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Ein Tag, wie (fast) jeder andere.

"Hallo Süße!", rief Catherine und umarmte mich, nachdem sie mir rechts und links einen Kuss gab. Das machte sie jeden Tag.
"Hallo, Cath."
Sie lächelte und klemmte sich eine blonde Strähne hinter ihr Ohr. "Wie geht's dir, J.J.?"
"Mir geht's gut, das weißt du doch!", lächelte ich ihr zu.
"Komm', lass uns gehen! Ich muss dir unbedingt sagen, wie mein Wochenende war", sagte sie und zog mich damit Richtung Allee, die zwischen der Hauptstraße und dem Schulgebäude verlief. Die ganzen zehn Minuten redete sie ununterbrochen. Sie erzählte mir, dass sie am Wochenende wieder auf einer Party gewesen war und dort einen ziemlich interessanten Typen kennengelernt hatte. Um ihre Wort zu benutzen: „Er war heiß!“ Sie redete und redete und redete ohne Unterlass. Während sie mir also von Joelle, so hieß der Junge, erzählte, kam das große, helle Gebäude langsam näher. 
Das Schulgelände war einfach riesig. Würde man 5 Fußballstadien nebeneinander legen, hätte man vermutlich erst 1/4 der Fläche erfasst. Das liegt aber auch daran, dass es an unserer Schule so gut wie alle Clubs und Vereine gibt, die es überhaupt gibt. Es gibt den Teeklub, den Turnklub, Bibliotheksklub, Literaturklub, Schwimmklub, Kochklub, Musikklub, Matheklub, Computerklub, Tanzklub (unterteilt in viele kleinere Klubs ), den Theaterklub und noch unzählig viele mehr, die natürlich irgendwo Raum und Platz benötigen. Des Weiteren haben wir auf unserer Schule aber auch 3 Cafés, eine Cafeteria, ein Restaurant, ein paar Boutiquen und natürlich etliche Parks, in den entweder Sport praktiziert wird oder man sich in einer Freistunde hinbegeben kann um seine Ruhe zu haben.
"Er war so toll, wir haben die ganze Zeit getanzt.", schwärmte sie mir vor.
"Und dann hat er nach meiner Nummer gefragt."
Ich blickte Cath erstaunt an. Ich wusste, dass ihr Vater ein sehr netter und freundlicher Mann war und vor allem Caths Stil tolerierte. (Er wusste wie ihr Kleiderschrank aussah.) Doch ich war mir nicht sicher, wie er reagieren würde, wenn er herausbekam, dass sie sich mit einem, ich benutze jetzt mal die Worte „normalen Jungen“, obwohl mir diese Worte nicht gefallen, traf.
"Aber ich habe sie ihm nicht gegeben."
"Warum nicht?", fragte ich nach.
"Na weißt du, er war zwar süß und voll heiß, aber irgendwie hat er mich nicht angezogen. Ich war nicht wirklich von ihm fasziniert. Es muss irgendwie "Peng" machen und dann gebe ich auch jemanden meine Nummer."
Ich musste lachen. Wie Cath das Wort "Peng" aussprach und dabei ihr Gesicht verzog war einfach zu lustig. Cath wusste anscheinend worüber ich lachte und auch sie schmunzelte.
"Und wie war dein Wochenende?", fragte sie mich kurze Zeit später.
"Wie immer. Ich war zu Hause und habe ein bisschen für die Schule gearbeitet. Und ich bin endlich mit meinem Buch durch, wir müssen nachher in die Bibliothek und ein neues Ausleihen!"
Cath rollte mit den Augen. "Du und deine Bücher, J.J.!" 
Ich lächelte und erwiderte: "Du und deine Jungs, Cath!"
Cath lachte und so kamen wir endlich vor dem großen und edlen Gebäude an.Ich mochte es, es hatte etwas magisch Anziehendes. Die Räume und Flure hatten sehr hohe Decken, die verziert mit Säulen und Bildern waren. Und es gab unzählig viele Treppen. Wenn man sich nicht auskannte, würde man sich leicht verlaufen.

"Achtung, Zickenalarm", murmelte Cath und zog mich nach links.
Ich wollte gerade etwas erwidern, da hörte ich schon von rechts lautes Gekreische. Ich drehte mich um und erblickte eine große Schar Mädchen vor dem Eingang der Schule stehen. Sie umringten 5 gut aussehende Jungs, die lächelnd und charmant die Mädchen begrüßten.
Diese 5 Jungs waren die begehrtesten und best-aussehendsten Jungs der ganzen Schule, kurzum… die „Top Five“. Cath und ich hatten noch nie wirklich mit ihnen zu tun gehabt. Das lag vermutlich auch daran, dass sie ein Jahr älter waren als wir und man sich somit nur selten über den Weg lief. Andererseits würde sich Cath vermutlich auch ziemlich aufregen, hätten wir etwas miteinander zu tun. Warum… das wusste ich eigentlich gar nicht.
"Boah, ist das ätzend!", meckerte Cath. "Jetzt fangen die damit schon am frühen morgen an."
Ich schmunzelte.
"Ma Chérie", sagte Brian und gab dem Mädchen vor sich ein Kuss auf die Hand. Das Mädchen fiel fast in Ohnmacht und die anderen kreischten nur noch lauter.
"Hoffentlich haben die sich bis zum Unterricht wieder eingekriegt, sonst können wir die ganze Stunde uns anhören, wie toll Brian doch ist", rollte Cath mit den Augen.
Ich konnte einfach nicht anders, ich musste lachen. Auch Cath konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
In dem Moment schaute einer der 5 Jungs zu uns herüber. Unsere Blicke trafen sich. Mir fiel sein Name nicht ein, irgendwas mit „T“ am Anfang. Doch mir war es auch ehrlich gesagt egal. Ich wandte mich wieder Cath zu, die mich jetzt schon fast im Laufschritt hinter sich herzog. "Cath, ich bitte dich, zieh doch nicht so!"
"Tschuldige J.J., aber ich will hier schnellstmöglich weg!"
"Warum denn? Das machen die doch jeden Tag und trotzdem hast du dich bisher noch nicht so benommen. Es scheint fast, als rennst du vor ihnen weg."
"Ich renne überhaupt nicht vor ihnen weg. Ich renne vor den Zicken da weg. Denen solltest du nie in die Quere kommen."
"Warum?", fragte ich. Glücklicherweise hatte Cath ihr Tempo gedrosselt und so liefen wir jetzt einigermaßen normal durch die große Eingangshalle.
"Warum? Weil sie dich fertig machen, wenn sie herausbekommen, dass du was von den 5 willst."
"Ich will aber gar nichts von denen", erwiderte ich.
"Ich meine ja nur. Damit wollte ich doch nicht sagen, dass du was von denen willst! Damit wollte ich nur sagen, dass sie total die Zicken sind, wenn es um ihre 5 Schätze geht."
Ich sah sie verdutzt an.
"Was?", fragte sie mich.
"Nichts", lächelte ich. Damit bogen wir in den Korridor ein, der zu unserem Klassenzimmer führte.

 

Sein Blick wanderte über die Reihen der Mädchen, die aufgeregt und kreischend vor ihnen standen. Er musste grinsen. Jeden Tag dieses Kreischkonzert… und alles nur wegen ihnen. 
Irgendwie belustigte ihn das… es gefiel ihm sogar ein wenig. Er wusste genau, wie er sie rumkriegen konnte… Ein kleines Lächeln hier, ein Augenzwinkern dort und schon fielen sie scharenweise in Ohnmacht.
Und doch… irgendwie reichte ihm das nicht. Irgendwie sehnte er sich nach mehr. Nach jemanden, der ihn wirklich verstand, jemanden, der ihn mochte, weil er so war, wie er eben war und nicht wegen seines guten Aussehens. Doch würde er wohl diesen jemand nie unter dieser Schar antreffen.
Plötzlich blickte er auf. Im Nachhinein konnte er nicht einmal sagen, warum. Es war eine Art Drang, die ihn dazu zwang, den Blick zu heben.
Und als er aufsah, sah er sie. Sie war ihm vorher noch nie wirklich aufgefallen. Fasziniert blickte er in ihre Augen. Eigentlich vermutete er, sie würde den Blick senken, vor Scham rot anlaufen, doch das tat sie nicht. Ihr Blick beinhaltete weder Interesse, noch Bewunderung, noch sonst irgendein Gefühl, mit dem die Leute ihn meist ansahen. Ihr Ausdruck war normal, fast so als würde sie das Geschehen hier zur Kenntnis nehmen, aber sich damit nicht verbunden fühlen.
Sie senkte ihren Blick und teilte ihrer Freundin wieder ihre voll Aufmerksamkeit zu, die sie jetzt energisch hinter sich herzog.
Er blickte ihr noch lange hinterher… auch als sie schon längst im Gebäude verschwunden war.
Warum war sie ihm nie aufgefallen? Warum, in Gottes Namen, war sie ihm nie aufgefallen???

 

Die ersten vier Unterrichtsstunden verliefen relativ normal. Glücklicherweise unterhielt sich niemand in unserer Nähe über die "Top Five“. Cath hätte sonst wieder einen Riesenaufstand gemacht und die besagte Person angeschrieen und in ihrem Wortschatz „zur Sau gemacht“.
Als es endlich zur großen Pause klingelte, gingen Cath und ich in die Bibliothek. Da die meisten Mädchen in der großen Hofpause immer den Top 5 „hinterherjagten“, war es um diese Zeit immer relativ leer und so konnte man sich gut unterhalten.
Während ich also in den Regalen nach einem neuen Buch stöberte, fing Cath wieder mit dem Thema Jungs an. "Du solltest dir echt einen Freund zulegen, dann würdest du die meiste Zeit deines Lebens nicht hinter Büchern verbringen."
Ich lächelte, erwiderte jedoch nichts. Um ihre Aussage noch zu bestärken, zog ich einen gut 7oo Seiten Wälzer aus dem Regal und betrachtete ihn näher.
"Genau das meine ich", sagte Cath und zog mir das Buch aus der Hand.
"Hey!", sagte ich und versuchte das Buch wiederzubekommen, doch Cath schüttelte mich ab.
"Im Meer, zwei Jungen, von Jamie O'Neill", las Cath den Buchtitel. Sie sah mich mitleidig an und ich nahm ihr das Buch wieder aus der Hand.
"Du musst es ja auch nicht lesen", erwiderte ich und stellte das Buch wieder zurück ins Regal. Cath hatte mir so richtig die Lust verdorben und so ging ich schnurstracks Richtung Ausgang. Ich würde nachher noch einmal herkommen, wenn Cath auf dem Weg nach Hause war.
"Hey Süße, so war das doch nicht gemeint."
Ich drehte mich um und streckte ihr die Zunge raus. In diesem Moment prallte ich mit etwas zusammen. Besser gesagt mit jemanden. Ich blickte auf und sah in zwei tiefgrüne Augen, die mich anzulächeln schienen.
"Na Hoppla. Wir sind ja heute so stürmisch. Ach übrigens, hübsche Zunge", grinste er.
Ich nahm sie wieder in den Mund, denn durch den Schrecken des Aufpralls, hatte ich sie immer noch herausgestreckt. 
Ich machte mich von dem Jungen los und sah ihn an. Es war einer der Top 5, besser gesagt, derjenige, dessen Name mir vorhin nicht eingefallen war. 
Ich erwiderte nichts. Auch Cath stand da und bedachte mich mit einem Blick der wohl sagen sollte: ‚Hättest du nicht in jemand anderen reinrennen können?
"Das sollte eben eigentlich ein Kompliment gewesen sein."
"Was für ein Kompliment?", fragte ich. Irgendwie konnte ich ihm nicht ganz folgen.
"Na, dass du eine tolle Zunge hast. Ich würde zu gerne wissen, wie sie sich anfühlt", grinste er und kam langsam auf mich zu.
"Das kannst du gleich vergessen, Tristan!", stellte sich Cath zwischen ihm und mir. Ach ja, Tristan war sein Name, wie konnte ich das nur vergessen?!
"Komm, J.J.", wandte sich Cath an mich und zog mich an ihm vorbei, Richtung Ausgang.
"Tschau, J.J.", sagte er und lächelte.
Das ging Cath anscheint zu weit. "Und nur ich darf sie J.J. nennen, kapiert?!", schrie sie an und erntete damit einen empörten Blick der Bibliothekarin.
Wütend machte Cath kehrt und zerrte mich aus der Bibliothek. Irgendwie konnte ich so gar nicht verstehen, was eben gerade passiert war. 

 

"J.J." - endlich kannte er ihren Namen.
Er war eigentlich nur zufällig in die Bibliothek gegangen. Es machte immer einen guten Eindruck bei den Mädchen, wenn man zeigte, dass man sich auch für Literatur interessierte. Als er dann mit ihr zusammenstieß, war sein ganzes Vorhaben vergessen gewesen. Er wollte sich mit ihr unterhalten, wollte mehr von ihr erfahren. Er wusste nicht warum, aber irgendwie hatte er das Bedürfnis, sich mit ihr zu beschäftigen.
Wäre da nur nicht ihre komische Freundin gewesen. Hätte sie sich nicht dazwischengestellt, dann...
Aber immerhin kannte er jetzt ihren Namen. 

 

"Wie kann er es wagen, so mit dir umzugehen?!", meckerte Cath und zog mich weiterhin hinter sich her.
"Wie ist er denn mit mir umgegangen?", fragte ich verwirrt.
"Na hast du denn nicht mitbekommen, was er machen wollte?!", fragte Cath empört.
"Nein", erwiderte ich ernsthaft.
"Na er wollte dich küssen!!!"
Für einen kurzen Moment sah ich sie verdutzt an, dann fing ich an zu lachen. "Das hast du dir bestimmt nur eingebildet."
"Nein, habe ich nicht! Er hat doch gesagt: ‚Ich frage mich, wie sie sich anfühlt!’, oder so ähnlich. Damit meinte er, dass er dich küssen wollte."
"Du hast dich bestimmt verhört, Cath. Warum sollte er mich küssen wollen? Es gibt doch bestimmt mindestens hundert andere Mädchen, die ihm Tag für Tag hinterher rennen und nur darauf brennen, von ihm geküsst zu werden."
"Diese hundert anderen Mädchen sind aber nicht du." Cath blieb stehen und sah mich an. "Du bist wunderhübsch, intelligent, beliebt, nett, freundlich, hilfsbereit, verständnisvoll, in jeder Sportart machst du eine gute Figur und bist so unschuldig." Ich sah sie entgeistert an. "Das ist mein voller ernst. Die Leute hier nennen dich schon hinter deinem Rücken Maria."
"Maria?"
"Na du weißt schon, die heilige Jungfrau Maria. JUNGFRAU Maria. Jungfrau symbolisiert Unschuld und Reinheit, oder so ähnlich, deswegen nennen dich manche schon so."
"Ach hör schon auf", sagte ich und schüttelte den Kopf.
"Ich mein es ernst. Du bist das beliebteste Mädchen der gesamten Schule. Du wirst hundertprozentig nächstes Jahr zur Schülersprecherin gewählt und jeder Junge auf dieser Schule würde nur zu gerne mit dir gehen."
Ich sah sie an, als sei sie verrückt. "Ach komm schon, jetzt übertreibst du aber."
"Nein das tue ich nicht!" Cath bedachte mich mit so einem ernsten Gesichtsausdruck, dass sie mir schon fast Angst machte.
Ich lächelte. "Wir müssen zum Unterricht, Cath. Sonst kommen wir zu spät." Damit gab ich ihr einen Kuss auf die Stirn, der bei uns so viel hieß wie ‚Mach dir keine Sorgen, alles wird gut!’ und ging die Treppe runter. Cath folgte mir, mit wieder einigermaßen fröhlicher Stimmung.

