Cover

Prolog

  Manchmal frage ich mich, ob ich bei meiner Geburt nicht einfach vertauscht wurde. Dass man mich irrtümlicher Weise in das falsche Bett auf der Krankenstation gelegt hatte. Ich meine, so unterschiedlich können Familienmitglieder doch gar nicht sein, oder? Ich habe mittlerweile das Gefühl, das schwarze Schaf in der Familie zu sein. Nicht, dass das schlimm wäre, ich war schon immer eine Einzelgängerin und hielt nicht viel von Cliquen oder dergleichen. Doch irgendwie bekomme ich das Gefühl nicht los, dass ich nicht so ganz in die Welt passe, in die ich hineingeboren wurde.
Meine Eltern sind beide ganz normal. Sie lieben sich seit 23 oder 24 Jahren, so genau weiß ich das auch nicht mehr, und haben geheiratet, als mein Bruder und ich uns so langsam in meiner Mutter breit gemacht haben. Das ist jetzt gute 17 Jahre her und sie lieben sich beide noch wie am ersten Tag.
Ein Grund mehr, dass ich befürchte, nicht zu dieser Familie zu gehören. Denn mein Bruder ist genau wie sie. Zwar hat er keine Freundin, jedenfalls zurzeit nicht, und es gibt auch niemandem, dem er das Mittagessen hätte kochen oder irgendwelche Floskeln ins Ohr flüstern könnte, jedoch zählt er zu genau derselben Spezies Mensch, wie meine Eltern – sie sind allesamt normal.
Ich jedoch bin alles andere als das und wenn man meinen Bruder und mich miteinander vergleicht, kommt es gut und gerne schon einmal vor, dass ich für das männliche Exemplar gehalten werde.
Aber wie schon gesagt… nicht, dass das schlimm wäre.

Willkommen in meiner Welt

„Du Miststück“, presste er zwischen den blutigen Lippen hervor, dann sank er röchelnd auf die Knie und hielt sich den Bauch.
Wütend starrte ich auf ihn herunter. „Selbst schuld. Du hättest dich halt nicht mit mir anlegen sollen.“ Ein leiser Fluch kam ihm über die Lippen. Ich ignorierte es. „An deiner Stelle würde ich schnellstmöglich von hier verschwinden“, sagte ich kalt. Seine Augen funkelten hasserfüllt. Doch ich sah auch, dass er Angst vor der Drohung in meiner Aussage hatte.
Solche Typen waren die schlimmsten. Sie wussten nie, wann sie verloren hatten, mussten immer weiter ihrer Arroganz freien Lauf lassen. Und gegen ein Mädchen wollten sie schon gar nicht verlieren.
„Du weißt nicht, wen du vor dir hast.“ Seine Worte klangen abgehackt, denn er musste des Öfteren nach Luft schnappen.
„Doch. Ein hirnloses Exemplar, das angeblich der männlichen Spezies angehört, wovon ich aber in den letzten drei Minuten nichts gemerkt habe“, erwiderte ich nur.
Er legte seine Stirn in Falten und sah mich zornfunkelnd an. „Ich bin Mitglied des Fight-Clubs der Santo-Schule. Kennst du die? Natürlich kennst du die. Es ist die berüchtigtste Schule im ganzen Land, die härtesten Schläger gehen auf diese Schule. Wenn die herausfinden, was hier passiert ist, werden die dich fertig machen.“ Er grinste boshaft und leckte sich kurz über die Lippen.
Skeptisch hob ich eine Augenbraue. „Und ich dachte, die Santo-Schule hätte Niveau. Sind alle deine Schlägerkumpels solche Waschlappen wie du oder gehörst du zu denjenigen, die ganz unten an der Nahrungskette stehen?“ Jetzt war ich diejenige, die hämisch grinste. Ein erneuter Fluch kam über seine Lippen. „Du kannst deinen Freunden gerne eine Nachricht von mir übermitteln“, fuhr ich fort und hob meine Tasche wieder vom Boden auf. „Sollten sie alle solche Schwächlinge sein wie du und sich hinter drei Handlangern verstecken, dann können sie ruhig in ihrem kleinen Clubhaus bleiben und weiter die Größten spielen. Mit so etwas verschwende ich jedenfalls nicht meine Zeit.“
Kurz blickte ich auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach acht. Verdammt, ich kam schon wieder zu spät zum Unterricht. „Ach ja, vergiss bitte nicht den Müll mitzunehmen“, wandte ich mich noch einmal ihm zu und deutete auf seine Kumpels, die ebenfalls am Boden lagen und sich krümmten. Dann drehte ich mich um und setzte eilig meinen Weg fort.

„Tanaka-chan, das ist das dritte Mal diese Woche, dass du zu spät kommst.“ Mit gesenktem Kopf stand ich vor dem Lehrerpult und ließ die Standpredigt über mich ergehen.
Warum mussten solche Typen mir auch immer dann in die Quere kommen, wenn ich gerade auf dem Weg zur Schule war? Konnten sie nicht abwarten, wenn ich wieder nach Hause ging? Wegen solchen Waschlappen würde ich irgendwann noch von der Schule fliegen. Nicht, dass das schlimm wäre, ich würde es sogar begrüßen diese verfluchte Mädchenschule für immer verlassen zu dürfen. Doch da man mich schon von zwei anderen Schulen verwiesen hatte, aufgrund von nichtigen Schlägereien – ich meinte, was konnte ich denn dafür, wenn die sich mir in den Weg stellten – war dies nun meine letzte Chance meine Eltern nicht komplett zu enttäuschen. Das war auch der einzige Grund, warum ich dieses ganze Szenario über mich ergehen ließ. Nie im Traum wäre ich auf eine Mädchenschule gegangen. Doch meine Eltern hofften so, die männlichen Züge, die ich derweil an den Tag legte, mir austreiben und aus mir ein vernünftiges und normales Mädchen machen zu können. Doch das würden sie nie hinbekommen, dessen war ich mir sicher.
„Zur Strafe stehst du den Rest der Stunde vor der Tür“, drang die schrille Stimme meiner Lehrerin an mein Ohr. Zur Strafe? War es nicht schon Strafe genug, dass ich mir ihren Vortrag fünf geschlagene Minuten hatte anhören dürfen? Doch ich erwiderte nichts, sondern kam der Aufforderung ohne jegliches Murren nach.
„Ja, Sempai.“ Als ich die Tür hinter mir zugeschoben hatte, lehnte ich mich an die kalte Wand und starrte aus dem gegenüberliegenden Fenster.
Der Himmel war azurblau und die Sonne strahlte unablässig herein und ließ den Flur noch heller wirken. Seufzend betrachtete ich den großen Baum, der auf dem Schulgelände stand. Warum musste mein Leben in letzter Zeit nur so kompliziert sein? Warum versuchte man mich so zwingend zu ändern und konnte nicht einfach akzeptieren, wie ich war? Manchmal fragte ich mich, ob bei der Geburt nicht irgendetwas schief gegangen war. Vielleicht lagen mein Bruder und ich einmal zusammen in einer Wiege und haben uns gegenseitig die Köpfe eingeschlagen und somit ist dann einiges bei uns durcheinander gekommen. Ich meinte, mein Bruder war der Mustersohn schlechthin. Er schrieb gute Noten, sah gut aus, spielte gerne Gitarre und nahm öfter ein Buch zur Hand als ich. Ein typischer, normaler Teenager eben. Jedoch, im Gegensatz zu mir, wirkte er eher mädchenhaft. Meine einzige Leidenschaft, die ich hegte, war Karate. Schon seit ich fünf war, ging ich in den Dojo von Matsumoto-sensei und trainierte fast täglich dort. Mittlerweile war ich die unumstrittene Nummer eins und kein anderer Schüler hatte es bislang geschafft, mich zu besiegen. So kam es des Öfteren auch mal vor, dass ich in die eine oder andere Schlägerei mit involviert wurde. Ein leiser Seufzer kam mir über die Lippen und ich strich sanft über den Rock meiner Schuluniform. Manchmal wünschte ich mir, ich wäre ein Junge geworden. Dann hätte ich viel weniger Probleme. Als Junge konnte man all das machen, was man wollte und wurde dafür nicht schief angesehen. Erzählte ich jemanden, dass meine Leidenschaft dem Karate galt, nahmen sie alle sofort Reißaus. Keiner wollte mit einem Mädchen zu tun haben, dass sich gerne mit anderen prügelte oder in der Lage war, jemanden mit nur ein paar Handgriffen zu Boden zu werfen. Das passte so ganz und gar nicht in die Etikette. Das war auch einer der Gründe, warum ich an dieser Schule keine Freunde hatte. Ehrlich gesagt, interessierte mich das wenig. Keiner von den anwesenden Mädchen interessierte sich für die Dinge, für dich ich mich interessierte. Sie waren alle so… engstirnig. Ihr ganzes Leben drehte sich nur um Jungs. Alles was sie taten, was sie dachten und wie sie sich verhielten, taten sie, um den Jungs zu gefallen. Sie gingen shoppen und quetschten sich in die unmöglichsten Kleider, verbrachten Stunden vor dem Spiegel, nur um im Endeffekt noch schlimmer auszusehen und verhielten sich wie ein Haufen aufgescheuchter Gänse. An meiner alten Schule, wo ich noch mit Mädchen und Jungen die Klasse geteilt hatte, war mir das nie so wirklich aufgefallen, aber hier… Vermutlich lag das daran, dass meine Freunde hauptsächlich dem männlichen Geschlecht angehörten. Immerhin verhielten die sich nicht so aufgeblasen.
Seufzend strich ich mir eine blonde Strähne hinter das Ohr, die sich irgendwie aus meinem Zopf gelöst hatte. Gedankenverloren blickte ich in mein Spiegelbild im Fenster. Wenn man mir auf der Straße begegnete, könnte man mich locker für ein ganz normales Mädchen halten. Schulterlange blonde Haare, braun-grüne Augen, helle Haut und ein liebliches Gesicht. Ich straffte meine Schulter, drehte meinen Kopf leicht zur Seite und lächelte meinem eigenen Spiegelbild zu. Ein liebreizendes und freundliches Mädchen blickte mir entgegen.
Ein paar Augenblicke später jedoch, zuckten meine Mundwinkel nach unten, meine Schultern erschlafften und aus meinem Gesicht war jeglicher Glanz verloren. Es sah einfach lächerlich aus, wenn ich versuchte mädchenhaft zu wirken. Das passte nicht zu mir. Genauso wenig wie zu dem Rest meiner dämlichen Klasse. Sie alle suchten ihren Traumprinzen, der auf einem weißen Pferd daher geritten kam und sie von der ach so bösen Welt beschützte.
Ich schnaubte belustigt über meine eigenen Gedanken. Traumprinzen gab es nicht, denn sonst wären es ja keine Traumprinzen… ein Pferd war viel zu langsam, das würde nur den Verkehr aufhalten und warum beschützen? Wenn sie alle vielleicht mal an einem Karatekurs teilnehmen würden, dann bräuchten sie niemanden, der sie verteidigte, weil sie es dann nämlich selbst könnten. Genau deswegen hat es so lange gedauert, bis wir Frauen emanzipiert waren. Weil wir immer dieses typische Burgfräulein in uns drin hatten, die sehnlichst darauf wartete, gerettet zu werden und jedes Mal voll gekünstelt in Ohnmacht fiel, wenn der Spaß erst richtig losging – nämlich ein Kampf. Vermutlich dachte die Hälfte meiner Klasse noch im Dornrösschen-Style… einfach küssen und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Aber Pustekuchen. Ich glaubte nicht, dass ich die Typen von heute Morgen mit küssen hätte vertreiben können. Allein schon bei der Vorstellung wurde mir übel. Was ich nicht gäbe, um mit meinem Bruder die Plätze tauschen zu können.

„Yuzuki. Ich habe Bentos für uns gemacht. Wollen wir zusammen zu Mittag essen?“
Ein Seufzer kam mir über die Lippen. Ich musste nicht einmal aufsehen, um zu wissen, wem diese liebreizende Stimme gehörte. Tomoko Suzuka. Sie gehörte zu den beliebtesten Mädchen an der gesamten Schule. Ihre langen braunen Haare, das liebreizende Gesicht und ihr fröhliches Lächeln verliehen ihr den Anblick eines Engels. Sie war freundlich und hilfsbereit zu jedem, sah in allen Menschen nur das Gute und konnte keiner Fliege etwas zu Leide tun. Jeder, der ihr begegnete, konnte nicht anders, als sie zu mögen. Und ausgerechnet mit mir wollte sie befreundet sein.
„Ich hab keinen Hunger“, nuschelte ich missmutig und tat so, als würde ich mich auf meine Aufzeichnungen vor mir konzentrieren.
„Ach komm schon“, lachte sie, fasste mich an der Hand und zog mich hoch. „Dann leiste mir wenigstens Gesellschaft.“ Ich konnte bereits die Blicke der anderen auf mir spüren und ihre Gedanken waren nur zu nachvollziehbar. Warum gab sie sich ausgerechnet mit mir ab? Ich hatte einen üblen Ruf voraus, kaum eine Woche verging, ohne dass ich mich nicht ein einziges Mal mit irgendjemanden prügelte.
Schon seit unserer ersten Begegnung ging das so. Als ich damals neu in die Klasse gekommen war, hatte ich sofort deutlich gemacht, dass ich eine Einzelgängerin war. Ich hatte es nicht gesagt, aber meine Körperhaltung sprach für sich. Jeder verstand das, jeder sah es mir an. Niemand hatte wirklich Interesse daran, sich mit mir abzugeben. Sie alle machten einen großen Bogen um mich. Nur Tomoko nicht. Sie war in der ersten Pause sofort zu mir gekommen und hatte versucht mich in ein Gespräch zu verwickeln. Seitdem ging das jeden Tag so… und das war jetzt gut ein halbes Jahr her. Während ich anfangs noch sehr abweisend und schroff ihr gegenüber war (in der Hoffnung, sie würde mich endlich in Ruhe lassen), hatte ich es dann nach einiger Zeit aufgegeben und ihr erlaubt mir ab und zu Gesellschaft zu leisten, wenn ihr danach war. Jedoch war dies ein Fehler, denn seitdem kam sie jede Pause zu mir.
Tomoko zog mich weiter an der Hand durch das Schulgebäude und führte mich letzten Endes zu einer Bank auf unserem Hof. Etwas erschöpft ließ ich mich darauf nieder und betete insgeheim, dass die Pause bald wieder vorbei wäre. „Hier, bitte“, lächelte Tomoko mich freundlich an und hielt mir eine der beiden Bentoboxen entgegen.
„Ich habe doch gesagt, dass ich keinen Hunger habe“, erwiderte ich nur.
„Ich weiß. Aber ich glaube nicht, dass das stimmt.“ Ich Lächeln wurde noch eine Spur breiter.
Stirnrunzelnd seufzte ich kurz, dann jedoch gab ich nach und nahm ihr das Bento ab. Als ich es öffnete, musste ich kurz schlucken, um das beklemmende Gefühl in meinem Hals loszuwerden. Es befand sich all das drin, was ich am liebsten aß. Sie war einfach viel zu gut für mich. „Hast du das selbst gemacht?“, fragte ich und traute mich schon fast gar nicht, den ersten Bissen zu nehmen. Es schmeckte fantastisch.
„Ja“, erwiderte sie, während sie sich vergnügt ihrem Mittagessen zuwandte. Offensichtlich schien es sie zu freuen, dass ich meine Meinung geändert hatte und nun doch etwas aß.
„Danke“, sagte ich leise, versuchte allerdings nicht allzu viele Emotionen mitschwingen zu lassen. Zur Antwort lächelte sie nur.
Eine Zeit lang sagte keiner ein Wort, während wir beide damit beschäftigt waren unser Mittag zu essen. Es war ein warmer Tag, die Sonne schien unermesslich und ich war froh, dass wir relativ im Schatten saßen.
„Warum bist du heute Morgen eigentlich zu spät gekommen?“
Ich schluckte meinen Bissen herunter und antwortete nur knapp. „Wurde aufgehalten.“
„Von wem?“ Offensichtlich schien sie zu ahnen, was heute Morgen passiert war.
„Ein paar Typen von der Santo-Schule“, erwiderte ich nur und nahm einen neuen Bissen.
„Bist du verletzt?“, fragte sie plötzlich erschrocken und sah mich leicht ängstlich an. Diese Reaktion verwirrte mich jetzt vollends, sodass ich für einen kurzen Moment vergas, dass ich was im Mund hatte und mich somit verschluckte.
„Was?“, fragte ich, nachdem ich den Hustenanfall einigermaßen eingestellt hatte.
„Ich hab dich gefragt, ob du verletzt bist“, wiederholte sie und ihr Blick beinhaltete Besorgnis.
Ich fasste mir an meinen brennenden Hals und sah sie leicht skeptisch an. „Wie kommst du denn jetzt darauf?“
„Einige Schüler von der Santo-Schule sollen gefährlich sein. Mit ihnen ist nicht zu spaßen, sagt man. Du solltest dich besser nicht mit ihnen anlegen.“
Aus diesem Mädchen sollte einer schlau werden. Sie sprach davon, wie gefährlich diese Schlägertypen waren, dabei saß sie doch gerade neben einer nicht minder gefährlichen Schülerin und aß sogar mit ihr noch Mittag.
„Zu spät“, erwiderte ich nur. „Sie wollten mich nicht in Ruhe lassen, also habe ich ihnen kurz gezeigt, wen sie da eigentlich vor sich haben.“
Tomoko seufzte kurz. „Ich hoffe nur, sie belassen es dabei.“
Ich lachte kurz. „Bestimmt nicht. So sauer, wie die waren, werden sie es mit Sicherheit nicht auf sich sitzen lassen, dass ausgerechnet ein Mädchen sie fertig gemacht hat.“
Erneut trat Besorgnis in ihren Blick. „Dann halte dich aber bitte das nächste Mal von ihnen fern.“
„Wie soll ich das machen, wenn sie sich mir in den Weg stellen?“
„Ich weiß auch nicht, aber du darfst dich nicht von ihnen provozieren lassen.“ Ihre Stimme hatte etwas Flehendes.
Verwirrt sah ich sie an. „Hast du etwa Angst um mich?“
„Natürlich! Wer hätte nicht Angst, wenn seine Freundin von solchen Menschen bedroht wird?“ So wie sie es sagte, klang es wie das logischste auf der Welt.
Freundin. Das war ich für sie? Ihre Freundin? Aber wieso? Warum ich? Sah sie nicht, dass ich eigentlich nicht gut für sie war und mein schlechter Ruf vermutlich nur auf sie abfärbte? Ich seufzte erneut. Freundin. Ob ich mich mit diesem Gedanken abfinden konnte? Ich wusste ja nicht einmal, was man als Freund so alles machte.
„Tomoko-san…“, begann ich, doch dann wurde ich unterbrochen.
„Wann lässt du endlich mal dieses überflüssige san weg?“, fragte sie vorwurfsvoll.
Ich schüttelte leicht amüsiert den Kopf und konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Also gut. Tomoko… Du brauchst dir wirklich keine Sorgen machen. Ich habe alles unter Kontrolle und wenn du glaubst, dass ein paar Typen von der Santo-Schule mir etwas anhaben können, dann kennst du mich schlecht. Ich habe noch nie einen Kampf verloren und glaube mir, so schnell habe ich das auch nicht vor.“ Ich versuchte ein aufrichtiges Lächeln, doch ich war mir nicht sicher, ob es mir gelang.
Tomoko jedoch schien einigermaßen zufrieden zu sein, denn sie beruhigte sich wieder. „Ok“, lächelte sie.
Eine Zeit lang schwiegen wir wieder. So langsam stieg mir die Sache zu Kopf. Tomoko meinte, wir wären Freunde. Aber waren wir das wirklich? Beruhte Freundschaft darauf, dem anderen immer hinterherzurennen und ihn die ganze Zeit zu nerven? War das etwa Freundschaft?
Du tust ihr unrecht, wenn du so über sie denkst!, meldete sich plötzlich mein Gewissen zu Wort, von dem ich eigentlich geglaubt hatte, es habe sich für immer verabschiedet. Du weißt ganz genau, was Tomoko alles für dich macht. Sie nimmt dich vor den anderen in Schutz, verteidigt dich und zeigt dir, dass die Welt doch eigentlich gar nicht so schlecht ist. Nur du bist so engstirnig und willst dir das nicht eingestehen.
Missmutig schürzte ich die Lippen. Ich wusste, dass mein Gewissen mal wieder Recht hatte. Keiner außer Tomoko, hatte sich jemals so für mich eingesetzt, meine Familie jetzt einmal außen vorgelassen. Niemand hatte sich je für mich interessiert, oder sich gar Sorgen um mich gemacht. Keinem hatte ich nur ansatzweise etwas bedeutet, als dass sie sich vor der ganzen Klasse gerechtfertigt hätten. Keiner, außer Tomoko.
Ich strich mir erneut meine Strähne hinter das Ohr und erwiderte ihr freundliches Lächeln. Auch, wenn ich immer noch nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte, so war ich mir dennoch sicher, dass mir etwas fehlen würde, wenn Tomoko nicht auf diese Schule gehen würde. Vielleicht sollte ich es einmal versuchen… die Sache mit der Freundschaft.

