella.
Erfreut über ihren Anruf, hob ich ab. "Hey, geht es euch gut? Wie sind die Flitterwochen? Seid ihr schon auf dem Weg zurück?"
"Amylin?" Sie flüsterte und ihre Stimme klang kratzig und rau. Irgendetwas in ihrem Ton ließ mich aufhorchen und bereitete mir Unbehagen. War etwas passiert? Ich hörte, wie sie schluckte und selbst um Fassung rang. Dann holte sie kurz Luft. "Ich brauche deine Hilfe."
Es regnete. Hart und erbarmungslos fielen die kalten Tropfen auf das Glas herab. Sie schienen eine Melodie zu spielen, dessen Takt sich mir nicht erschloss. Regungslos stand ich an einem der großen Fenster im Hause der Cullens und starrte hinaus. Ich fixierte keinen genauen Punkt und es war mir auch egal, was um mich herum passierte. Ich konnte einfach nur dastehen und ins Leere blicken.
Nachdem Bella mich angerufen und mir kurz und knapp geschildert hatte, was vorgefallen war, hatten wir unverzüglich umgedreht und uns auf dem Weg nach Seattle gemacht.
Während ich noch mit Bella telefoniert hatte, hatte Emmett mit Carlisle besprochen, dass wir die beiden vom Flughafen abholen würden. Zwar würden wir fast genau so lange nach Seattle zurück brauchen, wie wir bereits unterwegs gewesen waren, doch würden die Flüge von Bella und Edward selbst mit direktem Anschluss mindestens einen halben Tag dauern.
Seit ein bis zwei Tagen behielt sie fast gar kein Essen bei sich. Selbst bei dem Gedanken an Nahrung wurde ihr schlecht. Mein erster Gedanke war gewesen, dass sie sich auf dieser Insel den Magen verdorben hatte. Doch auf meine Frage hin, was sie gegessen hatte, hatte sie mich nur abgewürgt und gemeint, dass sie seit fast 6 Tagen überfällig sei.
Es hatte einen Moment gedauert, bis ich verstand, was sie mir damit sagen wollte.
Das war unmöglich. Das war vollkommen absurd. Nie hätte ich gedacht, dass so etwas jemals passieren könnte. Bella und ich hatten nicht oft darüber gesprochen, was sie in den Flitterwochen alles machen und erleben wollte. Doch, wenn wir es taten, hatten wir so etwas nie berücksichtigt. Wie auch? Wie käme man auch auf den Gedanken, dass ein Mensch und ein Vampir sich...
Mein warmer Atem traf auf die kalte Glasscheibe und färbte sie für einen Moment milchig. Die Sicht auf den Wald wurde versperrt, stattdessen blickte ich in meine eigenen, leicht verängstigten Augen.
Er wollte es wegmachen lassen. Das waren die Worte, die Bella gebraucht hatte. Die Worte, mit denen sie Edwards Plan beschrieben hatte. Carlisle würde sich schon darum kümmern, hatte er gesagt.
Sie wollte das nicht. Es machte ihr Angst, dass er so etwas sagte. Dass er so etwas tun wollte. Deswegen hatte sie mich angerufen. Deswegen wollte sie meine Hilfe.
Ich hatte keine Ahnung, was das alles bedeutete. Am meisten Angst machte es mir, dass es scheinbar schon so groß war. Auf meine Frage hin, ob sie sich denn sicher sei und es nicht eine andere Ursache für das Ausbleiben ihrer Periode geben könnte, hatte sie nur gesagt, dass sie es bereits fühlen könnte. Eine leichte Wölbung zeichnete sich bereits ab und sie konnte deutlich spüren, wie sich etwas in ihr bewegte. Bei der Vorstellung ist mir schlecht geworden.
Am Flughafen war sie sofort auf mich zugerannt, als sich unsere Blicke getroffen hatten. Ich hatte versucht, ihr Mut und Hoffnung zuzusprechen. Hatte ihr versichert, dass alles gut werden würde. Es war mir egal gewesen, ob Edward mich hörte oder nicht. Vermutlich hatte er nicht einmal groß darauf geachtet und selbst wenn, hätte er es nicht verstanden. Nicht verstanden, was ich wirklich damit meinte.
Bella hatte mir das Versprechen abgenommen, dass ich Edward gegenüber nichts sagen würde. Noch nicht. Sie hatte die Hoffnung, dass wenn Carlisle sie untersuchte und feststellte, dass keine Gefahr für sie bestand, er seine Meinung wieder ändern würde.