"Soll ich noch bis zur nächsten Stunde mit dir warten?", fragte mich Cath, als die für sie letzte Stunde vorbei war. Am Montag hatte ich den Literaturklub und blieb somit zwei Stunden länger in der Schule als Cath.
"Nein, du kannst ruhig schon gehen." Ich wollte unbedingt noch mal in die Bibliothek und mich dann an meinen Lieblingsplatz setzen und noch ein bisschen lesen. Immerhin hatte ich eine halbe Stunde Zeit, bevor der Klub anfing.
"Na gut dann eben nicht" sagte Cath und drückte mir zum Abschied wieder zwei Schmatzer auf die Wangen. "Bis morgen, Süße."
"Bis morgen", lächelte ich.
Und kurze Zeit später verschwand sie hinter der Ecke. Ich machte mich währenddessen in genau die andere Richtung auf den Weg. Diesmal waren mehr Schüler in der Bibliothek, da einige die Zeit nutzen wollten und schon mal ein paar Hausaufgaben erledigten, bevor sie zu ihren Klubs gingen.
Ich schlenderte also durch die Regale und stöberte mal hier und mal da, während ich mir noch einmal das durch den Kopf gehen lies, was Cath vorhin zu mir gesagt hatte. Ob es wirklich stimmte, dass die Leute mich hinter meinem Rücken Maria nannten? Das konnte ich mir eigentlich nicht vorstellen, da ich immer dachte, dass dies ein Ausdruck sei, den nur normale Teenager benutzen. Cath hatte sich das vermutlich nur ausgedacht um mich zu ärgern.
Nach kurzer Zeit hatte ich ein Buch gefunden, das mich faszinierte und ich brachte es zur Leihgabe.
Die Bibliothekarin schien die Aktion von vorhin nicht vergessen zu haben, denn sie nahm mit verbissener Miene das Buch entgegen.
"Ähm, ich wollte mich vorhin für das Benehmen meiner Freundin entschuldigen. Es war echt nicht in Ordnung, dass sie hier so herumschrie", lächelte ich. Die Bibliothekarin sah mich kurz an und gab mir kurze Zeit später das Buch wieder. Diesmal aber mit freundlicherer Miene.
Ich freute mich schon insgeheim darauf an meinem Lieblingsplatz zu sitzen, mein Bento zu essen und in dem Buch zu lesen. Es war ein herrlicher Tag. Die Sonne strahlte, der Himmel war herrlich blau und mein Lieblingsplatz schien mir einladender als je zuvor. So setzte ich mich auf die Bank, die unter der großen Eiche stand und packte mein Bento aus.
Der Grund, warum dies der Ort war, an dem ich mich am liebsten aufhielt, war wohl der, dass hier so gut wie niemand vorbeikam und ich so ungestört meine Zeit verbringen konnte. Außerdem gab die Eiche genug Schatten, sodass es bei dieser Hitze angenehm kühl war.
Während ich also mein Bento aß und die ersten Seiten meines Buches las, kam in mir ein Gefühl der Zufriedenheit und Entspannung auf und ich vergaß um mich herum alles. So bemerkte ich anfangs nicht, dass Jemand vor mir stand. Erst als sich dieser Jemand räusperte, blickte ich auf.
Es war... Tristan. Ich sah ihn nur an und sagte nichts. Er lächelte und setzte sich neben mich.
"Hi, J.J."
"Hi", erwiderte ich, "Du weißt schon, dass mich nur meine Freundin so nennen darf?!"
Er blickte mich erstaunt an. Offenbar war das nicht die Reaktion, die er erwartet hatte. Doch es dauerte nicht lange und er lächelte erneut. "Du meinst die, die keine Manieren hat und in einer Bibliothek lauthals rumschreit?"
"Du kennst sie doch gar nicht. Cath hat Manieren, sie hatte heute bloß einen schlechten Tag", erwiderte ich.
"Hm, kann sein."
Er sah mich an. Ich war ein bisschen verwirrt über diese Unterhaltung und nahm wieder einen Bissen von meinem Bento. "Was ist das?", fragte Tristan und deutete auf die Box.
"Ein Bento", sagte ich und wandte mich wieder meinem Buch zu.
"Was ist ein Bento?", fragt er.
"Na, das da", sagte ich und deutete auf die Box, ohne den Blick von meinem Buch zu erheben.
Einen kurzen Augenblick sagte keiner ein Wort, dann fing er an zu lachen. Es war ein herzhaftes Lachen und irgendwie steckte es an. Ich lächelte und nahm einen weiteren Happen.
"Du siehst toll aus, wenn du lächelst", sagte Tristan wieder vollkommen ernst.
Ich wandte den Blick von meinem Buch und sah ihn an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mit Ausnahme von Cath und meinen Eltern vielleicht, hatte mir noch niemand so etwas direkt ins Gesicht gesagt. Musste ich mich jetzt bedanken?
Doch noch ehe ich etwas sagen konnte, erwiderte Tristan: "Warum bist du eigentlich allein?"
"Cath ist schon nach Hause gegangen. Sie hat heute schon Schulschluss. Ich habe aber noch Literaturklub und muss deswegen noch ein bisschen in der Schule bleiben."
"Mein Glück", lächelte Tristan. Ich sah ihn verwirrt an. "Weißt du, ich würde gerne da weitermachen, wo uns vorhin deine Freundin unterbrochen hat", sagte Tristan und kam näher.
"Wo uns vorhin meine Freundin unterbrochen hat?", fragte ich immer noch etwas verwirrt. Ich konnte ihm schon wieder nicht folgen.
"Na, ich würde zu gerne wissen, wie sich deine schöne Zunge anfühlt." Seine Nase traf auf meinen Hals, während er langsam mit seinem Kopf höher kam. "Mh, du riechst gut, J.J."
Seine Lippen näherten sich den meinen und auch ich konnte sein Parfum riechen. Es war männlich herb, hatte aber auch etwas Erfrischendes. Irgendwie gefiel mir der Duft.
Ich lächelte und wandte den Kopf ab. Tristan blickte mich verwirrt an, doch bevor er etwas erwidern konnte, klingelte schon die Schulglocke. Ich packte meine Sachen zusammen und verabschiedete mich von Tristan, der immer noch leicht verdutzt auf der Bank saß und mir hinterher starrte.

 

Er konnte sich einfach nicht beherrschen. Er wusste auch nicht warum. Noch nie hatte er sich so gefühlt, noch nie hatte er sich einem Mädchen so gegenüber verhalten.
Normalerweise war er derjenige, der die anderen verrückt machte. Doch bei ihr schien das irgendwie nicht zu wirken.
Jedes andere Mädchen hätte sich von ihm küssen lassen...
Jedes andere Mädchen hätte gewusst, dass er sie küssen wollte...
Jedes andere Mädchen hätte ihn nie hier sitzen lassen, nur weil die Schulglocke klingelte...
Jedes andere Mädchen...
Nur sie nicht. Und das war es, was ihn an ihr so faszinierte. Dieses undurchschaubare... dieses individuelle... Nie tat sie das, was er dachte sie würde es tun... Nie sagte sie das, von dem er glaubte sie würde es sagen...
Alle seine bisherigen Tätigkeiten Mädchen um den Finger zu wickeln, waren bei ihr wirkungslos. Und das war das faszinierende an ihr.
Er fasste einen Entschluss... einen Entschluss, der seine ganze Energie und Zeit in Anspruch nehmen würde... doch das war es Wert: Es war ein Spiel. Das Spiel hieß Verführen... und er wollte es unbedingt gewinnen.

 

Das Telefon klingelte und ich nahm ab. "Hallo, hier bei Jacksen."
"Hi Süße, ich bin's!"
"Hi Cath! Ich bin eben gerade nach Hause gekommen. Was gibt's?", fragte ich, während ich meine Schuluniform auszog und gegen Alltagskleidung umtauschte.
"Ich wollte dich fragen, ob du mit in die Stadt kommst, ein bisschen shoppen."
"Jetzt noch?", fragte ich entgeistert, während ich in meine Hose stieg.
"Wieso? Ist doch gerade erst um 4."
"Na gut."
"Ich hol dich ab, bin in einer halben Stunde bei dir. Ach und, J.J.?"
"Ja?"
"Lass dein Buch zu Hause!" Mit diesen Worten legte sie auf.
Ich schmunzelte. Obwohl ich gerne las, hatte ich bislang noch nie eins mit zu den Treffen von Cath und mir mitgenommen. Damit lies sie wohl durchblicken, dass sie wusste, dass ich vorhin noch in der Bibliothek war, anstatt mit ihr ein bisschen Zeit zu verbringen. Eine halbe Stunde später stand sie pünktlich vor unserem Haus. Und sie sah wie immer einfach klasse aus. So machten wir uns auf den Weg zur Shoppingmeile. Diese Meile war in unserer Stadt sehr berühmt und beliebt und jeden Tag tummelten dort viele Menschen umher. Cath ließ sich aber durch diese Menschenmasse nicht irritieren. Sie zog mich von einem Laden in den nächsten und probierte hunderte von Klamotten an. Auch ich fand einige, die ich anprobieren konnte und so erlebten wir beide einen fröhlichen Nachmittag „à la beste Freundin“.
Als unser Shoppingwahn sich dem Ende neigte und wir schon beide völlig kaputt und vollbepackt mit Tüten an einem kleinen Café vorbeikamen, konnte Cath nicht umhin sich noch einen großen Eisbecher zu bestellen, den wir uns wie üblich teilten. Um ehrlich zu sein teilten wir uns so gut wie alles. Mit Ausnahme vielleicht die Jungs, aber da weder Cath noch ich eine richtige Beziehung gehabt hatten, war dieses Thema also auch geklärt.
"Kuck mal, der Typ da hinten sieht doch ganz schnuckelig aus", sagte Cath und deutete mit ihrem Löffel auf einen Jungen, der ein paar Tische weiter saß. Ich drehte mich zu ihm um und betrachtete ihn. Mich sprach er nicht an, aber Cath Geschmack schien er voll und ganz zu treffen.
Um sie ein wenig aufzuziehen, fragte ich: "Und, macht es PENG?" Dabei verzog ich das Gesicht genau so, wie sie es heute Morgen gemacht hat.
Sie knuffte mich in den linken Arm und wir fingen beide an zu lachen. "Es muss nicht immer Peng machen. Ich meinte ja nur, dass es das muss, damit ich ihm meine Nummer gebe. Aber ich kann doch trotzdem jemanden toll finden, ohne dass es Peng macht."
"Also wirst du ihm nicht deine Nummer geben?", fragte ich immer noch schmunzelnd.
"Nö. Der Typ hat mich noch nicht einmal bemerkt", sagte sie und wandte den Blick von dem Jungen.
"Soll ich zu ihm hingehen und ihm sagen, dass er dich gefälligst zu beachten hat?", fragte ich scherzend.
Cath grinste und erwiderte: "Pass bloß auf, sonst gehe ich zu dem Opa da hinten und sag ihm, dass du voll auf ihn stehst."
Ich sah ihn mir an und sagte: "Na, der hat doch was!"

Ich war überglücklich, als ich wieder zu Hause war. Vollkommen k.o. warf ich meine Tüten in eine Ecke und ließ mich auf die große Couch in unserem Salon fallen. Mein Vater war noch auf Arbeit - manchmal arbeitete er bis in die Nacht hinein -, doch meine Mutter leistete mir kurze Zeit später Gesellschaft. "Na, wie war dein Tag, mein Schatz?"
"Herrlich... anstrengend", sagte ich, während ich ihr Platz machte, damit sie sich setzen konnte.
"Warum denn?"
"Na ja, ich war mit Cath shoppen. Du weißt doch wie das ist. In jeden Laden ist sie reingegangen. Ich bin fix und fertig!"
"Aber es scheint auch Spaß gemacht zu haben.", und mit diesen Worten zog sie meine Tüten zu sich heran. "Modenschau", lächelte meine Mutter und holte die Klamotten heraus.
Ich war sofort hellwach. Glücklicherweise hatten meine Mutter und ich dieselbe Konfektionsgröße und so machten wir immer eine kleine Modenschau, ganz gleich, wer einkaufen war. Es machte einfach unheimlich viel Spaß die Sachen anzuziehen und zu überprüfen, wem sie besser stand. Ich vergaß sogar, dass ich noch vor ein paar Minuten müde gewesen war.
Als wir gerade mittendrin in unserer Schau waren, sprang Sakura, unser Golden Retriever, auf und rannte zur Eingangstür, in der gerade mein Vater erschien. Er sah mich und meine Mum an und sagte dann: "Alles klar, ich habt wieder eure Phasen." Damit verschwand er in seinem Arbeitszimmer.
"Ja Schatz, die haben wir!", rief ihm meine Mutter hinterher, "Und in einer Viertelstunde gibt es Abendbrot also fang erst gar nicht wieder an zu arbeiten!"

Um 22 Uhr ging ich zu Bett. Ich hatte mit meinen Eltern noch ein bisschen ferngesehen und wir haben uns über unseren Tag unterhalten. Das war so eine Art Ritual bei uns. Doch nun war ich müde und wollte einfach nur noch schlafen. Ich stellte meinen Wecker wieder auf um 6 und nahm noch einmal mein Buch zur Hand. Jedoch war ich so müde, dass ich gerade mal eine halbe Seite schaffte und es dann wieder zur Seite lag. Ich ging noch einmal kurz durch, was ich heute erlebt hatte und stellte letztendlich fest: „Es war ein Tag wie jeder andere.“ 
 
 


 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Missverständnisse, Wiedergutmachungen und Spielereien

"Herzlichen Glückwunsch!", sprach uns jemand am nächsten Morgen in der Schule an. Cath und ich blickten auf. Es war Isabelle, die freudestrahlend vor uns stand. "Mensch, ich bin richtig eifersüchtig." Sie zwinkerte.
Cath und ich sahen sie leicht verwundert an.
"Na, ich will euch nicht aufhalten. Man sieht sich!", und mit diesen Worten ließ sie uns stehen.
Cath sah mich verdutzt an. "Was sollte das eben gerade heißen, ‚Herzlichen Glückwunsch!’?"
"Ich weiß nicht."
"Hab ich was verpasst?"
Ich antwortete nichts. Auch ich hatte nicht ganz verstanden, was Isabelle sagen wollte.
Doch nicht nur Isabelle verhielt sich heute merkwürdig.
Zu ihr gesellten sich noch gut ein Dutzend anderer Schüler, die ebenfalls nicht mehr verrieten, als sie.
"So etwas hätte ich echt nicht von dir gedacht", sagte ein Mädchen, die ich aus meinem Literaturklub kannte, und lief leicht rosa an.
"Ich hatte schon immer gewusst, dass das irgendwann einmal passiert", sagte ein Junge, den ich ehrlich gesagt, überhaupt nicht kannte.
"Mensch, der hat aber auch ein Glück!“, sagte Michael, der sich schon öfters mit mir treffen wollte, Cath dies jedoch aber immer wieder vereitelt hatte. Eigentlich fand ich ihn ja ganz nett, deswegen verstand ich nicht, was Cath gegen ihn hatte…
"Alles klar!", antwortete sie ihm mit einem leichten Sarkasmus, "Hätte mich jetzt auch echt überrascht, wenn du Klartext gesprochen hättest!"
"Ach komm schon Catherine. Erzähl mir doch nicht, dass dir Julia von nichts etwas gesagt hat", lachte er.
"Von was hat sie mir denn nichts gesagt? Wenn ich es wüsste, würde ich schließlich nicht nachfragen."
Michael sah mich an: "Du hast ihr nichts davon erzählt?"
"Wovon denn?", fragte ich. Ich konnte ihm nicht folgen und Cath erst recht nicht.
Michael musste lachen. "Ich verstehe schon, du willst es lieber geheim halten. Aber da muss ich dich leider enttäuschen. Mittlerweile dürfte die ganze Schule Bescheid wissen."
"Wovon Bescheid wissen?", fragte Cath genervt und auch ich sah ihn fragend an.
Einen kurzen Augenblick bedachte er und mit einem Blick, als glaubte er, dass wir Scherze mit ihm machten. Dann wurde seine Miene ernst und er fragte entgeistert: "Ich wisst es wirklich nicht? Dabei handelt es sich doch um dich, Julia."
"Was meinst du?", fragte ich ihn.
"Na, dass du mit Tristan zusammen bist. Ihr beide wurdet gestern dabei beobachtet, wie ihr euch geküsst habt."