„Pass auf deine linke Seite auf, Shin, oder sie…“ Doch Matsumoto-senseis Anweisung kam zu spät, denn in genau diesem Moment durchbrach ich die Verteidigung meines Gegenübers und warf ihn somit zu Boden. Ich holte einmal tief Luft, eine einzelne Schweißperle lief meine Stirn herunter, während mein Gegner nach Luft hechelte. Völlig erschöpft blieb er ausgestreckt am Boden liegen.
„Shin, ich habe dir schon hundert Mal gesagt. Du musst deine Verteidigung auf beiden Seiten aufrecht erhalten! Du magst zwar mit rechts sehr gut sein, doch eine halbe Verteidigung bleibt trotzdem eine halbe Verteidigung.“ Na das war mal wieder eine Ansage. Typisch Matsumoto.
„Ausruhen kannst du dich später, Shin“, blickte er von oben auf ihn herab, als er zu uns getreten war. „Setz dich an den Rand!“
Ohne groß zu Murren, leistete Shin dieser Anweisung folge. Er wusste, mit unserem Trainer sollte man es sich nicht verscherzen. Er war streng, hart und sehr direkt. Vor allem zu uns, immerhin gehörten wir zu seinem ältesten Kurs. Sein Mund war meist eine einzelne, schmale Linie, was gut zu seinem kantigen Gesicht passte. Er lachte selten und seine dunkeln Haare hatte er immer sehr kurz geschoren. Man sah ihm vom ersten Moment an, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen war. Dennoch ging ich gerne hierher. Matsumoto war ein Mensch, der wenig redete und genau das war es, was mir so gefiel. Ich wollte keinen Lehrer, der mit mir tratschte. Ich wollte einen, der mir Karate beibrachte und das war ihm gut gelungen.
Er warf mir einen kurzen Blick zu und ich wusste, dass das eine Aufforderung war, mich ebenfalls zu setzen. Auch wenn ihm klar war, dass meine eben erbrachte Leistung einwandfrei war, würde er dies mit keinem Wort bestätigen. Warum auch? Seit gut zwei Jahren gab es keinen mehr in diesem Kurs, der mir das Wasser hätte reichen können, mit Ausnahme vielleicht von meinem Sensei. Es hatte sich also schon längst erübrigt, mich zu loben oder ein „Gut gemacht“ zu erwähnen. Ich verstand ihn auch so.
Während Shin im Schneidersitz, zwischen den anderen, immer noch ein wenig nach Luft keuchte, ließ ich mich ohne den Hauch einer Erschöpfung am Rande der Gruppe nieder. Kurz wischte ich mir den einzelnen Schweißtropfen von meinem Gesicht weg, während ich darauf wartete, dass der Unterricht vorbei war. Matsumoto-sensei entließ uns wie jeden Tag. Ein kurzes Feedback über das Training, eine Minute, in der wir unseren Geist lösen sollten und dann eine knappe und zugleich emotionslose Verabschiedung.
Eine halbe Stunde später dann, war ich auch schon zuhause und warf meine Tasche in eine Ecke meines Zimmers. Wie von selbst wanderten meine Finger zu meiner Anlage und schalteten sie ein, während ich mich müde und auch ein wenig erschöpft auf das Bett fallen ließ. Tief vergrub ich mein Gesicht in mein Kissen und wollte alles um mich herum vergessen. Gespannt lauschte ich der Musik, während ich langsam begann, in das Reich der Träume überzugehen.
Da jedoch, hatte ich die Rechnung ohne meinen Bruder gemacht. Denn prompt in diesem Moment betrat er ohne anzuklopfen mein Zimmer und schaltete die Musik wieder aus. Ich grummelte etwas in mein Kissen, während ich drauf und dran war, ihm irgendetwas an den Kopf zu werfen, damit er mich wieder in Ruhe lies.
Es kam eigentlich selten vor, dass mein Bruder mein Zimmer betrat. Es lag nicht daran, dass wir uns nicht mochten oder mein Zimmer eine absolute Tabu-Zone war. Es war eher so, dass wir beide nicht viel gemein hatten und es demnach nichts gab, was er in meinem Zimmer hätte suchen können.
Eine Zeit lang herrschte Stille und ich fragte mich, ob er schon wieder gegangen war. Kurzerhand hob ich den Kopf und blickte zur Tür. Mit einem breiten Grinsen sah er mich an. „Hey Yuzuki.“
Nachdenklich runzelte ich die Stirn. Dieses Grinsen konnte nichts Gutes bedeuten.
„Darf ich reinkommen?“, fragte er überflüssigerweise.
„Hm…“, erwiderte ich und richtete mich auf. „Du bist schon in meinem Zimmer, also erübrigt sich die Frage, oder etwa nicht?!“
Er dachte kurz nach, dann grinste er wieder. „Stimmt.“ Schnell machte er die Tür zu und ließ sich neben mir auf das Bett fallen.
Leicht skeptisch betrachtete ich ihn, während er seinen Blick durch das Zimmer schweifen ließ. Was in Gottes Namen wollte er von mir? Er war mit Sicherheit nicht einfach nur so zum Spaß herübergekommen. Wenn ihm langweilig war, konnte er ja Gitarre spielen oder ein Buch lesen. Aber ganz bestimmt nicht neben mir auf meinem Bett sitzen und Löcher in die Decke starren.
„Du, Yuzuki?“, begann er nach einer Weile.
Abwartend, musterte ich ihn. Kazuya hatte dieselben braun-grünen Augen wie ich, das gleiche zierlich-schlanke Gesicht und ebenso blonde Haare. Wir sahen uns zum Verwechseln ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass er seine Haare kurz geschnitten hatte.
„Du fühlst dich doch unwohl, auf deiner Schule, nicht wahr?“
Ich schnaubte belustigt. Unwohl war wohl etwas untertrieben. Er hatte seinen Blick auf die gegenüberliegende Wand gerichtet und wartete offensichtlich auf eine ernsthafte Antwort von mir. „Ja“, erwiderte ich somit nur knapp.
„Und du willst doch nichts sehnlicher, als diese Schule zu verlassen, oder?“, fragte er weiter.
„Als wenn das so einfach wäre“, kam es mir prompt über die Lippen.
„Und du würdest doch alles dafür tun, oder?“ Jetzt drehte er seinen Kopf zu mir herum und lächelte mich breit an. Sein Gesichtsausdruck lies mich stutzig werden, denn er passte so gar nicht zu dem Kazuya, den ich seit gut 17 Jahren kannte. Normalerweise, war er eher der ruhige und zurückgezogene Typ. Er hatte keine Probleme in der Schule, schrieb gute Noten und hatte sich sogar für den Posten als Schulsprecher beworben gehabt. Seine Leidenschaft galt dem Gitarrespielen und es würde mich nicht wundern, wenn es einige Mädchen geben würde, die sich um ein Date mit ihm rissen. Zumindest vermutete ich das, denn er erzählte wenig über seine Schule. Umso erstaunter war ich über sein offenes Interesse, meiner missligen Lage gegenüber.
„Was willst du?“, fragte ich frei heraus. In meiner Stimme schwang Vorsicht mit, denn ich zweifelte immer noch daran, dass er etwas Gutes im Schilde führte. Auch, wenn ich es ungern zugab, mein Bruder war clever.
„Ich weiß, wie du aus deiner schlechten Lage herauskommst und endlich so sein kannst, wie du schon immer sein wolltest.“ Er klang weder enthusiastisch, noch aufgeregt. Er sagte dies mit einer Langeweile, als würde er sich gerade mit mir über das Wetter unterhalten.
Verwirrt sah ich ihn an. Seit wann machte er sich Gedanken über meine Lage? Nicht wissend, was ich darauf hätte sagen sollen, erwiderte ich nichts, sondern sah ihn nur durchdringend an. Offensichtlich schien er meine Verwirrtheit bemerkt zu haben, denn er grinste plötzlich und sagte: „Ich habe einen Plan.“
„Na wunderbar“, entkam es mir und ich wandte mich augenrollend ab.
Wenn Kazuya einen Plan hatte, ging das nie gut. Wie zum Beispiel als er versucht hatte, mich mädchenhafter wirken zu lassen. Im Endeffekt hatte ich wie ein Tuschkasten ausgesehen und war dauernd in den viel zu großen, hohen Schuhen meiner Mutter umgeknickt. Damals war ich 7. Oder als er der Meinung war, er könnte Karate besser als ich und mir eine Demonstration seiner Schrittfolge geben wollte, die er in irgendeinem Kung-Fu Film gesehen hatte. Das Erbstück meiner Urgroßmutter, eine antike Vase, ging dabei zu Bruch. Oder als er der festen Überzeugung war, ich würde perfekt zu seinem Freund Yuuta passen und alles dafür tat, mich mit ihm zu verkuppeln. Da war ich 13. Die Geschichte hatte damit geendet, dass mich Yuuta für die Liebe seines Lebens hielt und Nacht für Nacht vor meinem Fenster gestanden und mir peinliche Gedichte geschrieben hatte, an die sich unsere Nachbarn heute noch zu gerne erinnern. Ihr werdet es mir also nicht verübeln, wenn ich seinen Plänen gegenüber etwas reserviert war.
Kopfschüttelnd stand ich von meinem Bett auf und packte meine Tasche aus.
„Ach komm schon, Yuzuki. Du weißt doch gar nicht, worum es geht.“
„Will ich auch gar nicht. Ich erinnere mich nur zu genau, um zu wissen, dass wenn du einen Plan hast, ich im Endeffekt immer diejenige bin, die etwas bereut.“
„Diesmal wirst du nichts bereuen. Das verspreche ich dir. Dieses Mal wirst du mir dafür danken.“ Er grinste jetzt wieder.
Ich schnaubte belustigt und schüttelte ungläubig den Kopf. Warum interessierte er sich plötzlich so für mich und mein komplett verworrenes Leben? Was hatte ihn letzten Endes dazu bewegt, einen Plan auszuhecken, um mir zu helfen?
„Nun gut“, sagte ich nach einer Weile des Überlegens. „Dann schieß mal los. Was ist dein ach so brillianter Plan?“ Auch wenn ich mir sicher war, dass ich nicht zustimmen würde. Es interessierte mich schon, welche Lösung er hatte. Kazuya glaubte wohl, er hätte mich am Haken, denn sein Grinsen wurde breiter.
„Er ist ganz einfach. Du wirst ein Junge.“ Erwartungsvoll sah er mich an. Er sah aus, wie jemand, der gerade eine Bombe als Neuigkeit hatte platzen lassen. Und das hatte er auch.
Einen Moment herrschte Stille, indem ich ihn nur ansah. Dann, ganz plötzlich, brach ich in schallendes Gelächter aus. Diese Idee war einfach nur dumm. Hatte er echt so lange dafür gebraucht, um über so etwas nachzudenken? Das war sein Plan? Ich solle ein Junge werden? Im Moment zweifelte ich stark an seiner Intelligenz.
Kazuyas Grinsen war verschwunden, stattdessen sah er mich ein wenig beleidigt an. „Ich mein’s ernst“, erwiderte er.
„Oh ja, entschuldige“, presste ich zwischen meinem Lachanfall hervor. „Dass ich da noch nicht drauf gekommen bin. Ein Glück habe ich eine Intelligenzbestie wie dich als Bruder, Kazuya. Klar, ich geh schnell mal zu Mum und bitte sie um eine Geschlechtsumwandlung.“ Mittlerweile hatte ich mich wieder beruhigt und etwas sarkastisch fügte ich murmelnd hinzu. „Oh man, was geben die euch denn für Drogen in der Schule?“
„Ach, so meinte ich das doch auch gar nicht.“ Etwas genervt stand er von meinem Bett auf und stellte sich neben mich. „Ich meinte, du wirst einfach ich.“ Das war die zweite Bombe, die er heute platzen ließ. Wow, wenn er so weiter machte, stellte er einen neuen Rekord auf.
Ungläubig zog ich eine Augenbraue hoch und musterte ihn zweifelnd. Aus diesem Jungen wurde ich echt nicht schlau. Und mittlerweile machte er mir sogar ein klein wenig Angst. „Willst du mich auf den Arm nehmen?“, fragte ich trocken und wandte mich von ihm ab. Kopfschüttelnd ging ich auf meinen Sandsack zu, der in einer Ecke meines Zimmers hing und holte aus einer Schublade zwei Verbandsbinden hervor. Während ich ihn immer noch skeptisch musterte, wickelte ich mir einen davon um meine linke Hand.
„Nein, nein. Ich meine es vollkommen ernst. Aber wenn du mir nur mal richtig zuhören würdest, damit ich dir den ganzen Plan erklären kann.“ Ich seufzte und wusste genau, dass ich es im Nachhinein bereuen würde. Doch ich war mir sicher, selbst wenn ich ablehnen würde, würde er mich trotzdem nicht in Ruhe lassen.
Ich steckte das Ende der Binde fest und widmete mich dann meiner rechten Hand. Während ich sie mehr und mehr mit dem weißen Verband verdeckte und somit schützte, wog ich das Für und Wider ab und gab mich letzten Endes geschlagen. „Also von mir aus. Was ist dein Plan?“ Kurz schüttelte ich meine Arme, wandte mich dann meinem Sandsack zu und ballte meine Hände zu Fäusten, während ich darauf wartete, dass mir Kazuya seinen brillianten Plan erläuterte.
„Also…“, begann er und lief hinter mir im Zimmer auf und ab. „Du weißt doch, dass ich auf die Santo-Schule gehe.“
Ich schlug einmal kräftig mit der rechten Hand auf den Sandsack ein. „Oh ja. Da habe ich heute ein paar Typen kennengelernt.“
„Wie kennengelernt?“
„Naja, die haben sich mir in den Weg gestellt und mich genervt, also hab ich mit ihnen kurzen Prozess gemacht.“ Ich schlug mit der linken Faust zu.
"Oh ja, vielen Dank. Ein Grund mehr nie wieder in diese Schule zu gehen“, erwiderte Kazuya trocken.
Ich lachte kurz. „Sag bloß, mein Bruder hat Probleme mit seiner Schule? Bist du nicht der Musterschüler dort?“ Ein kurzer Schlagabtausch hintereinander. Zwei Mal rechts, zwei Mal links.
Er lachte gequält. „Nun ja. So in der Art.“
„Was heißt bei dir so in der Art?“, fragte ich ohne groß darüber nachzudenken, während ich weiterhin den Sandsack bearbeitete. Er seufzte.
"Ok, ok. Ich bin nicht ganz der Musterschüler, wie ihr alle vielleicht denkt.“ Er kam zu mir und stellte sich hinter den Sandsack, damit er mich direkt ansehen konnte. „Ich habe ein ernsthaftes Problem.“
Ich hielt in meinem nächsten Schlag inne und sah ihn verwundert an. Mein Bruder hatte ein Problem, hatte ich das etwa richtig gehört? Mein perfekter, intelligenter, liebreizender, Muster-Bruder hatte ein Problem in der Schule? Klänge es nicht so absurd, würde ich es fast glauben.
„Also folgendes. Du weißt ja, meine Schule hat nicht den besten Ruf.“ Ich lachte kurz. Oh ja, das alte Lied. „Die meisten Schüler dort machen sich einen Spaß daraus, andere zu schikanieren und fertig zu machen. Sie sehen es als ihre Berufung an und ein einziger, falscher Blick genügt, um sie zu provozieren.“
„Warum gehst du dann auf diese Schule?“, unterbrach ich ihn. Wenn es ihm so sehr missfiel, dann konnte er sie doch einfach wechseln.
„Weil ich bislang noch nie Probleme damit hatte. Ich blieb immer unter mich und habe es vermieden, irgendwie mit ihnen in Kontakt zu treten. Mir war es relativ egal, was sie machten, solange es nichts mit mir zu tun hatte. Jetzt hat es aber leider mit mir zu tun.“
Ich schnaubte belustigt bei der Vorstellung, die Kerle von heute Morgen könnten meinen Bruder irgendwie in der Zwickmühle haben. Mein Bruder, der sich aus Unannehmlichkeiten lieber heraus hielt und eher der verbale Typ war. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen, widmete ich mich wieder meinem Sandsack.
„Einer dieser Typen ist der Meinung, er hätte ein Problem mit mir. Bislang ist es noch nicht zu einer Auseinandersetzung gekommen – zum Glück. Aber ich bin mir nicht sicher, wie lange er stillhalten kann.“
„Was meinst du mit stillhalten?“
„Mich nicht zu verprügeln“, sagte er schnell.
Erneut hielt ich inne und fasste den Sandsack an, damit dieser aufhörte, sich hin und her zu bewegen. „Warum will er dich verprügeln?“
„Ich weiß es nicht. Er hat einfach ein Problem mit mir.“
„Solche Typen haben nicht einfach ein Problem mit dir. Es ist nicht so, dass sie aufwachen und sich dann denken ‚Oh, heute hab ich ein Problem mit Kazuya.‘ Hast du irgendwas gesagt, was ihn verärgert haben könnte? Eine kurze Bemerkung, die dir vielleicht nur so rausgerutscht ist.“
„Nein.“
„Ein falscher Blick?“
„Nein.“
„Hast du mal gelacht, obwohl du nicht hättest lachen sollen?“
„Nein.“
Ich seufzte genervt. „Aber irgendetwas muss es doch geben.“
Einen Moment dachte er nach, während er geistesabwesend auf meinen Sandsack einschlug. Dann schüttelte er den Kopf. „Dieser Typ ist an einem Mädchen aus meiner Klasse interessiert. Er hat sie vor den ganzen Schülern nach einem Date gefragt und sie hat ihm einen Korb gegeben.“
„Und?“, fragte ich und wartete gespannt auf das Ende der Geschichte.
„Und eben dieses Mädchen kam genau einen Tag später zu mir und hat mich vor allen Schülern um ein Date gebeten. Und jetzt glaubt er, ich hätte ihm sein Mädchen ausgespannt, dabei kenne ich sie nicht mal.“
„Sie geht in deine Klasse und du kennst sie nicht?“
„Sie ist mir nie besonders aufgefallen“, sagte er mit einem Schulterzucken. Mein Bruder, der Herzensbrecher. Ich glaubte die einzigen Gefühle, die er hegte, waren die für seine Gitarre.
„Und jetzt will dieser Typ dich fertig machen, weil er der Meinung ist, du hast ihm sein Mädchen weggeschnappt?“
„Ja, irgendwie so. Er hat was von verletzter Ehre und Bloßstellung gesagt. Ich habe ihn vor allen lächerlich gemacht und er würde sich rächen oder so was in der Art.“
„So was in der Art?“
„Ja, so genau weiß ich das auch nicht mehr. Ich habe nicht ganz hingehört.“
Skeptisch sah ich ihn an. „Jemand droht dir und du hörst nicht genau hin?“
„Es war Schulschluss und ich habe gerade meine Tasche zusammengepackt. In Gedanken war ich schon bei den Hausaufgaben, als er plötzlich hereinkam und mich ansprach.“
Ich unterdrückte den Drang mir mit der flachen Hand gegen die Stirn zu schlagen. Momentan war ich mir nicht sicher, ob mein Bruder eher vollkommen verrückt oder einfach nur dumm war. Vermutlich beides. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Gut und was habe ich damit zu tun?“
„Nun ja. Also er hat mir heute vor dem Klassenzimmer aufgelauert und mir gedroht, er würde mir alle Knochen brechen und so. Ich habe ihn anfangs nicht ganz ernst genommen, weil, naja, der menschliche Körper besitzt ungefähr 206 Knochen und er sah mir jetzt nicht danach aus, als wüsste er, wo die alle liegen.“
Mein Mund klappte ungläubig auf und ich sah ihn nur entgeistert an. Einen Moment später hatte ich mich wieder unter Kontrolle und unweigerlich drehte ich mich um und schlug mir mit der Hand gegen die Stirn. „Oh mein Gott, womit habe ich das verdient?“
„Was meinst du jetzt damit?“
Ich ignorierte ihn und lief zur gegenüberliegenden Wand. „Ich habe einen Bruder, der es einfach schlichtweg ignoriert, wenn man ihm droht. Ich habe einen Bruder, der mit seinem biologischen Fachwissen kommt, wenn man ihm sagt, dass man ihn fertig machen will.“ Nicht wissend, ob ich jetzt lachen oder heulen sollte, begann ich im Zimmer auf und ab zu laufen. „Oh man, so langsam bin ich der festen Überzeugung, ich bin in der falschen Familie gelandet.“
„Wieso?“
„Wieso? Das fragst du noch?“, sprach ich Kazuya jetzt direkt an.
„Ich kann dir sagen wieso. Was in Gottes Namen ist mit dir los? Bist du high? Was für Drogen geben die euch in deiner Schule? Ich meine, jemand droht dir und du schaffst es nicht einmal die nötige Konzentration aufzubringen, demjenigen zuzuhören, sondern machst in Gedanken schon deine Hausaufgaben? Jemand will dir alle Knochen brechen und du hältst es anscheinend für einen Witz?“
„Das ist es ja auch. Oder glaubst du, der könnte das?“
„Das ist metaphorisch gemeint, du Idiot! Natürlich kann der nicht alle Knochen brechen. Der weiß bestimmt nicht mal, dass der Mensch 206 Knochen besitzt, geschweige denn findet er die alle. Vermutlich hält er die Hand für einen einzigen Knochen. Aber glaube mir, Typen die nichts in der Birne haben, haben es dafür in ihrer Faust. Oder bist du davon ausgegangen, dass er sich geistig mit dir duellieren will? Läufst du eigentlich schlafend durch die Gegend? Du musst doch heimlich irgendwelche Tabletten nehmen, so geistesabwesend, wie du durch’s Leben gehst. Vermutlich würdest du dem Typen noch helfen, wenn er dir alle Knochen brechen würde. So mäßig ‚Ach, du suchst das Schlüsselbein? Das ist hier. Genau hier musst du zuschlagen.‘“ In einigem Abstand blieb ich vor ihm stehen und schaute ihn ungläubig an.
Offensichtlich schien ich ins Schwarze getroffen zu haben, denn er erwiderte nichts, sondern kaute ertappt auf seiner Unterlippe herum. Ich seufzte und schüttelte nur mit dem Kopf. Bei meinem Bruder war echt Hopfen und Malz verloren. „Ok. Ich kenne jetzt die Situation“, brach ich nach einer Weile das Schweigen. „Du hast mir aber immer noch nicht gesagt, was das ganze jetzt mit mir und meinem verkorksten Leben zu tun hat.“
„Ach, richtig“, erwiderte Kazuya, der sich offensichtlich wieder gefangen hatte. Etwas selbstsicherer trat er hinter dem Sandsack hervor und grinste mich jetzt wieder an. „Also, mein Plan war folgender: Du gibst dich als mich aus, gehst an meine Schule und… naja… machst da halt das, was du gerne so machst. Ein paar Faustschläge hier, ein paar Tritte da. Ich will halt, dass der Typ mich wieder in Ruhe lässt und es wäre toll, wenn du das so machen könntest, dass nie wieder jemand auf den Gedanken kommt, sich mit mir anzulegen.“
Einen Moment herrschte Schweigen. Ich sah ihn nur teilnahmslos an, während die Worte langsam zu mir durchdrangen. „Wo bleibt die Pointe?“, erwiderte ich trocken.
„Äh, Pointe? Was für eine Pointe?“
„Na, die mir sagt, dass das Ganze nur ein schlechter Scherz ist.“
„Das ist kein Scherz, das ist mein voller ernst.“
Mit einem ehrlichen Blick, sah er mich an. Ungläubig öffnete und schloss ich meinen Mund, nicht wissend, was ich darauf hätte erwidern sollen. Dann kam es mir plötzlich über die Lippen. „Was für eine beschissene Idee ist das denn?“
„Nein, nein, nein, nein. Das ist nicht beschissen, glaub mir. Damit lösen sich all deine Probleme.“
„Ich wüsste ja nicht, warum sich meine Probleme lösen sollten, nur weil ich dir den Hals rette?!“
„Hör mir doch einmal genau zu.“
„Habe ich gemacht und es hat nichts gebracht“, erwiderte ich nur.
Kazuya rollte mit den Augen und sah mich dann wieder ernst an. „Du hasst es auf diese Mädchenschule zu gehen. Du hasst die Leute, die darauf gehen. Und du hasst es, dass Mum und Dad nicht akzeptieren wollen, dass du nicht wie die anderen kichernden Mädchen aus deiner Klasse bist. Du liebst Karate, es ist dein Leben und nichts sehnlicher wünscht du dir, das andere dich akzeptieren, so wie du bist. Und genau da setzt mein Plan an. Wenn du dich als mich ausgibst und auf meine Schule gehst, dann glaubt jeder, dass du ein Junge bist. Du kannst dich so viel mit anderen Jungs anlegen, ohne schief angesehen zu werden. Du kannst akzeptiert werden und keiner lästert über dich, weil du ein Mädchen bist, das an Karate interessiert ist, denn alle denken du wärst ein Junge. Hast du nicht immer gesagt, dass es als Junge so viel einfacher ist? Also bitte, hier ist die Chance, dass du von dieser verhassten Mädchenschule kommst, dass du dich nicht mehr verstellen brauchst und endlich so sein kannst, wie du willst. Im Gegensatz hältst du mir diesen Typen vom Hals, aber das dürfte für dich kein Problem sein. Oder hast du etwa Angst, er könnte stärker sein als du?“
Oh, das war ganz schlecht von ihm. Ein ganz schlechter Schachzug. Da hatte er einen wunden Punkt bei mir getroffen. „Tse. Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich Angst vor ein paar Typen von der Santo-Schule habe?! Erst heute Morgen habe ich ein paar von ihnen fertig gemacht.“
„Na siehst du. Es wird für dich ein Kinderspiel sein. Ein leichtes. Und stell dir mal vor, du könntest vielleicht sogar diesen Fight- Club anleiten. Dann würden alle zu dir heraufsehen. Jeder würde dich respektieren, sie würden dich so mögen, wie du bist.“
Einen Moment ließ ich seine Worte auf mich wirken. Er hatte Recht mit dem, was er sagte. Es klang alles so plausibel und einleuchtend. Und vor allem so schmackhaft. Und nachdem er das mit der Angst erwähnt hatte, hatte er meinen Ehrgeiz geweckt. Doch es gab noch zu viele Ungereimtheiten. „Ich glaube nicht, dass Mum und Dad davon begeistert sein werden.“
„Mum und Dad müssen davon ja auch nichts wissen.“
„Werden sie aber, wenn du plötzlich den ganzen Tag zuhause bist und ich nicht mehr in meiner Schule auftauche.“
„Da habe ich auch schon eine Idee. Ich gebe mich im Gegensatz als dich aus.“
Skeptisch hob ich eine Augenbraue. „Du willst was?“
„Ja. Ich tue so, als wäre ich du, gehe an deine Schule und verschaff dir gleich noch ein paar bessere Noten. Ich kann mich auch mit ein paar Leuten anfreunden. Vielleicht kommst du dann von deinem negativen Image weg und wenn Mum und Dad sehen, dass du dich in der Schule verbesserst, dann erlauben sie dir vielleicht auch im kommenden Jahr an eine normale Schule wieder zu wechseln.“
Ich seufzte. „Und was ist mit deinen Noten? Die werden unweigerlich schlechter.“
Kazuya zuckte nur mit den Schultern. „Das wird ja nicht für lange so sein. Bislang habe ich ganz gut vorgearbeitet, du wirst da also nicht so großen Unheil anrichten können.“
„Danke“, sagte ich mit einem sarkastischen Unterton. Welch ein Taktgefühl.
„Also, was sagst du?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte ich und wandte mich wieder meinem Sandsack zu. Ein paar Mal schlug ich auf ihn ein, dann sagte ich: „Glaubst du nicht, das fällt auf? Ich werde immer besser, du immer schlechter. Und außerdem sehe ich ganz anders aus als du. Und vergiss es, wenn du glaubst, ich schneide mir meine Haare kurz, dann irrst du dich gewaltig. Und wo willst du auf einmal 20 cm mehr Haare herbekommen?“
„Lass das mal meine Sorge sein“, grinste Kazuya, stellte sich hinter den Sandsack und hielt ihn fest, sodass ich gezielter darauf einschlagen konnte. „Komm schon. Ich meine, was hast du zu verlieren? Du kannst eigentlich nur das gewinnen, wonach du dich seit langem sehnst.“
Ich hielt in meinem Training inne und musterte ich ihn nachdenklich. Geistesabwesend kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Dieses Angebot klang zu verlockend und zu perfekt. Das musste doch irgendwo einen Haken haben. Plötzlich drang die Stimme meiner Mutter an mein Ohr und riss mich aus meinen Überlegungen.
„Yuzuki, Kazuya, kommt bitte nach unten, das Abendessen ist fertig!"
Unweigerlich drehte ich mich um und wollte ihrer Aufforderung Folge leisten, als mein Bruder mich plötzlich am Arm packte und mich erwartungsvoll ansah. „Was ist nun?“
Genervt seufzte ich und ging, ohne groß darüber nachzudenken, auf seinen Deal ein. „Ok, ich mach mit.“
„Super!“, sagte er, lies mich los und lief dann an mir vorbei aus dem Zimmer. Grummelnd folgte ich ihm. Er hatte es vermutlich eh bald wieder vergessen.