Gefahr. Bei dem Wort trafen mich Erinnerungen. Erinnerungen, die ich eigentlich tief in mir eingeschlossen hatte. Leichte Panik ergriff mich und mein Herz begann schneller zu schlagen. Ob aus Angst vor dem, was passiert war oder der Vorstellung, dass meine Mauer schwächer wurde, konnte ich nicht so genau sagen.
Der Regen wurde stärker und ließ den Wald nur noch düsterer aussehen. Fast schon erwartete ich dort ein paar roter Augen zu sehen. Rote Augen, die anders waren als die, die mich in meinen Träumen verfolgten. Rote Augen, die mir nicht das Liebste genommen hatten, sondern die das Monster in mir zum Leben erweckt hatten.
Wann hatte ich diese Augen zum letzten Mal gesehen? Hatte es damals nicht auch geregnet? Damals, als er sie gejagt hatte? Als er mir einmal mehr erklärte, wie viel besser es schmeckte, wenn sie vollgepumpt mit Angst und Adrenalin waren? Als ich nicht nur ein rasendes Herz hörte... sondern auch ein zweites, viel kleineres? Als ich begriff, dass ihr Blut nicht das einzige sein würde, was er schmecken würde?
"Amylin?"
Emmetts Stimme hörte sich so fern an. Ich riss mich von dem Regen und den Erinnerungen, die er mit sich brachte los und wandte mich um. Er stand dicht neben mir und eine seiner kalten Hände lag auf meiner Schulter. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich am ganzen Körper zitterte.
"Es wird alles gut. Carlisle wird schon wissen, was zu tun ist." Er versuchte mich zu beruhigen. Ich lächelte zaghaft und einmal mehr war ich dankbar, dass er in dieser Situation nicht einfach einen seiner typischen Sprüche zum Besten gab.
Ich blickte in seine warmen, karamellfarbenen Augen. Wenn er es wüsste... Wenn er wüsste, was passiert war. Wüsste, was ich getan hatte... Was ich nicht verhindert hatte. Würde er mich dann immer noch so ansehen? Mit all dieser Sorge und dieser Liebe?
Ich hörte Regen, der auf Glas fiel. Regen, der auf Blätter und den Waldboden traf. Regen, der einen berauschenden Duft mit sich brachte und Spuren wegwischen konnte.
Ich schloss meine Augen und versuchte mich darauf zu konzentrieren, was Realität und was Vergangenheit war. Vergangenheit, die ich wegschließen konnte.
"Sie sind fertig."
Ich öffnete meine Augen wieder und folgte Emmetts Blick. Carlisle und Edward kamen die Treppe herunter, gefolgt von Bella. Alice erhob sich sofort von ihrem Platz und gesellte sich zu Esme, die die drei bereits sehnsüchtig erwartete. Jasper hielt sich weiter im Hintergrund.
Bella suchte meinen Blick und in ihren Augen konnte ich ihre Erschöpfung und Angst sehen. Das schien nichts Gutes zu bedeuten.
Keiner schien das Wort ergreifen zu wollen. Ich spürte, wie Emmett mir seine Hand auf den Rücken legte und mich leicht zu sich heran zog.
"Was hat die Untersuchung ergeben?" Esmes Stimme war für mich kaum hörbar, so leise flüsterte sie.
Carlisle warf Bella einen kurzen Blick zu. Als sie zögerlich nickte, wandte er sich uns zu und begann in seiner typischen Arztmanier die Frage zu beantworten.
"Ich kann es leider nicht eindeutig sagen. Aber alles deutet darauf hin, dass Bella einen Fötus in sich trägt. Die Membran ist jedoch so hart, dass es mir nicht möglich war, eine Ultraschallaufnahme zu machen. Es bestünde noch die Möglichkeit einer Fruchtwasseruntersuchung, doch ich bezweifle, dass die Nadel durch die Fruchtblase dringen würde." Carlisle machte eine kurze Pause und sah erneut kurz zu Bella herüber. "Alles in allem habe ich keinerlei Ahnung, um was für einen Fötus es sich handelt. Das einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass es unglaublich schnell wächst. Und wenn es in diesem Tempo weiter wächst, wird die Schwangerschaft nicht mehr als ein paar Wochen dauern."
Stille. Jeder verarbeitete auf seine Weise das eben Gesagte. In meinem Kopf konnte ich nur immer wieder die gleichen Wörter hören.
Fötus. Harte Membran. Nadel. Wächst schnell. Ein paar Wochen.