"Cath!", rief ich ihr hinterher, während sie stürmisch über den Weg Richtung Park lief.
"Ich kann es nicht glauben!", schrie sie. "Mein beste Freundin! Meine eigene beste Freundin tut mir so etwas an!" Wutentbrannt lief sie vor mir her. Ich hatte mühe Schritt zu halten.
"Was meinst du, Cath?", fragte ich sie, doch sie überhörte mich.
"Da kennt man sich sein ganzes Leben, teilt alles miteinander und dann so etwas." Mir war überhaupt nicht klar, worüber sie sich so aufregte. "Gestern waren wir shoppen, Eis essen, aber nein, Madame erzählt ja nichts davon."
"Wovon denn?"
"Davon, dass du jetzt einen „Freund“ hast!" Sie blieb stehen und sah mir tief in die Augen.
"Wer hat das denn gesagt?", fragte ich irritiert.
"Michael, Isabelle, die ganze Schule, was weiß ich schon? Mir erzählt schließlich niemand etwas."
"Doch, ich erzähle dir immer alles."
"Ach ja? Korrigier mich, wenn ich falsch liege... Dann scheinst du also nur „vergessen“ zu haben, was gestern zwischen dir und Tristan vorgefallen ist, nachdem ich weg war?!"
"Was ist denn zwischen uns vorgefallen?"
"Na, dass ihr euch geküsst habt!", schrie Cath.
"Geküsst? Wie kommst du denn darauf?"
"Wie ich darauf komme? Weil die ganze Schule davon spricht, darum."
"Aber ich habe Tristan nicht geküsst."
Cath hielt in ihrer Rage, wild im Kreis zu laufen, inne und sah mich an "Wie bitte? Wiederhol das noch einmal!"
"Aber ich habe Tristan nicht geküsst."
"Nicht geküsst?"
"Nein. Du weißt doch ganz genau, ich würde es dir doch erzählen, wenn so etwas vorgefallen wäre."
"Und warum behaupten das dann alle?"
"Ich weiß nicht. Vielleicht hatte derjenige, der das angeblich gesehen hat einen schlechten Standpunkt und hat es deswegen für einen Kuss gehalten. Ich meine, immerhin saß Tristan neben mir auf der Bank und wir haben uns unterhalten."
"Er saß neben dir auf der Bank?", fragte sie empört. Ich nickte. "Und worüber habt ihr euch unterhalten?"
"Na, er hat mich gefragt, warum ich alleine war und was ein Bento sei."
"Was ein Bento sei?", fragte sie verwirrt.
"Na, Joanne hatte mir gestern wieder eins gemacht und ich hatte es, während ich dort saß, gegessen."
"Und sonst hat er nichts gemacht? Er saß nur neben dir und hat gefragt, warum du alleine warst und was ein Bento sei?"
"Na ja, und dann meinte er, dass er da weitermachen wolle, wo du uns letztens unterbrochen hattest." Cath sah mich mit offenem Mund an. "Ach ja, und er sagte, dass ich gut rieche", lächelte ich.
"Dass du gut riechst? Woher wusste er das?"
"Na, weil er mit seiner Nase an meinen Hals kam."
"Er kam mit seiner Nase an deinen Hals?", fragte sie empört.
"Ja. Was ist denn daran so schlimm?"
"Was daran so schlimm ist, fragst du?! Schlimm ist, dass er dir so nahe kam. Schlimm ist, dass er dich so behandelt hat. Schlimm ist, dass er dich küssen wollte!"
„Aber er hat es ja nicht getan, also hör bitte auf, dich so aufzuregen.“
Doch sie überging mich. "Wenn ich den in die Finger bekomme, dann kann der was erleben, das schwöre ich! Wenn er glaubt einfach so mit meiner J.J. umgehen zu können, nur weil ihm hunderte von Mädchen hinterher rennen, dann irrt er sich gewaltig."
Cath Reaktion überraschte mich. Ich wollte nicht, dass sie sich meinetwegen so sehr aufregte. Ich wollte es auch nicht, dass sie sich generell aufregte. Also sagte ich: "Cath, soll ich heute zu dir kommen? Dann können wir eine kleine Modenschau machen und ich verspreche auch, dass du mich stylen darfst."
"Echt?", fragte sie mich und hatte sofort ihren Ärger auf Tristan vergessen. Ich wusste, wie ich sie aufmuntern konnte. Ich nickte und sie umarmte mich. "Super! Ich kann es schon jetzt kaum erwarten."
Und damit zerrte sie mich wieder Richtung Schulgebäude. Es schien fast so, als hätte das eben geführte Gespräch nicht stattgefunden.

"Du siehst so heiß aus", sagte Cath und begutachtete ihr Werk. Um genauer zu sein, begutachtete sie mich.
Es war halb vier Uhr Nachmittags und wir waren in ihrem Zimmer. Überall lagen Klamotten, die Cath entweder schon vorher aussortiert hatte oder sich erst dazugesellt hatten, nachdem sie Cath wieder von meinem Körper gerissen hatte. Gut eine Stunde hatte das Anziehen, Ausziehen, wieder Anziehen, Schminken, wieder Ausziehen, was neues probieren gedauert. Doch jetzt endlich war sie fertig und ich musste zugeben es sah nicht schlecht aus. Obwohl ich nicht auf den Stil von Cath stand und mich auch nur ungern schminkte, fand ich trotzdem, dass es mir stand.
"So, und jetzt gehen wir shoppen", sagte Cath und stieg über einen besonders großen Stapel von T-Shirts.
"Wie bitte? Wir waren doch gestern erst shoppen." Obwohl mir mein Outfit gefiel, wollte ich dennoch nicht so auf die Straße gehen. Ich hatte noch nie einen so kurzen Rock angehabt und wenn mich Bekannte so sehen würden...
Nix da, keine Widerrede! Wir waren gestern nur in der Shoppingmeile... Heute will ich zur Shoppinghall." Und mit diesen Worten zog sie mich aus ihrem Zimmer.

Endlos liefen wir durch das riesige Einkaufszentrum in unserer Stadt. Cath stöberte mal hier und mal dort. Während sie so ihrem Shoppingwahn verfiel, blickte ich mich um. Ich war mir sicher, dass einige Leute sich über Cath und mich unterhielten. Der Grund waren wohl unsere auffallenden Klamotten, die jedoch, soweit ich das einschätzen konnte, keine Empörung hervorriefen. Es schien eher so, als billigten sie es und sogar ein paar Jungs hatten uns schon hinterher gesehen, was Cath natürlich super fand.
"Hast du den Typen gesehen, der eben gerade an uns vorbeigelaufen war?"
"Nein, warum?", fragte ich und drehte mich um.
"Nicht umdrehen, Süße, sonst glaubt er noch, dass du auf ihn stehst."
"Wie kommst du denn darauf?", fragte ich sie verwirrt.
"J.J., ich kenne mich mit Jungs hundertprozentig besser aus als du. Wenn sich ein Mädchen nach einem Jungen umdreht, dann heißt das, dass sie ihn interessant findet."
"Und wie kommst du darauf?"
"Ist eine erwiesene Tatsache. Oh, schau mal da müssen wir rein!", kreischte sie und zog mich in eine große Boutique, deren Name <H&M> lautete. Von diesem Geschäft hatte ich bislang noch nie etwas gehört.
"Cath, bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?"
"Natürlich! Das ist einfach mal ein geiler Laden. Aber du kennst ihn nicht, weil du ja erstens nicht so viel shoppen gehst und zweitens er einer der „normalen“ Läden ist." Und mit diesen Worten ließ sie mich stehen und stürzte sich in das Getümmel.
Ich blickte mich um und um ehrlich zu sein, gefielen mir einige der Oberteile sehr gut. Gerade wollte ich ein sehr kurzes Oberteil mit tiefem Ausschnitt, dass auf einem Bügel hing, beiseite schieben, als eine Person von hinten ganz dicht an mich herantrat, seinen Kopf zu mir herunterbeugte und flüsterte: "Ich würde zu gerne wissen, wie du in diesem heißen Oberteil aussiehst. Ziehst du es für mich an, J.J.?"
Ich wandte meinen Kopf schräg nach oben und blickte in Tristans tiefgrüne Augen. Er lächelte und stützte sich mit der linken Hand am Kleiderständer ab, während er mit seinem Gesicht immer noch beträchtlich nah an meinem war. Ich lächelte.
"Ist das etwa ein Ja?", fragte er.
"Ein Ja wofür?"
"Dafür, dass du das kurze Oberteil mit dem weiten Ausschnitt für mich anziehst. Aber um ehrlich zu sein, siehst du auch jetzt schon extrem heiß aus." Und damit blickte er an mich herunter. "Hast du dich etwa für mich so hübsch gemacht? Das wäre doch nicht nötig gewesen."
"Nein. Meine Freundin Cath hat das gemacht. Eigentlich wollte ich ja so nicht auf die Straße gehen, aber sie hat es verlangt und ich habe ihr nun mal diesen Gefallen getan."
Na dann muss ich mich wohl nachher bei ihr bedanken. Sie hat mir den Tag versüßt." Er lächelte. "Jetzt sind wir schon das dritte Mal alleine."
"Na so richtig alleine sind wir ja nicht. Überall laufen ja Menschen rum", korrigierte ich ihn.
"Ich meinte damit, dass deine Freundin nicht da ist."
"Oh, Cath ist bestimmt irgendwo da hinten."
"Und ich hoffe, dass sie da auch noch eine Weile bleibt." Und mit diesem Satz kam er meinem Gesicht näher. Seine Hand fasste sanft unter mein Kinn und schob somit mein Gesicht immer mehr an seines. Ich konnte seinen warmen Atem auf meiner Haut spüren. Es kribbelte, doch es war angenehm. Tristan war nur noch Zentimeter von meinen Lippen entfernt.
"Wag es ja nicht J.J. zu küssen!"
Ich wandte mich von Tristan ab und sah in Caths zornentbranntes Gesicht.
"Hallo", lächelte Tristan.
Doch dadurch ließ sich Cath nicht beirren. "Lass gefälligst deine Finger von ihr!" Sie nahm meinen Arm und zog mich zu sich.
Und wenn nicht?"
Cath funkelte ihn an. "Was willst du eigentlich von ihr? Alle in der Schule reden schon über euch, nur weil du dich nicht im Zaum halten kannst. Es laufen dir doch hunderte von Mädchen hinterher also lass gefälligst J.J. in Ruhe!"
"Diese Mädchen sind aber nicht J.J.! Aber warum nimmst du sie eigentlich in Schutz. Vielleicht gefällt ihr sogar das, was ich mit ihr mache."
WOAMM
Cath hatte Tristan eine Ohrfeige verpasst. Er fasste sich an seine rote Wange und sah sie entgeistert an.
"Wag es ja nicht, so über J.J. zu reden. Du kennst sie nicht, denn sonst würdest du wissen, dass sie nicht eine der Mädchen ist, die olles Machogehabe toll findet. Geh doch zurück zu deinen bescheuerten Top 5 und lass uns in Ruhe. Du bist doch mit denen eh nur zusammen, weil sich sonst wohl kaum ein Mädchen mit dir abgeben würde."
Das hatte gesessen. Sogar noch mehr, als die Ohrfeige. Cath machte kehrt und zerrte mich aus dem Laden. Ich blickte Tristan noch kurz hinterher. Irgendwie tat er mir leid.
„Cath, glaubst du nicht, dass du dich entschuldigen solltest?“
„Nein“, antwortete sie knapp.
„Aber das war nicht nett.“
„Mir doch egal.“ Sie zog mich immer noch wütend hinter sich her.
„Aber so kenne ich dich gar nicht. Wieso bist du nur so aufbrausend?
„Wieso? Ich sag dir wieso.“ Jetzt blieb sie stehen und drehte sich zu mir um. „Weil ich nicht will, dass du als sein Bettvorleger endest… darum.“
Perplex starrte ich sie an. Was redete sie da nur? Was für ein Bettvorleger?
„Ich kenne mich mit Jungs ganz gut aus, J.J.! Sie alle wollen nur das eine, vor allem diejenigen, die gut aussehen, und die Hunderte haben können. Tja und welch eine Überraschung. In diese Kategorie fällt zufälligerweise auch Tristan.“
Ich wartete. Bislang hatte ich immer noch keine Ahnung worauf sie hinaus wollte.
„Wenn er dir jemals wieder so nahe kommen sollte, dann schrei. Schlag oder tritt ihn von mir aus auch. Würde ihm jedenfalls recht geschehen! Aber sitz nicht einfach nur da und lass dich von ihm benutzen und mit dir spielen! Dazu bist du zu schade.“ Sie sah mich flehend an. „Versprich mir, dass du dich von ihm fern hältst!“
„Aber…“
„Versprich es mir!“ Sie sah mir tief in die Augen. Ich konnte einfach nicht anders.
„Ich verspreche es.“

 

Er hatte sie fast gehabt. Er hatte sie fast soweit gehabt. Nur ein paar Sekunden später und er hätte sie geküsst. Hätte diese verdammte Cath nicht ein wenig später dazwischenfunken können?! Hätte sie sich nicht noch ein paar Augenblicke länger an irgendeinem Kleiderständer verwalten können?! Es machte ihn fast rasend. Er kannte dieses Verhalten von sich nicht. Noch nie wollte er ein Mädchen so sehr, wie sie. Noch nie wollte er ein Mädchen so oft küssen, wie sie. Noch nie musste er sich so bemühen! Warum? Warum in Gottes Namen ging sie ihm nicht aus dem Kopf? War sie nicht ein Mädchen wie jedes andere auch? Warum also konnte er nicht von ihr ablassen? 

Falscher Romeo

Am nächsten Tag hatte ich erste Stunde Englisch bei Mrs. Megow. Als ich den Raum betrat und mich an meinen Pult setzte, bemerkte ich, dass dort ein Zettel lag. Ich sah mich im Raum um, doch niemand machte Anzeichen, dass der Zettel von einen von ihnen stammen könnte.
Verwundert öffnete ich ihn und las: "Hi Julia, muss dich dringend sehen! Heute, nach der achten Stunde am Pool. Romeo"
Von Romeo? Wer war Romeo? Ich kannte keinen Romeo, außer Romeo aus "Romeo und Julia" von William Shakespeare. Aber da ich mir sicher war, dass dieser Romeo nicht einfach aus seiner Geschichte herausspringen konnte, um sich mit mir zu treffen, wusste ich auch nicht, wer damit gemeint sein könnte. Vielleicht erlaubte sich jemand einen kleinen Scherz mit meinen Namen?!
>>Am besten ist es, wenn ich einfach hingehe, dann weiß ich, wer Romeo ist. Außerdem scheint er etwas Wichtiges mit mir besprechen zu wollen<<, dachte ich mir.
Ich blickte auf und sah Cath' Rücken, die zwei Reihen schräg vor mir saß und sich mit Amanda unterhielt. Nein, ihr durfte ich nichts sagen. Sie würde vermutlich mitkommen wollen und ihm dann eine Predigt halten. Ich steckte den Zettel in die Tasche und holte meine Sachen aus der Tasche heraus.
Den ganzen Tag wich Cath nicht von meiner Seite und blickte jeden böse an, der sich auch nur in unsere Nähe traute… hauptsächlich Jungs. Wohin ich auch ging, sie folgte mir auf Schritt und Tritt. Selbst als ich für eine halbe Stunde in die Bibliothek ging, in der Hoffnung wenigstens so ein bisschen Abstand zu bekommen, ließ sie nicht locker und stand stumm neben mir, während ich durch die Regale schlenderte. Sie beschwerte sich nicht einmal, was mich überraschte. Wie konnte ich also zum Pool gehen, ohne dass Cath mitkam, geschweige denn etwas davon erfuhr?
Glücklicherweise spielte Mr. Sauer mit und war heute krank. Dementsprechend fiel für Cath die siebte und achte Stunde aus. Doch freuen schien sie sich darüber nicht so wirklich.
„Soll ich auf dich warten?“ Insgeheim hoffte sie, dass ich ja sagte, das merkte ich an ihrem Gesichtsausdruck.
„Das musst du nicht“, lächelte ich.
„Aber wenn du willst…“, fügte sie hinzu.
„Cath. Du hast zwei Stunden früher Schluss und willst wegen mir warten? Nein. Geh ruhig nach Hause. Ich komm auch ohne dich die zwei Stunden zurecht.“
„Sicher?“
„Sicher.“
„Und du triffst dich nicht mit Tristan?“
„Ich treffe mich nicht mit Tristan.“
Cath lächelte. „Also dann bis morgen, Süße“, sagte sie, gab mir ein Küsschen und verschwand dann.