Der Rest der Woche verlief genau so, wie sie angefangen hatte. Es passierte nichts Bewegendes, wir schrieben einen Test in Biologie, Tomoko versuchte mich wie immer jede Pause in ein Gespräch zu verwickeln und beim Training ging alles seinen gewohnten Gang. Die Typen von der Santo-Schule hatte ich nicht wieder getroffen und so endete die Woche, ohne dass ich in eine weitere Prügelei involviert wurde. Das Gespräch mit Kazuya hatte ich vollkommen vergessen. Je mehr Zeit verstrich, desto sicherer war ich mir, dass das Ganze nur eine dumme Idee von ihm war. Vermutlich hatte er etwas nicht richtig verstanden gehabt, als dieser Typ ihm gedroht hatte. Oder aber er konnte sein Problem von selbst lösen, jedenfalls hatte er mich nicht wieder auf seinen Plan angesprochen gehabt.
Es war Sonntagnachmittag und ich übte gerade mein all-nachmittägliches Training, meinen Sandsack zu bearbeiten, aus, als plötzlich meine Tür geöffnet wurde und ein Mädchen mit langen blonden Haaren und meine Schuluniform tragend, mein Zimmer betrat. Vollkommen überrascht und perplex, hielt ich inne und starrte sie entgeistert an. Wer in Gottes Namen war das und was machte sie in meinem Zimmer?
Mit einem Grinsen auf dem Gesicht, schloss sie die Tür hinter sich und warf eine Tüte, die sie in ihrer linken Hand hatte, auf mein Bett. Mit ausgebreiteten Armen strahlte sie mich an. „Und?“
Mein Mund klappte auf und ich sah sie entgeistert an. Hatte ich irgendwas nicht mitgekriegt? Da stand gerade ein vollkommen fremdes Mädchen in meinem Zimmer und sah mich an, als würden wir uns schon Jahre kennen. Und sie machte keinerlei Anstalten wieder zu verschwinden.
Mit der Situation vollkommen überfordert und nicht wissend, was ich hätte tun oder sagen sollen, öffnete und schloss sich mein Mund und in meinem Kopf ratterte es ununterbrochen. Wer war sie? Was wollte sie? Warum sah sie mir so verdammt ähnlich? Träumte ich etwa?
Offensichtlich schien sie bemerkt zu haben, dass ich nicht ganz mitkam, denn sie senkte ihre Arme und sah mich genervt an. „Ach komm schon, sag bloß du erkennst mich nicht.“
Immer noch entgeistert, schüttelte ich den Kopf. Sie seufzte, fasste sich plötzlich an die Haare und riss sie sich herunter. Ich konnte gerade noch so einen Aufschrei unterdrücken. Normalerweise schockierte mich nichts so leicht, bei Horrorfilmen langweilte ich mich eher, als dass ich Angst hatte. Aber wenn ein Mädchen leibhaftig vor mir stand und sich einfach mal so die Haare vom Kopf riss, dann bekam selbst ich es kurz mit der Angst zu tun.
Als ich jedoch erkannte, dass das Mädchen nur eine Perücke trug, sammelte ich mich wieder und starrte die Person mir gegenüber nur unverwandt an. Und dann wusste ich plötzlich, wen ich da vor mir hatte.
„Kazuya?“ Ich spuckte das Wort eher aus, als dass ich es sagte. Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Die Person mir gegenüber grinste jedoch.
„Gut, oder?“ Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich zu übergeben. In meinem Leben hatte ich schon viel gesehen. Blut… gebrochene Knochen… demolierte Gesichter… an einigen war ich sogar selbst schuld. Aber glaubt mir, meinen eigenen Bruder in meiner Schuluniform – sprich Bluse, Schleife und Rock – zu sehen gehörte nicht gerade zu den Dingen, dich ich unbedingt noch erleben wollte.
„Oh Gott, du bist krank“, kam es angewidert aus meinem Mund und ich wandte mich wieder meinem Sandsack zu. Um das schockierende Bild aus meinem Kopf zu bekommen, schlug ich mehrmals auf ihn ein, doch es wollte einfach nicht verschwinden. Na toll… das würde mich wahrscheinlich jetzt sogar in meinen Träumen heimsuchen.
„Nein, bin ich nicht“, sagte Kazuya hinter mir. „Das ist nur mein Plan.“
„Dein Plan? Was für ein Plan?“, wandte ich mich wieder ihm zu. „Ich wusste schon immer, dass in dir ein Mädchen steckt.“
Er rollte genervt mit den Augen. „Ich rede von dem Plan, den ich dir letztens vorgestellt habe und zu dem du zugestimmt hast.“ Nachdenklich schloss ich die Augen und versuchte seine Worte zu begreifen. Irgendetwas ratterte, bei dem Gedanken an seinen Plan. Und dann machte es plötzlich Klick. Entgeistert schlug ich meine Augen wieder auf und starrte ihn an. „Das ist doch nicht dein ernst?“
„Natürlich“, sagte er mit einer Selbstverständlichkeit, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte.
„Ich dachte, du hast das wieder vergessen oder dein Problem von selbst gelöst.“
„So etwas löst sich leider nicht von selbst. Der Typ will mir immer noch alle Knochen brechen und je mehr Tage vergehen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der nächste Tag mein Tod sein wird.“
Ich seufzte und zog eine Augenbraue hoch. „Du willst das echt durchziehen?“
„Klar, warum nicht?“, zuckte er nur mit den Schultern. Ich lachte kurz.
„Du willst echt für mehrere Wochen in meine Schule gehen, von hunderten von Mädchen umringt sein, ihnen bei ihren Problemen, wie Cellulite und Kleiderwahl zuhören und einen Rock tragen?“
Er grinste und nickte. Ich konnte es einfach nicht glauben. Mein Bruder musste tatsächlich verrückt sein. Oder aber er nahm Tabletten.
„Ich habe dir auch schon deine Sachen besorgt“, ignorierte er meinen ungläubigen Blick und wandte sich der Tüte zu, die er auf mein Bett geworfen hatte. Meine Sachen? Was meinte er jetzt damit?
Doch meine Frage beantwortete sich von selbst, als er plötzlich eine schwarze Jacke, Hose und Weste, ein weißes Hemd und eine Perücke zum Vorschein brachte. Sorgfältig legte er alles auf mein Bett und grinste mich dann wieder an. „Das ist meine Schuluniform und eine Perücke, die meinen Haaren am nächsten kommen. Somit ist dann nämlich auch das Problem mit dem ‚Haare nicht abschneiden‘ geklärt.“
Vorsichtig machte ich ein paar Schritte auf mein Bett zu und betrachtete die Sachen genauer. Mit der Schuluniform hatte ich kein Problem. Ehrlich gesagt, war sie mir tausend Mal lieber als meine. Doch die Perücke machte mir eher Sorgen. Damit musste ich doch vollkommen dumm aussehen.
„Komm, probier es mal an.“ Offensichtlich hatte Kazuya meinen Blick falsch gedeutet. Ansonsten hätte er so etwas nicht gesagt. Emotionslos sah ich ihn an.
„Vergiss es.“
„Ach komm schon. Nur mal probieren. Du weißt, damit lösen sich all deine Probleme.“
„Ich wüsste ja nicht, wie sich meine Probleme mit einer dämlichen Perücke und einer Schuluniform lösen sollten.“
„Sag bloß, du hast Angst“, sagte er herausfordernd und verschränkte die Arme vor der Brust. Das sah so verdammt lächerlich aus, wie er in Rock und Bluse dastand. Vermutlich hätte ich mich gekringelt vor Lachen, hätten seine Worte nicht einen wunden Punkt bei mir getroffen.
„Ich habe vor nichts Angst“, fauchte ich.
„Na dann wirst du ja keine Probleme haben, die Sachen mal anzuprobieren.“
Grummelnd schürzte ich die Lippen. Hatte ich schon erwähnt gehabt, dass mein Bruder clever war? Er hatte mich genau da, wo er mich haben wollte. Wenn ich verweigern würde, wäre das nur eine Bestätigung für seine Vermutung und das würde mein Stolz nicht zulassen. Mir blieb also nichts anderes übrig, als nachzugeben und bei seinem Plan mitzuspielen.
„Na gut“, sagte ich und kaute verbissen auf meiner Unterlippe herum.
„Super!“, strahlte er und klatschte in die Hände. Erwartungsvoll sah er mich an.
Einen Moment sagte keiner von uns ein Wort, dann hob ich ungläubig meine Augenbrauen. „Du glaubst doch nicht, dass ich mich vor dir umziehe?“
„Oh, natürlich nicht. Tschuldigung.“ Immer noch ein breites Grinsen auf dem Gesicht, öffnete er die Tür und trat aus meinem Zimmer. „Ich warte draußen.“
Ein Glück waren unsere Eltern gerade nicht zuhause, sonst würden sie vermutlich einen tierischen Schrecken bekommen. Missmutig ging ich zu meinem Bett herüber und begutachtete die Uniform. Im Grunde war sie eigentlich ganz normal. Eine schwarze Hose, ein weißes, langärmliges Hemd, darüber wurde eine schwarze Weste getragen und ein rotes, schmales Band um den Hals, das vermutlich einen Schlips darstellen sollte. An kalten Tagen war ein schwarzer Blazer als Jacke Pflicht, da wir aber momentan Sommer hatten, konnte ich diesen getrost weglassen.
Nach und nach zog ich die Sachen an. Wenn es etwas gab, was mich an diesem Plan begeisterte, dann war es vermutlich die Uniform. Wie ich diese Röcke gehasst habe. Und dann noch die Schleife um den Hals. Es hatte fast einen Monat gebraucht, bis ich wusste, wie man sie richtige faltete und selbst jetzt sah sie bei mir noch immer total zerknittert und zerknautscht aus. Kazuya hingegen hatte eine viel bessere Schuluniform. Sie war locker und leger, man würde ihr nicht einmal ansehen, dass es eine Uniform war, würde auf der Weste nicht über der linken Brust das Wappen der Schule gestickt sein. Ich konnte also nicht verstehen, wieso er seine gegen meine eintauschte. Aber vermutlich lag das daran, dass er momentan nahe dem Tode war und da würde er selbst ein Hühnerkostüm zur Schule tragen. Ja, was die Angst aus einem Menschen schon machen konnte, dachte ich und musste grinsen.
Ich begutachtete mich in meinem großen Spiegel von allen Seiten. Es saß alles und sah relativ locker aus, jedoch passte irgendetwas nicht. Ohne groß darüber nachzudenken, krempelte ich die Ärmel bis zu meinem Ellenbogen hoch, öffnete den obersten Knopf des Hemdes und machte das rote Band etwas lockerer. Ja… so sah das ganze schon viel besser aus. Irgendwie… cool.
„Ich bin fertig!“, sagte ich laut, sodass mich Kazuya hören konnte und ich grinste mein eigenes Spiegelbild an. Eigentlich war ich mit meinem Ergebnis relativ zufrieden.
Kurzerhand wurde meine Tür geöffnet und Kazuyas Kopf lugte in mein Zimmer. Als er mich sah, strahlte er plötzlich und trat herein.
„Na siehst du. So schlimm ist das doch gar nicht.“ Er stellte sich neben mich und sah mich von oben bis unten an. „Passt perfekt. Hm ich wusste gar nicht, dass dein Busen so klein ist, aber ein Glück für uns“, grinste er.
Mein Lachen verging mir und ich sah ihn kalt an. Eigentlich dachte ich, er machte dieses ganze Theater nur, um sein Leben zu retten, aber momentan schien er wirklich Todessehnsucht zu haben. „Ich habe sie mit ein paar Verbänden umwickelt, sodass sie fester an meinen Körper gedrückt sind und nicht auffallen. Das mache ich immer, wenn ich Training habe“, erklärte ich ihm verbissen.
Er merkte, dass er offensichtlich etwas Falsches gesagt hatte, denn er schluckte kurz und lächelte gequält. „Wo ist die Perücke?“, wechselte er schnell das Thema.
„Liegt noch auf dem Bett“, wandte ich mich wieder dem Spiegel zu.
„Warum hast du sie noch nicht aufgesetzt?“
„Weil ich keine Ahnung habe, wie man das macht“, erwiderte ich nur.
Kazuya nickte und holte die Perücke vom Bett. Danach trat er wieder neben mich. Kurz musterte er mich und ich sah, dass er darüber nachdachte, wie er meine langen Haare am besten unter der Perücke verstecken konnte. „Vielleicht solltest du sie irgendwie hochstecken… So eine Art Dutt machen, nur nicht zu dick. Sie müssen eher gleichmäßig verteilt liegen." Skeptisch sah ich ihn an. Das konnte er von meinen Klassenkameradinnen verlangen, aber nicht von mir. Keine Ahnung, wie man sowas machte.
Letzten Endes haben wir eine gute halbe Stunde gebraucht, bis die Perücke perfekt auf meinem Kopf saß. Wenn das jetzt jeden Tag so lange dauern sollte, bringe ich mich um.
Missmutig starrte ich mein Spiegelbild an. Ich war gar nicht mehr wiederzuerkennen. Natürlich hatte ich immer noch das gleiche Gesicht, jedoch sah ich jetzt mehr wie Kazuya aus. Ein mulmiges Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. Das war so ungewohnt.
Mein Bruder allerdings war mit dem Ergebnis sichtlich zufrieden, denn er grinste mich breit an. „Perfekt“, sagte er und stellte sich dann neben mich.
Unaufhörlich kaute ich auf meiner Unterlippe herum und betrachtete uns beide. „Irgendwie sehe ich cooler aus“, kam es mir über die Lippen.
„Ach, das liegt nur daran, dass ich meine Perücke nicht aufhabe.“
„Nein“, unterbrach ich ihn, „Ich sehe auch cooler aus, als du in deiner Schuluniform. Es tut mir leid Kazuya, aber würdest du nicht immer so zugeknöpft gekleidet sein, würden sich viel mehr Leute für dich interessieren.“
Er zuckte zur Antwort nur mit den Schultern. „Würdest du dich mädchenhafter verhalten, würden sich auch viel mehr Leute für dich interessieren.“
Mit einer hochgezogenen Augenbraue sah ich ihn an. „Ich will gar nicht, dass sich jemand für mich interessiert.“
„Siehst du, ich auch nicht“, erwiderte er und setzte sich die Perücke wieder auf. Bei ihm ging das viel schneller und einfacher, immerhin hatte er keine Haare, die er hochstecken musste. Grinsend betrachtete er uns im Spiegel. „Also das Aussehen stimmt schon mal. Jetzt müssen wir nur noch über das Verhalten und die Sprechweise reden. Also, ich bin immer sehr…“
„Wenn du glaubst, dass ich dich nachmache, dann irrst du dich.“
„Ja, aber sonst wird das doch nicht glaubhaft.“
„Es ist auch nicht glaubhaft, wenn ich mich so verhalte wie du und dann dem Typen eine verpasse. Das passt einfach nicht. Entweder du lässt mich so sein, wie ich will oder wir vergessen die ganze Sache.“ Mit verschränkten Armen sah ich ihn an.
„Und wie willst du sein?“, fragte er und ich konnte einen leicht gereizten Ton heraushören.
„Nun ja. Jedenfalls nicht zugeknöpft und verklemmt. Die meiste Zeit werde ich vermutlich unter mich sein. Ich hab noch nie was von Cliquen gehalten, also brauchst du keine Angst haben, dass ich mich mit irgendwem anfreunde, den du eventuell nicht leiden kannst. Wenn mich jemand dumm anmacht oder sich mir in den Weg stellt, verpass ich ihm eine und dann ist die Sache auch schon erledigt. Ich werde weder mit Mädchen flirten, noch werde ich irgendeine für dich klarmachen“, ratterte ich herunter. „Ich werde zu keinem Streber werden, nur weil du einer bist. Ich werde an keinen Schachclubs, Genieclubs oder sonstigen Aktivitäten mitmachen, die meine Freizeit und mein Training behindern könnten. Das war’s eigentlich auch schon für‘s erste.“ Mit hochgezogener Augenbraue sah er mich an. Abwehrend hob ich die Hände. „Hey, du willst das Image eines „Schlägers und Draufgängers“, damit dir nie wieder jemand zu nahe kommt. Eine andere Wahl hast du also nicht. Oder glaubst du Schläger wissen, wie viel Knochen der menschliche Körper hat?“
Kazuya seufzte und dachte für einen Moment nach. Offensichtlich hatte er sich das ganze viel anders vorgestellt gehabt. Wahrscheinlich hatte er keine Ahnung davon, was man als Schläger und Draufgänger alles so machte.
Dann jedoch gab er sich geschlagen. „Also gut. Mach was du willst. Aber bitte… bitte flieg nicht von der Schule.“
Ich grinste breit. „Mach dir mal keine Sorgen. Wenn die Gerüchte stimmen, dann haben die Lehrer zu viel Angst vor den Schülern, als dass sie einen Rauswurf durchsetzen könnten.“
Kazuya schüttelte ungläubig den Kopf. „Gibt es etwas auf das ich achten muss?“
Ich schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Ich bin immer unter mich, rede selten mit jemanden und engagiere mich eigentlich für nichts. Worauf du eventuell achten musst, ist Tomoko“, fiel es mir plötzlich wieder ein.
„Tomoko?“, fragte er ungläubig.
„Eine Schülerin aus meiner Klasse. Seit ich dort bin, kommt sie jede Pause zu mir und quatscht mich voll. Du dürftest eigentlich keine Probleme mit ihr haben, ignorier sie einfach, das mach ich auch die meiste Zeit.“
„Du ignorierst sie und sie kommt trotzdem immer wieder?“
Ich zuckte nur mit den Schultern. „Sie hält mich für ihre Freundin, also was soll ich machen? Ich hab schon alles versucht, aber sie lässt sich nicht abwimmeln. Aber sie ist trotzdem ganz nett.“
Kazuya lachte plötzlich. „Ich hätte nie gedacht, dass jemand so erpicht darauf sein wird, mit dir befreundet zu sein.“
„Tja, da bin ich schon ein ganzes Stückchen weiter als du, Bruderherz.“
Grinsend schüttelte er den Kopf. „Also dann hole ich dir noch meine Tasche, Schulbücher und all den Rest, den du noch für morgen brauchst.“
Entgeistert sah ich ihn an. „Was? Wie bitte? Morgen?“
Er nickte und grinste. „Ja, wann hast du denn gedacht?“
„Ich weiß nicht. In einer Woche vielleicht, wenn ich mich richtig darauf vorbereitet habe.“
Jetzt lachte er wieder. „In einer Woche? Da könnte ich schon tot sein. Ich bin froh, dass ich die letzte Woche überlebt habe.“
„Aber…“
„Du wirst das schon schaffen, Yuzuki. Keine Panik. Ich erklär dir alles und dann wird nichts schief gehen.“ Mit einem aufmunternden Lächeln verließ er wieder mein Zimmer.
Mit offenem Mund und immer noch etwas geschockt sah ich ihm hinterher. Das konnte doch nie und nimmer sein ernst sein. Ich sollte schon morgen meine Premiere haben? Vor einer Stunde wusste ich noch gar nicht mal, was er alles vorhatte.
Missmutig ging ich auf meinen Sandsack zu. Ich schlug ein paar Mal kräftig darauf ein und versetzte ihm sogar ein paar Tritte. Nachdenklich machte ich ein paar Schritte wieder rückwärts. Wow, in der Uniform konnte man sich sogar bewegen. Hier musste ich keine Angst haben, dass man meine Unterwäsche sah, wenn ich jemandem einen Tritt versetzt.
Mit einem breiten Grinsen machte ich mich wieder daran, den Sandsack erneut zu bearbeiten. Vielleicht konnte es ja doch noch ganz lustig werden.