Im Grunde waren wir genau so schlau wie am Anfang. Edward nahm Carlisle beiseite und begann leise auf ihn einzureden. Esme ging zu Bella herüber und legte ihr sanft einen Arm um die Schultern. "Soll ich dir etwas zu essen machen, Liebes? Du siehst so müde und entkräftet aus." Sie strich ihr kurz mit einem liebevollen Blick über die Wange und ließ sie auf der Couch Platz nehmen, bevor sie sich auf den Weg in die Küche machte. Alice suchte wieder die Nähe von Jasper. Es wirkte fast so, als versuchte sie sich auf ihre Visionen zu konzentrieren. Irgendetwas schien nicht zu stimmen.
Fötus. Harte Membran. Nadel. Wächst schnell. Ein paar Wochen.
Mein Blick ruhte weiterhin auf Bella. Die Art, wie sie ihre Hände um ihren kaum sichtbaren Bauch legte. Ein Bauch, der zu dieser Zeit weder so groß noch so spürbar sein durfte. Dieser Ausdruck in ihren Augen, während sie zu Edward und Carlisle herüber sah. Was sollte ich nur tun? Was konnte ich nur tun?
Fötus. Harte Membran. Nadel. Wächst schnell. Ein paar Wochen.
Dieser Ausdruck, als sie plötzlich zu mir herüber sah. Ich verstand sie, ohne dass sie etwas sagte. Selbst wenn sie vorhin am Telefon nicht schon um meine Hilfe gebeten hätte, so hätte ich es spätestens jetzt gewusst.
Sie wollte dieses Kind. Auch wenn wir nichts darüber wussten. Auch wenn es ungewiss war, was es überhaupt war und wie diese Schwangerschaft verlaufen würde. Sie liebte es bereits jetzt. Als Mutter.
Erneute Erinnerungsfetzen drangen an mein Bewusstsein. Alte Erinnerungsfetzen. Schmerzhafte Erinnerungsfetzen.
Ihre Augen. Ihr warmes Lächeln. Ihr Leiden.
"Du bist mein wertvollster Schatz. Ich würde alles für dich tun."
Für einen kurzen Moment schnürte mir diese Erinnerung die Luft ab. Ich wusste nur zu gut, was Mütter für ihre Kinder taten. Wie selbstlos sie sie liebten und was sie bereit waren zu opfern.
"Verschwindet endlich! Haut ab! Lasst mich allein! Hasst mich! Verabscheut mich!" Ich schrie sie an und meine roten Augen funkelten voller Rage. Am liebsten hätte ich sie gepackt und so lange geschüttelt, bis sie wieder klaren Verstandes war. Doch ich wusste, dass ich sie damit nur verletzen, wenn nicht gar töten würde. Also nahm ich das Nächstbeste, was ich in die Finger bekam und warf es an die Wand, um die Gefahr, die von mir ausging, zu demonstrieren. Die Vase zersplitterte in Tausend Scherben und hinterließ an der Wand eine kleine Einkerbung. Ich beobachtete, wie die Blumen zu Boden fielen und wandte mich dann wieder ihr zu.
Mit einem liebevollen Blick strich sie mir das Haar aus dem Gesicht. Warum hatte sie keine Angst? Warum hasste sie mich nicht? Warum jagte sie mich nicht zum Teufel? Nachdem, was ich ihr alles angetan hatte? Die Schmerzen, die ich ihr bereitet hatte. Das Leid, dass ich ihr gebracht hatte.
"Ich würde für dich mein Leben geben." Obwohl diese Worte nichts Schönes bedeuteten, steckten sie voller Liebe und Zuneigung. Liebe und Zuneigung, die sie mir gegenüber empfand.
Hätte ich es gekonnt, hätte ich in diesem Moment geweint. Doch so konnte ich sie nur mit einem gequälten Gesichtsausdruck ansehen.
Ihr Lächeln wurde nur noch breiter und liebevoller. "Eines Tages wirst du es verstehen, mein Liebling."
Ich verstand es jetzt. Ich verstand, während ich Bella dabei zusah, wie sie unaufhörlich über ihren Bauch streichelte. Verstand, als ich mich an die Verzweiflung in ihrer Stimme und ihrem Blick erinnerte. Als ich Esme dabei beobachtete, wie sie ihr ein paar frische Pencakes hinstellte und sich neben sie auf die Couch setzte.
"Können wir es nicht einfach herausschneiden?" Edwards Frage hallte im Raum wieder und schlagartig wurde es totenstill. Mein Herz setzte für einen Moment aus und ich sah zu Carlisle herüber. Jeder Blick war nun auf ihn gerichtet.