 

Er lehnte sich an einen Baum und genoss die Kühle des Schattens. Er hatte eine gute Stunde Zeit, dann würde er sich wieder mit seinen Freunden treffen. Jeden Dienstag wartete er auf sie, denn sie hatten eine Stunde länger Unterricht, als er.
Plötzlich hörte er Schritte. Er blickte auf und sah zu seiner großen Freude J.J. Na, wenn das kein Zufall war, dachte er und stemmte sich vom Baum ab. Eine kleine Ablenkung um die Zeit zu überbrücken, konnte nicht schaden.

 

Ich ging gerade einen Weg, der gesäumt von hohen Eichen war, entlang, als mir Tristan grinsend entgegenkam. Eigentlich wollte ich ihn ignorieren, wie ich es Cath versprochen hatte, doch dann fiel mir wieder ein, wie sie ihn gestern behandelt hatte. Wenigstens entschuldigen sollte ich mich noch.
„Hi J.J.“, lächelte Tristan und blieb direkt vor mir stehen.
„Hi“, sagte ich und blickte auf. Sein Gesicht war schwer zu erkennen, denn die Sonne stand direkt hinter ihm.
„Ich kann mir nicht helfen, aber in letzter Zeit scheinen wir uns magisch anzuziehen.“ Ich erwiderte nichts. „Weißt du… ich hab mich ein bisschen informiert.“
„Informiert?“, fragte ich nach. Ich verstand ihn nicht.
„Über Bentos“, fügte er hinzu. Ich versuchte immer noch seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Lächelte er? Ich konnte es nicht genau erkennen, denn die Sonne blendete mich. „Es heißt, dass wenn ein Mädchen ein Bento für einen Jungen macht, dann mag sie ihn.“ Ich nickte, sagte jedoch nichts. Mir war diese Gestik durchaus bekannt.
Trotzdem konnte ich ihm nicht folgen. Immerhin hatte er mir noch nicht genau sagt, worauf er hinaus wollte.
„Und da dachte ich mir, du würdest mir vielleicht eines machen.“ Er grinste. Ich war mir sicher, dass er grinste. Ich hatte es in letzter Zeit so oft gesehen, dass ich mich gar nicht irren konnte.
„O.k.“, lächelte ich.
„Echt jetzt?“, fragte er und schien für einen Moment perplex zu sein. „Du machst mir ein Bento?“
„Ja“, nickte ich. „Ich frage Joanne, ob sie dir auch eines macht. Aber ich denke, darin liegt kein Problem.“ Ich wollte an ihm vorbei, doch er machte einen Schritt zur Seite und versperrte mir erneut den Weg. Ich sah ihn an.
„Nein, nein, du hast mich falsch verstanden. Ich will, dass DU mir ein Bento machst!“
„Ich? Aber ich habe noch nie eines selbst gemacht. Ich glaube wirklich, dass es besser wäre, wenn…“
„Das ist mir egal. Auch wenn es schrecklich schmeckt, was ich nicht glaube… ich werde es trotzdem essen“, grinste er.
Einen Moment sagte ich nichts, sondern sah ihn nur verwundert an. Was machte das für einen Unterschied, ob Joanne oder ich dieses Bento machte, mit der Ausnahme, dass meines vermutlich nicht so gut schmecken würde?! Doch dann stimmte ich zu: „O.k. Ich versuche es.“
Tristan grinste und noch bevor ich irgendetwas anderes machen konnte, hatte er mich sanft zu einem Baum gezogen und sich über mich gebeugt. Mit dem Rücken am Stamm und der Sonne im Nacken, konnte ich seinen Gesichtsausdruck endlich genau erkennen. Er grinste. Genau so, wie er es immer tat. Sein Gesicht näherte sich erneut dem meinen. Ich sah in seine grünen Augen. Sie waren so tief und gleichzeitig strömten sie eine gewisse Wärme aus. Es hatte etwas beruhigendes sie anzusehen. Seine Nase traf wieder meinen Hals und wanderte sanft höher.
„Du bringst mich um den Verstand, J.J.“, flüsterte er. Seine Lippen waren kurz davor die meinigen zu treffen. Ich drehte meinen Kopf leicht zur Seite.
Einen kurzen Augenblick sah Tristan mich nur verwundert an, dann änderte sich seine Laune schlagartig. „Was soll das?“, fragte er wütend. Ich zuckte zusammen. Noch nie hatte ich ihn so schreien gehört. „Warum in Gottes Namen, willst du dich nicht küssen lassen? Ist es wegen Cath? Oder bin ich dir etwa nicht gut genug? Ist es das? Fühlst du dich zu fein, dich von jemanden wie mir küssen zu lassen?“ Er trat einen Schritt zur Seite und schlug mit der Faust zornentbrannt gegen den nächsten Stamm.
Ich erschrak. Irgendwie machte mir Tristan Angst. „Entschuldige mich bitte“, lächelte ich vorsichtig. „Aber ich muss jetzt zum Pool.“ Damit machte ich einen Schritt vorwärts.
„Was willst du denn am Pool?“, fragte er wieder etwas ruhiger.
Erfreut darüber, dass er anscheinend nicht mehr sauer war, antwortete ich lächelnd: „Ich treffe mich dort mit Romeo.“ Damit wandte ich mich ab und ging meinen Weg fort.
Ich blickte mich nicht um. Somit entging mir, dass mir Tristan mit einem erschrockenen und zugleich traurigen Gesichtsausdruck hinterher sah.

 

Er war zu weit gegangen. Er war definitiv zu weit gegangen. Für einen kurzen Augenblick hatte er gesehen, dass sie Angst hatte. Und dieser Anblick hatte ihm selber wehgetan. Dieser Anblick hatte ihn wieder einigermaßen beruhigen lassen. Doch dieser Anblick tat nicht so weh, wie die Tatsache, dass sie sich mit jemand anderen traf. Mit Romeo.
Wer war er? Er kannte niemanden an dieser Schule, der so hieß.
Nannte sie ihn etwa selbst so? War sie etwa vergeben? War das der Grund, warum sie ihn nicht küssen wollte? Hatte sie einen Freund und aufgrund ihres Namens, nannte sie ihn Romeo? Romeo und Julia.
Ein Bild tauchte in seinem Kopf auf. Ein Junge, der J.J. küsste. Wie sie ihn anlächelte, mit einem Glitzern in den Augen…
Ein kleiner Stich fuhr durch seine Brust. Dieses Lächeln galt nicht ihm. Dieses Lächeln würde vermutlich nie ihm gehören, obwohl er sich so sehr danach sehnte.
Er musste ihr hinterher. Er musste unbedingt wissen, wer dieser Romeo war. Er wollte nicht, dass sie jemand anderen so ansah… jemand anderen als ihn.
Doch, warum? Warum ließ sie ihn nicht los? Warum konnte er nicht anders? Warum begehrte er sie so sehr?

 

Der Pool war leer. Niemand war da.
War ich etwa zu früh? Eigentlich dachte ich, dass ich zu spät kommen würde, nachdem Tristan mich aufgehalten hatte. Doch anscheinend würde sich auch Romeo verspäten.
Romeo… wer mochte das wohl sein? Und was wollte er so dringend mit mir besprechen?
Es war heiß, die Sonne brannte erbarmungslos. Ich kniete mich an den Beckenrand und ließ meine Hände im Wasser gleiten. Es war angenehm kühl. Vielleicht hätte ich mir Schwimmsachen mitnehmen sollen, dann hätte ich noch ein paar Runden schwimmen können.
Plötzlich wurde mein Kopf von hinten gepackt und unter Wasser gestoßen. Durch den Schreck war alle Luft aus meiner Lunge gepresst worden. Ich kniff meine Augen zusammen, schüttelte heftig meinen Kopf, um mich von der Hand zu befreien, die meinen Kopf ins Wasser drückte. Doch die Hand war stärker.
Ruckartig wurde mein Kopf in die Höhe gezogen. Keuchend schnappte ich nach Luft. Wasser lief mir am ganzen Körper herunter. Ich zitterte.
Noch bevor ich irgendetwas erkennen konnte, wurde mein Kopf erneut ins Wasser gepresst. Diesmal war ich vorbereiteter und schnappte kurz vorher noch ein wenig Luft in meine Lunge.
Wer war das? Und warum tat derjenige das? War es Romeo? Hatte er nicht geschrieben, dass er nur mit mir reden wollte? Ich konnte kaum einen Gedanken fassen. Mein ganzer Kopf schrie nach Luft.
Erneut zog man mich an den Haaren aus dem Wasser. Luft strömte rasch in meine Lunge und wurde schnell durch neue ersetzt. Ich öffnete die Augen, doch die Sonne machte mich fast blind. Ich konnte nur kurz schemenhafte Umrisse erkennen, bevor mein Kopf ein drittes Mal im Wasser war.
Es waren 5. Es waren 5 Personen gewesen. Also konnte es nicht Romeo sein. Wer waren sie? Und warum taten sie das mit mir? Mein Kopf schrie erneut nach Sauerstoff. Wie lange würde das noch so weitergehen? Hoffentlich nicht zu lange, denn ansonsten würde ich…
Ich konnte kaum mehr einen klaren Gedanken fassen. Die Sicht verschwand vor meinen Augen. Langsam drängte sich Schwärze an ihrer Stelle…

Ich spuckte Wasser, als mein Kopf hochgerissen und dann schließlich losgelassen wurde. Nach Luft schnappend kniete ich am Beckenrand. Ich fasste mir an den Hals. Er brannte durch das Chlorwasser, das ich verschluckt hatte.
„Ich hab euch doch gesagt, dass sie kommt“, sagte jemand plötzlich. Nach der Stimme zu urteilen, war es ein Mädchen.
„Hätte ich echt nicht gedacht“, erwiderte eine andere.
„Vermutlich kommt sie bei jedem Jungen, der sich mit ihr abgeben will.“ – eine Dritte.
„Was für eine Schlampe!“
Gekicher.
Ich blickte auf. Mein Hals brannte immer noch und ich zitterte am ganzen Körper. Ich blickte in die Gesichter von 5 Mädchen. Ich kannte sie nicht, doch ihren Schuluniformen nach, gingen sie auf dieselbe Schule wie ich. Sie grinsten hämisch.
„Na, Prinzesschen“, höhnte eine. „Wie geht’s unserem süßen Köpfchen?“
Ich erwiderte nichts. Was wollten sie? In diesem Moment schlug mir eine andere hart ins Gesicht.
„Antworte gefälligst, du Miststück, oder bist du dir etwa zu fein dafür?“
Ich schluckte und flüsterte: „Ganz gut.“
„Wie Schade. Dann müssen wir ihr wohl noch mal eine Abkühlung verpassen, vielleicht versteht sie ja dann, dass wir hier nicht zum Spaß sind.“ Das war die Anführerin. Es musste die Anführerin sein, denn die anderen Mädchen drängten sich um sie.
Ein Mädchen packte mich von hinten und schob meinen Kopf wieder gefährlich nahe Richtung Wasser.
Ich erwiderte nichts. Ich würde nicht um Gnade betteln oder weinen. Die Genugtuung würde ich ihnen nicht geben.
Offensichtlich schien auch die Anführerin es zu verstehen, denn sie schnippte kurz mit dem Finger und das andere Mädchen ließ mich los. „Weißt du Prinzesschen, wir wussten von Anfang an, dass du ein kleines Miststück bist.“
„Es ist egal, wer nach dir verlangt oder?!“, erwiderte das Mädchen, das mich festgehalten hatte.
„Hauptsache es ist ein Kerl, nicht wahr?“, schrie ein Dritte.
Jetzt war mir alles klar. Sie waren Romeo. Besser gesagt einen Romeo hatte es nie gegeben. Das waren sie, die mir den Zettel auf meinem Platz gelegt hatten. Doch warum?
„Die Leute nennen dich Jungfrau Maria. Doch soweit ich mich erinnere, war die Jungfrau Maria kein Miststück, das andere Männer den Kopf verdreht hat. Doch kaum scheint ein neues potentielles Opfer gefunden zu sein, musst du ihn natürlich gleich auf deine Seite ziehen. Armer Romeo.“ Sie kam mit ihrem Gesicht ganz nah an meines und grinste hämisch. „Romeo hin, Romeo her.“ Sie richtete sich wieder auf „Jedenfalls ist das nicht der eigentliche Grund warum wir hier sind. Der wahre Grund ist… Tristan.“
Ich blickte erstaunt auf. Was hatte Tristan mit all dem hier zu tun?
„Du kleines Miststück hast ihn um deine dreckigen Finger gewickelt.“
„Wie bitte?“
„Du hast schon richtig gehört. Du hast dich an Tristan rangemacht und jetzt scheint er nur noch Augen für dich zu haben. Aber es tut mir leid, dir das mitzuteilen, Prinzesschen, aber auf dieser gottverdammten Welt dreht sich nicht alles immer nur um dich!“
Ich sah sie verwirrt an. Wie kam sie nur darauf, dass ich mich an Tristan rangemacht hatte. „Es tut mir leid, aber das muss ein Verwechslung sein“, erwiderte ich.
„Wie bitte. Eine Verwechslung? Ganz bestimmt nicht.“ Sie lächelte.
„Ich denke doch.“
Ein Mädchen packte mich grob von hinten.
„Lass sie los, Mira. Ich will wissen, was sie so zu sagen hat.“
„Du solltest nicht auf das hören, was dieses kleine Miststück sagt, Kate. Vermutlich kommen nur Lügen über ihre verdammten Lippen.“
„Ich weiß, doch ich will mich ein bisschen amüsieren. Lass sie also los!“
Der Griff um meine Arme verschwand, doch das Mädchen blieb dicht hinter mir stehen.
„Also. Was wolltest du sagen?“, wandte sich Kate nun wieder mir zu.
„Ich habe Tristan nicht angemacht. Wir haben uns nur zufällig mal getroffen.“ Kate lächelte immer noch, sagte jedoch nichts. Ich fügte hinzu: „Wir haben uns ein paar Mal unterhalten. Das tun andere Leute auf dieser Schule auch, also warum sollte das ein Problem sein?“
„Du willst wissen warum? Du willst wirklich wissen, warum? Nun, dann sag ich es dir.“ Ihr Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt und sie sah mich zornfunkelnd an. „Weil Tristan nun mal nicht zu der Kategorie ‚andere Leute’ gehört und er sich verdammt noch mal nicht mit einer wie dir abgeben soll.“
„Neid macht Menschen hässlich.“
„Halt deinen drecken Mund!“, schrie Kate und schlug mir erneut ins Gesicht. „Du hast doch von gar nichts eine Ahnung. Du tust immer so unschuldig, willst, dass alle dich mögen, dass alle dich anbeten, bäh, wie mich das ankotzt. Sperr deine Lauscher auf, Prinzesschen: Halte dich von Tristan fern, denn er gehört uns! Habe ich mich klar ausgedrückt?!“
Ich erwiderte nichts. Was sollte das alles? Nur wegen eines Jungen?
„Habe ich mich klar ausgedrückt?“, wiederholte Kate mit Nachdruck.
„Es tut mir leid, aber ihr irrt euch. Tristan gehört euch nicht, er gehört niemandem. Er ist ein Junge, der über sich selbst entscheiden kann, genau wie jeder andere auch. Wenn ihr glaubt, dass er euch gehört, nur weil er euch ein paar Mal seine Aufmerksamkeit geschenkt hat, dann irrt ihr euch leider. Er ist ein freier Mensch und als solchen solltet ihr in respektieren, wenn ihr ihn mögt.“
Sie starrten mich entsetzt an. So hatte noch nie jemand mit ihnen gesprochen, das konnte ich ihren Gesichtern ablesen.
Einen kurzen Augenblick fragte ich mich, ob ich nicht zu weit gegangen war. Die Mädchen hier hatten alle einen Grund, warum sie das taten. Sie taten es wegen Tristan; weil sie ihn liebten. Weil sie Angst hatten ihn zu verlieren. Und nun tauchte ich auf, stellte mich offensichtlich zwischen sie und ihn - obwohl das nie meine Absicht gewesen war - und hielt ihnen Predigten. Kate fing an zu grinsen. Was wollte sie nun?
„Weißt du Prinzesschen, die Sonne ist schon ein erstaunlicher Planet, findest du nicht?“
Ich verstand nicht. Was hatte die Sonne jetzt mit all dem zu tun.
„Vor kurzem waren deine Haare noch klatsch nass und jetzt sind sie schon wieder trocken.“
Ich blickte sie verwundert an. Das Gespräch verlief in eine seltsame Richtung. Sie beugte sich wieder zu mir herab und strich mir durch mein Haar. „So schön braun. Ich schätze du musst nicht viel mit ihnen anstellen, oder? Sie liegen einfach, egal was du tust. Ganz im Gegensatz zu meinen.“ Sie richtete sich wieder auf und fuhr sich nun durch ihre blonden Haare. „Ich kann machen, was ich will, aber sie sehen aus, wie ein Haufen Stroh.“
Cath hätte ihr jetzt vermutlich zugestimmt.
„Ich hab schon alles probiert. Spezielles Shampoo, Spülung, Haarfestiger, Glätteeisen, Lockenstab… Aber was ich auch tue, sie werden einfach nicht so schön, wie deine. Irgendwie ungerecht, findest du nicht auch?!“ Und damit gab sie dem Mädchen hinter mir ein Zeichen.
Das packte mich plötzlich wieder grob an den Armen und zog mich zu einem Startblock. Zwei andere Mädchen kamen dazu und drückten mich darüber und hielten mich fest. Kate trat wieder vor mich. Ich blickte zu ihr auf. Sie hatte etwas in der Hand. Anfangs konnte ich es nicht erkennen, doch als sie es aufschnappte, wusste ich, was es war.
Ein Feuerzeug.
Ich zuckte erschrocken zurück, wollte mich aus dem Griff der Mädchen befreien, doch sie hielten mich nur noch grober fest.
„Keine Angst“, sagte Kate. „Wir werden dir nicht wehtun. Damit verpassen wir dir nur einen modischen Kurzhaarschnitt. Solltest du Feuer fangen, werfen wir dich in den Pool. Ein paar Narben würden natürlich bleiben.“ Sie grinste wieder.
Ich sah sie erschrocken an. Das konnte nicht ihr ernst sein. Warum tat sie so etwas?
„Tristan wird dich nicht wiedererkennen. Er wird sich von dir abwenden. Warum sollte er sich auch mit jemanden abgeben, der dann so hässlich ist, wie du.“ Alle lachten.
„Das glaubt ihr doch wohl selbst nicht.“ Es war raus, noch bevor ich wirklich darüber nachgedacht hatte. Die Mädchen verstummten. „Ihr tut mir leid!“
„Halt die Klappe!“, schrie eines der Mädchen.
„Was weißt du denn schon?!“, rief eine andere und packte mich fester.
Kate stand vor mir mit zornentbranntem Gesicht. Ich blickte ihr direkt in die Augen und sagte ruhig: „Ihr tut mir leid. Wenn ihr glaubt, damit Tristan zurückzubekommen, dann tut ihr mir wirklich leid. Ihr solltet ihn eigentlich besser kennen. Glaubt ihr im Ernst, er wird sich von mir fernhalten, nur weil ich keine Haare mehr habe? Na dann los… probiert es doch aus. Auch wenn ihr mir die Haare verbrennt, Tristan wird nicht über mich lachen.“
Was redete ich da eigentlich? Woher wusste ich denn schon, was Tristan tat oder nicht?
Kates Gesicht lief puterrot an. Sie schnippste ihr Feuerzeug an. „Das wirst du büßen, du kleines Miststück!“, schrie sie.