Der "ach so perfekte" Plan

Worauf hatte ich mich da eigentlich eingelassen? Was in Gottes Namen tat ich gerade? Eigentlich hatte ich geglaubt, Kazuya wäre derjenige von uns beiden, der Drogen genommen hatte. Jetzt war ich mir dessen nicht mehr sicher. Wie um alles in der Welt hatte ich ja sagen können? Es war doch eigentlich von Anfang an klar, dass das eine schwachsinnige Idee war. Ein totaler Reinfall. Ich zweifelte ernsthaft an der Intelligenz meines Bruders. Notendurchschnitt, von 1,1? Das ich nicht lachte. Für diese Idee kam er doch glatt ins Guinnessbuch der Rekorde – Kategorie: Der hirnverbrannteste Bruder. Ich schwörte, wenn ich den heute in die Finger bekäme, dann konnte der…
„Pass doch auf!“, rempelte mich plötzlich jemand an. Aus meinen Gedanken gerissen und leicht verärgert, starrte ich der Person wütend hinterher, die eilig auf das Schulgebäude zulief.
Die Santo-Oberschule – berühmt und berüchtigt für die skrupellosesten und gewalttätigsten Schüler in ganz Japan. Betrachtete man die Schülerschar, die gerade seelenruhig über das Gelände liefen – abgesehen von dem Schwachmaten, der mich gerade angerempelt hatte – könnte man auf den ersten Blick glauben, dass dies eine ganz normale, harmlose Schule sei. Vielleicht war das der Grund, warum Kazuya diese Schule gewählt hatte. Weil sie von außen einfach harmlos wirkte. Weiße Beton-Wände, die sich über vier Stockwerke erstreckten, ein eckiger Bau, der von oben vermutlich wie ein E ohne Mittelstrich aussah. Auch einige Bäume und Beete mit Blumen waren vorzufinden – ein Wunder das das bei den täglichen Prügeleien überlebt hatte. Aber vermutlich wurden die Kämpfe eher auf dem Hof, hinter dem Gebäude ausgeführt und nicht direkt vor dem Eingang.
Ein leises Stöhnen kam mir über die Lippen und missmutig trat ich durch das Tor auf den Vorhof. Das würde für die nächste Zeit wohl meine Schule sein. Ein Teil von mir hätte in diesem Moment Luftsprünge gemacht. Ich konnte endlich so sein, wie ich wollte. Kämpfen so viel ich wollte und wurde dafür nicht gleich schief angesehen. Eigentlich war ich im Paradies – in meinem Paradies. Jedenfalls nur so lange, wie ich nicht erwischt wurde und das hörte sich einfacher an als getan. Auch wenn ich meine Oberweite mithilfe von Binden etwas verringert hatte, war sie dennoch da und sollte mir jemand zu nahe kommen, würde er es ohne Umschweife merken. Tatsächlich hatte ich heute Morgen eine geschlagene halbe Stunde gebraucht, um mir die Perücke aufzusetzen und eine kurze Windböe würde vermutlich ausreichen, um sie mir wieder vom Kopf zu reißen. Von den Jungstoiletten wollte ich gar nicht erst anfangen. Ich war mir im Moment also nicht sicher, ob das wirklich mein Paradies war – oder vielleicht doch eher meine Hölle.
Mit geschürzten Lippen trat ich durch die große hölzerne Eingangstür und fand mich… in der Grundschule wieder. So hatte es zumindest den Eindruck. Lautes Geschrei hallte durch den Flur, von allen Seiten wurde man angerempelt, als die verschiedensten Schüler von A nach B rannten, Papierflieger segelten über die Köpfe, ein Basketball verfehlte nur knapp meinen Kopf. Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, ich wäre in einer schlechten Hollywood-High-School-Komödie. Ich versuchte erst gar nicht mein – oder besser gesagt Kazuyas – Schließfach ausfindig zu machen, die sich zu beiden Seiten des Ganges erstreckten. Ich wäre vermutlich eh nicht mal in die Nähe davon gekommen.
Links, rechts, links, rechts – wie als hätten sie sich abgesprochen, wurde ich abwechselnd von beiden Seiten angerempelt und stolperte vor und zurück. Wie in Gottes Namen hatte Kazuya es geschafft jeden Tag pünktlich zum Unterricht zu erscheinen? Hatte er sich vielleicht einen geheimen Tunnel gegraben, der direkt auf seinen Platz im Klassenzimmer zulief?
In diesem Moment stieß ein Ellbogen hart gegen meine linke Seite und zischend sog ich die Luft ein. Gerade wollte ich mich zu dem Verantwortlichen umdrehen und ihn zur Schnecke machen, da fuhr plötzlich ein heftiger Schub durch die gesamte Schülerschar und ich wurde rittlings weiter ins Gebäude hineingeschoben. Erneut wurde ich fast von einem Gegenstand erschlagen, dieses Mal handelte es sich um einen Rugby. Da ich nicht gerade scharf drauf war, schon vor der ersten Stunde durch eine Prügelei oder dergleichen aufzufallen, riss ich mich kurzerhand zusammen, drückte meinen Rucksack fester an meinen Körper und drängelte mich durch die Meute, direkt auf die Treppen zu, der einzige Ort, an dem ein kleines Stückchen Freiheit zu sein schien. Und tatsächlich… kaum hatte ich die erste Stufe betreten, ließ das Geschubse und Gedränge nach und ich konnte einmal tief einatmen. Kurz warf ich einen Blick zurück zum Schauplatz des Geschehens und schüttelte nur entgeistert den Kopf. Dass mir Kazuya dieses kleine, aber wichtige Detail gestern Abend vorenthalten hatte, würde er noch bitter bereuen.
Als ich im 1. Stock angekommen war, stellte ich erleichtert fest, dass es hier relativ gesittet von statten ging. Kein Gedränge und Geschubse, kein Geschrei und vor allem – keine Dinge, die durch die Luft flogen und einen enthaupten wollten. Erleichtert, aber auch etwas verunsichert sah ich zu beiden Seiten den Flur entlang. Ich hatte definitiv keine Ahnung, wo ich hin musste. Kazuya hatte mir seinen Stundenplan mit den entsprechenden Nummern der Räume zugesteckt. Die erste Stunde war Biologie in einem der Fachräume. Ja… keine Ahnung wo die Biologiefachräume waren. Links den Flur runter sah ich die Räume der 1-A und 1-B. Rechts waren 1-C und 1-D. Vermutlich waren in dem Stockwerk über mir die Räume der zweiten und dritten Klasse.
(Kleine Anmerkung. Das japanische Schulsystem ist etwas anders als unseres. Man hat 6 Jahre Grundschule, 3 Jahre Mittelschule, 3 Jahre Oberschule und dann eventuell 4 Jahre Uni. Und jedes Mal, wenn man auf eine höhere Schule geht, fangen die Klassen wieder bei 1 an und sind nicht wie bei uns fortlaufend. Die erste Klasse der Oberschule entspricht also ungefähr unserer 11. Klasse, die zweite wäre demnach die 12. und die dritte die 13.^^)
Doch wo waren die Fachräume? Missmutig presste ich meine Lippen aufeinander. Hoffentlich nicht im Erdgeschoss. Mein Blick schweifte zur Uhr, die über der Treppe hing. Es war kurz vor acht. Wenn ich also nicht zu spät zur ersten Stunde kommen wollte, musste ich wohl oder übel nach dem Weg fragen. Na das konnte ja heiter werden.
Ohne groß darüber nachzudenken, quatschte ich den erst besten Typen an, der mir über den Weg lief. Er war groß gewachsen, hatte kurzes braunes, leicht verwuscheltes Haar und stechend blaue Augen. Sein Gesicht war kantig und anmutig und mein Blick blieb für einen kurzen Augenblick an seinen Lippen hängen. Ich hätte nie geglaubt, dass ein Junge solch fein geschwungene Lippen haben konnte. Sie erinnerten mich eher an die Lippen eines Mädchens, als an die eines Jungen.
„Was?“, holte mich seine kalte Stimme in die Realität zurück und ich schüttelte leicht meinen Kopf. Wie hatten mich seine Lippen nur so aus der Bahn werfen können?
Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, sah ich ihm wieder in die Augen und fragte mit derselben Kälte in meiner Stimme: „Kannst du mir vielleicht sagen, wo die Fachräume für Biologie sind?“
Skeptisch hob er eine seiner Augenbrauen und musterte mich kurz einen Augenblick von oben bis unten. Mein Gott, man könnte glatt meinen, der Typ hatte noch nie einen anderen Menschen gesehen. „Ja“, war nur seine Antwort. Dann ließ er mich stehen und ging, ohne mich eines Blickes zu würdigen, an mir vorbei.
Vollkommen perplex starrte ich ihm hinterher? Was sollte das denn jetzt? Er sagt ja und haute dann einfach ab? Auf was für einer Schwachmaten-Schule war ich denn gelandet? „Hey!“, rief ich ihm hinterher. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, wo die Fachräume nun sind.“
„Warum sollte ich das auch?“, entkam es ihm, ohne sich umzudrehen.
„Weil ich dich danach gefragt habe“, erwiderte ich.
Abrupt blieb er stehen und drehte sich mit einem hämischen Grinsen zu mir um. „Nein hast du nicht. Du hast mich gefragt, ob ich es dir sagen kann, nicht wosie sind.“
Ahahahaha, was für’n Klugscheißer. Durfte ich mir jetzt jeden Tag solche dummen Sprüche anhören? Kein Wunder, dass mein Bruder zu den besten Schülern hier gehörte, wenn jeder so einen geringen IQ hatte, wie der Typ vor mir.
„Gut“, erwiderte ich und lächelte ihn süffisant an. „Hätte dann Herr Oberschlaumeier vielleicht die Güte mir zu sagen, wodie Fachräume sind?“
„Ja“, antwortete er weiterhin grinsend. „Aber das war immer noch die falsche Frage.“
Oh Gott, ich gab es auf. An dieser Schule galt ich vermutlich sogar schon als intelligent. „Wo sind die Biologiefachräume?“, fragte ich kalt, jeglicher Ausdruck war aus meinem Gesicht gewichen. Ich hatte noch zwei Minuten Zeit meinen Unterrichtsraum zu finden und wenn ich wegen diesem Typen zu spät kam, dann konnte er…
„2. Stock. Wenn du die Treppe hochkommst, rechts den Gang entlang und dann links“, riss er mich mit seiner kalten Stimme aus den Gedanken.
Ohne mich zu bedanken, wandte ich mich wieder der Treppe zu und hatte gerade ein paar Stufen genommen, als ich plötzlich aufgehalten wurde. „Hey, in welche Klasse gehst du überhaupt?“, fragte der Typ.
Verbissen drehte ich mich um und antwortete: „2b. Wieso?“
Ein Grinsen schlich sie wieder auf seinen Mund und leicht herablassend antwortete er: „Wie dumm muss man eigentlich sein, wenn man ein Jahr auf diese Schule geht und immer noch nicht weiß, wo die Räume sind?“ Lachend wandte er sich ab und ging weiter den Flur entlang, bis er aus meinem Sichtfeld verschwunden war.
Zähneknirschend ballte ich meine Hände zu Fäusten und machte mich dann wieder auf den Weg zu meinem Unterrichtsraum. Ich hatte doch von Anfang an gewusst, dass es ein Fehler sein würde, nach dem Weg zu fragen. Kazuya würde sich heute Abend wünschen, nie geboren worden zu sein.
Mit dem Unterrichtsklingeln war ich in den Raum gestürzt und hatte mich auf den nächsten, freien Platz niedergelassen. Keine Ahnung, ob Kazuya hier saß, das war mir aber auch in dem Moment vollkommen egal. Ich ging gerade mal seit einer geschlagenen viertel Stunde auf diese Schule und es gab bereits einen Typen, den ich auf den Tod nicht ausstehen konnte. Warum hatte mir Kazuya nicht erklärt gehabt, wo die einzelnen Räume zu finden waren? Stattdessen musste ich mich wie einen Idioten behandeln lassen. Vermutlich dachte der Typ jetzt, ich wäre vollkommen bescheuert, wenn ich nicht einmal wusste, wo meine Klassenräume waren. Hoffentlich war das nicht jemand, den Kazuya kannte. Sonst wäre sein Ruf des Musterschülers wohl schneller weg, als er gedacht hatte. Obwohl… war das nicht eigentlich der Sinn meiner Mission? Weg vom Ruf des Klugscheißers – her mit dem Schläger und Draufgänger. Und Schlägern und Draufgängern war es nun mal egal, wo der Klassenraum war. Sie hatten wichtigere Dinge zu tun, als sich den Bauplan eines Gebäudes zu merken. Das nächste Mal sollte ich vielleicht noch etwas überheblicher und bedrohlicher klingen. Leicht gesagt, wenn man bedachte, dass ich gerade mal 1.72 m war. Die meisten Schlägertypen, die ich traf, überragten mich bei weitem. Ich war nicht gerade der Typ, dem man ansah, was er konnte. Es würde vermutlich ein hartes Stück Arbeit sein, bis ich mir einen guten Ruf aufgebaut hatte. Ein Lächeln stahl sich bei diesen Gedanken auf meine Lippen. Ja, sie sollten mich alle nur unterschätzen. Umso lustiger würde es für mich werden.
Während die Stunde nur zäh dahin trottete und die zweite nicht gerade besser war als die erste, versuchte ich so wenig wie möglich Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Während meine Lehrer – von deren Namen ich überhaupt keine Ahnung hatte - irgendwelche Dinge erklärten und an die Tafel schrieben, kritzelte ich nur irgendetwas in meinen Hefter, deren Bedeutung ich selbst nicht kannte. Ich hatte nicht besonders Lust, Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Auch wenn Kazuya sich erhoffte, dass ich ihm den nötigen Ruf verpasste, so würde ich mich dennoch nicht verbiegen. Ich würde einfach schauen, was auf mich zukam und mich nicht mit einer riesen Leuchtreklame präsentieren.
Doch leider kam etwas schneller auf mich zu als gedacht. Hatte ich anfangs noch gehofft am ersten und vielleicht auch zweiten Tag in Ruhe gelassen zu werden, damit ich mich einigermaßen einleben konnte, so wurde diese Hoffnung schnell zunichte gemacht. Es war gerade eine größere Pause und ich machte mich auf den Weg zu Kazuyas Spint. Seine Nummer war 098 und soweit ich wusste, waren alle Schließfächer im Erdgeschoss. Glücklicherweise herrschte jetzt nicht mehr ein heilloses Durcheinander wie vor dem Schulbeginn. Vereinzelt sah ich ein paar Schüler durch die Flure laufen und nur die Papierflieger, die auf dem Boden verteilt waren, ließen daran erinnern, was vor ein paar Stunden hier geschehen war. Der größte Teil der Schüler hielt sich auf dem Hof auf und so war es relativ ruhig, als ich an den Spinden vorbeilief. 095… 096… 097… 098 – da war meiner. Ich gab den Zahlencode, den Kazuya mir auf einen Zettel geschrieben hatte, in das Drehschloss ein und – Voila! – die Tür ging auf. Musternd begutachtete ich die Sachen, die er darin hatte. Eine Ersatzuniform, unzählige Bücher und Blöcke und zwei Federtaschen konnte ich ausfindig machen. Außerdem zwei Taschenrechner und eine weitere Tasche. Oh mein Gott, der Typ war ja besser vorbereitet, als meine Mutter, wenn sie auf Reisen ging. Für welchen Fall der Fälle hatte er das hier gebunkert? Dass er nicht nur seine Schultasche, sondern anscheinend auch seine Schuluniform zuhause vergaß und splitterfasernackt in die Schule kam? Zuzutrauen wäre es ihm zumindest.
Seufzend packte ich ein paar meiner Bücher aus meinem Rucksack in den Spint und packte einen der Taschenrechner hinein. Ich gehörte zu der Sorte Mensch, die pro Schultag lieber ein Dutzend Mal zum Spint liefen, anstatt eine schwere Tasche mit sich rumzuschleppen. Außerdem war dies auch eine gute Möglichkeit, mal ein paar Augenblicke dem Getümmel aus dem Klassenzimmer zu entkommen und Zeit für sich zu haben. Tomoko konnte ich damit leider nie abwimmeln.
Einen Augenblick hielt ich beim Gedanken an sie inne. Tomoko… was sie wohl gerade machte? Belagerte sie Kazuya genau so sehr, wie sie mich immer belagerte? Konnte er damit umgehen? Würde sie den Unterschied zwischen ihm und mir merken? Würde sie irgendetwas davon den Lehrern erzählen? In diesem Moment machte ich mir weniger Sorgen um mich. Ich glaubte, die Person, die vollkommen mit der Situation überfordert war, war in diesem Falle Kazuya.
Missmutig schlug ich die Tür meines Spindes wieder zu und wollte mich gerade auf den Weg zurück zum Klassenzimmer machen, als ich plötzlich die Geräusche von mehreren Schülern gleichzeitig wahrnahm. Es hörte sich an, als würden sie jemanden anfeuern. Unablässig riefen sie im Chor immer und immer wieder den gleichen Namen, den ich jedoch nicht verstand. Neugierig lief ich durch die Reihen der Schließfächer, den Stimmen immer hinterher. Je mehr ich lief, desto lauter wurden sie. Ich passierte die letzte Reihe, bog nach links um die Ecke und blieb schlagartig stehen.
Eine Meute von Schülern, maximal 15 Leute, standen in einem Kreis ein paar Meter von mir entfernt. Kaum einer beachtete mich, sie alle waren zu sehr gebannt von dem Spektakel, das sich in ihrer Mitte abspielte. Ich erkannte ein Mädchen, vermutlich in meinem Alter. Sie hatte lange, braune Haare und eine zierliche Statur. Ihr Gegenüber stand ein Typ, vielleicht ein paar Zentimeter größer als ich und grinste sie süffisant an. Er streckte dem Mädchen seine Hand hin, doch sie wich augenblicklich, ihre Bücher gegen die Brust klammernd, zurück. Irgendwie kam mir der Typ bekannt vor.
Ich wollte mich gerade umdrehen und mich wieder auf den Weg zum Klassenzimmer machen - immerhin hatte das ganze hier nichts mit mir zu tun -, als das Mädchen plötzlich gegen einen der Schaulustigen prallte. Dieser lachte nur, als er nach ihren Armen packte und sie in Richtung des Typen zurückschubste. Ich konnte mir es nicht erklären, aber irgendwie erinnerte mich das Mädchen an Tomoko. Genervt und über mich selbst den Kopf schüttelnd, seufzte ich kurz und lief dann eilig auf die Meute zu. Ich war mir sicher, dass ich das noch bereuen würde.
„Lass sie los!“, kam es mir kalt über die Lippen, kaum hatte ich den Kreis der Schaulustigen durchbrochen gehabt.
Der Typ hatte mittlerweile das Mädchen grob am Arm gepackt und starrte sie lüstern an. Kaum hatte ich ihn angesprochen, verstummte die Meute um uns herum und er sah mich wütend an. „Du hast vielleicht Nerven, mich anzusprechen, Kazuya.“ Ein hämisches Grinsen trat auf seine Lippen und seine freie, rechte Hand ballte sich zur Faust.
Oh, der Typ kannte mich… oder zumindest meinen Bruder. Doch woher kam er mir nur so bekannt vor?
„Kazuya. Ich wusste, du rettest mich“, lächelte das Mädchen erleichtert auf. Ui… und sie kannte mich auch. Ich dachte Kazuya war ein Einzelgänger, er zog es vor unter sich zu bleiben. Anscheinend hatte er mir da einen wesentlichen Teil vorenthalten.
Verwundert blickte ich von dem Mädchen zu dem Typen hin und her und dann… ganz langsam… setzte sich Zahnrad für Zahnrad zusammen… und es machte Klick. Ich wusste doch, dass ich es noch bereuen würde, eingegriffen zu haben. Jetzt wünschte ich mir, ich wäre erst gar nicht in die Nähe dieses Szenarios gekommen. Warum musste mich meine Neugierde auch nur so überrennen? Warum hatte ich nicht einfach die Geräusche ignorieren und schnurstracks wieder ins Klassenzimmer gehen können? Aber nein, ich musste ja nachsehen, was los war. Jetzt hatte ich den Salat. Es war unübersehbar, dass ich vor mir Kazuyas ganzes Problem hatte. So, wie mich das Mädchen und der Junge anstarrten, war es unverkennbar sein Problem. Und auch der Grund, warum ich hier war, die dämliche Perücke tragen musste und so tat, als sei ich ein Junge. Oh glaubt mir, in diesem Moment, sah mir das Gesicht des Jungen nur zu verlockend aus.
Das Mädchen stemmte sich unweigerlich gegen den Griff des Jungen und in einem kurzen Moment der Überraschung schaffte sie es sogar sich von ihm loszumachen und rannte auf mich zu. Kaum hatte sie mich erreicht, klammerte sie sich an meinem Arm fest und versteckte sich hinter meinem Rücken. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, sie solle ihre verdammten Pfoten von mir nehmen. Wäre sie nicht gewesen, hätte sie sich nicht in Kazuya verliebt, würde ich jetzt nicht in diesem Schlamassel stecken. Das war wieder einmal so typisch Frau.
Der Typ vor mir starrte mich noch eine Spur wütender an, dann wandte er sich an das Mädchen hinter mir. „Sonoko, komm her!“
Der Griff um meinen Arm wurde noch eine Spur kräftiger. Ich unterdrückte einen Seufzer. Was war das nur für ein Mädchen? Offensichtlich kannte sie Kazuya schlecht, ansonsten würde sie sich nicht hinter ihm alias mir verstecken. Er könnte ja nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun.
Da ich nicht sonderlich Lust auf das Geheule von Sonoko hatte, sollte es gleich in einer Prügelei ausarten, wandte ich mich kurzerhand an sie und versuchte sie so kalt wie möglich zu mustern. Ich hoffte nur, dass sie sich danach von mir fern halten würde. „Du solltest in Zukunft deine Aufmerksamkeit weniger Jungs… und dafür eher... Hausaufgaben widmen“, reimte ich mir zusammen. Ich hoffte, dass das irgendwie nach Kazuya klang. „Jetzt geh!“
Kurz sah sie zu mir herauf und war sich nicht sicher, ob sie meiner Aufforderung Folge leisten sollte. Herrgott nochmal, überlegte sie jetzt ernsthaft, ob sie mir beiseite stehen sollte? Waren die hier alle komplett verrückt?
Mein Blick wurde eine Spur kühler und das schien sie letzten Endes dann doch zu überzeugen. Sie schluckte kurz, murmelte ein „Ok“ und rannte dann an den Schaulustigen vorbei. Nach einem stechenden Blick von mir, ließen sie sie gehen, dann wandte ich mich wieder dem 1.78m Problem direkt vor mir zu.
„Du hältst dich wohl für ganz cool, nicht wahr Kazuya?“ Bedrohlich kam er mir ein paar Schritte näher, doch ich machte keinerlei Anstalten zurückzuweichen. Fast schon gelangweilt wartete ich ab, was er wohl tun würde. Trotz seiner Größe sah er für mich nicht danach aus, als würde er ein ernsthaftes Problem für mich darstellen.
„Ich habe dir gesagt, komm mir noch einmal in die Quere und ich mache dich fertig“, drohte er mir. Ich erwiderte nichts, tat so, als würde mich das eben gesagte kalt lassen und musterte sein Gesicht näher. Unter dem linken Auge hatte er eine genähte Platzwunde, die noch relativ frisch war, vielleicht gerade mal eine Woche alt. Und dann wusste ich plötzlich, woher ich diesen Typen kannte. Es war genau der gleiche gewesen, der mit vor gut einer Woche im Park vor der Schule aufgelauert hatte und dem ich eine Abreibung verpasst hatte. Ihm und seinen jämmerlichen Schlägerkumpanen.
Ohne groß darüber nachzudenken, entfuhr mir plötzlich: „Hey, bist du nicht der Typ, den ich letzte Woche fertig gemacht habe?“
Einen Moment war er perplex, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Ebenso die Typen um uns herum und in diesem Moment hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Verdammt, ich hatte für einen kurzen Augenblick vergessen, wer ich war bzw. wen ich spielte. Nicht ich, sondern Yuzuki hatte ihn vermöbelt… also im Grunde ich… aber ich war ja Kazuya, also hatte nicht ich sondern meine Schwester… die ja ich… ach mein Gott, das war mir alles einfach zu verwirrend.
Immer noch relativ gleichgültig betrachtete ich den Typen vor mir, während er mich anscheinend verbal gegenüber seinen Kumpels zum Gespött machte. Und dann kam mir eine brilliante Idee und ein amüsiertes Grinsen trat auf meine Lippen. Das würde ein Spaß werden. „Ach nein, ich vergaß“, erwiderte ich gespielt. „Das war ja meine Schwester, die dich fertig gemacht hat.“ Ein liebliches, fast schon unschuldiges Lächeln umspielte meine Lippen.
Schlagartig hörte das Gelächter um uns auf und die Schüler starrten verwundert von mir zu dem Typen und wieder zurück. Jegliche Farbe war aus dem Gesicht meines Gegenübers gewichen und einen Augenblick starrte er mich schockiert an. Dann schien er sich wieder zu fangen und sein Blick sprühte nur so vor Wut. „Was hast du gesagt?“, presste er zwischen den Lippen hervor.
Aus meinem Lächeln wurde ein wohlwissendes Grinsen. Ich hatte ihn genau da gepackt, wo seine größte Schwachstelle war – an seinem Stolz. „Oh ja, sie hat mir davon erzählt. Als sie gerade auf dem Weg zur Schule war. Du hast sie dumm angemacht, sie hat dir eine Abfuhr erteilt, doch du hast nicht locker gelassen. Also hat sie dich und deine Handlanger fertig gemacht. Übrigens… hübsches Feilchen“, lächelte ich jetzt wieder unschuldig. Wow… ich hätte nicht gedacht, dass das so viel Spaß machen würde, Kazuyas Problem zu beseitigen. "Sag mal…“, fügte ich schon fast gelangweilt hinzu, während ich in sein wutverzerrtes Gesicht sah, das sich langsam rot färbte. „Wie fühlt es sich eigentlich an als Junge von einem Mädchen fertig gemacht zu werden? Das muss doch schlimmer sein, als kastriert zu werden, oder?!“
„Halt deine dämliche Klappe!“, brüllte der Typ vor mir jetzt, hob seine Faust hoch und rannte auf mich zu. Doch genau das hatte ich vermutet gehabt.
Immer noch breit lächelnd, wehrte ich mühelos seinen Schlag mit meiner linken Hand ab und schlug ihm einmal kräftig in den Magen. Einen Stöhnen kam über seine Lippen, er taumelte kurz, den Bauch haltend, zurück. Dann richtete er sich leicht auf und funkelte mich böse an. „Das war noch längst nicht alles, Kazuya“, spuckte er die Worte heraus, bevor er zu einem zweiten Angriff ansetzte. Dieses Mal jedoch, versuchte er es mit einem Doppelschlag. Kaum hatte ich seine rechte abgewehrt, schlug er automatisch mit seiner linken nach. Mein Lächeln wurde eine Spur breiter – wie absehbar.
Ich ergriff seine linke Hand, wirbelte ihn plötzlich herum und presste seine Arme ausgestreckt hinter seinem Rücken zusammen. Ein schmerzhaftes Stöhnen, kam ihm über die Lippen, als er sich versuchte aus meinem Griff zu befreien, doch je mehr er sich sträubte, desto schmerzhafter wurde es für ihn. Mein Blick war jetzt vollkommen ernst, jegliches gespielte Lächeln war verschwunden. Kurzerhand trat ich ihn mit dem rechten Fuß ins Kreuz, ließ ihn los und er fiel vornüber auf den Boden.
Eigentlich wollte ich es dabei belassen. Er sah mir nicht danach aus, als könnte er noch einen weiteren Schlag verkraften, doch er schien da ganz anderer Meinung zu sein. Ich wusste nicht genau, woher er seine Kraft nahm. Vielleicht war es einfach nur auf Dummheit zurückzuführen. Hätte er nur den Hauch von Grips, ein Fünkchen Intelligenz in seinem Kopf gehabt, dann wäre ihm bewusst gewesen, dass es sicherer war, einfach liegen zu bleiben. Doch leider schien er davon nichts zu besitzen. Denn mit einem wütenden Aufschrei stemmte er sich hoch, wirbelte herum und schlug ein weiteres Mal mit der Rechten nach mir aus. Mit einer Leichtigkeit duckte ich mich und wich dem Schlag aus.
Doch Typen wie er nervten mich. Sie konnten einfach nicht akzeptieren, wann Schluss war. Wann sie verloren hatten. Das hatte ich schon letzte Woche feststellen müssen. Somit richtete ich mich auf und holte mit meiner rechten aus. Ich wollte ihm eine verpassen. Ich wollte ihm so eine verpassen, dass er im Endeffekt nicht einmal mehr wusste wo oben und unten war. Er ging mir sowas von tierisch auf die Nerven. Er war der Grund, warum ich dieser beschissenen Lage steckte und er würde dafür auch bezahlen. Ich legte all meine Wut in diesen Schlag, war mir sicher, dass er danach vermutlich einen Kieferbruch hätte, aber es war mir egal.
Doch dann, kurz bevor ich den Typen traf, wurde meine Hand plötzlich abgefangen. Verwundert und überrascht zugleich starrte ich meine Faust an, die fest in einer viel größeren Hand steckte. Dann hob ich perplex meinen Kopf. Es kam eigentlich relativ selten vor, dass mein Schlag geblockt wurde. In den letzten zwei Jahren, um ehrlich zu sein, so gut wie nie. Und als ich sah, wer meinen Schlag abgefangen hatte, hätte ich mich am liebsten übergeben.
Erneut starrten mich diese stechend blauen Augen an. Sie schienen mich zu mustern, genau wie heute Morgen und ich fragte mich, ob der Typ sich überhaupt an mich erinnerte. Dann, ganz plötzlich, wurde mir wieder bewusst wie er mich behandelt hatte und ich löste mich aus seiner Hand und trat ein paar Schritte zurück. Um uns herum herrschte Schweigen, sie alle schienen nicht ganz verstanden zu haben, was gerade passiert war. Ich ehrlich gesagt auch nicht. Das konnte nicht sein. Das konnte nie und nimmer sein. Dieser Typ, der sich heute Morgen als ‚ach so cool‘ empfunden und sich offensichtlich einen Spaß daraus gemacht hatte, mich zu ärgern, hatte meinen Schlag abgewehrt. Der Typ, dessen Intelligenz vermutlich noch kleiner war, als die eines Bakteriums, hatte doch tatsächlich, ohne einen Kratzer abzubekommen oder vor Schmerz zu zucken, mir nichts dir nichts meinen Schlag abgefangen. Das musste Glück sein. Der Typ musste ungeheuer Glück gehabt haben. Anders konnte ich mir das nicht erklären.
„Du schon wieder“, sagte er mit seiner kalten Stimme und musterte mich eingehend.
„Die Aussage werfe ich zurück“, erwiderte ich gelassen. Ich versuchte mir so gut es ging nichts anmerken zu lassen. Er sollte nicht sehen, dass er mich offensichtlich mit seiner Tat überraschte. Ich wollte so wirken, als wäre dieser Schlag nicht von großer Kraft gewesen.
„Diese kleine Ratte hat mich zu einem ungünstigen Zeitpunkt erwischt, Boss“, kam es keuchend von dem Knäul zu unseren Füßen. Ach herrje, den Typen hatte ich ja ganz vergessen.
Eine Augenbraue hochziehend, wandte ich mich ihm zu. „Falscher Zeitpunkt? So kann man es auch nennen, wenn man in Wirklichkeit einfach nur zu schwach ist.“ Ich wandte mich wieder dem Typen mit den blauen Augen zu. Er schien den Kerl zu seinen Füßen komplett zu ignorieren, stattdessen hatte er seine ganze Aufmerksamkeit mir zugewandt.
„Wie heißt du?“, fragte er mich. Die Kälte war sowohl aus seinem Blick, als auch aus seiner Stimme verschwunden. Stattdessen spiegelte sich Neugierde wieder.
„Kazuya. Kazuya Tanaka.“ Fast hätte ich Yuzuki gesagt. Im letzten Moment konnte ich mir aber gerade noch so auf die Zunge beißen. „Und du?“, warf ich die Frage zurück.
Jetzt war er derjenige, der skeptisch eine Augenbraue hob. „Soll das ein Scherz sein?“, fragte er leicht belustigt.
„Siehst du mich lachen?“, entgegnete ich kalt.
Seine Augen verengten sich leicht, als er mich eingehend musterte. Dann antwortete er: „Ich bin Takeru Kyouta. Der Boss des Fight-Clubs.“
Ach du Schreck! Nur mühselig konnte ich mein gelassenes Gesicht beibehalten. Na toll, Yuzuki. Das hast du mal wieder Klasse hingekriegt. Der erste Tag und du legst dich gleich mit den Typen ganz oben in der Nahrungskette an. Offensichtlich hatte ich ihn heute Morgen unterschätzt gehabt. Kein Wunder also, dass er meinen Schlag abwehren konnte. Und das gefiel mir, ehrlich gesagt, überhaupt nicht.
„Weißt du…“, jetzt grinste er wieder genau so, wie heute Morgen. „Du bist ein ganz schön komischer Kauz. Du kannst dir nicht merken, wo die Klassenräume sind und dann vergisst du auch noch, wer an dieser Schule hier das Sagen hat.“
Ich schnaubte belustigt. „Du nennst dich selbst einen Boss? Oh man und ich dachte, der Fight-Club hätte Niveau. Anscheinend wohl doch nicht, wenn du dich selbst Anführer von Leuten nennst, die so schwach sind, dass sie sogar von Mädchen fertig gemacht werden.“ Ein Grinsen stahl sich auf meine Lippen als ich bemerkte, dass dieser Takeru genau den gleichen Stolz hatte, wie der Typ, der immer noch auf dem Boden lag.
Bei meiner Äußerung verengten sich Takerus Augen kaum merklich zu Schlitzen und einen Moment bedachte er mich mit einem wütenden Blick. Dann hatte er sich wieder gefangen und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Du hast Recht, Kazuya. Und ich danke dir, dass du mich darauf hinweist. Es ist nicht angebracht, jemanden im Fight-Club als Mitglied zu haben, der den Namen nicht würdig vertreten kann.“ Skeptisch musterte ich ihn. Was meinte er denn jetzt damit? „Kenji?“
Der Typ auf dem Boden regte sich und starrte zu Takeru herauf. „Ja, Boss?“
„Ich entlasse dich hiermit aus der Mitgliedschaft des Fight-Clubs. Du genießt weder die Privilegien, noch den nötigen Respekt, den man dir bis zum heutigen Tag entgegengebracht hatte. Des Weiteren ist es dir verboten, dich weiterhin als Mitglied des Fight-Clubs zu behaupten, zu benennen oder Aktionen unter unserem Namen durchzuführen.“
„Aber, Boss…“
Mit einem kalten Blick wandte Takeru sich ihm zu. „Ich bin nicht mehr dein Boss.“
Resigniert beobachtete ich das Ganze. Was für einen Schwachsinn redete er da? Privilegien? Respekt? Hatte der Typ etwa Haschisch zum Frühstück? Der spielte sich ja auf, als wäre er ein Mafioso und nicht der lächerliche Anführer eines Kindergeburtstages.
Kopfschüttelnd wandte ich mich ab. Ich wollte nur so schnell wie möglich von hier verschwinden. Die waren doch alle vollkommen verrückt. „Hey, Kazuya. Wo willst du hin?“
Genervt drehte ich mich wieder um. „Zurück zum Klassenzimmer. Auf eure komische Mafia-Nummer hab ich echt kein Bock.“
Takeru ignorierte meine Aussage. Stattdessen sagte er lächelnd: „Ich habe gerade ein Mitglied meines Clubs verloren. Weiß du, wo ich zufälligerweise ein neues herbekomme?“
„Weiß nicht“, erwiderte ich schulterzuckend. „Schau doch mal im Supermarkt vorbei, vielleicht gibt es die gerade im Angebot.“
„Eigentlich hatte ich gehofft, dutrittst uns bei?“
Ich lachte kurz auf. „Sehe ich so aus, als hätte ich Lust auf diesen Kindergeburtstag?“
Erneut ignorierte Takeru meine Antwort. „Du hast eine hübsche Rechte“, grinste er fortwährend.
„Danke“, erwiderte ich ohne jegliche Emotion. Ich wollte gelangweilt klingen, doch ich war mir nicht sicher, ob es mir gelang.
„Ich gebe dir bis zum Ende des Unterrichts Zeit, dich zu entscheiden, Kazuya. An deiner Stelle würde ich zusagen. Als Mitglied des Fight-Clubs genießt du Privilegien, wie sonst keiner an dieser Schule.“ Beim letzen Satz war er dicht zu mir heran getreten und hatte sich nah an meine Schulter heruntergebeugt, um es mir ins Ohr zu flüstern. Sein warmer Atem traf meine Wange und es wirkte fast schon erschreckend im Kontrast zu seiner kühlen Stimme. Dann, ohne ein weiteres Wort zu sagen, richtete Takeru sich wieder auf und ging. Seine Gefolgsleute folgte ihm und ließen mich und den sich vor Schmerzen krümmenden Kenji allein zurück.