Er sah Edward ernst an. Dann wandte er sich zu Bella und sah die Panik in ihren Augen. Ein leiser Seufzer entkam seinen Lippen. "Ich weiß es nicht", gab er zu. "Wie ich bereits sagte, die Membran ist hart. Ich weiß nicht, ob irgendetwas scharf genug wäre, sie zu durchdringen. Zumindest kein chirurgisches Werkzeug."
"Ich will es nicht herausschneiden lassen." Es war das erste Mal, dass Bella das Wort ergriff. Angsterfüllt blickte sie zu Edward und schüttelte leicht mit dem Kopf.
"Bella." Seine Stimme war sanft, doch sein Blick verriet, wie aufgewühlt er innerlich war. "Wir wissen nicht einmal, was für ein Fötus es ist. Wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, ob es überhaupt ein Fötus ist."
"Doch, ich weiß es", protestierte sie und strich über ihren Bauch. "Ich kann es fühlen."
"Nur, weil sich in dir etwas bewegt, muss das noch lange nichts Gutes sein", erwiderte er nur.
Sie setzte zu einer Antwort an, doch kein Wort kam aus ihren Lippen. Panisch wanderte ihr Blick im Raum umher und blieb erneut an mir hängen. Ein stummes Flehen lag in ihnen.
Sie glaubte, dass ich ihre Situation am besten nachvollziehen konnte. Sie glaubte, dass ich ihr nachempfinden konnte. Weil ich wie sie ein Mensch war.
"Bitte! Bitte nicht!" Sie wimmerte und heiße Tränen flossen ihre Wangen herunter. "Mein Baby..."
Wie lange hatte er sie gejagt? Wie viel Angst hatte sie? Wie viele Schmerzen hatte sie schon erleiden müssen. Und das einzige, woran sie denken konnte, war ihr Kind. Ich sah in ihren Augen, dass das ihre einzige Sorge war. Nur das Baby. Alles andere war egal. Ihr Leben war egal. Sie wollte nur ihr Baby schützen.
Ein Schwelle der Übelkeit überkam mich und einmal mehr hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Bella sah mich weiterhin an, während Edward auf sie einredete. Sanft hielt sie ihren Bauch, so als ob sie das, was darin war, dadurch beschützen konnte.
Tief atmete ich ein und schloss kurz die Augen. Sammelte Kraft, um all diese Erinnerungen, die sich ihren Weg in mein Bewusstsein erkämpft hatten, wieder wegzusperren.
Ich würde Bella nicht einfach nur helfen. Nicht einfach nur ihrer Bitte nachkommen. Ich würde ihre Stärke sein. Würde alles in meiner Macht stehende tun, damit sie und der Fötus in Sicherheit waren. Wenn ich mich gegen Edward auflehnen musste, dann war es so. Selbst wenn ich mich gegen sie alle auflehnen musste.
Der Tod meiner Mutter war meine Schuld gewesen. Ich würde nicht zulassen, dass diesem Fötus das gleiche passierte. Ich würde nicht zulassen, dass er die gleichen Schuldgefühle empfand.
Vielleicht war das ja meine Wiedergutmachung.
Ich hatte das Kind damals nicht retten können. Aber ich würde ihres retten.
Keine Ahnung, wie. Keine Ahnung, mit welchen Mitteln. Aber ich würde es tun.
Edward redete weiter auf Bella ein. Er konnte einfach nicht verstehen, warum sie so sehr an etwas hing, von dem wir noch nicht einmal wussten, was es war. Etwas, was sie vielleicht sogar töten konnte. Es machte ihm Angst, dass Carlisle, mit all seiner jahrhundertelangen Erfahrung, selbst ratlos war. Es machte ihm Angst, dass es so schnell wuchs. Aber am meisten machte er sich selbst Vorwürfe. Weil er es war, der Bella in diese Lage gebracht hatte. Er sah nicht, dass es für sie das beste Geschenk war, was er ihr hatte machen können. Er sah sie nicht. Er sah nur seine eigene Angst und Hilflosigkeit.
Plötzlich hielt sich Bella die Hand vor den Mund.
"Alles in Ordnung mit dir, Liebes?" Esme strich ihr sanft über den Rücken.
Bella schüttelte nur leicht mit dem Kopf, während sie weiterhin die Hand vor dem Mund hielt. Sie sah aus, als müsste sie sich gleich übergeben. Verwundert blickte ich auf den Teller mit den Pencakes. Sie hatte doch gerade mal einen halben gegessen. War das die typische Schwangerschaftsübelkeit?