Eine Hand legte sich plötzlich auf das Feuerzeug und ließ es somit erloschen. Ich blickte hinter Kate. Dort stand - mit ernstem Gesichtsausdruck und den Blick auf Kate – Tristan.
„Mit Feuer spielt man nicht! Haben euch das eure Eltern etwa nicht beigebracht?!“, fragte er kühl.
„Tristan!“, riefen alle gleichzeitig.
„Wir wollten… wir hatten… also das verstehst du jetzt vollkommen falsch.“
Kate stotterte. Es war ihr unangenehm ausgerechnet von Tristan erwischt zu werden. Von demjenigen, den sie liebte.
„Also… ähm… ähä… das sieht alles ganz anders aus, als es ist.“
„Halt die Klappe!“, sagte er immer noch todernst. Sein Gesicht zeigte keine Regung und sein Blick war immer noch auf Kate gerichtet. Doch ich konnte in seinen Augen sehen, dass er innerlich bebte. Er war noch wütender, als vorhin.
„Also, Tristan…“, fing ein Mädchen hinter mir an, doch Tristans Blick brachte sie wieder zum Schweigen. Dann sah er mich an. Wie ich da über den Block gebeugt war und mich die Mädchen von hinten fest hielten. Einen kurzen Augenblick später, ließen sie mich los. Offensichtlich hatten auch sie bemerkt, dass es ihm sehr missfiel.
„Weißt du Tristan, wir haben das alles nur für dich getan!“, fing Kate an. Er richtete seinen Blick wieder auf sie, sagte jedoch nichts. „Sie hat dich doch um ihren kleinen Finger gewickelt. Sie wollte dich verführen, dir wehtun. Sie spielt allen etwas vor. Wir wollten dich nur davor bewahren.“
„Ich erinnere mich nicht, euch darum gebeten zu haben.“
Kate verstummte. Sie sah ihn nur erschrocken an. „Aber Tristan, wir wollten doch nur…“, fing sie an und eine Träne kullerte über ihre Wange.
In diesem Moment, tat sie mir leid und ich verzieh ihr, was sie mir antun wollte. Sie liebte ihn. Sie liebte ihn wirklich. Und jetzt tat er ihr weh.
„Hör auf mit den Spielereien. Glaubst du im echt, nur weil du jetzt anfängst zu weinen, wirst du mein Herz erweichen? Wie ätzend!“
„Warum? Warum sie?“ Sie senkte den Kopf und ballte die Fäuste.
Tristan bedachte sie immer noch mit einem ernsten Gesicht. „Weil sie etwas besonderes ist. Wenn ihr es nicht versteht, okay… Aber das hier geht zu weit!“
„Aber Tristan…“, sagte das Mädchen hinter mir.
„Hört mit eurem ewigen 'Ach Tristan' auf!“, schrie er.
Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Nicht aus Angst, sondern weil ich auf diese heftige Reaktion nicht gefasst war.
„Ihr seid echt ätzend. Tristan hier, Tristan da. Ihr habt doch überhaupt keine Ahnung, wer ich bin. Ihr wisst gar nichts über mich und wollt behaupten, ihr liebt mich?! Ich habe auf das alles hier echt keine Lust mehr! Entschuldigt euch bei J.J. und dann tretet mir nie wieder unter die Augen!“
Sie sahen ihn entsetzt an. „Aber…“, begann Kate.
Tristan sah sie zornfunkelnd an. Sie zuckte zusammen und wandte sich zu mir. Es kostete sie eine Menge Überwindung, das sah ich ihr an, doch schließlich sagte sie: „Es tut mir leid, Julia. Wir hatten das nicht so gemeint.“ Die anderen Mädchen stimmten ein.
Ich lächelte: „Schon in Ordnung.“
Tristans Blick verzerrte sich und er ballte die Fäuste. „Jetzt verschwindet von hier.“
Ohne ein weiteres Wort gingen sie. Sie schauten sich nicht einmal mehr um.

„Alles in Ordnung mit dir?“ Tristan stand gute 2 Meter von mir entfernt und seine Fäuste waren immer noch geballt. War er etwa immer noch wütend, obwohl schon alles vorbei war?!
Um ihn zu beruhigen, lächelte ich und antwortete: „Ja, mir geht es gut, danke!“
„Warum?“ Sein Blick war gesenkt, er zitterte kaum merklich. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen.
Warum was?
„Warum hast du nicht um Hilfe geschrien?“
„Also…“ Mit der Frage hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. „Das hätte doch keinen Sinn gehabt, oder? Die meisten Schüler sind schon weg und wir sind hier etwas weiter vom Schulgebäude entfernt.“ Ich lächelte wieder. Ich wusste nicht, dass ich es damit eigentlich noch schlimmer machte.
„Warum hast du ihnen verziehen?“
„Was?“ Ich konnte sein Gesicht immer noch nicht erkennen.
„Warum hast du ihnen verziehen? Sie wollten dir etwas Schreckliches antun. Sie wollten dir wehtun. Und du verzeihst ihnen. Du lächelst sogar. Jeder normaler Mensch hätte jetzt mindestens einen Schock.“
„Also, was brächte es mir, wenn ich jetzt durchdrehen würde? Und ich glaube nicht, dass sie es böse gemeint haben.“
Er richtete seinen Blick auf und sah mich ernst an. „Warum hattest du keine Angst?“
Keine Angst? Warum ich keine Angst hatte? Ich senkte den Blick. Natürlich hatte ich Angst. Ich hatte riesen Angst. Solche Angst.
Eine Träne lief mir über die Wange. Oh mein Gott, hoffentlich sah er das nicht. Er sollte nicht sehen, wie ich weinte. Doch ich konnte nicht aufhören. Auf die erste folgte eine zweite und dann noch eine weitere. Sie strömten aus mir heraus. Ich gab keinen Laut von mir, keinen Schluchzer. Ich zitterte auch nicht. Sie liefen einfach nur heraus, als hätte ich seit Jahrzehnten nicht mehr geweint.

 

Nein, dachte er. Hör auf, hör bitte auf! Ich kann das nicht mit ansehen.
Dass sie so weit gehen würden, hätte er nicht gedacht. Doch als sie ihr wirklich etwas antun wollten, da konnte er einfach nicht anders. Er musste ihr helfen. Er wollte ihr helfen. So sehr hatte er Angst davor, dass sie verletzt werden würde. So sehr hatte er Angst davor, dass sie Angst hatte.
Und nun saß sie hier und weinte. Er wollte das nicht sehen. Er wollte nicht, dass sie weinte. Hör auf, dachte er, bitte hör auf! Es tat so weh, sie so zu sehen; sie weinen zu sehen.
„Bitte hör auf. Hör auf zu weinen!“, sagte er. Er ging zu ihr, kniete sich hin und legte eine Hand auf ihren Kopf.
„Ich kann nicht“, sagte sie. Ihre Stimme zitterte leicht. „Ich kann einfach nicht aufhören. Sie kommen einfach so heraus.“
Sei still.
„Jetzt sitze ich hier und weine mir die Augen aus dem Kopf.“
Sei still.
„Doch ich kann nicht aufhören.“
Sei bitte still. Sag nichts mehr, ich kann das alles nicht ertragen.
„Ach Mensch, warum kann ich nur nicht aufhören. Habe ich einmal angefangen, dann kann ich nicht mehr aufhören. Es ist nicht so, dass ich muss oder will. Sie laufen einfach von alleine heraus, dabei weiß ich nicht einmal, warum."
„Sei endlich still!“, sagte er und küsste sie.

 

Tristans Kuss kam unerwartet. Seine Lippen waren weich und warm. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut. Seine Augen waren geschlossen. Zum Glück musste ich nicht mehr mit ansehen, wie er innerlich litt.
Sein Mund öffnete sich leicht. Seine Zunge drang sanft an meine Lippen und dann in sie hinein. Mein Mund öffnete sich automatisch und Tristans Zunge begann gierig mit meiner zu spielen. Unser Atem mischte sich und ich schloss intuitiv die Augen.
Doch ich wollte ihn wegstoßen. Immerhin hatte ich es Cath versprochen. Ich hatte meine beiden Hände gegen seinen Brustkorp gedrückt, doch es half nichts. Tristan umfasste mit der rechten Hand sanft meinen Kopf und mit der linken Hand zog er mich noch näher an sich heran. Immer noch küsste er mich, während seine Hand sanft über meine Wange strich. Da, wo er sie berührte, brannte meine Haut.
Nach einer Weil löste er sich von mir und sah mir tief in die Augen. „Endlich“, sagte er und lächelte sanft, „Endlich hast du aufgehört zu weinen.“
Ich blickte ihn erstaunt an. Hatte er das etwa nur getan, um mich zu beruhigen? Er nahm mich in seine Arme und vergrub sein Gesicht in meinen Nacken. Sein Atem kribbelte auf meiner Haut. Ich war immer noch unfähig mich zu bewegen. „Ich werde dich beschützen.“
Wie bitte?
„Ich werde dafür sorgen, dass du nie wieder weinen musst.“
Ich wollte ihn ansehen, doch er hielt mich immer noch fest in seinen Armen.
„Ich möchte dich nie wieder weinen sehen. Ich werde es nicht zulassen, dass dir jemand wehtut.“ Er löste seinen Kopf von meinem Nacken und sah mir tief in die Augen. Er nahm mein Gesicht in seine Hände. Ich kniff intuitiv die Augen zusammen, vor dem was jetzt wieder kam. Doch Tristan küsste mich nur auf die Stirn.

Wir waren auf dem Weg zurück zum Schulgebäude. Seit zehn Minuten hatte keiner von uns ein Wort gesagt. Tristan hatte sich einfach erhoben, meine Hand genommen und seitdem nicht wieder losgelassen.
Er lief etwas vor mir, sodass ich seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Ich wusste nicht, ob er immer noch wütend war. Ich erinnerte mich an die Szene von vorhin. Er war so anders gewesen. Nicht so wie sonst. Das Schulgebäude tauchte nun vor uns auf und Tristan blieb stehen. Er hielt immer noch meine Hand fest und sagte nichts.
Ich brach schließlich die Stille: „Entschuldigung.“ Er drehte sich um und sah mich verwirrt an. „Für Cath gestern. Ihr Verhalten war nicht angebracht, doch… naja… du kennst sie nicht und normalerweise macht sie so etwas nicht. Ich weiß auch nicht so genau, warum sie das getan hat.“ Ich lächelte. „Es tut mir leid.“
Tristan sagte nichts. Er sah mich ohne jede Regung an.
„Und danke“, fügte ich hinzu, „Dass du mir geholfen hast. Ich weiß gar nicht, wie ich mich dafür revangieren soll.“
„Aber ich.“ Damit zog er mich zu einem Baum und drückte mich gegen den Stamm. Er hatte wieder sein Grinsen aufgesetzt und war mir wieder erdenklich nahe. Der Tristan von vorhin war verschwunden. Stattdessen war er wie immer.
Er küsste mich auf die Wange, die Stirn, am Hals… Ich kniff meine Augen zusammen. Als er sich meinem Mund näherte, stoppte ich ihn. „Ich habe es Cath versprochen.“
Einen Augenblick lang sah er mich nur verwirrt an.
„Ich habe ihr versprochen, dass ich dir aus dem Weg gehe. Ich weiß auch nicht, warum ich das tun soll, aber sie ist meine beste Freundin und was ich verspreche, das…“
„Shht“, machte Tristan und legte einen Finger auf meine Lippen. Er grinste immer noch. „Habe ich dir nicht gesagt, dass es mir egal ist, was deine kleine Freundin denkt oder tut und was nicht?!“ Er legte eine Hand unter mein Kinn und zog meinen Kopf zu sich hoch.

„Hey, Tristan! Wo bleibst du?!“, rief jemand.
Ich drehte meinen Kopf intuitiv zur Seite und sah dort, ungefähr 200 Meter von uns entfernt, vier Jungs stehen. Es waren Tristans Freunde. Ihre Namen vielen mir nicht ein.
Er stöhnte. „Warum ausgerechnet jetzt?“ Damit drehte er sich wieder zu mir um. „Schade. Jetzt wurden wir schon wieder unterbrochen. Dann müssen wir halt das nächste Mal weitermachen.“ Er zwinkerte mir zu.
„Kommst du nun?“, rief jemand von den vieren.
„Ja ja, ich komme ja schon!“, antwortete Tristan. Er sah mir noch einmal tief in die Augen und löste sich dann von mir. Nach gut 5 Metern drehte er sich noch einmal zu mir um. „Ach ja, du schuldest mir jetzt zwei Bentos. Als Dankeschön!“ Er grinste und verschwand dann.