'Als Mitglied des Fight-Clubs genießt du Privilegien, wie sonst keiner an dieser Schule', äffte ich ihn in Gedanken nach, während ich gelangweilt im Unterricht saß. Die ganze Zeit über ging mir die Begegnung mit Mr.-ach-ich-bin-ja-so-toll-Takeru nicht mehr aus dem Kopf. Glaubte er tatsächlich, ich würde bei seinem dämlichen Club mitmachen? Wenn ich das täte, hätte ich ja noch größere Schwierigkeiten, einen anständigen Ruf aufzubauen. Immerhin ließen die sich von Mädchen fertig machen.
Nachdenklich starrte ich aus dem Fenster. Eigentlich hatte ich Kazuyas Problem doch jetzt gelöst, oder? Ich hatte dem Typen, der ihn fertig machen wollte, eine Abreibung verpasst. Für längere Zeit würde der sich also nicht mehr bei mir blicken lassen und nachdem er aus dem Fight-Club rausgeschmissen wurde, war sein Stolz vermutlich so weit angeknackst, dass er es sich zwei Mal überlegte, bevor er die Klappe erneut aufriss. Ich sah also keinen Sinn darin, noch länger an dieser Schule für Bekloppte zu bleiben. Ich musste nur noch diesen dämlichen Takeru loswerden. Aber eigentlich konnte das ja auch Kazuya tun. Wenn der Boss des Fight-Clubs nämlich sah, dass Kazuya in Wirklichkeit nichts konnte, dann würde er sehr schnell das Interesse an ihm verlieren.
Mit einem Lächeln auf den Lippen lehnte ich mich in meinem Stuhl zurück, wohl wissend, dass der ganze Hokus Pokus heute Abend ein Ende haben würde. Ganz in Gedanken versunken, hatte ich nicht bemerkt, wie es zur Pause geklingelt hatte und ein Mädchen zur mir getreten war. Als ich nach oben sah, blickte ich in das liebliche Gesicht von Sonoko. Meine gute Laune sank schlagartig in den Keller und ich konnte mir nur gerade so ein genervtes Stöhnen verkneifen. „Was gibt’s?“, fragte ich kühl, versuchte allerdings nicht allzu herablassend zu klingen.
„Ähm…“, begann sie, knetete das Päckchen in ihren Händen noch ein wenig mehr und lief rot an. Ich unterdrückte den Drang, mit den Augen zu rollen und sah sie unverwandt an. „Ich wollte mich bei dir bedanken, Kazuya“, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln und lief noch eine Spur röter an.
„Keine Ursache“, erwiderte ich und wandte mich dann wieder ab. Oh man, es war so komisch, plötzlich mit Kazuya angesprochen zu werden. Aber morgen würde das eh alles wieder vorbei sein. Sonoko jedoch machte keinerlei Anstalten, zu verschwinden. Unaufhörlich knetete sie das Päckchen in ihren Händen. Ich atmete einmal tief ein, dann wandte ich mich wieder ihr zu. „Noch was?“
Sie schluckte und sah dabei aus, als würde sie sich gerade Mut für etwas machen. Dann platzte es aus ihr heraus. „Würdest du mit mir zu Mittag essen? Ich habe extra ein Bento für dich gemacht.“
Verflucht, wo war das Loch im Erdboden, das einen verschlang, wenn man es mal brauchte? Ich wollte hier weg. Ich wollte schnellstmöglich hier weg. Das konnte doch nicht wahr sein. Hatte sie denn nach der Aktion vorhin nichts gelernt gehabt? Wusste sie denn nicht, dass es besser wäre, sie würde sich nicht mit Jungs einlassen? Jetzt hatte sie mir, oder besser gesagt Kazuya ein Bento gemacht. Der Typ steckte ganz schön tief in der Scheiße!
(Kurze Anmerkung von mir: Wenn in Japan ein Mädchen einem Jungen ein Bento macht, dann bedeutet es, dass das Mädchen auf den Jungen steht. Nimmt dieser an, ist es quasi eine Bestätigung, dass er ähnliche Gefühle hat. Man kann das gemeinsame Mittagessen von Bentos, was das Mädchen gemacht hat, ungefähr mit der Einladung zu einem Date gleichsetzen. Unter Freunden gilt dieses allerdings nicht. Deswegen hatte Yuzuki keine Probleme, das Bento von Tomoko anzunehmen, weil es rein freundschaftlich war.^^)
„Nein, danke“, erwiderte ich vielleicht eine Spur zu hart, denn kurz zuckte Sonoko zurück. Dann nahmen ihre Augen einen traurigen Ausdruck an und sie ließ die Schultern hängen.
„Ach so“, erwiderte sie und drehte sich langsam weg. Und wieder meldete sich mein Gewissen. Ah verdammt, warum erinnerte mich dieses Mädchen nur so an Tomoko? Lag es vielleicht am Aussehen? Missmutig biss ich mir auf die Lippen und ohrfeigte mich innerlich für das, was ich jetzt sagte.
„Warte.“ Verwundert wandte sie sich wieder mir zu und sah mich aus ihren braunen, unschuldigen Augen an. Kurz musterte ich sie, dann erwiderte ich: „Von mir aus. Ich esse mit dir zu Mittag.“ Ihr Gesicht erhellte sich plötzlich und ein freudiges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. „Aber ich werde nicht dein Bento essen“, stellte ich schnell fest. Erneut drang ein verwunderter Ausdruck in ihre Augen. „Es ist nicht so, dass ich es nicht essen möchte oder glaube, dass du schlecht kochst“, versuchte ich zu erklären. „Ich will dir nur keine falschen Hoffnungen machen.“ Ihr Lächeln war sanft. „Das reicht mir vollkommen“, sagte sie leise. Sie ließ sich auf den Platz vor mir nieder und drehte den Stuhl zu mir herum.
Während sie ihr Mittagessen auf meinem Tisch ausbreitete, holte ich mein eigenes aus meiner Tasche hervor. Es war nicht viel, lediglich ein grüner Apfel, den ich heute Morgen hatte mitgehen lassen. Entgeistert starrte Sonoko auf den Apfel, dann wandte sie sich an mich. „Ist das etwa alles?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ja. Zum Mittag esse ich nie viel. Meistens nur einen Apfel.“
„Aber du sitzt doch jeden Tag hier und isst ein wundervoll gekochtes Bento. Ich wünschte, meine Mutter würde mir jeden Morgen so etwas machen.“
Oh verdammt, sie kannte Kazuya wohl doch besser, als gedacht. Ich hätte nicht geglaubt, dass er auch nur annähernd jemanden kennen würde, der solche Kleinigkeiten bemerken würde. Mist, wie redete ich mich denn da wieder raus?
„Äh, ja. Habe ich auch sonst. Nur heute hatte meine Mutter leider nicht viel Zeit gehabt, also habe ich mir nur einen Apfel genommen, bevor ich gar nichts zum Essen habe“, reimte ich mir schnell zusammen. Hoffentlich würde sie es dabei belassen.
„Na wenn das so ist. Dann iss doch meins. Ich habe extra eins für dich gemacht, also nimm es ruhig“, lächelte sie mich an. Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe herum. „Keine Angst. Ich werde mir schon keine Hoffnungen machen. Sieh es einfach als reine Freundschaftsgeste an. Oder wenn das dir nicht gefällt, dann nehme es als Dankeschön dafür, dass du mir vorhin geholfen hast, entgegen.“ Freudig schob sie mir das bislang unberührte Bento zu.
Eigentlich hatte ich kein Problem damit, es anzunehmen. Mir war es relativ egal, ob sie sich Hoffnungen machte oder nicht, sollte Kazuya sich doch damit rumschlagen. Mein Problem war eher das, was darauf folgen würde. Würde sie jetzt genau wie Tomoko jede Pause zu mir kommen und mich belagern? Bildete sie sich vielleicht auf das gemeinsame Mittagessen irgendetwas ein. Glaubte sie vielleicht, wir wären jetzt Freunde? Ich bekam das ja schon kaum mit Tomoko auf die Reihe.
Mich ergebend, verdrängte ich die Gedanken in den hinteren Teil meines Gehirnes und nahm das Bento entgegen. Obwohl ich keinen besonders großen Hunger hatte, aß ich so viel ich konnte. Vor allem nicht, wenn mich wichtigere Dinge beschäftigten. Allen voran Mr.-ach-ich-bin-so-toll-Takeru.
Wie hatte er nur einfach so meinen Schlag abwehren können? Ich war auf unserer Karateschule die Beste, nur mein Sensei konnte mich schlagen. Und dann kam einfach so mir nichts dir nichts dieser Schwachmat vorbei und tat so, als wäre meine Hand nichts weiter als ein kleiner Stoffball. Boah, wie mich das wütend machte. Das konnte ich doch nicht einfach so auf mir sitzen lassen.
„Du Sonoko?“, fragte ich plötzlich das Mädchen mir gegenüber. Erwartungsvoll sah sie mich an. Ich konnte in ihren Augen sehen, wie sie sich freute, dass ich sie angesprochen hatte. „Was weißt du über Takeru?“
Ihr Gesicht nahm einen verwunderten Ausdruck an. Offensichtlich hatte sie nicht mit einer solchen Frage gerechnet. Kurz stocherte sie in ihrem Bento herum, dann antwortete sie. „Das, was eigentlich jeder weiß. Er ist der Boss des Fight-Clubs und somit der meist gefürchtete Schüler hier. Außerdem ein absoluter Mädchenschwarm. Die Jungs verehren ihn, die Mädchen lieben ihn. Es gibt nur wenige, die sich ihm entziehen können. Darunter zähle ich.“ Sie schien offensichtlich eine Menge auf die Betonung des letzten Satzes zu legen.
Mädchenschwarm? Der? Vom Aussehen sah er vielleicht besser aus, als der normale Durchschnittstyp. Seine stechend blauen Augen und die wohl geformten Lippen sprachen für sich. Auch schien unter seiner Schuluniform mehr zu stecken, als man auf den ersten Blick sah. Doch sein übler Charakter und die Arroganz, mit der er andere behandelte, machte das Bild eines Schwarms sofort wieder wett. Offensichtlich mussten die Mädchen hier blind sein, dass sie sich für so einen Typen interessierten.
„Er ist der absolute Playboy“, redete Sonoko weiter. „Jede Woche flirtet er mit einem anderen Mädchen. Und das schlimme ist: Er gibt ihnen allen das Gefühl, etwas Besonderes zu sein und dann lässt er sie fallen. Doch er scheint etwas an sich zu haben, warum sie immer wieder zu ihm zurück kommen.“
„Hat er dich schon einmal angemacht?“, kam es mir plötzlich über die Lippen.
„Oh nein! Zum Glück nicht. Dafür bin ich viel zu unscheinbar.“
„Unscheinbar?“
„Nun ja. Es wird behauptet, dass Takeru eher auf reifere Frauen steht. Zwar hat er hier und da auch mal etwas mit Mädchen zu tun, die man vermutlich erst dann bemerken würde, wenn sie einem ins Gesicht schreien, aber seine liebsten Opfer bezieht er aus der dritten Klasse, wenn nicht sogar höher.“
Bei diesen Worten musste ich plötzlich lauthals Lachen. Er bezog seine Opfer lieber aus der dritten Klasse. Diese Formulierung war einfach zu amüsant. Sonoko hatte offensichtlich gemerkt, warum ich lachte, denn ein freudiges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und sie fuhr fort.
„Oh ja. Und es geht das Gerücht um, er habe eine Affäre mit der Krankenschwester.“ Erneut überschwemmte mich eine Welle des Lachens. Affäre mit der Krankenschwester. Was für eine herrliche Ausrede. Vermutlich wurde er in Wirklichkeit so oft vermöbelt, dass er fast täglich zu ihr gehen musste. Und damit niemand herausfand, was für ein Waschlappen er doch war, erfand er die kleine, aber dreckige Geschichte der Krankenschwester-Affäre. Sowas musste doch immer im Steckbrief eines jeden Playboy zu lesen sein.
Nachdem ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, atmete ich einmal tief ein und aus. „Sag bloß, du weißt nichts davon?“ Immer noch leicht belustigt, schüttelte ich den Kopf. „Wow. Und dabei dachte ich, ihr Jungs fahrt alle auf die Krankenschwester ab.“
„Wieso?“, fragte ich und nahm einen Happen von meinem Mittag.
„Weil sie jung und attraktiv ist? Um es mal höflich zu formulieren.“
„Und was ist, wenn du es nicht höflich formulieren würdest?“
Sie zuckte nur mit den Schultern. „Sie sieht geil aus.“
Perplex starrte ich Sonoko an. Diese Ausdrucksweise hatte ich jetzt nicht von ihr erwartet. Vielleicht lag das aber nur daran, dass sie mich immer noch stark an Tomoko erinnerte.
„Ach komm. Willst du mir jetzt weismachen, dass du die Krankenschwester noch nie gesehen hast?“
Jetzt war ich diejenige, die mit den Schultern zuckte. „Ich war noch nie krank.“ Hoffentlich war diese Lüge glaubhaft genug.
Sonoko lachte kurz auf und beließ es glücklicherweise dabei. „Um noch einmal zurück zu Takeru zu kommen. Weißt du, warum er Anführer des Fight-Clubs ist?“
Nachdenklich schüttelte sie mit dem Kopf. „Keine Ahnung. Vielleicht weil er stark ist? Ich habe Takeru noch nie kämpfen sehen. Er lässt lieber andere die Arbeit erledigen. Damit Takeru sich persönlich mit jemanden schlägt, muss schon etwas Außergewöhnliches auf dem Spiel stehen.“
In Gedanken versunken, stocherte ich in meinem Bento herum. Takeru schlug sich nur sehr selten in der Öffentlichkeit. Es gab demnach nur zwei Möglichkeiten. Entweder tat er es nicht, weil er im Grunde gar nicht kämpfen konnte und ein Schwächling war. Oder aber er tat es nicht, weil er so überragend gut war, dass ihn jeder normale Kampf langweilte. Ich hoffte auf ersteres.
„Aber warum interessierst du dich so für Takeru?“, riss mich Sonoko wieder aus den Gedanken.
„Ich hatte vorhin eine kleine Auseinandersetzung mit ihm“, erwiderte ich und kaute wieder, bei der Erinnerung daran, verbissen auf der Unterlippe herum.
„Mit vorhin, meinst du das, als du mich gerettet hast?“ Ich nickte nur. Traurig sah sie mich an. „Oh Kazuya, es tut mir so leid! Hätte ich das gewusst, dann hätte ich mich diesem Kenji nicht widersetzt.“ Verwundert starrte ich sie an. Wovon in Gottes Namen redete sie denn jetzt nun wieder? „Mit Takeru ist nicht zu spaßen, da bin ich mir sicher. Zwar versucht er sich in der Schule zurückzuhalten und gibt sich teilweise sogar als Gentleman aus, aber in Wirklichkeit ist er skrupellos und kennt keine Gnade. Wenn du ihm in die Quere kommst, dann ist es besser, wegzulaufen.“
„Ich laufe vor niemandem weg“, stellte ich klar und fügte dann hinzu: „Außerdem glaube ich nicht, dass er mich fertig machen will. Er hat mir das Angebot gemacht, in seinen Club einzutreten, nachdem er diesen Kenji rausgeworfen hat.“
Entgeistert sah mich Sonoko an. „Und wirst du eintreten?“ Ich schnaubte belustigt.
„Und diesen Kindern helfen, erwachsen zu wurden? Nein danke, ich verzichte.“ Betrübt ließ Sonoko die Schultern hängen und sah nachdenklich aus dem Fenster. „Was?“, fragte ich sie.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finden soll. Gut, weil ich diesen Club verabscheue und ich Angst davor habe, was sie dort mit dir machen würden. Schlecht, weil Takeru ein Nein nicht akzeptieren wird.“ Mitfühlend sah sie mich an.
Ich versuchte ihr ein aufmunterndes Lächeln zu schenken. „Kopf hoch, Sonoko. Mir wird schon nichts passieren. Man sieht es mir vielleicht nicht an, aber ich habe so einiges drauf. Und derjenige, der mir Befehle erteilen oder mir Angst einjagen kann, muss erst noch geboren werden.“
Zögernd erwiderte sie mein Lächeln und wandte sich dann wieder ihrem Mittagessen zu. Na wenn ich mich da mal nicht täuschte.