Sie versuchte aufzustehen, um ins Bad zu gehen, doch sie war von den Strapazen der Reise scheinbar noch so geschwächt, dass sie sofort wieder auf der Couch niedersank. Keine zwei Sekunden später war Carlisle auch schon mit einem Eimer bei ihr und Bella erbrach sich.
Sofort lief ich auf sie zu und hockte mich neben sie. Ich strich ihr ihre Haare aus dem Gesicht, während sie immer noch leicht über den Eimer gebeugt war.
"Du behältst nicht einmal dein Essen bei dir. Seit Tagen nicht. Wie kann das gut sein?"
Edward blieb ruhig. Er würde Bella nie anschreien, schon gar nicht in einer Situation, in der es ihr ohnehin nicht gut ging. Er versuchte, an ihre Vernunft zu appellieren. Dass, wenn er ihr lang genug die Tatsachen vor Augen hielt, sie einlenken würde.
"Wir haben deinen Standpunkt verstanden. Gib Bella etwas Ruhe" antwortete ich und blickte zu ihm auf, während ich weiterhin Bellas Haare zurückhielt. Erneut erbrach sie sich.
Doch Edward ignorierte mich und fuhr fort. "Wenn es ein normaler Fötus wäre, würde er dich nicht so schwächen. Es wirkt ja fast, als würde er dich von innen bekämpfen."
"Edward", fuhr ich ihn jetzt etwas harscher an. "Lass es gut sein."
Noch immer ging er nicht auf mich ein und blickte Bella verzweifelt an. Ich konnte seine Reaktion und Beweggründe verstehen, immerhin war sie diejenige, die er am meisten liebte. Er konnte ohne sie nicht leben. Und die Vorstellung, sie zu verlieren, trieb ihn langsam in den Wahnsinn.
Doch momentan nahmen seine Gefühle die Oberhand. Er achtete nicht mehr darauf, was er sagte oder wie er es sagte. Ihm war nicht mehr bewusst, was er in Bella damit auslöste. Wie sie sich dabei fühlte. Er wurde immer irrationaler.
"Wie kannst du nur so etwas denken?" Bella ergriff wieder das Wort. Sie richtete sich etwas auf und blickte ihn direkt an. "Er würde mir nie etwas schlimmes antun, das kann ich spüren."
"Bella, wir wissen noch nicht einmal, was es ist. Vielleicht ist es weder ein er noch eine sie."
"Edward, das reicht jetzt. Du gehst zu weit. Lass ihr etwas Freiraum und Zeit. Das, was sie jetzt braucht, ist Ruhe, und..."
Ich war aufgestanden und einen Schritt auf ihn zugegangen, doch noch ehe ich meinen Satz beenden konnte, ergriff mich Emmett plötzlich am Arm und zog mich sanft zur Seite. "Amylin, lass gut sein. Er ist momentan für niemanden empfänglich."
Was sollte das? Fiel Emmett mir jetzt auch noch in den Rücken? Warum hielt niemand gegen Edward stand? Waren sie etwa alle seiner Meinung? Glaubten sie alle, es sei das Beste, es einfach irgendwie herauszuschneiden?
"Bella, sei bitte vernünftig. Jeder wird mir hier zustimmen, dass es das Beste ist, diesen Fötus entfernen zu lassen."
Niemand im Raum stimmte ihm zu. Aber es widersprach ihm auch niemand. Meine Fassungslosigkeit verwandelte sich langsam in Wut.
Ich löste mich aus Emmetts Griff und stellte mich Edward in den Weg. "Der einzige, der hier der Meinung ist, dass es schädlich ist und man es entfernen lassen sollte, bist du. Wir wissen genau so wenig, dass es gefährlich ist, wie wir wissen, dass es ungefährlich ist. Bella sagt, dass es ihr nichts tun wird und ich vertraue ihr. Das solltest du auch."
Mit verschränkten Armen sah ich ihn an. Auch wenn ich gerade wahrscheinlich unsere Freundschaft, die wir in den letzten Monaten mühevoll aufgebaut hatten, auf's Spiel setzte, so würde ich keinen Zentimeter zur Seite weichen.
Ich wusste nicht, wie es Bella hinter mir jetzt ging, doch ich hoffte, dass sie sich ein wenig besser fühlte, jetzt wo sie jemanden auf ihrer Seite wusste.
Das erste Mal sah mich Edward direkt an. Sein Blick war weder erschrocken noch wütend oder verärgert. Er war kalt und hart. "Rede nicht von Dingen, von denen du nichts verstehst."