 

„Wer war das?“, fragte ihn Brian. Er war der Kopf der Runde, derjenige, der sie alle zusammengebracht hatte. Jake nannte ihn zum Spaß immer Boss.
„Ach, niemand wichtiges“, antwortete Tristan. „Kommt, lasst uns gehen.“
„Für niemand wichtigen hast du dich mit ihr aber ganz speziell beschäftigt.“ Das war Jake. Er hatte schon immer so einen komischen Humor gehabt, doch die Mädchen flogen darauf ab.
Tristan ballte kaum merklich die Faust. „Tust du das nicht auch mit… warte mal, wie hießen die alle nochmal? Annabelle, Claire, Sarah, Nicole und was weiß ich, wer noch alles?“ Tristan grinste.
„Ja. Aber immerhin kenne ich ihre Namen und sie sind für mich nicht irgendwer“, konterte Jake.
Brian, Ike und Mathew, den alle nur Mat nannten, rollten mit den Augen.
„Ich kenne auch ihren Namen.“
„Und wie heißt sie?“, fragte Brian.
„Ich weiß, wer das ist“, mischte sich nun Mat mit ein. Tristan drehte sich zu ihm um. „Ihren richtigen Namen weiß ich nicht, aber ich weiß, dass sie von einigen Leuten Maria genannt wird.“
„Maria? Was für ein komischer Name“, erwiderte Jake.
„Das ist natürlich nicht ihr richtiger Name, Jake. Sie beziehen es daher, dass sie von allen für unschuldig gehalten wird und symbolisieren sie mit der Jungfrau Maria“, erklärte Mat so, als würde er sich gerade nur über das Wetter unterhalten.
„Jungfrau Maria? Unschuldig? Na wenn sie so unschuldig ist, dann sollte ich sie mir mal vornehmen.“ Jake grinste.
Doch Tristan ging das zu weit. Er packte Jake am Kragen und stieß ihn an einen Baum. „Ich warne dich, Jake! Solltest du sie nur mit dem kleinen Finger anrühren, dann Gnade dir Gott, werde ich dich so fertig machen, dass dich danach Annabelle, Sarah und der ganze Rest nur noch in einem Rollstuhl antreffen werden!“
„Ach ja? Deine Maria hätte ja dann vielleicht auch Mitleid mit mir. Vielleicht würde sie mich ja dann auch pflegen, ich hab gehört, dass die heilige Jungfrau immer um das Wohl ihrer Mitmenschen besorgt war", grinste Jake.
Tristan wollte auf ihn losgehen, doch Brian trat dazwischen. „Das reicht jetzt, Herrgott nochmal. Hört auf, alle beide! Ich benehmt euch ja wie zwei Kleinkinder, die sich um ein lächerliches Spielzeug streiten.“
„J.J. ist kein Spielzeug!“, erwiderte Tristan.
„Das weiß ich. Aber sie sollte auch nicht mehr sein.“ Tristan sah ihn an. „Du weißt ganz genau, was ich meine. Wir sind viel zu beliebt, als dass wir es uns erlauben könnten nur einer von ihnen den Hof zu machen. Was glaubst du passiert, wenn ein einziges Mädchen vorgezogen wird? Ein Katastrophe.“
Die ist schon längst passiert, dachte Tristan, doch er sagte nichts.
„Umwirb sie meinetwegen, gib ihr das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, von mir aus. Aber lass sie nicht zu nahe an dich heran. Und du Jake, hör auf mit deinem ewigen Geprahle, darüber, wie viele Frauen du schon erobert hast und vor allem, wie du es getan hast.“ Und dann lächelte Brian wieder sein typisches Brian-Lächeln. „Kommt schon, die Mädchen warten sicher schon!“

 

Ich stand in der Küche und sah Joanne beim Kochen zu. Ich sah ihr gerne zu, wie sie die Hausarbeit erledigte. Alles was sie machte, tat sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Ihre fröhliche und gutmütige Art brachte einfach jeden dazu, sie zu mögen. Wir hatten viele Bewerber für die Stelle als zweite Hausherrin, doch als Joanne den Raum betrat, wussten wir alle sofort, sie ist es. Obwohl wir weder ihren Namen kannten, noch ihren bisherigen Lebenslauf. Und wir waren uns alle einig – Joanne war einfach die Beste.
Sie musste mich bemerkt haben, denn sie fragte mich: „Was kann ich für dich tun, Julia?“
Ich lächelte: „Ich wollte dich fragen, ob du mir behilflich sein kannst?“
„Wobei denn?“
„Beim Bento zubereiten.“
Joanne hielt beim Karottenschneiden inne und drehte sich zu mir um. Sie sah mich leicht verwirrt an. „Warum möchtest du ein Bento machen? Schmecken meine etwa nicht?“, fragte sie ganz erstaunt.
„Doch, doch!“, beruhigte ich sie. „Deine Bentos sind fantastisch. Ich weiß auch nicht, warum ausgerechnet ich sie machen soll.“
„Jetzt verstehe ich noch weniger, als vorher“, erwiderte Joanne.
„Tristan hat mich gebeten ihm ein Bento zu machen, weil er so etwas nicht kennt. Und ich habe ihm gesagt, dass du gerne für ihn auch eines machen würdest. Aber er meinte dann, dass er will, dass ich das Bento mache, obwohl es vermutlich schrecklich schmeckt. Doch es war ihm egal. Er möchte unbedingt ein Bento von mir haben.“
Joanne grinste jetzt. „Tristan?“, fragte sie
„Ja, das ist ein Freund aus der Schule“, antwortete ich.
Sie grinste nur noch breiter, sagte jedoch nichts, sondern nickte nur. „Na dann wollen wir mal diesen Tristan nicht enttäuschen, oder?!“, zwinkerte sie mir zu. Ich lächelte. „Also, als erstes brauchen wir die Zutaten. Warte mal kurz, ich schau mal schnell nach, ob wir noch alles haben.“ Sie öffnete mehrere Schränke, in dem wir unsere Vorräte aufbewahrten und blickte schließlich in den Kühlschrank.
„Nun, die Sache ist die, dass ich keinen Fisch mehr habe. Den letzten habe ich für dein Bento von gestern verbraucht und ich wollte erst morgen wieder welchen einkaufen.“
„Na, dann machen wir morgen erst ein Bento“, lächelte ich und wollte gehen.
„Ich hab eine bessere Idee“, sagte Joanne und schloss die Kühlschranktür, „Wir machen ihm Onigiris.“
„Onigiris?“
„Ja, Onigiris. Ich denke mal, dass er Sushi noch nie gegessen hat, wenn er nicht weiß, was ein Bento ist und da sind Onigiris ganz gut für den Anfang. So kann er erst einmal auf den Geschmack kommen.“
Ich überlegte kurz, stimmte jedoch dann zu: „Ja, du hast recht. Onigiris sind ein guter Anfang.“
„Sehr gut. Also wir brauchen dann Reis, Reisessig, Zucker, Salz und Nori“, murmelte Joanne vor sich hin und kramte wieder in den Schränken herum. Ich nahm mir eine Schürze vom Haken neben der Tür und wusste, dass mit Hilfe von Joanne, das Bento vielleicht doch nicht so schlecht werden würde.

*Onigiris sind japanische Reisbällchen. Sie bestehen nur aus Reis und einem Blatt Nori, eine bestimmte, essbare Algenart. Man benutzt diese fast ausschließlich für Sushi und andere japanische Reisgerichte.

„Als erstes muss der Reis gewaschen werden. Das ist notwendig um Verunreinigungen und überschüssige Stärke zu entfernen“, erklärte mir Joanne. Sie gab mir einen riesigen Topf füllte Reis hinein und gab dann Wasser hinzu, sodass der Reis darin schwamm. „Das Reiswaschen ist eigentlich die unangenehmste Sache am Onigiri- und auch am Sushizubereiten. Wenn das Wasser dreckig ist, spüle es aus und gebe neues hinzu. Wasche den Reis so lange, bis das Wasser klar bleibt. Dann kannst du dir sicher sein, dass er sauber ist. Probier mal.“ Joanne stellte den Topf auf die Arbeitsplatte und ich griff hinein.
Anfangs wusste ich nicht genau, wie ich den Reis waschen sollte, aber nach einer gewissen Zeit fand ich einen Rhythmus und es ging wie von selbst. Reis waschen, Wasser ausspülen, neues Wasser hinzu, Reis waschen, Wasser ausspülen… Es machte sogar Spaß.
„So, ich denke du hast ihn jetzt blitzblank geputzt“, sagte Joanne und sah in den Topf. „Dann kannst du das Wasser ausspülen und stellst den Topf auf den Herd.“
Ich tat, wie geheißen. Erst das Wasser ausspülen, dann auf den Herd.
„So, jetzt machst du 2 Tassen Wasser noch hinzu und bringst es bei großer Hitze zum Kochen. Vergiss den Deckel nicht!“
„Und was nun?“, fragte ich, nachdem ich ihre Anweisungen befolgt hatte.
„Jetzt müssen wir erst einmal warten, bis der Reis kocht, dann geht’s weiter. In der Zwischenzeit kannst du mir ja ein bisschen über deinen Tag heute erzählen“, zwinkerte sie mir zu.
Unwillkürlich trat die Erinnerung vom Pool in meinen Kopf zurück. Das Wasser, das in meinem Hals brannte… die groben Griffe… das Feuerzeug… Tristan… Sollte ich ihr davon erzählen? Ich beschloss, es nicht zu tun. Immerhin, war es ja nicht bös gemeint gewesen.
„Mein Tag war ganz normal. Wie jeder andere“, lächelte ich.
„Na, so normal kann er ja nicht gewesen sein, wenn dich ein Junge nach einem Bento fragt“, zwinkerte Joanne mir zu.
Ich sah sie verwirrt an. „Wie meinst du das?“
„Du weißt doch auch, was es bedeutet, wenn ein Mädchen einem Jungen ein Bento macht, zumindest, was es in Japan traditionell bedeutet?“
„Ja“, erwiderte ich. Ich wusste immer noch nicht, worauf sie hinaus wollte.
„Und er hat dich gefragt, ob du ihm eines machst, oder?“ Ich nickte. „Dann ist es doch eindeutig“, lächelte Joanne. „Dieser Tristan mag dich.“
Ich sah sie ganz verwirrt an. Was war daran jetzt so besonders?
„Und?“
„Wie und?“ Jetzt war es Joanne, die erstaunt blickte.
„Ja, was ist daran jetzt so besonders? Ich mag ihn auch.“
Joanne lächelte jetzt wieder. „Du magst ihn auch?“, fragte sie mit einem Unterton, der schwer zu definieren war.
„Ja. Dich mag ich doch auch. Und all die anderen. Ich verstehe nicht, warum das jetzt so außergewöhnlich ist.“
Für einen Moment sah Joanne mich ganz verdutzt an. Dann musste sie lachen.
Ich lächelte, verstand aber trotzdem diese ganze Situation überhaupt nicht. „Ok. Ich geb es auf“, lächelte sie immer noch. „Ich bin echt schlecht darin Liebe zu erklären. Lass uns weiterkochen, sonst wird dein Tristan noch traurig. Und das wollen wir ja nicht“, zwinkerte sie mir wieder zu. Mit diesen Worten schaltete sie den Herd aus und ließ den Topf noch für 20 Minuten ziehen.
Doch ich war immer noch verwirrt.
Was hat Liebe mit all dem hier zu tun?

"Das bleibt unser kleines Geheimnis"

Ich fuhr die langen Straßen durch Ouran entlang und blickte aus dem Fenster. Die Sonne war vor ungefähr einer Stunde aufgegangen und Niles brachte mich gerade zur Schule. Während die großen und prunkvollen Häuser an mir vorbeiglitten, dachte ich über den heutigen Tag nach.
Die ganze Zeit schon, während der Fahrt, überlegte ich, wie ich Cath entgegen treten sollte. Sollte ich ihr von gestern erzählen? Eigentlich hatte ich das nicht vor. Cath regte sich immer so schnell auf. Sie hatte es nicht gern, wenn mir jemand etwas antat, sei es auch nur aus Versehen. Jedoch hatte ich es nicht gern, sie anzulügen. Seit dem ersten Tag sind wir die besten Freundinnen gewesen, wir teilten alles miteinander. Ich fühlte mich schlecht, sie anzulügen, ihr etwas vorzuenthalten. Das war nicht richtig, ihr gegenüber.
Andererseits, müsste ich ihr dann auch berichten, dass ich gestern, nicht wie versprochen, Tristan aus dem Weg gegangen war.
Mir entfuhr ein leiser Seufzer. Noch nie zuvor hatte ich mich in solch einer Lage befunden. Ich wollte nur das Beste für Cath. Doch das Beste war, wenn ich es ihr nicht erzählen würde. Doch damit würde ich sie nur noch mehr verletzen, als wenn ich es ihr erzählen würde. Sie würde es bestimmt sowieso irgendwann erfahren. Doch irgendwann war vielleicht spät genug, um mit dieser Angelegenheit gut umgehen zu können.
Mit entfuhr ein weiterer Seufzer. Was für eine Zwickmühle.
„Alles in Ordnung mit Ihnen, Miss?“, fragte mich Niles besorgt und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel.
Ich schreckte aus meinen Tagträumen heraus und lächelte ihn an. „Ja, alles ok.“
„Sie seufzen die ganze Zeit. Ich mache mir Sorgen, Miss. Vielleicht sind Sie krank?“ Ein erneuter, fast noch besorgterer Blick in den Spiegel.
„Nein, nein. Mir geht es gut, danke“, lächelte ich und hoffte ihn somit zu beruhigen.
Niles nickte nur und konzentrierte sich dann wieder ganz auf die Straße. Ich ließ meinen Blick wieder aus dem Fenster schweifen. Die prunkvollen Villen waren nun verschwunden, stattdessen hatten wir den Stadtrand erreicht, wo nichts weiter wuchs als Bäume, soweit das Auge reichte. Es würde nicht mehr lange dauern und wir wären da.
Ich richtete mich auf und spürte einen Druck auf meinen Oberschenkeln. Als ich hinab sah, erblickte ich dort zwei in einem Tuch eingewickelte Päckchen. Die Bentos.
Ich lächelte wieder. Was wohl Tristan dazu sagen würde, wenn ich ihm sein Bento überreichen würde? Würde er sich freuen? Wenn ja, wie würde er diese Freude zum Ausdruck bringen?
Ein kurzes Bild flackerte in meinem Kopf auf. Tristan, wie er lächelte, ganz anders als das Grinsen, das er sonst immer hatte. Ein freundliches, warmes Lächeln. Er strahlte förmlich. Man sah, dass er sich freute.
Ein komisches Gefühl machte sich in meinem Körper breit. Ich konnte es nicht definieren. Es breitete sich in meinem Magen aus und ließ mich für einen kurzen Augenblick ganz schwach werden. Es fühlte sich an, als wäre mir schlecht, aber auf einer ganz anderen Art und Weise.
Tristans strahlendes Gesicht verschwand aus meinem Kopf und mit ihm das Gefühl.
Verwundert sah ich auf die beiden Bentos auf meinem Schoß. Wurde ich etwa doch krank?!
„Wir sind da, Miss.“
Ich blickte von den Bentos auf und sah aus dem Fenster. Wir hielten direkt vor dem Haupteingang und Cath stand strahlend davor und winkte mir freudig zu.
Ich atmete noch einmal tief ein und wappnete mich für das Kommende. Ich hatte beschlossen Cath alles zu erzählen. Es war einfach nicht richtig ihr etwas vorzuenthalten. Ich hoffte einfach, dass sie sich nicht zu sehr darüber aufregte. Immerhin ist alles gut ausgegangen.
Niles hielt mir die Tür auf und ich bedankte mich bei ihm.
„Morgen, Süße“, strahlte Cath förmlich. Ein Küsschen links, ein Küsschen rechts. „Was hast du denn da?“, fragte sie mich und deutete auf die Bentos, die ich in meinen Händen hielt.
„Bentos“, antwortete ich lächelnd.
„Ach Süße, wenn du dich die ganze Zeit nur von Reis und Gemüse ernährst, wirst du irgendwann nur noch ein Strich in der Landschaft sein“, sagte sie kopfschüttelnd.
Ich lächelte. „Erstens besteht ein Bento nicht nur aus Reis und Gemüse, sondern auch aus Fisch oder Fleisch…“ – Sie streckte mir die Zunge raus – „Und zweitens sind die nicht für mich.“
„Ach nein, für wen denn dann?“
„Eigentlich wollte ich dir ja eins abgeben, aber da du ja der Meinung bist, dass…“
„Ok ich nehm’s“, sagte sie und streckte ihre Hand aus.
„Ach du musst nicht. Ich esse es auch. Würde mich interessieren, ob es mir gelungen ist“, antwortete ich lächelnd.
„Ob es dir gelungen ist?“, hakte Cath nach.
„Ja. Ich habe es selbst gemacht.“
„Ich nehm’s!“, schrie Cath fast. „Ich nehm’s! Ich nehm’s! Ich nehm’s!“
Verwundert sah ich sie an.
Sie lächelte. „Ich kann mir doch nichts entgehen lassen, was du persönlich gekocht hast.“
„Und wenn es gar nicht schmeckt?“, fragte ich immer noch etwas verwirrt.
„Ist mir egal. Ich esse es trotzdem. Etwas, was du gekocht hast, muss man einfach lieben“, grinste sie.
Ich musste lachen. Warum interessierte es neuerdings niemanden, ob ein Gericht schmeckte oder nicht? Nur weil es von mir zubereitet war? Immer noch lächelnd nahm ich eines der beiden Bentos und gab es ihr.
In diesem Moment sah ich Tristan am anderen Ende des Flures in unsere Richtung kommen. Er unterhielt sich mit drei Mädchen, die ihn umringten und ihn anscheinend mit Fragen löcherten. Ich wandte mich Cath zu. Ich musste es ihr jetzt schnell erzählen, bevor Tristan mich bemerkte und er mich vielleicht wieder so begrüßte, wie sonst auch. Nicht, dass Cath sich wieder so sehr aufregte.
„Cath?“
„Hm?“, antwortete sie und sah mich an.
„Ich muss dir etwas erzählen“, lächelte ich.
Sie sagte nichts, sondern wartete auf das, was ich ihr erzählen würde. Doch es war zu spät. Tristan war nur noch zwei Meter von uns entfernt. Mit Sicherheit hatte er uns schon bemerkt. Ich blieb stehen und wartete auf das, was jetzt kommen würde.