„Hast du es dir überlegt?“
Ich musste nicht einmal aufsehen, um zu wissen, wer mich da angesprochen hatte. Die kühle Stimme konnte nur einer Person gehören – Takeru.
Genervt seufzte ich auf, während ich so tat, als hätte ich ihn nicht gehört und weiter meine restlichen Bücher von der Tasche in den Spint legte. Wir hatten nur Hausaufgaben in Mathe aufbekommen und ich hatte keine Ahnung davon, was ich da eigentlich machen sollte. Vielleicht konnte ich ja Kazuya dazu überreden sie für mich zu machen. Immerhin war es seine Schule, also auch seine Hausaufgaben und wenn er nicht wollte, dass er komplett mit dem Notendurchschnitt abrutschte, sollte er wohl…
Takeru, der rechts von mir stand, mochte es offensichtlich gar nicht, dass ich ihn ignorierte, denn mit einer plötzlichen Bewegung schlug er die Tür meines Spintes zu. Fast hätte ich ihm daraufhin eine rein gehauen. Meine Hand zuckte merklich und nur schwerlich konnte ich mich zurück halten. Ich war mir sicher, dass er genau das beabsichtigt hatte. Mich zu provozieren. Dass ich mich letzten Endes auf ihn werfe und er das irgendwie zu seinem Vorteil nutzte. Doch da musste er schon früher aufstehen.
Mit einem freundlichen Lächeln, von dem ich wusste, dass es ihn vollkommen aus der Bahn werfen würde, erwiderte ich: „Vielen Dank. Ich wollte ihn gerade zumachen, aber danke, dass du es für mich getan hast. Sehr liebenswürdig und zuvorkommend.“ Dann drehte ich mich um und ließ ihn und seine Kumpanen allein zurück, während ich mich auf den Weg zum Ausgang machte. So, das hatte gesessen. Daran würde er eine Weile dran kauen müssen. So leicht würde er mich nicht aus der Fassung bringen. Ab morgen konnte sich Kazuya mit ihm rumschlagen, während ich wieder auf meiner Schule den Unterricht verfolgte. Schade eigentlich… irgendwie hatte ich so langsam Gefallen an dieser Rolle gefunden. Aber es war besser, wenn ich so früh wie möglich wieder von hier verschwand. Leider nur, hatte ich nicht mit dieser Hartnäckigkeit Seitens Takeru gerechnet.
Kaum hatte ich die große Eingangstür der Schule passiert und war auf den Hof getreten, da hatte er mich auch schon, ohne dass ich es bemerkt hatte, eingeholt. „Gern geschehen“, vernahm ich seine kalte Stimme.
Erschrocken zuckte ich zusammen und starrte entgeistert nach links. Warum konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Der Typ war ja schlimmer, als eine nervige Mücke in der Nacht.
„Was willst du?“, fragte ich kalt und verbissen.
„Du weißt ganz genau, was ich will.“ Lässig hatte er seine Hände in die Hosentaschen gesteckt und blickte gen Horizont, während er neben mir über den Hof lief. Er sah aus, als würde ihm hier alles gehören.
Ich hätte kotzen können. „Sag mal, hast du eigentlich was im Kopf, oder trägst du das Runde Ding nur zur Zierde? Ich hab dir gesagt, dass ich auf deinen Kindergarten kein Bock habe“, fauchte ich. Schnell beschleunigte ich meinen Schritt, während ich dem großen Tor am Ende des Hofes nähr kam.
Takeru lachte nur, während er zu mir aufschloss. „Dein Humor gefällt mir. Doch wie du vielleicht nicht weißt, akzeptiere ich nicht so einfach ein Nein.“ Er drohte mir nicht, ganz und gar nicht. Dennoch konnte ich eine gewisse Schärfe aus seiner Stimme heraushören.
„Was willst du von mir? Warum interessiert es dich so, dass ich in deinen bescheuerten Club eintrete?“ Ich blieb stehen und sah ihn wütend an. Ich hoffte für ihn, dass er eine gute Erklärung parat hatte.
„Nun… weißt du, was der Staat mit Hackern tut, die ihnen gefährlich werden können?“
„Bitte was?“ Der Typ hatte ja ‘ne Vollmeise.
„Wenn ein Hacker die Sicherheitssysteme des Staates knackt und sich in Computer einhackt, die von nationaler und internationaler Wichtigkeit sind, dann gibt es für den Staat nur zwei Optionen. Option A: Sie gewinnen den Hacker für sich. Sie lassen ihn für sich arbeiten und wissen so, dass er ihnen nicht gefährlich werden kann. Sie können ihn überwachen, wissen genau, was er tut und haben so die Möglichkeit, ihn jederzeit aus dem Weg zu schaffen. Option B… nun… um es kurz zu sagen: Sie entledigen sich ihm.“ Ein freundliches Lächeln zierte seine Lippen, was so gar nicht zu dem passte, was er gerade gesagt hatte.
Mit leicht geöffnetem Mund und zusammengezogenen Augenbrauen sah ich ihn skeptisch an. Der Typ hatte ja wohl nicht mehr alle Latten am Zaun! Was faselte er da für einen Müll von wegen Staat und Hacker und aus dem Weg schaffen?
„Um es kurz zu fassen“, riss er mich aus meinen Gedanken, schlug seine Hände zusammen und starrte mich weiterhin mit diesem freundlichen Lächeln an. „Ich bin der Staat hier an dieser Schule. Du…“, dabei richtete er seine geschlossenen Hände auf mich. Irgendwie hatte diese Geste etwas von einem Mafioso, „bist der Hacker. Ich habe also zwei Optionen. Option A: Ich bringe dich dazu meinem Club beizutreten. So habe ich dich unter meine Fittiche und weiß ganz genau, was du wann wie wo und warum tust. Und kann dich jederzeit locker aus dem Weg schaffen, solltest du nicht parieren.“ Unverwandt lächelte er mich an, doch die Freundlichkeit in seiner Stimme und seinem Lächeln erreichte nicht seine Augen. Sie bildeten einen starken Kontrast zu den weichen Zügen seines Gesichtes. Sie wirkten kalt. Eiskalt.
Ich lachte. Ich konnte einfach nicht anders. Wie der Typ vor mir stand und sich selbst als Staat und mich als Hacker beschrieb, der offensichtlich durch sein Hochsicherheitsdingens gekommen ist. So etwas konnte man nicht ernst nehmen. Langsam fragte ich mich, wie Kazuya es geschafft hatte, an dieser Schule nicht komplett zu verblöden. Sowas musste doch einfach abfärben. Das war doch sicherlich ansteckend.
Takeru legte den Kopf etwas schief und kniff seine Augen leicht zusammen. Ich konnte ihm ansehen, wie es in seinem Hirn ratterte, nicht wissend, wie er mit der jetzigen Situation umgehen sollte. Offensichtlich dachte er, ich würde nach seiner kleinen Ansprache einen Rückzieher machen und gefügig werden. Aber da kannte er mich schlecht.
„Und Option B?“, fragte ich herausfordernd, immer noch lachend.
„Nun, Option B ist das genaue Gegenteil von Option A.“ Sein Lächeln war verschwunden und die Kälte aus seinen Augen griff nun über seine gesamte Körperhaltung wieder. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie sich auch seine beiden Kumpane ein wenig aufrichteten und den Blick offensichtlich nicht von mir nahmen. Tse… dämliche Schoßhündchen. Fehlte nur noch, dass sie mit dem Schwanz wedelten, wenn der Typ vor mir pfiff. Als ob die irgendetwas gegen mich ausrichten könnten. Und dieser Takeru war auch nichts weiter als ein Haufen heißer Luft.
„Nun“, erwiderte ich, setzte nun meinerseits ein gekünsteltes Lächeln auf und ging einen Schritt auf ihn zu, sodass unsere Gesichter nah beieinander waren. Seine Kumpane kamen ebenfalls einen Schritt näher. „Wenn das so ist. Dann nehme ich Option C.“
Die Kälte wich augenblicklich aus seinem Gesicht, stattdessen machte sich Verwirrung breit. Seine tiefen blauen Augen musterten mich aufmerksam und einen Augenblick lang konnte ich nicht umhin, mich von ihnen hypnotisieren zu lassen. Eine leichte Gänsehaut breitete sich auf meinen Rücken aus und ich konnte nicht verhindern, dass mein Gesicht noch ein wenig mehr in seine Richtung wanderte.
Doch dann schüttelte ich innerlich den Kopf und fasste mich wieder. Breit lächelte ich. „Du hast ja gesagt, ich sei ein Hacker. Nun, Option C ist…“, ich machte eine dramaturgische Pause, in der ich ihn nur anlächelte. Dann verlor mein Gesicht jeglichen Glanz und kalt fauchte ich ihn an: „Ich hack deine Visage klein, wenn du mich noch einmal nervst!“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und ließ ihn stehen.
Der Typ hatte sie doch nicht mehr alle! Nur weil er hier vielleicht der Kopf des Fight-Clubs war, hieß das noch lange nicht, dass er hier das Sagen hatte und sich als Staat aufplustern musste. Fehlte nur noch der rote Kropf am Hals, dann könnte er doch glatt als impotenter Gockel durch die Schule wandern. Als ob ich seinem dämlichen Club beitreten würde. Von was träumte der Typ denn bitteschön nachts? Und dieses ganze Option A und Option B Gefasel. Macht der einen auf Kill Bill, oder was? Kazuya konnte was erleben, wenn ich wieder zuhause war. Den Mist tat ich mir nicht länger an. Da zog ich ja meine Mädchenschule dieser Irrenanstalt hier vor. Wenn ich den Kerl in die Finger kriege, dann…
Plötzlich wurde ich grob an der Schulter gepackt und herumgewirbelt. „He!“, protestierte ich und sah erneut in die blauen Augen Takerus. Gott, hatte dieser Junge keine anderen Hobbies?
„Das könnte ich auch sagen“, grinste er breit, nahm seine Hand jedoch nicht von meiner Schulter. Wärme breitete sich auf ihr aus und ein leichtes Kribbeln erfasste mich an der Stelle, an der er mich berührte.
„Was willst du?“, fauchte ich und schlug seinen Arm weg. „Habe ich nicht deutlich genug gesagt, dass ich keine Lust auf dich und deinen dämlichen Club hab? Lass mich also in Ruhe!“
„Warum willst du nicht bei mir einsteigen? Du hast das Potential dazu. Weit mehr, als der restliche Teil meiner Clique. Jeder würde sich darum reißen, ein Teil meiner Clique sein zu können. Jeder, nur du nicht.“ Mein Gott, jetzt nannte er es auch schon Clique. Ein weiterer Grund, warum ich da nicht mitmachen wollte. „Ich fände es eine Verschwendung, wenn du nicht bei uns mitmachst. Außerdem bist du dafür verantwortlich, dass ich meine rechte Hand verlor. Du schuldest mir also was.“
Entsetzt sah ich ihn an. „Dieser Waschlappen von vorhin war allen Ernstes deine rechte Hand?“
„Ja“, erwiderte er schulterzuckend. „Er war meine rechte Hand. Bis du kamst und ihn vor allen vorgeführt hast. Du schuldest mir also etwas, immerhin muss ich mir jetzt einen neuen suchen.“
„Dann geh' und such' dir jemanden. Aber lass mich in Ruhe.“ Erneut wollte ich mich von ihm wegdrehen, doch ruckartig packte er mich am Arm und hielt mich fest. Dieser Griff war alles andere als der von vorhin. Keine Wärme und auch kein Kribbeln breiteten sich in mir aus, stattdessen spürte ich, wie er immer mehr zudrückte und ein stechender Schmerz sich in mein Bewusstsein drängte. Doch davon ließ ich mir nichts anmerken. Ich würde garantiert nicht irgendeine Art von Schwäche ihm gegenüber zeigen.
„Was soll das? Lass mich los!“, presste ich zwischen meine Lippen hervor.
„Nur, wenn du nicht wieder davon läufst, jedes Mal, wenn man ein Gespräch mit dir anfangen will.“
„Ein Gespräch? Das nennst du ein Gespräch? Mich für deinen dämlichen Club anwerben und ein Nein nicht akzeptierten wollen? Und ich renne garantiert vor überhaupt nichts weg. Es ist mir einfach nur zu dumm…“
„Ich mache dir einen Vorschlag“, unterbrach er mich und ließ mich los.
Ich widerstand dem Drang mir an den Arm zu fassen und die schmerzende Stelle zu berühren. Keine Schwäche, Yuzuki, keine Schwäche zeigen. Sei standhaft.
„Wir kämpfen gegeneinander“, lächelte er jetzt wieder. Einen Moment war ich sprachlos. Was war das denn für ein Vorschlag? Von mir aus konnte er jetzt gleich auf der Stelle meine Faust in seinem Gesicht haben, wenn er so scharf drauf war. Takeru hingegen nutzte meine Sprachlosigkeit und fuhr fort: „Wenn ich gewinne, trittst du meinem Club bei.“ Ich schnaubte belustigt und unterdrückte gerade so ein Auflachen. Auf was für Schwachmatenideen kam der denn? Und dafür himmelten ihn alle so an? Da hatte ja ein Schimpanse noch mehr auf dem Kasten als der Vollidiot vor mir. „Wenn du gewinnst, lasse ich dich in Ruhe und sorge dafür, dass dir nie wieder jemand zu nahe tritt.“
Schlagartig verschwand mein Grinsen und überrascht sah ich ihn an. Meinte er das etwa ernst? Das war genau das, was Kazuya wollte. Die Lösung seines Problems. Niemand würde ihm je wieder zu nahe treten. Immunität durch den Boss des Fight-Clubs. Vielleicht nicht das, was er erhofft hatte, aber besser als gar nichts. Ich müsste nur diesen Typen vor mir besiegen und ich könnte wieder in mein altes Leben zurück. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich darüber einmal freuen würde. Auch wenn es ein wenig Spaß gemacht hatte, einmal Kazuya zu spielen und nicht von jedem schief angesehen zu werden, nur weil man ein paar Faustschläge verteilen konnte. Doch im Gegensatz zu dieser Anstalt hier war mein Leben ja das reinste Paradies. Wenn ich mich zwischen Schief-Ansehen und dieser Schule hier entscheiden müsste… dann würde ich definitiv das Schief-Ansehen vorziehen.
„Ok, ich mach’s“, sagte ich daraufhin kurz entschlossen.
Ein Grinsen breitete sich auf Takerus Gesicht aus. „Wunderbar. Lass es uns am besten gleich morgen machen. Je eher wir die Angelegenheit geregelt haben, desto besser für uns. Es sei denn, du brauchst noch ein bisschen Vorbereitungszeit“, fügte er beiläufig hinzu und zwinkerte.
Ich schnaubte nur belustigt. Der sollte sich noch wundern. „Wann und wo?“, fragte ich.
„Nach dem Unterricht. Hinter dem Sportplatz. Da gibt es einen Geräteschuppen, da hängen wir öfters ab oder erledigen unsere Angelegenheiten. Dort wird uns kaum einer sehen oder stören.“ Beim letzten Wort wurde sein Lächeln breiter.
Kurz musterte ich ihn. Seine blauen Augen waren nicht mehr so kalt wie vorhin, im Gegenteil. Sie blitzten mich vor Vorfreude regelrecht an. Ich wusste immer noch nicht, was ich faszinierender an ihm finden sollte. Seine Augen, die sogar nicht zu seinem Gesicht passen wollten… oder sein feines Gesicht, das sogar nicht zu seinen Augen passen wollte? Doch dann ohrfeigte ich mich innerlich. Wie kam ich nur dazu mich für diesen Typen zu interessieren? Er war in keinster Weise faszinierend, also sollte ich mich lieber auf den morgigen Kampf konzentrieren. Dann würde ich ja sehen, wie gut er wirklich war und ob das heute nur ein Zufall war.
Ich holte kurz Luft, dann stimmte ich zu: „Einverstanden.“

Leicht erschöpft steckte ich den Schlüssel in das Schloss unserer Haustür. Der heutige Tag war auch einfach zu anstrengend gewesen. Erst dieses Chaos in der Schule, dann die Sache mit diesem Kenji und schließlich dackelte mir auch noch so ein kompletter Vollidiot hinterher. Takeru. Ich kostete den Namen auf meinen Lippen. Takeru... Takeru... Takeru.
Aaaaargh, dieser verfluchte Takeru, warum konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen? In Buddhas Namen, warum konnte er meinen Schlag einfach so abfangen? Meine Laune hatte definitiv ihren bislang tiefsten Punkt erreicht. Kazuya war mir also so was von etwas schuldig. Als Strafe müsste ich ihn eigentlich morgen in die Schule schicken und gegen diesen Takeru kämpfen lassen. Damit er mal sah, in was für einen Mist er mich da gebracht hatte. Es war alles nur seine Schuld. Warum musste er auch diese Sonoko dazu bringen, sich in ihn zu verknallen? Er hatte schon immer die bescheuertsten Ideen aus unserer Familie.
Seufzend streifte ich meine Schuhe ab, stellte sie in unseren Vorraum und betrat dann erst unseren Flur. Die Holzdielen knarrten leise unter meinen Füßen und ich spürte die angenehme Kälte, die von ihnen ausging. Aber ich konnte diesen Irren auch nicht einfach so auf Kazuya loslassen. Wenn er wirklich der Boss des Fight-Clubs war, weil er der Stärkste von allen war, dann würde Kazuya definitiv in der Intensivstation wieder aufwachen. Falls er dann überhaupt je wieder aufwachte. Außerdem würde ich definitiv nicht vor einem Kampf kneifen. Ich wollte wissen, wie stark er wirklich war. Ich wollte wissen, wie er das schaffen konnte. Keiner aus dem Dojo hatte mir je ausweichen oder gar einen meiner Schläge abblocken können. Jedenfalls nicht, wenn ich ernst machte. Matsumoto-Sensei war der einzige, der die Techniken besser beherrschte, als ich. Er war der einzige, der mich immer noch etwas lehren konnte. Und es konnte nicht sein, dass irgendein dahergelaufener, selbsternannter, pubertierender, komplexgesteuerter Anführer eines Kindergeburtstages auf einer gleichen Stufe stehen sollte wie mein Sensei.
„Hi Mom“, grummelte ich, als ich an der Küche vorbeilief. Der Gedanke machte mich wütend und hinterließ einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Ein Typ, der nicht viel älter war als ich, sollte genauso gut sein wie mein Sensei? Mein Sensei, zu dem ich immer aufgesehen und den ich – abgesehen von meiner Familie - als einzigen wirklich je respektiert hatte? Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein. Und genau aus diesem Grund würde ich morgen…
„Yuzuki?“ Instinktiv drehte ich mich um, als ich die weiche Stimme meiner Mutter hinter mir hörte.
„Ja?“ Sie musterte mich einen Augenblick leicht überrascht. Ihr Blick wanderte von oben nach unten und wieder hoch. Ich sah, wie ihre Stirn sich leicht in Falten legte, als würde sie versuchen, das, was vor ihr war, zu verstehen. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich sie an. Was war denn jetzt mit ihr los? Man könnte glatt meinen, sie sah einen Geist vor sich. Dabei war ich es doch. Yuzuki. Ihre einzige Tochter. Diejenige, die sie doch extra auf eine Mädchenschule geschickt hatte, damit sie…
Dann viel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte ja immer noch Kazuyas Schuluniform an und trug diese dämliche Perücke. Ich schluckte kurz. Verdammt, das hatte ich ganz vergessen. Ich war so in Rage wegen dieses Schnösels gewesen, dass ich das komplett ausgeblendet hatte. Und jetzt stand ich hier, vor meiner Mutter, die mich als mich selbst erkannt hatte, obwohl ich wie Kazuya aussah. Verflucht, warum mussten Eltern ihre Kinder auch so gut auseinanderhalten können? Keiner sah bei Zwillingen, wer in Wirklichkeit wer war. Nur die Eltern. Hatten die irgendeinen Mann im Ohr, der ihnen das heimlich zuflüsterte? Gott, ich hasste diesen Takeru von Sekunde zu Sekunde mehr. Hätte er mich nicht genervt, hätte ich mir nicht so viele Gedanken um ihn gemacht und wäre jetzt nicht in dieser Bredouille. Dafür würde ich ihm morgen noch eine Extraabreibung verpassen.
Ich schluckte ein weiteres Mal, weil sich mein Hals von Mal zu Mal immer trockener anfühlte. Wenn ich mich recht erinnerte, hatten Kazuya und ich uns bislang auch keine Gedanken darüber gemacht, wie wir nach Hause kommen sollten, ohne erwischt zu werden. In der Schule umziehen ging schon mal nicht. Wäre auffallend, wenn aus einer Jungentoilette plötzlich ein Mädchen herauskam. Vor allem eines, was keiner kannte. Und von Kazuya auf einer reinen Mädchenschule wollte ich gar nicht erst anfangen. Tja, mein lieber Herr Bruder. Da war deine Idee wohl doch nicht so brillant, wie du gedacht hattest. Sich morgens aus dem Haus zu schleichen war definitiv leichter, als nachmittags wieder reinzukommen. Vor allem mit einer Mutter, die den ganzen Tag über zuhause war.
Meine sah mich jetzt übrigens mit leicht hochgezogenen Brauen und großen Augen an. Offensichtlich wartete sie auf eine Erklärung meinerseits für das Schauspiel was sich hier bot. Tja… darauf wartete ich allerdings auch.
„Weißt du… Mum“, fügte ich an. Was sollte ich ihr sagen? Was konnte ich ihr sagen? Die Wahrheit ganz bestimmt nicht. Sie würde mich anschreien, mir Hausarrest erteilen und uns vermutlich noch bei der Schule anschwärzen. Der Gedanke an meine Klassenlehrerin, wenn sie erfuhr, dass sie einen Tag lang einen Jungen unterrichtet hatte, ließ mich erschaudern. Obwohl… ihr Gesichtsausdruck wäre sicherlich amüsant. Einen Reiz hätte es also…
Meine Mutter räusperte sich und riss mich somit aus meinem innerlichen Selbstgespräch. „Ja… also“, fuhr ich fort, „Das ist nicht das, wonach es aussieht.“ Innerlich schlug ich mir die Hand vor die Stirn. Das ist nicht das, wonach es aussah? Wonach sah es denn aus, Yuzuki? Danach, dass jedwede Erziehungsmöglichkeit deiner Eltern gescheitert war? Danach, dass du dir so sehr gewünscht hast, ein Junge zu sein, dass du dich wie einer verkleidet hast?
„Gott, das ist definitiv nicht das, wonach es aussieht!“, hob ich selbst leicht schockiert die Arme zu meiner Verteidigung. „Wir… also… Kazuya… und ich, wir… wir hatten… wir hatten… einen Verkleidungstag in der Schule. Genau!“ Jetzt hob meine Mutter eine ihrer Augenbrauen. Wow! Ich bewunderte sie jedes Mal dafür. Wie machte sie das nur immer wieder? Ich hab schon so oft geübt und bekam es dennoch nicht hin. Allerdings hielt meine Bewunderung nicht lange an, da dies unmittelbar nur die Ruhe vor dem Sturm war. Ich wusste, wenn sie das machte, würde danach ein riesen Donnerwetter folgen.
„Verkleidungstag in der Schule?“ Ich nickte eifrig und grinste breit. Bei allen Buddhas dieser Erde, das war ja eine noch dämlichere Idee als die Kazuyas. Verkleidungstag in der Schule? Wir hatten Mitte September. Fasching war also noch weit entfernt. Aber es war immerhin besser als gar nichts… und wenn ich mich nicht allzu dumm anstellte, würde ich meine Mutter überzeugen können.
„Ja, richtig. Verkleidungstag in der Schule. Auf die Idee kam unsere Klasselehrerin. Das war so ein psychoanalytisches Projekt. Unsere Klassenlehrerin sagte, aus jeder Verkleidung kann man ein Stück den Charakter desjenigen, der sich verkleidet, erkennen und deuten. Vielleicht sogar besser, als wenn einer er selbst ist. Jetzt wanderte auch die zweite Augenbraue hoch. Gott Yuzuki, halt einfach deine Klappe! „Wir dachten, es wäre lustig, sich als Jungs zu verkleiden“, entkam es mir.
„Wir?“, hakte sie verwundert nach. Warum musste meine Mutter nur so hartnäckig sein? Konnte sie nicht einfach alles hinnehmen, was ich ihr sagte und gut war? Bei ihrer Nachfrage kam mir allerdings eine Idee. Vielleicht war es mir ja so möglich, mich aus dieser Misere zu retten.
„Ja, wir. Meine Freundinnen und ich.“ Ich schluckte und wartete. Wartete auf ihre Reaktion und den unmittelbar folgenden Knall. Würde sie mir glauben? Könnte ich sie wirklich davon überzeugen, ich hätte Freundinnen an dieser Mädchenschule gewonnen. Konnte ich sie mit dem Gedanken abwimmeln, ihre Erziehung hätte endlich Früchte getragen?
Ich konnte. Denn kaum da sie den ersten Schock verdaut hatte, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf ihren Lippen aus. „Du hast Freundinnen gefunden?“
„Ja“, lächelte ich und wirkte dabei nicht ganz so begeistert wie sie. „Ganz tolle Mädels. Wir machen vieles zusammen, jedenfalls soweit es das Training zulässt. Wir hängen zusammen in den Pausen rum, machen Tratsch und Klatsch, sprechen über Jungs… du weißt schon… dieser ganze Mädchenkram eben.“ Ich zeigte mit dem Daumen nach oben. „Top!“ Wenn ich hier lebend rauskam, würde ich mich erschießen… oder Kazuya.
Das Lächeln meiner Mutter wurde breiter und unweigerlich nahm sie mich in die Arme. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und mein schlechtes Gewissen begann mal wieder an meiner Tür zu klopfen. Ich belog meine Mutter und sie freute sich ehrlich darüber. Und sie freute sich nicht für sich oder weil ihre kläglichen Versuche in den letzten Jahren offensichtlich doch nicht verschwendet gewesen waren. Sie freute sich für mich. Sie freute sich, dass ich endlich Menschen gefunden hatte, die Anteil an meinem Leben haben konnten. Ich seufzte leise und schwor mir, sollte dieses ganze Theater vorbei sein, es vielleicht doch einmal mit der Freundschaft zu versuchen. Das war ich ihr immerhin schuldig.
„Ja Mum, jetzt mach daraus bitte kein achtes Weltwunder. Der Gedanke, dass man mich für immer in Geschichtsbüchern abdrucken könnte, gefällt mir nicht besonders.“ Ich versuchte zu scherzen und konnte meiner Mutter tatsächlich ein kleines Lachen entlocken. Dann löste sie sich endlich von mir und betrachtete mich kurz eingehend.
„Ich bin stolz auf dich.“ Der bittere Geschmack in meinem Mund kam augenblicklich wieder. Warum konnte sie es nicht einfach hinnehmen? Warum musste sie auch noch darauf raumreiten?
Ich nickte ihr gequält lächelnd zu und schluckte ein paar Mal. „Also dann…“, versuchte ich mich aus der Situation zu retten. Iich werde mich mal dann aus dieser Verkleidung schälen.“
„Natürlich“, lächelte sie mich offen an. „Und heute beim Abendbrot erzählst du mir dann alles über dieses Projekt.“
„Hmhm“, machte ich nur. Ich musste mir unbedingt eine gute Geschichte parat legen. „Übrigens. Kazuya hatte ebenfalls Verkleidungstag an der Schule. Und er… nun ja… er hat sich als Mädchen verkleidet. Denke jetzt bitte nichts Falsches.“ >Oder doch<, fügte ich in Gedanken hinzu, >Denk was Falsches!<
Meine Mutter lächelte nur kurz und begab sich dann wieder in die Küche. Unmittelbar ließ ich die Schultern hängen und ein leises Seufzen entfloh meinen Lippen. Wie hatte es nur so weit kommen können? Eigentlich sollte es doch nichts weiter als ein kleines Abenteuer werden… ein Scherz… Doch je mehr ich versuchte wieder aus dem Schlamassel herauszukommen, desto mehr lief alles aus dem Ruder.
In meinem Zimmer warf ich meine Schultasche in eine Ecke und baute mich vor dem Spiegel auf. Erneut entfloh mir ein leises Seufzen, als ich mich, mit Händen in die Hüften gestemmt, im Spiegel betrachtete. Ich sah Kazuya wirklich ähnlich, vor allem jetzt, da ich seine Schuluniform trug. Die blonden, kurzen Haare. Das gleich geformte Gesicht. Wir hatten sogar die gleichen braun-grünen Augen. Doch es war vorhersehbar gewesen, dass wir unsere Mutter damit nicht hatten täuschen können. Man konnte ihr so schon kaum etwas verheimlichen.
Ich erinnerte mich noch daran, als Kazuya versucht hatte, ein kleines verwundetes Kätzchen in sein Zimmer zu schmuggeln… oder ich meine fette Kröte Twinki. Wir wurden beide schon beim ersten Treppenabsatz aufgehalten und mussten uns eine ellenlange Predigt über Bakterien, Flöhe und Krankheiten anhören. Obwohl ich bis heute fest davon überzeugt bin, dass Kazuyas kürzer war.
Lustlos ließ ich mich auf mein Bett fallen. Wenn wir es damals schon nicht geschafft hatten, ihr etwas zu verheimlichen, wie sollten wir das jetzt schaffen? Wie sollten wir unbehelligt an ihr vorbeikommen, ohne dass sie merkte, dass Kazuya und ich tagsüber die Rollen tauschten? Sie würde es unweigerlich bemerken. Sie musste es unweigerlich bemerken. Es war einfach zu auffällig… Kazuya wurde immer schlechter und Yuzuki immer besser? Das sah doch selbst ein Blinder, das da was nicht…
Ruckartig setzte ich mich wieder auf. Warum machte ich mir eigentlich Gedanken darüber? Verflucht, ich hörte mich ja schon an, als würde ich planen, das komplette nächste Semester auf dieser Schule für Bekloppte zu verbringen. Dabei sollte morgen doch alles wieder vorbei sein. Ich machte diesen Takeru fertig, Kazuya bekam seine Immunität und ich wäre aus dem ganzen Schlamassel wieder raus. Alles würde wieder seinen gewohnten Gang gehen und ich hätte nicht länger mehr etwas damit zu tun. Mein Leben wäre wieder vollkommen normal.
Mit einem langgezogenen Seufzen riss ich mir die Perücke vom Kopf, schmiss sie in eine Ecke des Zimmers und entledigte mich auch meiner Jacke. Ohne meine Hände vorher zu präparieren, begann ich meinen Sandsack zu bearbeiten. Warum nur fühlte ich mich dann bei dem Gedanken so trübselig? War es nicht gut, wenn alles wieder seinen gewohnten Gang ging? War es nicht das Beste, wenn alles wieder so war, wie es sein sollte? Ja, ich hatte mir mal gewünscht, ein Junge zu sein. Ja, ich hatte mir schon oft gewünscht, mit Kazuya die Rollen tauschen zu können. Aber in meinen Träumen, ein Junge zu sein war alles so viel… anders… besser. Keine anstrengenden Mädchen, die einen nur in Schwierigkeiten brachten. Keine Schwächlinge, die einen nervten und nicht verstanden, wann Schluss war. Kein ständiges Nachlaufen eines impotenten Gockels. Und in meinen Träumen hatte es schon gar keinen Takeru gegeben.
Takeru… Seine stechend blauen Augen kamen mir wieder ins Gedächtnis und wie aus Reflex schlug ich härter auf den Sandsack ein. Dieser verfluchte Takeru. Warum musste er sich auch in mein Leben einmischen? Warum musste dieser Idiot auch überhaupt existieren? Es gab 52 Oberschulen in Japan, dazu 27 Privatschulen. Warum musste er ausgerechnet auf diese Schule gehen, auf die Kazuya ging? Das konnte nie und nimmer Zufall sein. Aber an ein Schicksal glaubte ich schon gar nicht.
Erneut schlug ich mit der Rechten hart zu. Ein stechender Schmerz zog sich durch meine Hand, doch ich beachtete ihn nicht. Wer kam auch überhaupt auf die Idee so etwas wie einen Fight-Club zu gründen? Ich fand ja den Tee-Club schon total bescheuert… aber dieser sogenannte Fight-Club toppte echt alles. So etwas kann doch nur aus dem nicht vorhandem Gehirn eines kompletten Vollidioten stammen. Ein normaler Mensch würde doch nie auf so eine Idee kommen… meinen Bruder einmal ausgenommen. Was versprach er sich davon? Und überhaupt… was versprach er sich davon, dass ich da mitmachen sollte? Glaubte er allen Ernstes, ich würde dann springen, wenn er pfiff? Ein paar Jungs vermöbeln, nur weil er Angst hatte, sich die Finger schmutzig zu machen? Wenn er wirklich glaubte, ich würde auch nur einen Fuß in die Richtung bewegen, in die er mich befehligte, dann hatte er größere Todessehnsucht als Kazuya.
Je mehr ich darüber nachdachte, desto bescheuerter kam mir Kazuyas Plan im Nachhinein vor. Von wegen meine Probleme lösten sich von selbst. Ich hatte eher das Gefühl, neue hinzuzubekommen. Wenn es etwas Positives an meiner Mädchenschule gab, dann, dass ich nicht tagtäglich irgendwelchen hirnverbrannten Takeru-Kopien über den Weg lief. Keiner, der mich von der Seite her dumm anmachte oder gar anrempelte. Niemand, der sich mir in den Weg stellte und einen auf dicke Hose machte. Ich musste lediglich dieses elende Gequatsche über Jungs, Dates und Make-Up seitens meiner Klassenkameradinnen über mich ergehen lassen. Und das war definitiv erträglicher als dieses Gepöbel auf Kazuyas Schule. Und dennoch… das flaue Gefühl in meinem Magen, wenn ich an das bevorstehende Ende dieses Abenteuers dachte, verschwand nicht.
Gerade als ich mich von meinem Sandsack abwandte und meine Trainingsutensilien für das heutige Training zusammenklauben wollte, wurde ruckartig meine Tür aufgerissen und ehe ich es mich versah, befand ich mich in einer stürmischen Umarmung wieder. Lange braune Haare verschleierten mir kurz die Sicht, dann entdeckte ich meinen Bruder breit grinsend im Türrahmen stehend.
„Oh Yuzuki, ich hatte solche Angst um dich. Als mir Kazuya erzählte, du wärst auf seiner Schule, habe ich mir solche Sorgen gemacht. Was, wenn sie dir etwas Schreckliches antun würden? Was, wenn sie deine Verkleidung durchschauen und dir eine Lektion erteilen würden? Ich konnte mich die ganze Zeit nicht auf den Unterricht konzentrieren und dabei schreiben wir nächste Woche eine Klausur.“ Die Person, die mich in dieser schraubstockähnlichen Umarmung festhielt, plapperte ohne Punkt und Komma.
Für einen kurzen Moment befürchtete ich gar, sie würde mangels Sauerstoff einfach umkippen. Verwundert blickte ich auf die langen, braunen Haare hinab und versuchte die Situation im Ganzen zu erfassen. Dann, als ich erneut in das grinsende Gesicht meines Bruders blickte, erkannte ich plötzlich die Stimme und entgeistert stieß ich aus: „Tomoko?!“
Tomoko löste mich aus ihrer Umarmung und lächelte mich freudig an. Genau so, wie sie es immer tat. Wütend betrachtete ich meinen Bruder. „Du hast es ihr erzählt? Ich dachte, das bleibt unter uns!“
Das breite Grinsen erstarb auf seinem Gesicht und verteidigend hob er die Arme. „Ich habe ihr nichts erzählt. Sie ist von selbst drauf gekommen.“
„Von selbst drauf gekommen?“, meckerte ich ihn weiter an. „Sag, wie dumm hast du dich dieses Mal angestellt? Bist du schreiend raus gerannt, als du auf die Mädchentoilette musstest? Oder hast du mal wieder den Streber raushängen lassen, als die Lehrerin eine Frage gestellt hat? Ich habe dir gesagt, verhalte dich unauffällig!“ Das war wieder einmal so typisch Kazuya. Mir hunderte von Regeln auferlegen, wie ich mich wann, wo und warum zu verhalten hatte, aber selbst hielt er sich nicht dran. Manchmal könnte ich ihn wirklich…
„Kazuya hat sich wirklich gut benommen“, mischte sich nun auch Tomoko mit ins Gespräch ein. Ihre freundlichen Augen schauten mich beruhigend an. „Ich habe es vom ersten Moment an gemerkt, als er den Raum betreten hatte.“
„Wie?“, hakte ich kurzum nach. Tomoko lachte leicht.
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich es nicht merke, wann meine beste Freundin vor mir steht und wann jemand, der sich nur als sie verkleidet hat.“
Bei den Wörtern beste Freundin schluckte ich hart. Dass Tomoko unsere… Beziehung schon als so innig beschrieb, hätte ich nicht gedacht. Es überraschte mich und verursachte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Herzlichen Glückwunsch, Yuzuki! Heute hast du es wirklich geschafft, den Jackpot im Schuldbewusstsein zu knacken. Beim nächsten Mal gibt es einmal >Gratis Enttäuschen< dazu!
Seufzend sah ich von ihr zu Kazuya. „Wieso trägst du eigentlich deine normalen Klamotten?“, fragte ich ihn.
Sein Grinsen breitete sich wieder auf seinem Gesicht aus. „Ich hab mich unterwegs umgezogen.“
„Wo?“, fragte ich scharf. So langsam aber sicher bekam er wirklich Todessehnsucht.
„In der öffentlichen Toilette im Park“, zuckte er mit den Schultern, wie als wäre es das natürlichste auf der Welt.
Ich hätte ihm eine reinhauen können… oder erwürgen können… oder erstechen… oder erschießen… oder alles zusammen. Eine öffentliche Toilette im Park. Darauf hätte ich auch kommen können. Aber nein, ich musste mich ja die ganze Zeit mit diesem Takeru auseinandersetzen.
Meine Laune sank erneut als die Erinnerung an ihn wieder hochkam. Dieser verfluchte, neunmalkluge…
„Wie bist du hier reingekommen, ohne bemerkt zu werden?“, hakte Kazuya nach und deutete auf die Schuluniform, die ich noch immer trug.
„Gar nicht“, grummelte ich zu Antwort. „Mum hat mich erwischt und ich habe ihr etwas erzählt, von wegen wir hätten Verkleidungstag an der Schule aufgrund von irgendwelchen psychosomalen Analysen oder so ähnlich.“
Skeptisch hob Kazuya eine Augenbraue. Ich hasste ihn dafür, dass er das auch konnte. „Und das hat sie dir geglaubt?"
Genervt antwortete ich: „Als ich fallen ließ, dass ich eventuell ein paar Freundinnen gefunden hatte, hat sie sich eh für nichts anderes mehr interessiert.“
Kazuya lachte. „Kein Wunder, dass sie Tomoko sofort hereingelassen hat, als ich sagte, sie gehöre zu dir.“
„Und wie war dein Tag so, Bruderherz?“, fragte ich ihn gekünstelt freundlich, um ihn vom Thema abzulenken.
Jetzt war Kazuya wieder in seine übliche, gelangweilte Haltung übergegangen. „Wie immer. Hab mit niemandem geredeten, mich eher meinen Büchern zugewendet und ab und zu ein paar Fragen beantwortet. Ein paar Lehrer schienen wirklich erstaunt gewesen zu sein, dass ich mich meldete. Offensichtlich scheinst du den Unterricht eher schlafend zu verfolgen, als aktiv mitzuarbeiten.“
Jetzt war ich diejenige, die lachte. „Lieber schlafend als tot.“
Kazuya rollte nur mit den Augen. „Ich hoffe, du hast dich nicht gleich am ersten Tag mit der ganzen Schule angelegt?!“ Treffer und versenkt, würde ich sagen.
Ich schluckte ein paar Mal, da sich mein Mund auf einmal so trocken anfühlte, dann fuhr ich mit dem fort, weswegen ich eigentlich meine Sandsackvisitation unterbrochen hatte – das Zusammensuchen meiner Trainingsklamotten. Kazuya schien es anscheinend genauso wenig zu mögen, wenn man ihn ignorierte, wie Takeru.
Er räusperte sich lautstark und stellte sich dann mir mit verschränkten Armen in den Weg. Seufzend richtete ich mich wieder auf. „Nun ja… die ganze Schule… also so würde ich das jetzt nun nicht nennen.“ Gott, Yuzuki. Vor dir steht dein Bruder und nicht dein Sensei. Angst wird hier nicht geduldet und schon gar keine Rückzieher. Reiß dich also zusammen und sprich vernünftig. Du bist hier doch nicht die Katze im Sack. „Eigentlich fing der Tag ganz ruhig an, bis dieser Kenji der Meinung war, er müsse Sonoko belästigen. Ich habe eingegriffen, ihr geholfen und ihm eine ordentliche Abreibung verpasst. Takeru hat das gesehen, Kenji aus seinem dämlichen Club geworfen und mich gefragt, ob ich bei ihm einsteigen wollte. Ich habe verneint, doch er hat nicht locker gelassen, also kämpfe ich morgen gegen ihn, um genau das zu verdeutlichen“, sprudelte es aus mir heraus. Den Teil, indem er meinen Schlag auffing, ließ ich bewusst aus. Ich war mir sicher, dass es nicht sehr motivierend sein würde, wenn sie wüssten, dass er das gekonnt hatte – ob da nun Glück oder Zufall im Spiel war, war vollkommen egal.
Ich sah, wie Kazuyas Gesichtszüge ihm langsam entglitten. Offensichtlich hoffte er, dass das alles nur ein schlechter Scherz war. Dass ich jeden Augenblick >April! April!< rufen würde und alles wäre wieder gut. Doch wir hatten heute nicht den ersten April. Und ein Scherz war es allemal nicht.
"Was?", fragte ich genervt, als Kazuya vor mir keine Anstalten einer Regung machte und auch Tomoko mich mit großen Augen ansah.
"Du hast dich mit Takeru angelegt?", fragten beide wie aus einem Munde.
"Ich habe mich nicht mit Takeru angelegt", verteidigte ich mich.
"Und wie würdest du es dann nennen, wenn man bedenkt, dass du morgen gegen ihn kämpfen sollst?"
Zähneknirschend sah ich Kazuya an. War das jetzt etwa meine Schuld, dass ich in diesem Schlamassel steckte? Er war doch derjenige, der die angeblich glorreiche Idee hatte, die Rollen zu tauschen, ungeachtet der Konsequenzen, die entstehen konnten.
"Was kann ich denn bitteschön dafür, wenn er mir hinter rennt, wie eine rollige Katze? Ich habe ihm gesagt, er soll mich in Ruhe lassen. Er hat es nicht getan, sondern mich den ganzen Tag über nur genervt. Schlussendlich kam er dann auf die Idee mit dem Kampf." Erneut hob Kazuya eine Augenbraue. Wäre ich nicht schon an sich wegen der Situation, in der ich nun steckte, wütend auf ihn, würde ich es spätestens jetzt werden. "Hör zu. Er hat mir versprochen, wenn ich ihn besiege, lässt er dich für immer in Ruhe."
"Aha", erwiderte er. "Er lässt mich dann in Ruhe. Super. Nur einen kleinen Haken hat die Sache allerdings. Bevor du dich mit ihm angelegt hast, wusste er nicht einmal, dass ich existiere und das war auch gut so."
Seit wann war mein Bruder so zickig? Offensichtlich hatte er wirklich die weiblichen Gene von uns beiden geerbt. "Er hat dir Immunität versprochen."
"Immunität?", fragt er jetzt sichtlich verwirrt.
"Ja, Immunität. Wenn ich ihn besiege, dann bekommst du Immunität. Das ist doch das, was du wolltest, oder? Die Lösung deines Problems. Ich besiege ihn, verpasse dir somit das Image eines Schlägers und Draufgängers und gleichzeitig wird es auch keiner mehr wagen, dich anzurühren. Immunität durch den Boss des Fight-Clubs. Nicht ganz, was du dir erträumt hattest, aber besser, als gar nichts."
"Und was passiert, wenn du verlierst?" Ich hatte Tomoko vollkommen vergessen gehabt. Jetzt, da sie die Frage gestellt hatte, wandte ich mich wieder ihr zu. Ihr Blick beinhaltete Besorgnis und offensichtlich hatte sie mit Missfallen die Konversation zwischen Kazuya und mir verfolgt.
Ein leichtes Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Ich wollte sie beruhigen. "Das wird nicht passieren."
"Was passiert, wenn du verlierst?", wiederholte Kazuya die Frage ruhig.
Entnervt seufzte ich auf. "Dann musst du seinem bescheuerten Club beitreten", murmelte ich.
Offensichtlich war es laut genug, dass Kazuya es hören konnte.  Seine Augen wurden größer und ungläubig sah er mich an. "Bitte was?"Ich hatte noch nie erlebt, dass mein Bruder so viele Emotionen innerhalb einer halben Stunde durchlebte. Normalerweise war er eher der ruhige Typ. Undurchschaubar und meist hinter einem Buch oder seiner Gitarre versteckt. Er hielt sich aus Unannehmlichkeiten lieber heraus und nahm den denkbar einfachsten Weg. Er war derjenige von uns, der immer alles durchdachte, während ich diejenige war, die sich immer Hals über Kopf in Schwierigkeiten warf.
Heute jedoch war es ganz anders. Verschwunden war der ruhige, Gitarre spielende, Mustersohn Kazuya. An seiner Stelle trat ein emotionaler und vor allem aufgebrachter Typ, von dem ich vor einer Stunde nicht geglaubt hätte, er könne einer Fliege was zuleide tun. Jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. Ob das vermutlich damit zusammenhing, dass man ihm mit dem Brechen seiner Knochen gedroht hatte?
"Du hast schon richtig verstanden", wandte ich mich an ihm vorbei und fuhr in der Arbeit  fort, meine Trainingstasche zu packen. "Wenn ich morgen den Kampf gegen Takeru verliere, musst  du Mitglied im Fight-Club werden."
"Oh, nein, nein, nein, nein, nein", erwiderte Kazuya und schüttelte grinsend den Kopf. "Du wirst dann Mitglied im Fight-Club."
Verwundert hob ich meine Augenbraue. Es wäre mit Sicherheit seriöser gewesen, hätte ich das auch nur mit einer gekonnt. „Es ist deine Schule. Warum sollte ich bei diesem Club mitmachen?“
Du hast uns das eingebrockt, du wirst es auch ausbaden. Wenn du morgen gegen Takeru verlierst… tja… dann wirst du wohl etwas länger so tun, als wärst du ich und auf diese Schule gehen.“
Mein Mund klappte ungläubig auf. Das meinte er doch jetzt etwa nicht ernst? Sein Grinsen zeigte mir, dass er es ernst meinte. „Warum bin ich diejenige, die uns das eingebrockt haben soll? Du bist doch hier derjenige, der erst mit dieser bescheuerten Idee bei mir ankam. Wer hat denn behauptet, die Idee sei so brillant und würde alle meine Probleme lösen? Von wegen! Du kannst froh sein, dass ich dir schon mal diesen Kenji vom Hals gehetzt habe. Der wird sich in nächster Zeit nicht an dich heran wagen.“
„Genau. Und stattdessen hetzt du mir Takeru auf den Hals.“
„Wo liegt eigentlich dein Problem, Kazuya?“, fauchte ich ihn an. „Immerhin bin ich diejenige, die morgen gegen ihn kämpft. Und wenn er der Boss des Fight-Clubs ist, weil er so unglaublich stark ist, wie alle behaupten, dann werde ich auch diejenige sein, die im Krankenhaus aufwachen wird und nicht du.“
Daraufhin sagte er nichts mehr. Leicht schuldbewusst schaute er zu Boden. Offensichtlich war ihm bewusst, dass er eben gerade die Nerven verloren hatte. Wer konnte es ihm auch in dieser Situation verübeln? Ich selbst konnte ja nicht mehr klar denken. Ständig dieses beklemmende Gefühl, wenn ich an Takeru oder an morgen dachte. Wir hatten heute vermutlich wohl alle etwas gegen die Stränge geschlagen.
„Hey, du solltest als mein Bruder ein bisschen mehr Vertrauen in mich haben“, zwinkerte ich ihm grinsend zu. „Ich werde morgen nicht verlieren. Ganz bestimmt nicht. Und danach geht alles wieder seinen gewohnten Gang. Ich hatte nicht einmal genug Zeit, deine Zensuren zu versauen.“ Jetzt breitete sich auch auf seinem Gesicht ein Lächeln aus und belustigt schüttelte er den Kopf. „Ich muss jetzt los zum Training“, verabschiedete ich mich von den beiden und schnappte mir meine Tasche.
„Warte!“, rief mir Tomoko hinterher. Verwundert drehte ich mich zu ihr um. „Hier, nimm das.“ Sie drückte mir einen Glückskeks in die Hand. „Den hatte ich dir eigentlich heute für den Test in Mathe mitgebracht, aber ich denke für morgen wirst du ihn eher gebrauchen.“
Ich sah in ihren Augen, dass ihr die Aussicht auf den morgigen Tag so gar nicht gefiel. Sie wusste aber auch, dass ich nicht so einfach kneifen würde. Dafür kannte sie mich schon zu gut. „Danke“, erwiderte ich lächelnd. Dann winkte ich ihnen zum Abschied zu und verließ kurz darauf das Haus.
Gedankenverloren ging ich die Straßen entlang. Kazuya hatte sich ziemlich aufgeregt. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Normalerweise hätte er eher mit den Schultern gezuckt und so etwas gesagt, wie >Das packst du schon.< Wahrscheinlich hätte er auch gar nichts gesagt, sondern einfach nur genickt.
Aber heute? Wüsste ich es nicht besser, würde ich sagen, er hätte seine Tage gehabt. Vielleicht war er auch nur zu lange mit Tomoko unterwegs gewesen und ihre hibbelige Art hatte auf ihn abgefärbt. Wenn das der Fall war, wollte ich die nächsten Tage lieber nicht in seiner Nähe sein.
Mit einem leisen >Knacks< öffnete ich den Glückskeks und aß nach und nach ein Stück. So stark konnte dieser Takeru doch nicht sein. Noch nie hatte ihn jemand kämpfen sehen. Woher wollten sie also wissen, dass er wirklich der Stärkste von allen war? Vielleicht hatte er auch nur Geld… oder einen einflussreichen Vater. Vielleicht waren auch alle anderen in seinem Club dümmer als er und er war nur der Boss, weil er im Gegensatz zu den anderen einen Hauch von Grips hatte?
Vielleicht… Ja, vielleicht war er aber auch wirklich so stark, wie alle behaupteten. Vielleicht trug er seinen Namen als Boss des Fight-Clubs auch zu Recht. Vielleicht würde ich morgen wirkliche Probleme haben.
Ich schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, wieder herunter.
Yuzuki, jetzt reiß dich aber mal wirklich zusammen! Seit wann hast du Schiss vor einem Kampf? Und seit wann ziehst du es auch nur in Erwägung, dass der andere stärker wäre als du und du verlieren könntest? Das hast du doch noch nie gemacht. Wo ist nur dein verdammtes Selbstbewusstsein hin?
Vielleicht weggerannt, in Anbetracht dessen, was mich erwarten würde, wenn ich verlor. Missmutig starrte ich auf den kleinen Zettel in meiner Hand, der in dem Glückskeks versteckt gewesen war.
Das Schicksal meint es nur gut mit dir.
Grummelnd knüllte ich das Stück Papier wieder zusammen und warf ihn in den nächstbesten Mülleimer. Was sollte das denn nun wieder bedeuten?