Mit diesen Worten schob er mich einfach zur Seite und begann wieder auf Bella einzureden. Wie eine lästige Fliege, die er aus dem Weg haben wollte.
Seine Worte hallten in meinem Kopf wieder.
Ich sollte nicht von Dingen reden, von denen ich nichts verstand? Wenn hier jemand diese Situation verstand, dann ja wohl ich.
Eine Welle verschiedener Empfindungen ergriff mich und ließ das Blut in meinen Ohren rauschen. Einmal mehr verschwammen die Grenzen der Vergangenheit und Gegenwart miteinander. Ich konnte nicht unterscheiden, welche Gefühle aus der gegenwärtigen Situation entstanden und welche seit Jahren in mir schlummerten.
"Eines Tages wirst du es verstehen, mein Liebling."
Jemand musste ihn wieder zu Vernunft bringen.
Ich wandte Edward den Rücken zu und marschierte schnellen Schrittes zur Treppe. Zwei Stufen auf einmal nehmend eilte ich ins oberste Stockwerk und steuerte direkt Emmetts Zimmer an.
Ich konnte die roten Augen vor meinem geistigen Auge leuchten sehen.
In Emmetts Zimmer sah ich mich um. Es war leerer als sonst, denn einiges befand sich in unseren Taschen, die noch in Emmetts Jeep verstaut waren. Der Großteil jedoch war genau so, wie wir ihn verlassen hatten. Ich ließ mein Blick über die Möbel schweifen auf der Suche nach einem ganz bestimmten Gegenstand. An der gegenüberliegenden Wand erblickte ich ihn und eilig durchquerte ich das Zimmer. Ohne groß darüber nachzudenken, nahm ich Emmetts Baseballschläger aus seiner Verankerung und eilte wieder zurück zu den Anderen.
"Ich würde für dich mein Leben geben."
"Eines Tages wirst du es verstehen, mein Liebling."
"Bitte! Bitte nicht! Mein Baby..."
Rote Augen leuchteten mich an. Tödliche, kalte Augen. Meine Augen.
Wut. Enttäuschung. Trauer. Schmerz. Angst. Hass.
All das stürzte in diesem Moment auf mich ein. Es kroch durch jede Pore, bahnte sich seinen Weg durch mein Blut direkt zu meinem Gefängnis.
>>Knacks<<
Mein Herz raste. Ich spürte, wie das Adrenalin durch meinen Körper gepumpt wurde. Den Schläger fest in meiner Hand umklammert, erreichte ich wieder die Anderen.
Niemand achtete auf mich. Sie alle beobachteten Bella und Edward.
Ich sollte nicht von Dingen reden, von denen ich nichts verstand?
Edwards Lippen bewegten sich, doch keines seiner Wörter drang zu mir durch, so sehr rauschte das Blut in meinen Ohren. Bellas Blick war voller Trauer und Hilflosigkeit.
>>Whoam<<
Hartes Holz traf auf einen noch härteren Grund. Die Welle des Widerstandes bahnte sich ihren Weg durch meinen Körper. Ich hörte etwas brechen. Der Schläger knackte und splitterndes Holz flog durch die Luft.
Edwards Kopf bewegte sich keinen Millimeter zur Seite. Ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass ich ihn verletzen würde. Das hatte ich auch gar nicht beabsichtigt.
"Da ich nun deine ungeteilte Aufmerksamkeit habe: Wenn du an Bella oder das Kind ran willst, musst du zuerst an mir vorbei!"
Stille. Den Schläger nach wie vor umklammert, war ich nun diejenige, die ihn mit einem kalten und harten Blick bedachte.
Keiner im Raum sagte ein Wort. Ich konnte ihre erschrockenen Blicke auf mir spüren.
Dann brach Emmett plötzlich in schallendes Gelächter und Jubel aus. "Das ist mein Mädchen."
Mein Plan schien Wirkung zu zeigen, denn Edward war im ersten Moment so überrumpelt, dass ich in seinen Augen sehen konnte, wie sich seine Panik etwas legte. Überrascht sah er mich an.
Emmett lachte immer noch und gab mir einen kleinen Applaus. Bis er plötzlich in seiner Jubelfeier inne hielt. "Warte mal... Ist das der Schläger von Joe Dimaggio?" Leichte Panik schwang in Emmetts Stimme mit und sie wirkte ein paar Oktaven zu hoch.
"Ich... wer?" Jetzt selbst aus dem Konzept gebracht, blickte ich verwirrt auf den Schläger in meiner Hand. An der Stelle, wo das Holz etwas gebrochen und abgesplittert war konnte man Teile einer Unterschrift erkennen.