Ein Windhauch streifte meine Wange und ich roch einen lieblichen Duft. Sonst passierte nichts. Tristan ging ohne mich eines Blickes zu würdigen an mir vorbei. Es war, als hätte er mich nicht bemerkt. Es war, als wäre ich Luft.
Mir wurde wieder schlecht und mein Herz setzte für einen kurzen Augenblick aus. Was für eine Krankheit hatte ich bloß?
„J.J.? Ist was nicht in Ordnung?“ Auch Cath blieb stehen, nachdem sie bemerkte, dass ich nicht mehr neben ihr lief. Ich sah sie nur an, sagte jedoch nichts. Jetzt kam Cath näher. „Hallo?“, fragte sie und winkte mit der Hand vor meinem Gesicht. „Jemand zu Hause?“
„Ich glaube, ich werde krank“, flüsterte ich.
„Wie bitte?“ Ich räusperte mich.
„Ich glaube, ich werde krank“, wiederholte ich dann.
„Krank? Du?“ Einen Augenblick später lachte Cath lauthals los. „Du wirst doch nicht krank. Du warst noch nie krank.“ Cath lachte immer noch und ich musste grinsen.
„Das ist nicht lustig“, versuchte ich sie wieder zur Vernunft zu bekommen.
„Ach nein? Und warum grinst du dann?“
„Mir war eben gerade schlecht.“
„Das wär mir auch, wenn so ein Typ wie der eben so nah an mir vorbeiläuft.“
„Welcher Typ?“, fragte ich verwirrt.
„Na, Tristan! Der ist eben voll nah an dir vorbei gelaufen. Kein Wunder also, dass dir schlecht wurde. Wem würde nicht schlecht werden, bei dem, was der tut.“ Cath schüttelte den Kopf und ging dann weiter Richtung Klassenraum. „Kommst du?“, rief sie mir zu.
Ich lächelte. Cath würde wohl nie damit aufhören, Tristan und seine Freunde schlecht zu machen. Manchmal fragte ich mich, ob sie nicht eventuell eine Männerphobie hatte. Bei dem Gedanken musste ich lachen.
„Was ist?“, fragte sie, als ich sie eingeholt hatte.
„Nichts“, antwortete ich lächelnd. Cath und eine Männerphobie? Nein, auf gar keinen Fall.

„Also, was wolltest du mir erzählen?“
„Wie bitte?“ Ich sah von meiner Tasche auf. Wir waren bereits im Klassenzimmer und ich hatte gerade meine Utensilien für die nächste Unterrichtsstunde herausgeholt als Cath sich zu mir umdrehte.
„Na, du meintest vorhin, dass du mir etwas erzählen musst. Es klang sehr wichtig.“
Ich sah sie einen Augenblick lang an. Was nun? Nach dem, was sie vorhin im Flur gesagt hatte, war ich meiner Sache nun nicht mehr so sicher.
„Also?“, hakte sie nach.
„Nichts“, antwortete ich eine Spur zu hastig.
„Nichts?“, fragte Cath verwirrt.
Ich nickte und lächelte. „Hat sich erledigt. Nichts Wichtiges. Nichts von großem Belang.“
„Na gut, wenn du meinst.“ Einen Augenblick lang sah Cath mich noch verwundert an, dann lächelte sie und drehte sich wieder nach vorne, denn unser Lehrer betrat gerade den Raum.
Nichts Wichtiges. Das war keine Lüge. Es war nichts Wichtiges. Nichts von Belang. Nichts von großer Bedeutung. Nichts Wichtiges… oder?!
„So, Sie sollten das, das und das in Ihren Unterlagen rot markieren, denn das sind wichtige Prüfungsthemen.“ Mr. Wells umkreiste die besagten Themen stark mit weißer Kreide und setzte ein großes Ausrufezeichen dahinter. Ich senkte den Blick und begann mir in meinem Hefter eine Notiz zu machen. Prüfungsthema! schrieb ich mit rot.
Danach hob ich wieder den Kopf, um den Unterricht weiter zu verfolgen. Aus den Augenwinkeln sah ich drei Schüler angeregt tuscheln. Da Mr. Wells der Klasse gerade den Rücken zugedreht hatte und vermutlich weitere Prüfungsthemen anschrieb und erläuterte, bemerkte er dies nicht. Ich konzentrierte mich auf das, was an die Tafel geschrieben wurde und versuchte das Getuschel zu ignorieren. Leider gelang es mir nicht. Denn auf einmal deutete eines der Mädchen in meine Richtung. Zumindest glaubte ich das, denn aus den Augenwinkeln war das nicht leicht zu erkennen.
Schließlich gab ich dem Drang nach und blickte nach links. Drei paar Mädchenaugen starrten mich an und sobald ich ihren Blick erwiderte, begannen sie wieder erregt an zu tuscheln und zu kichern. Ich blickte nach rechts. Über wen unterhielten sie sich so angeregt. Rechts neben mir saß Michael. Als er meinen Blick spürte, hob er den Kopf und zwinkerte mir zu. Ich lächelte und sah an ihm vorbei. Neben Michael saß Maria, ein sehr schüchternes und zurückhaltendes Mädchen, das in ihrer Art jedoch nett und gutherzig war. Sie blickte konzentriert auf die Tafel und versuchte angestrengt Mr. Wells zu folgen.
Ich wendete den Blick wieder ab und blickte, immer noch leicht verwirrt, wieder zu den 3 Mädchen, die ihre Gespräche kurz unterbrochen hatten, da Mr. Wells sich wieder der Klasse zu gewandt hatte. „Nun, schlagen Sie jetzt bitte Ihr Buch auf Seite 257 auf!“ Geraschel ertönte, als jeder nach seinem Buch griff und die Seiten umblätterte. Vor mir tauchten mehrere Übungen auf, die sich alle auf das Thema an der Tafel bezogen. „Lösen Sie bitte Aufgabe 1 bis 4 komplett und Nummer 5 a bis j. Sollten Sie Fragen oder Probleme haben, dann melden Sie sich bitte.“
Noch ein kurzes Getuschel der 3 Mädchen, welches Mr. Wells freundlicher Weise ignorierte, ein erneutes Zeigen in meine Richtung und dann machte sich jeder an die Aufgaben. Ich konnte dem Drang nicht wiederstehen und blickte erneut zu den Mädchen. Obwohl sie tief über ihre Aufgabenblätter gebeugt waren, schmulten sie ab und zu in meine Richtung. Ich blickte wieder nach rechts.
Was faszinierte sie so? War es Michael? Vielleicht war ja eines der Mädchen in ihn verliebt. Oder redeten sie etwa über Maria? Ich war mir nicht sicher und eigentlich ging es mich auch nichts an. Ich wollte mich gerade wieder meinen Notizen zuwenden, als mich Mr. Wells aufrief. „Ist etwas nicht in Ordnung mit Ihnen, Miss Jacksen?“
Wieder Gekicher. Ich ignorierte es und antwortete lächelnd. „Nein, Mr. Wells, es ist alles in Ordnung.“
Mr. Wells nickte und lächelte mir zu. „Wie ich Sie kenne, werden Sie die Aufgaben in Windeseile gelöst haben.“
Erneutes Geflüster und Getuschel. So langsam begann es mich zu stören. Wenn sie unbedingt so etwas Wichtiges zu besprechen hatten, dann mussten sie es ja nicht ausgerechnet jetzt machen. Immerhin bezahlten ihre Eltern einen hohen Betrag an Schulgeld, damit sie hier sein durften. Ich lächelte Mr. Wells noch kurz zu und wandte mich dann den Aufgaben zu. Ich überflog alle und stellte fest, dass er Recht hatte. Ich würde wohl wirklich nicht lange für die Aufgaben brauchen.

Nach einer viertel Stunde war ich fertig und richtete mich wieder auf. Als ich mich umblickte, bemerkte ich, dass außer zwei weiteren Schülern, die jetzt ziellos an die Decke und aus dem Fenster sahen, niemand fertig war. Ein kurzer Blick auf Cath' Notizen sagte mir, dass sie auch bald fertig sein würde. Weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, begann ich wie gewöhnlich meine Notizen noch einmal durchzusehen, ob ich nicht eventuell einen Fehler gemacht hatte. Als ich bei der Hälfte angelangt war, meldete sich auf einmal ein Schüler.
„Ja, Mr. Keyes?“ Mr. Wells wandte sich einem Jungen in der ersten Reihe zu und ein gutes Dutzend Schüler folgte seinem Beispiel.
"Ich habe ein paar Probleme mit Aufgabe Nummer 5h. Wäre es möglich sie eventuell an der Tafel vorzurechnen?“
„Mmmh, ich denke das lässt sich einrichten.“ Sein Blick wanderte die Reihen entlang und er überlegte, wen er diese Aufgabe vorrechnen lassen sollte. Es kamen nicht viele in Frage. Gerade mal die Hälfte der Schüler waren schon fertig oder bereits zu dieser Aufgabe gekommen und davon waren nicht viele in der Lage, ihre Lösungen präzise genau, so wie Mr. Wells es wollte, zu erklären.
Unsere Blicke trafen sich und er lächelte wieder. „Miss Jacksen. Würden Sie bitte die Aufgabe 5h an der Tafel vorrechnen?“
Ich lächelte und nickte. Die drei Mädchen tuschelten und kicherten erneut. Doch noch bevor ich mich erheben konnte, überraschte Cath mich, indem sie unaufgefordert sich zu Wort meldete: „Oh man. Könnt ihr verdammten Gackerliesen nicht einfach mal eure Klappen halten? Das ist ja nicht zum Aushalten!“
Ich sah sie verwundert an. Es war unhöflich den Unterricht in solch einer Weise zu stören. Wenn nicht sogar noch unhöflicher als die drei Mädchen.
Die Mädchen schnappten hörbar nach Luft und wandten ihre Blick Mr. Wells zu. Dieser war für einen Moment so geschockt, dass er nichts erwiderte.
„Ihr braucht gar nicht so zu Mr. Wells starren! Glaubt ihr echt, dass er das nicht mitbekommt, wenn drei hirnverbrannte Teenies seinen Unterricht stören?!“
„Cath!“, ermahnte ich sie. Das war weder nett, noch gesittet. So kannte ich sie gar nicht.
Sie ignorierte mich. Mittlerweile hatte sich Mr. Wells wieder gefasst. „Danke Miss Sanders, für Ihre wunderbare Beobachtungsgabe und Ihr Talent, gewisse Dinge präzise auf den Punkt zu bringen.“ Sie lächelte. Es sah eher gezwungen aus, als das es ernst gemeint war. „Aber dennoch möchte ich Sie bitten Ihre obszönen Bemerkungen und Kommentare auf die Pause zu verschieben. Hier haben Sie nämlich nichts zu suchen, sonst bin ich gezwungen, Sie von meinem Unterricht zu verweisen und das wollen weder Sie noch ich.“ Ein erneutes Lächeln.
„Nein, natürlich nicht.“ Es klang fast so, als wolle sie sich lustig über ihn machen.
Mr. Wells lächelte breit und sah dann wieder mich an. „Nun, ich glaube, bevor wir unterbrochen wurden, wollten Sie Aufgabe 5h an der Tafel vorrechnen, Miss Jacksen?“
„Ja.“ Ich erhob mich und ging zur Tafel. Unterwegs bemerkte ich, wie die Mädchen stumm kicherten. Ich ignorierte es. Manchmal konnte man es ja auch übertreiben.