 

Der Kampf

 

Ich fühlte mich wie gerädert, als ich mich nach dem Unterricht zum vereinbarten Treffpunkt aufmachte. Bis tief in die Nacht hatte ich über den bevorstehenden Kampf mit Takeru gegrübelt. Ich hatte mir verschiedene Szenen ausgemalt, wie er verlaufen konnte… und vor allem, wie er enden würde. Wo lagen Takerus Stärken? Wo waren seine Schwächen? Hatte er überhaupt welche? Würde der Kampf überhaupt stattfinden oder würde er kneifen und mir eine billige Ausrede auftischen, mit der er sich irgendwie raus winden wollte?

Das gestrige Training war auch nicht besser verlaufen. Ich war die ganze Zeit unkonzentriert gewesen. So unkonzentriert, dass einer meiner Trainingspartner es sogar geschafft hatte, meine Verteidigung, die in diesem Augenblick einfach schlampig war, zu durchbrechen und mir einen Seitenhieb zu verpassen.

Daraufhin hatte ich ihm die Nase gebrochen.

Nach dem Vorfall hatte mich Matsumoto-sensei dazu beordert, den Rest der Stunde im Schneidersitz zu verbringen und darüber nachzudenken, was passiert war. Doch auch wenn ich die restlichen 48 Minuten ohne zu murren in "Einzelhaft" verharrt hatte… seiner anderen Order hatte ich nicht nachkommen können. Wie auch, wenn Takeru mein Denken beherrschte, kaum dass ich wieder alleine war.

War ich etwa besessen? Hatte er mich schon so weit gebracht, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte als an ihn? An sein breites Grinsen… sein herzhaftes Lachen… sein kantiges Gesicht… seine fein geschwungen Lippen, die für einen Jungen so untypisch waren… seine eiskalten blauen Augen…

Obwohl ich die ganze Nacht darüber gegrübelt hatte, warum er ausgerechnet mich wollte und nicht locker ließ, konnte ich mir keinen Reim darauf bilden. Er hatte einmal gesehen, wie ich Kenji fertig gemacht hatte und das eigentlich innerhalb kurzer Zeit. Aber nur weil ich ihn abgeblockt und eine verpasst hatte, konnte man mich doch nicht gleich einschätzen. Schon gar nicht, was meine kämpferischen Fähigkeiten anging. Warum also nervte er mich dann mit diesem Schwachsinn? Er hatte doch genug Mitglieder in seinem Club, sollte er von denen seine rechte Hand wählen. Immerhin kannte er sie und wusste um ihre Fähigkeiten. Ich hingegen war eine völlig Fremde für ihn – oder besser gesagt ein völlig Fremder in diesem Fall.

Oder sah er vielleicht seinen Ruf beziehungsweise seine Position gefährdet? War es das, was er gestern mit diesem dämlichen Geschwafel über Staat und Hacker gemeint hatte? Hatte er Angst davor, ich könnte besser als er sein und ihn von seinem Thron stoßen und das Kommando über seinen Kindergeburtstag übernehmen?

Oder würde er wirklich sein Versprechen halten? Würde er, wenn ich gewann, wirklich dafür sorgen, dass ich Immunität bekam? Würden er und alle anderen Kazuya zukünftig in Frieden lassen? Würde er seinen verletzten Stolz einfach so akzeptieren? Konnte ich mir sicher sein, dass er sein Wort hielt? Ich kannte ihn überhaupt nicht. Woher wusste ich also, dass er nicht einfach irgendeine linke Nummer abzog, wenn ich gewonnen hatte? Woher wusste ich, dass er mich letzten Endes doch nicht versuchte, aus dem Weg zu räumen?

Was würde der Staat in solch einer Situation mit einem Hacker machen?

 

So zog sich der Tag zäh dahin bis ich schließlich auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt war.

Der Sportplatz war so gut wie leer, nur eine kleine Gruppe von Schülern spielte noch im entlegensten Teil ein wenig Fußball. Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet diese Schule mal so ruhig sein konnte. Wenn ich mich da an das allmorgendliche Begrüßungskomitee im Foyer erinnerte, bei dem man aufpassen musste, nicht von irgendwelchen Gegenständen enthauptet zu werden.

Je näher ich diesem Geräteschuppen kam, desto flauer wurde mir im Magen. Es kam selten vor, dass mir ein bevorstehender Kampf Unbehagen bereitete und das letzte Mal lag auch schon Jahre zurück. Damals hatte es auch im Dojo noch Schüler gegeben, die besser gewesen sind als ich. Doch warum ausgerechnet heute? Betrachtete man da diesen Kenji von gestern und letzer Woche, dann konnte man eigentlich nicht so viel erwarten, oder? Immerhin war der seine rechte Hand gewesen und normalerweise war es doch eigentlich so, dass die rechte Hand das Zeug dazu hatte, den Anführer würdig zu vertreten. Wahrscheinlich machte ich mir einfach nur zu viele Sorgen.

Denn, auch wenn er Anführer einer solchen Bande war und vermutlich der Stärkste von ihnen, so war ich mir sicher, dass er in seinem Leben noch nie in einem Dojo gewesen war. Er missachtete so viele Regeln. Er führte sein Leben so gegensätzlich von dem, was man gelehrt bekam. Man lernte die Kampfkunst nicht einfach nur. Man lebte nach ihr. Und dieser Takeru schien nur danach zu leben, andere zu unterdrücken und zu befehligen. Hätte er einen Sensei wie ich, hätte man ihm das schnell ausgetrieben. Nein, dieser Takeru war gewiss kein Kampfkünstler. Er war lediglich ein übler Schläger und würde es nie im Leben mit Matsumoto-sensei aufnehmen können. Und es war auch nur eine Frage der Zeit, bis er heute verlor.

Als ich hinter den Gerätschuppen trat und sich ein etwas größerer und abgelegener Betonplatz vor mir erstreckte, war ich überrascht. Ich hatte eigentlich geglaubt gehabt, dass Takeru seinen ganzen Club hier versammeln würde. Eine Horde von dummen und grölenden Neandertalern, die nur darauf warteten, dass zwei Typen sich prügelten. Die beste Unterhaltung seit es das Fernsehen gab.

Doch ich irrte mich. Nicht mehr als eine Handvoll Jungen waren gerade mal da. Genau vier an der Zahl. Und Takeru war einer von ihnen.

Ich ließ meinen Blick über das Gelände schweifen. Wir befanden uns auf der Rückseite vom Schulgebäude. Die Bäume rings umher standen so hoch und waren so dicht bewachsen, dass nur vereinzelt die Sonne hindurch schien und die Fenster der Klassenzimmer gut abgeschirmt waren. Wenn man also heraus sehen würde, würde man nichts von dem sehen, was sich hier auf dem Platz abspielte. Ein guter Ort also für einen Haufen von Typen, die sich gerne prügelten und was weiß ich noch alles taten.

Vielleicht versteckten sich auch einige Handlanger hinter diesen Pfeilern, die mit etwas Abstand zur Gebäudewand standen und sowas wie ein Vordach hielten. Eine alte Stufentribüne stand darunter, oder was auch immer das war. Ich kannte sowas nur aus Hollywood-Filmen. Takeru saß auf einer der untersten Stufen und blickte gedankenverloren ins Leere, während die anderen drei Typen neben ihn standen und offensichtlich nicht so Recht wussten, wie sie sich in seiner Gegenwart verhalten sollten. Sie wirkten angespannt und nervös.

Kaum hatte ich den Geräteschuppen passiert, wurden sie auf mich aufmerksam und Takeru blickte auf. Als sein Blick meinen traf, lächelte er freundlich. "Kazuya. Es freut mich, dich wiederzusehen."

"Die Freude kann ich nicht teilen", erwiderte ich gereizt und blieb ein paar Meter vor ihnen stehen. Ich hatte zwar keine Angst, aber man sollte dennoch immer auf der Hut sein. Vor allem, wenn einem vier Typen gegenüberstanden, die allesamt Mitglied eines sogenannten Fight Clubs waren. Auch wenn das anscheinend nicht wirklich was zu heißen hatte.

Takeru verlor sein Lächeln nicht, im Gegenteil. Er lachte. Fast so, als hätte ich ihn wirklich erheitert mit dem, was ich gesagt hatte.

"Genau deswegen will ich dich als meine rechte Hand." Er löste sich von seiner Truppe und kam ein paar Schritte auf mich zu.

"Wo ist denn der Rest deiner... Gefolgschaft?" Ich machte extra eine kurze Pause, um das letzte Wort ins Lächerliche zu ziehen.

"Die habe ich nach Hause geschickt. Es ist schließlich nur eine Sache zwischen dir und mir." Sein Lächeln war weiterhin freundlich. Gott, es wird mir eine solche Freude bereiten, ihm das von seinem dämlichen Gesicht zu waschen.