Ups.
Im Bruchteil einer Sekunde war Emmett neben mir und nahm mir den Schläger aus der Hand. Ein stechender Schmerz breitete sich in meinem rechten Handgelenk aus und ich sog zischend die Luft ein.
"Joe Dimaggio! Ein Spieler der New York Yankees. Was sage ich da? Er war der Spieler der New York Yankees." Mit einem traurigen Blick, wie als hätte ich das liebste Spielzeug eines Kindes kaputt gemacht, strich er ehrfürchtig über die Stelle, an der einmal die Unterschrift gewesen war. "The Yankee Clipper. Er gewann zweimal den Titel des Batting Champions und dreimal den des Most Valuable Player, führte in 13 Jahren die Yankees zu 9 Titeln und gilt bis heute als einer der talentiertesten Spieler. Nach seinem Karriereende entschieden die Yankees, dass nie wieder ein Spieler ein Trikot mit der Nummer 5 tragen würde. 1941 schlug er mit diesem Schläger in der vorletzten Runde einen HIT und führte die Yankees somit zu ihrem fünften Sieg der World Series in Folge."
Etwas überrascht sah ich ihn an. Die Atmosphäre im Raum hatte sich schlagartig geändert. Als ob Emmetts Verhalten die Situation entspannt hätte. Es wirkte einfach so surreal gerade jetzt um einen Schläger zu trauern.
Doch wahrscheinlich war es genau das, was wir alle jetzt brauchten. Emmetts Fähigkeit, aus jeder drohenden Eskalation die Anspannung zu nehmen.
Mein Puls hatte sich beruhigt und das Blut rauschte nicht mehr in meinen Ohren. Ich sah Edward jetzt wieder klarer vor Augen und auch er schien etwas mehr bei Verstand zu sein.
Entschlossen, aber dennoch nicht aggressiv stellte ich mich wieder zwischen Bella und ihn. Mir fiel es schwer, Worte zu finden, denn ich wusste nicht, womit ich anfangen sollte. Verständnis zeigen? Bellas Sichtweise erklären? Meine Sichtweise erklären?
Sie wussten überhaupt nichts von meiner Vergangenheit. Außer dem klärenden Gespräch damals, an denen mir Emmett mitteilen wollte, dass sie alle Vampire waren und ich ihnen erzählt hatte, dass meine Eltern von solchen getötet worden waren, wussten sie nichts. Dieses Thema war nie wieder angesprochen worden, weder ihrer- noch meinerseits.
Doch er musste begreifen, dass sie nicht alleine waren... und dass Schuldgefühle nicht weiterhalfen.
"Ich kann am besten nachvollziehen, wie du dich fühlst." In Edwards Augen war keine Regung zu sehen. "Die Vorwürfe, die man sich macht. Der Wunsch, man hätte anders gehandelt. Der unbändige Drang, die Zeit zurückdrehen zu wollen. Doch das alles ändert nichts an der Situation und hilft uns nicht weiter." Ich konnte wieder den Schmerz in seinem Gesicht sehen. So sehr Edward fähig war, Bella zu lieben, so sehr war er auch fähig, sich selbst zu quälen, wenn sie seinetwegen litt.
"Es ist egal, wie du es drehst oder wendest. Egal, ob wir Kenntnisse über diesen Fötus haben oder nicht. Egal, ob du das so sehen willst oder nicht. Bella ist jetzt eine Mutter. Sie wird alles tun, um ihr Kind zu schützen. Du kannst diese Liebe und Verbundenheit nicht nachvollziehen. Aber ich kann das und aus diesem Grund werde ich ihr helfen und sie unterstützen. Selbst wenn ich gegen jeden einzelnen von euch ankämpfen muss. Du kannst einer Mutter nicht ihr Kind wegnehmen."
Edward sah mich nur stumm an. Ohne jegliche Regung oder Ausdruck in seinem Gesicht.
Sekunden verstrichen, ohne das einer ein Wort sagte. Sie alle schienen auf seine Reaktion zu warten.
Plötzlich spürte ich etwas kühles an meiner rechten Schulter und als ich mich umwandte, sah ich Emmett direkt neben mir stehen. "Sorry, Eddie", sagte er in einem ruhigen Ton, wenn auch nicht ganz so ernst wie ich. "Sie ist mein Mädchen."
War das seine Art zu sagen, dass er auf unserer Seite stand? Ein glückliches und dankbares Gefühl breitete sich warm in meiner Brust aus.