"Ach, sag bloß du hast Angst davor, sie könnten sehen, wie du verlierst", erwiderte ich herausfordernd.

Er behielt sein Lächeln bei, doch ich konnte sehen, wie es um seine Mundwinkel verräterisch zuckte. Sein Blick bohrte sich regelrecht in meinen und für einen kurzen Moment hatte ich die Befürchtung er könnte hinter meine Maskerade blicken. Vielleicht stand er auch nah genug bei mir, um erkennen zu können, dass sich unter meiner Uniform kleine, verräterischere Rundungen versteckten?! Ich trat einen kleinen Schritt nach hinten und um ihn abzulenken, fragte ich: "Und was machen die Typen dann da?" Mit einem Kopfnicken deutete ich in Richtung der restlichen drei.

"Das sind unsere Zeugen. Immerhin muss der Ausgang unseres Kampfes unparteiisch dokumentiert und festgestellt werden. Sonst müssen wir nachher noch einen Kampf um den Ausgang unseres Kampfes führen."

"Ja, genau", lachte ich. "Unparteiisch. Das sind doch bestimmt irgendwelche Handlanger von dir, die jeden Treffer nur für dich werten werden."

"Nein", erwiderte Takeru ruhig. " Es sind Schüler dieser Schule, die mit mir und meinem Club nichts zu tun haben. Sie haben sich freiwillig dafür gemeldet."

"Freiwillig? Die machen sich vor Angst fast in die Hosen."

"Weißt du, für einen Jungen bist du ziemlich zickig." Das erste Mal, dass sein Lächeln nicht freundlich war. Eher herausfordernd und herablassend.

Eine Erwiderung lag mir auf der Zunge, doch ich schluckte sie schnell herunter. Wer zuletzt lachte, lachte ja bekanntlich am Besten. Und er würde noch sehen, wohin ihn seine Arroganz führte.

"Nun, wenn das kleine Kätzchen seine Krallen wieder eingefahren hat, kann ich ja endlich damit anfangen, die Regeln zu erklären." Verschwunden war der herausfordernde Takeru. Stattdessen war er wieder freundlich und besonnen. Er zog sich seine Jacke aus und gab sie einem der drei Zeugen. Dann begann er sich die Ärmel seines Hemdes hochzukrempeln. Ich tat es ihm gleich.

"Es gibt eigentlich nur drei einfache Dinge zu beachten", fuhr er fort, während er sich die Krawatte abband. "Erstens: Unser Kampfbereich hat eine Begrenzung von 5 Metern mal 5 Metern."

Auf dem Betonboden konnte ich ein mit Kreide aufgezeichnetes Quadrat erkennen. Ob er dafür wohl extra die Mathe-Asse als Zeugen beordert hatte? Seine Kumpane wären dafür vermutlich zu blöd gewesen.

"Zweitens: Der Kampf ist aus, sobald einer von uns beiden aufgibt, K.O. geht oder die Begrenzung überschreitet."

Skeptisch blickte ich ihn an, als ich meine Tasche zu meiner Jacke einfach auf den Boden warf. War diese Regelung jetzt von Vorteil für mich oder nicht? Im Dojo musste ich noch nie auf einem begrenzten Bereich kämpfen. Ich konnte mich immer voll und ganz auf meinen Gegner konzentrieren und musste nicht darauf achten, wohin ich trat. Das machten meine Beine mittlerweile von ganz alleine. Erhoffte sich Takeru etwa so zu gewinnen? Indem er nicht gegen mich kämpfte, sondern mich austrickste? Vielleicht hatte er es ja so zum Anführer dieses Clubs gebracht. Nicht durch seine Stärke, sondern durch billige Tricks. Aber darauf würde ich nicht reinfallen. Ich würde die weißen Linien immer im Augenwinkel behalten.

"Drittens: Waffen sind nicht erlaubt. Ansonsten ist jedes Mittel Recht. Bist du damit einverstanden?" Freundlich lächelnd drehte Takeru sich zu mir um.

Jedes Mittel Recht? Was hatte der Typ vor? Mir an den Haaren zu ziehen? Oder weiterhin einfach nur dumm vollquatschen in der Hoffnung, ich würde dann aufgeben? Zutrauen würde ich es ihm.

"Nun, du kannst es dir immer noch anders überlegen, Kazuya", riss mich Takeru aus meinen Gedanken.

Ich lachte kurz." Hast du etwa Angst, du könntest verlieren?", erwiderte ich herausfordernd.

Einen Moment sah Takeru mich stutzig an. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Und dieses Gelächter warf mich für einen kurzen Moment komplett aus der Bahn.

Es klang so... ehrlich und echt. Er lachte nicht über mich. Er lachte über das, was ich gesagt hatte. Als hätte ich ihm gerade wirklich einen guten Witz erzählt. Dieses Lachen passte so gar nicht zu einem Typen, der in gewisser Weise die ganze Schule regierte und mit Vollidioten abhing, die alle anderen unterdrückten. Aber es passte zu ihm. Auf eine sympathische Art und Weise. Es ging mir durch den gesamten Körper und verlieh mir eine leichte Gänsehaut.

Von mir selbst erschrocken, schüttelte ich kurz den Kopf. Was hatte ich da nur für Gedanken? Sein Lachen passte zu ihm? Ja, es war genauso krank wie er. Gespielt und falsch. Die Gänsehaut riet mir nur zur Vorsicht. Kurzerhand holte ich meine Verbände aus meinem Rucksack und präparierte meine Hände. So wie vor jedem Training mit dem Boxsack.

"Ich bin damit einverstanden", knüpfte ich an seine Frage von vorhin wieder an. Ich wollte, dass das ganze hier endlich sein Ende fand und ich wieder in mein altes Leben zurück konnte. Je länger ich mich hier mit diesem Kindergarten abgab, desto mehr vermisste ich die nervenden Mädchen meiner Schule und das Abgeschiedensein. Traurig, aber wahr.

"Aber nur damit das nochmal klar wird… auch vor deinen drei Zeugen hier", fügte ich noch hinzu und nickte in Richtung der anderen. "Wenn ich gewinne, werde ich bis zu meinem Abschluss in Ruhe gelassen. Von dir, deinen Kumpanen und Anhängern und all den anderen Idioten, die es hier noch auf der Schule geben mag.“

Takerus Lächeln wurde wieder eine Spur breiter. In Buddhas Namen, hatte man ihm das etwa einoperiert?!

"Und wenn ich gewinne, wirst du Mitglied des Fight Clubs", erwiderte er freundlich. Für meinen Geschmack etwas zu freundlich.

"Gut. Da wir das nun geklärt haben, lass es uns hinter uns bringen", meinte ich nur genervt, ging an ihm vorbei und betrat das weiß umrandete Feld. Takeru folgte mir.

Zwei der Zeugen stellten sich an gegenüberliegenden Ecken des abgegrenzten Bereiches auf. Vermutlich sollte jeder zwei Seiten der Begrenzung im Auge behalten, um ja genau sehen zu können, wann einer von uns diese übertritt. Falls einer von uns sie übertritt. Ich zumindest hatte das nicht vor.

Der letzte von ihnen nahm seinen Platz in einigem Abstand zur Begrenzung ein und ließ Takeru und mich keine Sekunde aus den Augen. Er spielte wohl den Schiedsrichter.

"Gibt's noch irgendeine große Kampfansage oder Rede bevor es losgeht?" fragte ich sarkastisch.

Lächelnd schüttelte Takeru mit dem Kopf. "Nein. Wenn du bereit bist, kann es losgehen."

"Na, dann los."

 

Die Nachmittagssonne neigte sich langsam dem Horizont entgegen und erhitzte die Luft um uns herum. Ein Glück standen die Bäume hier so dicht, sonst würde sie vermutlich erbarmungslos auf uns herab scheinen. So langsam aber sicher verlor ich die Geduld. Seit gut fünf Minuten standen wir uns gegenüber. Kein Schlagabtausch, kein Tritt. Wir sind nicht einmal einen Schritt aufeinander zugegangen. Minutenlang nur einander umkreisen und nicht aus den Augen lassen. Ich war in Kampfeshaltung, ebenso wie Takeru. Sie ließ mich stutzig werden. Seine Haltung war anders als meine. Dennoch kam mir etwas an ihr bekannt vor. So als ob ich schon einmal jemanden mit dieser Haltung gesehen hatte. Als ob ich schon einmal gegen so jemanden gekämpft hätte. Aber mir wollte beim besten Willen nicht einfallen wann oder wo. Auch sagte sie mir nichts über seine Fähigkeiten. Ich wettete, dass er sie sich von jemand zeigen hatte lassen und mich damit nur irritieren wollte. Denn, auch wenn ich es nur ungern zugab, die Haltung war nahezu perfekt.

Da Takeru offensichtlich keinerlei Anstalten machte, den Kampf zu eröffnen, blieb mir wohl nichts anderes übrig, als ihn herauszulocken. Ich musste schauen, inwieweit seine Haltung nur Tarnung war oder ob er wirklich etwas drauf hatte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, ob er eher ein Nahkämpfer war oder seinen Gegner lieber auf Abstand hielt. Und ohne diese Informationen brauchte ich gar nicht erst anfangen, mir eine Strategie zu überlegen.

Kurzerhand machte ich einen Schritt auf ihn zu und verringerte den Abstand. Ein Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus, als würde er sich wie ein kleines Kind darauf freuen, dass der Kampf jetzt endlich los ging. Er machte seinerseits einen Schritt auf mich zu. Ich versuchte ihn zu umrunden. Er spiegelte meine Schritte, ohne den Blick von meinem zu lösen. Ich atmete kurz tief durch. Okay, na dann mal los.

Ich übt eine kleine und rasche Abfolge von Schlägen in seine Richtung aus. Nichts kräftiges oder hartes. Einfach nur, um seine Reaktion und sein Kampfpotential zu testen.

Er wich aus. Und das schnell und gezielt. Es folgte weiteres Umrunden, dann noch ein paar Schläge, gefolgt von einem Tritt meinerseits. Takeru blockte alles ohne große Mühe ab. Dann griff er plötzlich an.

Seine Schläge waren direkt, aber nicht hart. Ich konnte sie mühelos abblocken. Doch es schien, als versuchte er mit ihnen lediglich eine Lücke in meiner Verteidigung zu finden. Er hatte seinen Blick nicht mehr direkt auf meinen geheftet sondern nahm jede Bewegung meines Körpers war, die ich während meiner Abwehr tat. Leichtes Unbehagen ergriff mich und ich spürte, wie leichte Wut in mir aufkeimte. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass ich es hier nicht einfach nur mit einem Schläger zu tun hatte. Auch nicht mit einem sehr guten und starken Schläger.

Ich durchbrach seinen Angriff, indem ich den nächsten Schlag abblockte und meinerseits zum Angriff übersetzte. Takerus Augen leuchteten kurz auf und als ich nach ihm trat, wich er aus und ging ein paar Schritte rückwärts. Ein leichtes Grinsen bildete sich auf seinen Lippen.

Seine Haltung, die Schnelligkeit mit der auswich und selbst angriff, der Block meines Trittes, das geschickte Suchen nach einer Lücke in meiner Verteidigung, seine Beinarbeit, die perfekt die meine kopierte, ohne dass er seinen Blick auch nur einmal senken musste. Ich brauchte nur Sekunden, um all das zu analysieren. Und auch wenn ich es nur ungern zugab, Takeru war ein erfahrener und ausgebildeter Kämpfer. Wahrscheinlich wie ich in Karate.

Das änderte alles. Denn auch wenn ich es in Betracht gezogen hatte, dass er vielleicht mehr drauf hatte, als nur ein paar Mal mit der Faust zuzuschlagen, so hatte ich mir doch immer Kenji vor Augen gehalten und der war nun alles andere als erfahren und ausgebildet. So jemand als rechte Hand ließ doch eigentlich nahezu darauf schließen, mit wem man es als Anführer zu tun hatte.

Ich hätte mich für meine Dummheit selbst ohrfeigen können. Denn einen unausgebildeten Schläger hätte ich mit leichtes austricksen können. Nun musste ich mich auf jemanden einstellen, der all diese Tricks kannte. Matsumoto-sensei hatte mich immer davor gewarnt, schnell Vorurteile zu ziehen oder jemanden zu unterschätzen, ganz gleich welcher Herkunft oder welches Umfeld ihn umgab. Mein Sensei wäre enttäuscht von mir, wüsste er von meinem Fehler.

"Alles in Ordnung, Kazuya? Du wirkst so abwesend." Takeru riss mich aus meinen Gedanken. "Wir können das hier auch einfach beenden, indem du aufgibst", lächelte er in einer Art und Weise, als hätte er mir den besten Vorschlag der Woche gemacht.

"Von wegen!", erwiderte ich nur und ging sogleich in den nächsten Angriff über. Dieses Mal waren meine Schläge hart, aber nicht minder schnell. Abwechselnd fixierte ich seine Brust und seine Seiten. Takeru parierte sie alle einwandfrei. Nach dem letzten Schlag vollführte ich eine schnelle Drehung nach rechts und nahm den Schwung, um von links oben auf seine Schulter schlagen zu können. Mit Leichtigkeit blockte er auch diesen Schlag ab und grinste mich an. "Uh, das Kätzchen fährt so langsam wieder seine Krallen aus."

Dieser Satz irritierte mich für einen Moment so sehr, dass ich vergaß wieder Abstand zwischen ihm und mir zu bringen. Ich war ihm so nahe, dass ich bemerkte, dass seine Augen zwei unterschiedliche Farben hatten.

"Vielleicht wird das dein neuer Spitzname, wenn du meine rechte Hand bist."

Das rechte Auge war um einige Nuancen dunkler als das linke.

"Kätzchen. Gefällt er dir?"

Außerdem schien es klarer zu sein. So als könnte man fast durch das Blau hindurchsehen.

Takeru nutzte meine Unkonzentriertheit perfekt aus und griff mich das zweite Mal direkt an. Aus den Augenwinkeln sah ich wie sein linker Arm sich meiner rechten, ungeschützten Seite näherte und sofort warf ich mich zur anderen Seite und rollte mich ab. Dabei verfehlte ich nur knapp die weiße Markierung und kam hinter Takeru wieder hoch. Breit grinsend drehte er sich zu mir um und beobachtete mich wieder.

Am liebsten hätte ich Takeru in diesem Moment verflucht, wäre ich nicht so verdammt sauer auf mich selbst gewesen. Meine Fehler häuften sich. Das war jetzt das zweite Mal, dass ich abgelenkt war und dieses Mal war er persönlich daran schuld. Mein Herz raste und ich schrieb es in diesem Moment dem Adrenalin und der Aussicht auf einen guten Kampf zu. Seine Augen würden mich definitiv nicht aus der Bahn werfen.

"Du hast eine sehr gute Technik. Das habe ich gestern schon gesehen." Takeru nahm wieder seine Haltung ein, blieb aber ansonsten auf Abstand.

Dieses Kompliment konnte ich eigentlich nur zurückgeben, doch nie im Leben würde ich ihm das sagen. Vorher würde ich mir lieber die Zunge abbeißen.

"Das zeigt nur noch mehr, wie gut du in den Fight Club passt."

Ich schnaubte verächtlich. "Oder wohl eher wie wenig dein Club es Wert ist, dass ich meine Zeit damit verschwende."

"In welchem Dojo warst du?" Weiterhin dieses nervend freundliche Lächeln im Gesicht.

"Das geht dich nichts an."

Ich griff wieder an. Dieses Mal versuchte ich es mit derselben Strategie wie er. Eine Lücke in seiner Verteidigung zu finden. Schläge und Tritte folgten meinerseits und ich beobachtete ihn genau, während er sie abblockte oder ihnen auswich.

"Ich habe mich über dich informiert." Ich ignorierte sein Geplapper und konzentrierte mich voll und ganz auf seine Körpersprache, während ich immer weiter versuchte, einen Treffer zu erzielen oder eine Schwachstelle zu finden. "Ruhig, strebsam, nichts Auffälliges. Ich hätte nie gedacht, dass jemand wie du kämpfen könnte. Aber wie sagt man bekanntlich: stille Wasser sind tief, nicht wahr?!"

So langsam ging mir sein Gequatsche ganz schön auf die Nerven. "Was soll das hier werden? Ein Kampf oder Kaffeekränzchen mit Oma?", erwiderte ich gereizt.

Er lachte, während ich dieses Mal von der anderen Seite angriff. Seine Konzentration schien durch seine Erheiterung kurz nachzulassen, denn auch wenn er wieder auswich, so war es dennoch nicht schnell genug. Ich streifte ihn an der Seite und er musste einen Schritt mehr als nötig tun, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Jetzt war ich diejenige, die grinste. Oh ja, er hatte seine Schwachstellen. Und wenn ich nur lang genug durchhielt, würde ich seine Verteidigung schon durchbrechen.

"Du hast sehr gute Noten. Einen Durchschnitt von 1,1. Vielleicht kannst du ja meinen Leuten Nachhilfe geben." Takeru tat so, als wäre überhaupt nichts passiert.

"Warum sollte ich das tun?", lachte ich leicht und ließ mich auf sein Gequatsche ein. Er war selbst schuld, wenn er dadurch seine Konzentration verlor.

"Weil sie es nötig haben... und ich sie nicht unterrichten will." Er zuckte mit den Schultern als wäre es das logischste auf der Welt, machte jedoch keinerlei Anstalten, den Kampf wieder zu eröffnen.

Skeptisch sah ich ihn an. War er etwa ein guter Schüler und hatte nur einen falschen Ruf? Ich hatte ihn eigentlich immer für genauso dumm gehalten wie seine Kumpane.

"Also soll ich jetzt deine Drecksarbeit erledigen?", fuhr ich ihn genervt an.

Ein kurzes Lachen und Kopfschütteln seinerseits. "Du hast Potential. In vielerlei Hinsicht. Es wäre dumm, das nicht zu nutzen.“

"Na mit Dummheit kennst du dich ja am besten aus."

"Oh ja... Kätzchen ist definitiv der perfekte Spitzname für dich. Vielleicht mache ich dich sogar zum Cleaner." Jetzt lächelte er wieder freundlich.

"Cleaner?" Wovon faselte der Typ? Sollte ich etwa für ihn putzen? Der hatte ja wohl nicht mehr alle Latten am Zaun!

"Das erfährst du noch früh genug." Jetzt wurde seine Miene auf einmal ernst. "Wir sollten das hier langsam zu einem Ende bringen. Es tut mir leid, dass es so erfolgen muss. Aber ich mag dich. Du bist etwas Besonderes. Und genau deswegen will ich dich in meinem Club."

Verwirrt sah ich ihn an. Mein Herz schlug plötzlich wieder schneller. Ein leichtes Kribbeln erfasste mich. Verfluchtes Adrenalin.

Takeru startete einen Angriff. Einen Angriff, der seine vorherigen vollkommen in den Schatten stellte. Seine Schläge waren hart und schnell. Härter und schneller als meine. Ich hatte leichte Mühe sie abzublocken. Wir tänzelten über das gesamte Feld und nur selten gab er mir die Möglichkeit, zu einem Gegenschlag auszuholen. Das machte mich unglaublich wütend und verbissen versuchte ich in seinen Angriffen ein kleines Schlupfloch zu finden. Jedes Mal, wenn ich einen potentiellen Angriffspunkt fand, parierte er meinen Schlag einwandfrei ab. Als könnte er meine Gedanken lesen und wusste, was ich vor hatte.

Schnell duckte ich mich unter seinem letzten Schlag weg, nahm Schwung von der Drehung und holte zum Schlag gegen seine Schulter aus. Doch anstelle ihn einfach abzublocken, wie er bisher getan hatte, führte er seinen Handrücken an meinen Unterarm, leitete meinen Schlag zur Seite hin ab und durch den Schwung musste ich automatisch einen Schritt nach vorne gehen.

Das Gute daran war, dass mein Arm davon nicht weh tat. Denn durch das ständige abblocken und abgeblockt werden, zog sich schon so langsam ein leichter Schmerz durch meine Muskeln hoch. Das Schlechte daran war, dass wir uns jetzt wieder unglaublich nah standen.

Seine Augen bohrten sich in meine und ich konnte seinen Atem auf meiner verschwitzten Haut spüren. Seiner war langsamer als meiner. Ein Kribbeln jagte mir über den Rücken und mein Herz machte einen kurzen Stolper. Er war fast einen Kopf größer als ich und ich hasste es, zu ihm aufschauen zu müssen.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir so dastanden und uns einfach nur fixierten. Er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, ich vollkommen wütend und angeekelt. Doch dann glitt sein Blick leicht an mir herunter und mein Herz machte einen erneuten Stolper. Verflucht, mein Busen.

Hastig trat ich einen Schritt zurück und brachte so wieder ein wenig Abstand zwischen uns. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen und seine Augen funkelten mich an. Hatte er etwas gemerkt? Verdammt, war es das nun mit Kazuyas "ach so perfekten Plan"?!

"Verloren", sagte er nur und grinste weiterhin.

"Hä?" Verwirrt sah ich ihn an. Das war nicht so ganz das, was ich auf die Entdeckung meines Geheimnisses erwartet hatte.

"Du hast verloren", stellt er fest und nickte Richtung Boden. Ich folgte seinem Blick.

Es fühlte sich an, als würde jemand einen Kübel voll eiskaltes Wasser über mich ausgießen.

Mein linker Fuß war ungefähr drei Zentimeter hinter der weißen Markierung. Ich hatte die Begrenzung verlassen. Ich hatte den Kampf verloren.

"Ich will eine Wiederholung." Das war das erste, was mir in den Sinn kam.

Takeru lachte Lauthalts. "Es gibt keine Wiederholung."

"Das war nicht fair", protestierte ich und ließ meinen Blick über die Zeugen schweifen, bis er wieder bei Takeru hängen blieb. "Er... bedrängt... Hast du noch nie was von Mindestabstand gehört?"

"Beim Kämpfen?!" Belustigt hob er eine Augenbraue hoch. Unter normalen Umständen wäre das eigentlich das, was das Fass zum Überlaufen gebracht hätte. Nicht nur meiner Mutter und meinem Bruder gelang das. Nein auch dieser betrügende Vollidiot vor mir konnte das. Doch es machte mich nicht wütend. Es wirkte so surreal in diesem Moment, dass ich einfach nur perplex war und vergaß, was ich erwidern wollte.

Derweil hatte sich Takeru wieder seine Jacke angezogen. "Ich erwarte dich morgen um halb 8 genau hier. Dann lernst du die anderen kennen und erhältst deine ersten Aufgaben."

"Aber die Schule beginnt erst um halb 9", protestierte ich. Zu etwas anderem war ich im Moment nicht fähig, so sehr stritten sich meine Vernunft und mein Ego. Meine Vernunft sagte mir, ich solle das hier einfach hinter mir lassen und ab morgen mich wieder um meine Probleme und meine Schule kümmern. Mein Ego wollte davon nichts wissen und rannte sich die Ohren zuhaltend im Kreis. Takeru und ich hatten eine Abmachung gehabt und nach der habe ich rechtens verloren und mein Wort zu halten. Und ich stand immer zu meinem Wort.

Plötzlich kam mir Takeru mit seinem Gesicht wieder unglaublich nah und grinste mich breit an. "Ab heute wird die Schule deine Priorität Nummer zwei sein. Ich bin deine Priorität Nummer eins. Und ich sage, du bist morgen um halb 8 genau hier, mein Kätzchen."

Mit diesen Worten wandte er sich von mir ab und verlief den Schulhof. Seine drei Zeugen folgten ihm zögernd. Nur ich blieb allein zurück. Den Ausmaß meiner neuen Situation noch nicht ganz begreifend.

 

 

WICHTIG! Anmerkung des Autors:

 

Als erstes einmal möchte ich mich dafür entschuldigen, dass es mit dem neuen Kapitel so lange gedauert hat. Ich hatte es nie ganz aufgegeben, doch es kamen viele private Probleme und das Studium dazwischen, sodass ich teilweise - wenn nicht sogar sehr oft - nicht nur keine Zeit, sondern auch nicht so Recht die Lust und/oder Motivation dazu hatte, mich ran zu setzen und all das zu überarbeiten, was mir nicht gefiel. Ich bin auch jetzt noch nicht zu 100 % überzeugt davon, aber es gefällt mir jetzt besser als vorher.

 

Bitte habt auch Nachsehen mit mir, wenn die Kampfesszene nicht so spannend geschrieben ist und in eigigen Augen vielleicht auch zu kurz. Ich bin nicht geübt darin und ich finde es auch schwierig, solche Kampfesszenen zu schreiben. Ich hoffe, ihr seid mir nicht böse und es geht ja auch hauptsächlich um den Ausgang des Kampfes und nicht das drum herum.

 

Ich möchte dieses Mal auch keine Prognose darüber abgeben, wann ich das nächste Mal weiter schreibe. Ich werde weiter schreiben, doch ich habe festgestellt, dass einige sich beschweren, wenn es nicht zu dem Zeitpunkt weiter geht, wenn man es angekündigt hat. Das verstehe ich auch und ich bin auch glücklich darüber, dass es immer noch einige Leser gibt, die (un-)geduldig auf die Fortsetzung warten. Nur es setzt mich selbst ziemlich unter Druck, was mir teilweise auch die Lust am Weiterschreiben nimmt.

 

Ich kann gerne demjenigen, der es wissen möchte, Bescheid geben, wenn ich wieder etwas hochgeladen habe. Lasst es mich nur wissen. ;)

 

Ich bemühe mich, bald weiter zu schreiben, da ich weiß, dass es eine "spannende" Stelle ist, an der dieses Kapitel endet. Doch ich verspreche nichts!

 

Danke für's Lesen und ich hoffe, dass euch das Kapitel ein wenig gefallen hat!

 

allerliebst Grüße

eure Fruchti =)

Impressum

Texte: © by FruchtalarmAlle Charaktere sind von mir erdacht! Ähnlichkeiten mit anderen Personen oder gar Geschichten ist unbeabsichtigt!
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Joa... wem widme ich das? Vielleicht meiner lieben Karusch, die mich irgendwie auf diese Idee gebracht hat... mit sich selbst!^^ Oder meiner lieben Nici, die mich in dieser Idee unterstützt hat... Oder ich widme es einfach euch beiden zusammen! xD

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