"Esme, du nicht auch."
Ich folgte Edwards Blick, der einen leicht verzweifelten Hauch annahm und sah Esme, wie sie neben Bella saß und bekräftigend ihre Hand drückte. Ihre Augen sahen ihn an, als wollte sie ihn um Verzeihung bitten und waren gleichzeitig so voller Zuneigung und Mitgefühl.
Spätestens jetzt hatten wir ihn überstimmt. Ich wusste, Carlisle würde sich nie gegen Esme stellen. Selbst wenn Alice und Jasper auf Edwards Seite waren, so waren wir in der Überzahl.
Das musste Edward in diesem Moment auch klar geworden sein, denn man konnte sehen wie sein Widerstand brach. Seine Schultern sackten herab und der Ausdruck in seinen Augen spiegelte nur Verzweiflung wieder. Er sah Bella an, fast so, als glaubte er, sie mit einem letzten, noch flehenden Blick umstimmen zu können.
"Sie hat Recht. Ich will ihn nicht hergeben und du kannst ihn mir nicht wegnehmen. Es tut mir leid." Sie stand auf und ging zu ihm herüber. "Es wird alles gut. Wir haben Carlisle hier, er wird auf mich aufpassen. Er wird auf uns beide aufpassen." Mit einem zögerlichen Lächeln sah sie ihn an. Edward sagte nichts. Er wirkte so klein und hilflos neben ihr, jetzt wo er aufgegeben hatte. Zur Antwort nickte er nur zögerlich.
Erleichtert schloss ich die Augen. Eine Welle der Erschöpfung machte sich in mir breit und etwas unbeholfen ließ ich mich auf die Couch fallen. Wie lange waren wir jetzt eigentlich schon auf den Beinen?
Ich spürte erneut einen stechenden Schmerz in meiner rechten Hand und verzog das Gesicht. "Autsch", entkam es meinen Lippen.
"Du hast dir bei dem Schlag wohl das Handgelenk verletzt." Carlisle war sofort an meiner Seite und vorsichtig nahm er meine rechte Hand in seine. Das Gelenk war rot und angeschwollen. Jetzt, wo ich darauf achtete, konnte ich den pochenden Schmerz spüren. "Auch wenn ich nicht glaube, dass es gebrochen ist, werde ich es dennoch vorsichtshalber röntgen."
"Kein Wunder, bei dem Schlag. Dem hätte Joe alle Ehre gemacht." Emmetts Brust schwoll ein wenig vor Stolz an und ein breites Grinsen machte sich auf seinen Lippen breit. "Ich sag's ja. Mein Mädchen."
Im ersten Moment musste ich lächeln. Dann sah ich ihn entschuldigend an. "Es tut mir leid um deinen Schläger. Ich wusste nicht, dass er dir so viel bedeutete."
Er schüttelte nur abwehrend mit dem Kopf und grinste weiter. "Es ist zwar schade, aber diese Szene, wie du Eddie den Schläger überziehst, war es allemal wert. Schade nur, dass ich das nicht aufgenommen habe. Das werde ich ihm jetzt Jahrzehnte vorhalten." Er lachte lauthals. "Außerdem muss das Holz über die Jahre hinweg eh schon ein wenig brüchig geworden sein, anderenfalls wäre es nicht so leicht gesplittert. Vielleicht war die Feuchte hier in Forks nicht so gut oder das ständige Umziehen oder..."
Doch ich hörte nicht mehr genau hin, denn ein ungutes Gefühl beschlich mich plötzlich bei seinen Worten. Es war mir in der Hitze des Gefechts gar nicht aufgefallen, aber er hatte Recht...
Das Holz hätte gar nicht brechen dürfen. Ein Mensch konnte nie so viel Kraft aufwenden, um einen Baseballschläger zu beschädigen. Und normalerweise zeigten diese auch keine Alterserscheinungen. Zumindest nicht so schnell.
Was, wenn das gar kein Adrenalin gewesen war, was sich kurzzeitig seinen Weg durch mein Blut gebahnt hatte. Was, wenn es etwas ganz anderes war?!
Anmerkung des Autors:
Ich würde mich wahnsinnig über ein kurzes Feedback eurerseits freuen! Wie gefällt euch die Entwicklung? Ich wollte mal ein bisschen Schwung und Dynamik reinbringen, ich hoffe es wurde nich zu übertrieben. Bin auf eure Meinung gespannt! :)
allerliebste Grüße, eure Fruchti =)
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für all diejenigen, die noch nicht vergessen haben, zu träumen. =)