„Cath, warum hast du dich eigentlich so aufgeregt vorhin?“, fragte ich sie, als der Unterricht vorbei war.
„Warum denn nicht? Die haben doch sowas von gestört.“ Sie rollte mit den Augen.
„Das ist aber noch lange kein Grund sich im Unterricht so zu verhalten. Stell dir mal vor, Mr. Wells hätte dich vom Unterricht suspendiert?“
„Ach, der übertreibt nur. Er würde nie jemanden suspendieren. Wie sagt er immer: ‚Ich bin Lehrer geworden, weil ich so vielen jungen Menschen das faszinierende und nützliche an der Mathematik näher bringen will.‘ Glaubst du echt, er suspendiert jemanden? Nein, dann würde ja auch nur ein Schüler nicht in den Genuss seines Unterrichtes kommen und das würde er nie wollen.“
Ich musste lachen. Vermutlich hatte sie Recht. Dennoch… „Trotzdem solltest du dich im Unterricht beherrschen, Cath.“
„Hm“, machte sie nur.
„Ich meine es ja nur gut mit dir.“
„Das weiß ich doch, Süße. Danke dir. Aber manchmal… da brennt bei mir einfach die Sicherung durch, weißt du.“
„Gut, ich finde es auch nicht nett, dass sie sich während des Unterrichtes unterhalten haben, aber deswegen muss man sich nicht so aufregen.“
„Hast du nicht verstanden, worüber die sich unterhalten haben?“
„Nein, habe ich nicht.“
„Das habe selbst ich gehört und ich saß noch weiter weg, als du.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ach, vergiss es.“
„Wieso?“
„Vergiss es!“
„Warum willst du es mir auf einmal nicht mehr sagen?“
„Nein, ist schon gut.“
„Haben sie sich über Maria unterhalten? Oder über Michael?“
„Was? Wer? Äääh… nein.“
„Und worüber dann?“
„Das ist doch nicht so wichtig.“
„Es muss aber etwas wichtiges sein, wenn du dich so darüber aufregst. Sag es mir, damit ich weiß, was ich in Zukunft von dir fern halten sollte.“
Cath musste lachen. „Ach J.J. Umgekehrt wird wohl eher ein Schuh draus.“ Ich sah sie verwirrt an. „Nein, ich glaube nicht, dass du das von mir fern halten kannst. Dann müsstest du dafür sorgen, dass 5 gewisse Jungs diese Schule verlassen und 'Auf nimmer Wiedersehen! sagen.“ Cath lachte immer noch. „Na gut, vielleicht 3. 2 von denen sind ja noch einigermaßen in Ordnung.“
„Wer?“, fragte ich nach.
Sie schüttelte nur den Kopf. Ich überlegt kurz. Mir fiel jedoch spontan niemand ein, den Cath nie wieder sehen wollte. „Sag schon. Wen meinst du?“
„Na wen wohl? Die Idioten höchst persönlich.“
Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste immer noch nicht, wen sie meinte.
Cath stöhnte. „Die Freaks? Die Möchtegern-Sexiest-Man-Alive? Die unterentwickelten, hirnlosen, eingebildeten Neandertaler?“
In dem Moment hörte ich lautes Gekreische am Ende des Flures.
„Genau die.“
Ich blickte mich um und sah Tristans Freunde am Treppenabsatz, umringt von einer Schar Mädchen.
„Ach, aber der blödeste von allen ist nicht dabei. Wundert mich. Sonst nimmt er doch immer alles, was bei 3 nicht auf den Bäumen ist. Naja, vielleicht vergnügt er sich ja mit irgendeiner heimlich irgendwo. Zuzutrauen ist es ihm ja.“
Vermutlich meinte sie Tristan, denn ich konnte ihn in dem Gedrängel nicht finden. Ich hielt das Bento fester. Dann musste ich es ihm wohl später geben.
Meine Aufmerksamkeit galt immer noch der Szenerie, die sich fortlaufend abspielte, als einer der Jungen aufblickte. Er hatte schwarzes kurzes Haar und seine blauen Augen passten perfekt zu seinem hellen Teint. Wäre er nicht noch Schüler, wäre er bestimmt schon von irgendeiner Modezeitung engagiert worden. Obwohl eigentlich jeder der Jungs für eine Modezeitschrift arbeiten konnte. Wahrscheinlich war das der Grund, warum sie so beliebt waren.
Der Junge grinste mich an und zwinkerte mir zu. Ich sah ihn verdutzt an, doch er hatte seine Konzentration wieder auf die Mädchen, die vor ihm standen beschränkt und lächelte jede von ihnen an. Ich sah zu Cath, ob sie es mitbekommen hatte und sich jetzt wieder aufregen würde. Doch nichts geschah. Sie hatte es vermutlich nicht bemerkt, denn sie starrte intensiv die Schar von Mädchen an und murmelte etwas vor sich hin. In dem Moment fiel mir ein, dass Cath immer noch nicht Bescheid wusste. Obwohl jetzt nicht der beste Zeitpunkt dafür war, konnte ich es ihr einfach nicht länger vorenthalten. Ich fühlte mich schlecht, weil ich vorhin nicht die Wahrheit gesagt und stattdessen in gewisser Weise gelogen hatte.
„Du, Cath.“
„Boah, sieh dir doch mal an, wie die um die herum schleichen. Voll peinlich ist das. Sollte ich mal zu so einem Tier mutieren, dann schlag mich bitte so lange, bis ich wieder zur Vernunft komme.“ Cath schüttelte den Kopf.
„Cath, ich muss dir was sagen.“
„Und schau mal, wie die eine dem jetzt durchs Haar fährt. Ha, man kann es ja förmlich riechen, dass es ihm missfällt. Tja, Pech gehabt Jungs. Wer schön sein will muss leiden.“
„Cath, hörst du mir überhaupt zu?“
„Oh man. Ich könnte mich den lieben langen Tag darüber amüsieren! Cartoons sind nichts im Vergleich.“
Ich rollte mit den Augen, atmete tief ein und sagte: „Ich habe unser Versprechen gebrochen und gestern Tristan getroffen.“
„Und wie die eine mit dem Hintern wackelt, ich glaube, ich würde…“ Cath hielt in ihren Selbstgesprächen inne. Ganz langsam wandte sie ihren Kopf zu mir um und sah mich an. „Würdest du das bitte wiederholen, ich glaub ich habe mir gerade eingebildet, dass du etwas gesagt hast.“
„Cath, du hast schon richtig gehört. Ich habe unser Versprechen gebrochen und Tristan gestern gesehen.“ Ich machte mich auf einen Knall gefasst, auf ein Geschrei, lauter als das Gekreische der Mädchen.
Doch nichts dergleichen. Cath Mund klappte nach unten und wieder hoch. Sie öffnete und schloss ihn, so als sei sie verzweifelt auf der Suche nach den richtigen Worten. Vielleicht würde sie sich doch nicht so aufregen, wie ich befürchtete.
„Aber es ist nicht so, wie du denkst. Er kam zufällig vorbei und hat mir geholfen.“
„Geholfen? Wobei hatte er dir denn bitteschön geholfen? Beim ausprobieren, wie deine Zunge sich anfühlt? Beim Erinnern, an dem Punkt, wo ihr letztens aufgehört habt? Bei der Mund zu Mund Beatmung?"
„Nein. So war das nicht.“
„Nein? Bist du dir da sicher? Für mich klingt meine Theorie jedenfalls mehr nach Tristan.“
„Jetzt lass mich doch mal ausreden!“ Cath sagte nichts, sondern wartete. „Also, jemand hat mir gestern einen Zettel auf den Tisch gelegt, auf dem stand, dass diese Person mich dringendst am Pool sehen muss.“ Dass er von Romeo war, erwähnte ich lieber nicht. „Ich ging also zum Pool und als da niemand war, habe ich mich ans Wasser gesetzt, weil ich mich ein bisschen abkühlen wollte. Und da… nun ja… wie soll ich es am besten sagen…?“ Cath machte immer noch keinerlei Anstalten etwas zu sagen. „Also, diese Person kam dann und es hat sich dann herausgestellt, dass es nicht nur eine war. Es waren 5 Mädchen, die… nun ja… Sie haben meinen Kopf unter Wasser gestukt, mich festgehalten und wollten meine Haare verbrennen.“
„Sie haben was?!", brüllte Cath. Sie übertönte sogar das Gekreische. Auf einmal wurde es still im Korridor und alle Augenpaare richteten sich auf uns.
„Psst, Cath. Nicht so laut!“
„Ich glaub es nicht! Wie können die es wagen, so mit dir umzugehen?!“ Cath dachte gar nicht daran, ihre Stimme zu senken.
„Cath, bitte. Das muss doch nicht gleich jeder mitbekommen!“
„Boah, wenn ich diese Schlampen in die Finger bekomme, dann können die was erleben! @&*.!“3"
„Cath! Aber es ist doch gar nicht so schlimm gewesen.“
„Nicht schlimm? Nicht schlimm? Welchen Teil von Kopf unterstuken und Haare abfackeln, hast du nicht verstanden?“
„Aber es ist doch gar nicht soweit gekommen, weil…“
„Also wie jetzt? Ich dachte, die haben das gemacht! Aber auch egal. Allein schon, dass die das wollten und daran gedacht haben… Dafür werde ich die sowas von @&*.!“3<“
Ich rollte mit den Augen, nahm ihr Gesicht in meine Hände und zwang sie in meine Augen zu sehen. „Cath, würdest du bitte etwas leiser sein und dich nicht so aufregen. Ich möchte nicht, dass du dich aufregst. Es ist doch nichts Schlimmes passiert. Gut, sie haben meinen Kopf drei Mal unter Wasser getaucht, aber es war nicht schlimm. Ich bin ein bisschen nass geworden, weiter nichts. Und bevor sie mir etwas Schlimmes antun konnten, kam Tristan und hat die Mädchen davon abgehalten.“
Cath hatte sich wieder einigermaßen beruhigt, doch als sie den Namen Tristan hörte, schnaubte sie. „Tristan hat dir geholfen?“, fragte sie unglaubwürdig.
„Ja“, lächelte ich, froh darüber, dass sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. „Er hat die Mädchen zur Vernunft gebracht, sie haben sich bei mir entschuldigt und dann hat er mich zurück zum Schulgebäude gebracht. Als Dankeschön habe ich ihm ein Bento gemacht, weil er mich darum gebeten hat.“
Cath sah mir in die Augen, dann blickte sie nach unten. „Dann muss ich mich wohl bei ihm bedanken, oder?!“
„Warum?“
„Na, weil er meiner J.J. geholfen hat. Auch wenn ich ihn hasse, er hat dir geholfen und dafür bin ich, ob ich es will oder nicht, dankbar. Obwohl ich es lieber hätte, wenn ein Kakerlake dir geholfen hätte.“ Ich musste lachen und Cath lächelte leicht. „Oh man. Da wird er bestimmt triumphieren, wenn ausgerechnet ich mich bei ihm bedanke. Mir graust‘s jetzt schon davor. Lass ihn uns in der nächsten Pause suchen. Da haben wir genug Zeit. Ich kann mich bedanken, du gibst ihm das Bento und danach verschwinden wir und halten uns von ihm fern.“ Somit ging Cath weiter Richtung Klassenraum. Ich lächelte. Sie würde ihre Meinung wohl nie ändern.

„Also, wo könnte er sein?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht bei seinen Freunden.“
Cath sah mich ungläubig an. „Also gut. Wo könnten Tristan und Co gerade sein?“
Ich musste lachen.
„Hör auf zu lachen. Das hier ist eine ernste Angelegenheit“, sagte Cath übertrieben ernst, wodurch ich nur noch mehr lachen musste.
„Hm, vielleicht ist es ja im alten Musikraum?“ Ich sah Cath verdutzt an. „Ja ich weiß, was du dich gerade fragst. Wie kommt es, dass ich weiß, wo sie sind, wenn ich sie doch so sehr verabscheue? Ganz einfach. Ichbeobachte.“
„Stalker“, sagte Michael, der gerade zufällig an uns vorbei lief.
Cath streckte ihm die Zunge raus.
„Nein. Ich habe einmal mitbekommen, wie sich ein paar darüber unterhalten haben. Sie gehen meistens in den alten Musikraum im dritten Stock. Er wird nicht mehr benutzt, weil wir doch jetzt den neuen, eine Etage tiefer haben. Sie sollen dort immer abhängen, weil dort viel Platz ist, um sich mit all den Mädchen zu vergnügen.“ Sie rollte mit den Augen. „Wir gucken einfach mal. Immer noch besser, als planlos in der Gegend rumzulaufen.“
Also machten wir uns auf den Weg in den dritten Stock.
„Was ist denn so besonders an dem Musikraum?"
„Weiß ich auch nicht so genau. Wie ich gehört habe, haben die Jungs ihn umgebaut. Die Tische haben sie rausgeschmissen. Ich glaube da steht noch ein alter Flügel drinne. Ein paar von den Jungs sollen ja musikalisch begabt sein.“
„Sie haben einfach so ein Klassenzimmer umgebaut?“
„Nein natürlich nicht. Sie haben den Direktor natürlich um Erlaubnis gefragt. Ich vermute mal, dass ein bisschen Geld geflossen ist, so Spende mäßig. Und die Finanzierung des Umbaus haben natürlich sie bezahlt.“
Wir standen vor der riesigen Tür. Rechts oben zeigte ein Schild, dass es sich um den Musikraum handelte.
„Und warum haben sie dann nicht das Schild geändert?“
„Weiß ich doch auch nicht. Vielleicht wollte ja unser lieber Herr Direktor nicht, dass da „Host Club“ steht." Ich sah sie entgeistert an. „Was denn? Sowas in der Art sind die doch. Bloß das sie das ohne Bezahlung machen.“
"Cath!“
Doch Cath grinste nur. „Tschuldigung J.J. Ich werde mich jetzt zusammenreisen und mich ganz höflich und freundlich, wie ich bin, bei Tristan bedanken, dafür, dass er dir geholfen hat, du überreichst im das Bento…“ Ich lächelte. „… und dann darf ich ihn wieder in aller Ruhe hassen.“
Ich musste lachen. Cath lächelte nur und klopfte dann an die Tür.

Einen Augenblick passierte nichts. Wir standen vor der riesigen Tür und warteten. Von drinnen waren keine Geräusche zu hören.
„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte ich Cath.
„Ich weiß nicht“, antwortete sie und zuckte mit den Schultern.
Doch da ging plötzlich die Tür eine Hand breit auf und ich blickte für einen kurzen Augenblick in zwei tiefgrüne Augen.
Dann ging alles ganz schnell. Ich wurde kurzerhand am Arm gepackt, in den Raum gezogen und die Tür wurde hinter mir verriegelt.
Für einen kurzen Augenblick war ich überrascht von der Situation und Cath vermutlich auch. Doch sie hatte schnell ihre Fassung wieder gewonnen und schlug von außen gegen die Tür. „Hey, du Idiot, was soll das? Mach sofort die Tür auf! J.J.? J.J.? Ist alles in Ordnung mit dir? Wehe, wenn du ihr zu nahe kommst!“
Tristan grinste und blickte dann mich an. Ich stand mit dem Rücken an die Tür gelehnt und konnte spüren, wie sie unter Caths Schlägen erzitterte.
„Hast du dein Schoßhündchen mitgebracht?“, fragte er immer noch grinsend.
„Wie bitte?“ Meinte er Cath damit? „Cath ist doch kein Schoßhündchen. Sie ist…“
Doch weiter kam ich nicht, denn auf einmal legten sich seine Lippen auf die meinigen. Der Kuss war anders, als der von gestern. Drängender… fordernder. Er drang erneut in meinen Mund ein und spielte mit meiner Zunge. Seine eine Hand war an der Tür abgestützt, während seine andere mein Kinn umschloss und meinen Kopf mehr in seine Richtung zog. Ich wollte ihn von mich stoßen, doch es gelang mir nicht.
Dieses Gefühl, welches ich heute Morgen bereits verspürt hatte, machte sich wieder in meinem Magen breit und erneut fühlte ich mich schwach.
Das Bento rutschte mir aus der Hand und fiel zu Boden, doch Tristan ignorierte es. Mittlerweile hatte er sich von meinem Mund gelöst und begann nun meinen Hals zu liebkosen.
„Das was gestern passiert ist.“ Ich horchte auf. „Ich meine, dass was zwischen uns passiert ist.“ Er kam mit seinem Gesicht wieder nah an das meinige und grinste. „Ich möchte, dass das unser kleines Geheimnis bleibt, okay?“
Ich sah ihn verdutzt an. „Was…?“
„Ich bitte dich!“ Und noch bevor ich irgendetwas machen konnte, küsste er mich wieder. Doch diesmal war es viel sanfter und vorsichtiger. Meine Beine knickten ein und ich rutschte an der Tür herunter. Tristan grinste und beugte sich über mich. „Mach ich dich etwa schwach?“
Ich sah ihn nur an und antwortete nichts. Was war nur los mit mir?

„Was ist hier los?“ Vor der Tür stand ein Junge und schien mit Cath zu reden.
„Dieser verdammte Idiot hat sich mit J.J. eingeschlossen!“
Eine kurze Pause herrschte, dann klopfte erneut jemand an die Tür. „Tristan? Ich bin’s Brian. Mach die Tür auf!“
Tristan seufzte. „Nirgends hat man seine Ruhe.“ Er ergriff meine Hand und zog mich hoch. Dann öffnete er die Tür.
In dem Bruchteil einer Sekunde rauschte Cath herein und zerrte mich von Tristan weg. „Hat er dir etwas angetan? Ist alles in Ordnung mit dir? Wenn er dir wehgetan hat, dann musst du es mir sagen.“ Und zu Tristan gewandt, sagte sie: „Boah, du Ar***. Eigentlich wollte ich mich ja bei dir bedanken, aber hier nach kannst du dir deinen Dank sonst wo hinstecken.“
„Du kannst dich gerne bei mir bedanken“, grinste der blonde Junge, der offenbar Brian war, sie an.
„Nicht mal in deinen kühnsten Träumen würde ich das machen.“
„Hey, steigt hier ‘ne Party, von der ich nichts weiß?“ Drei Jungen betraten den Raum. „Oh, mit heißer Besetzung.“
Der Junge, den ich letzte Pause schon gesehen hatte, grinste Cath und mich an. „Wage es ja nicht, auch nur einen Schritt näher zu kommen, Jake“, fauchte Cath ihn an.
„Ganz schön bissig, muss ich ja sagen. Aber ich mag es, wenn die Frauen etwas widerspenstiger sind. Obwohl ich auch nichts gegen ein paar unschuldige habe, die man leicht verführen kann.“ Und damit blickte er mich direkt an.
Cath wollte etwas sagen, doch Brian kam ihr zuvor. „Jake. Du solltest dich in der Gegenwart von zwei reizenden Damen benehmen. Das war eben nicht Gentleman-like.“ Er lächelte freundlich. Cath schnaubte.
„Übrigens“, wandte sich Brian wieder Tristan zu. „Was war hier drin eigentlich los?“
„Genau. Warum hast du J.J. einfach so herein gezogen und dann hinter ihr abgeschlossen? Du, ich warne dich, wenn du irgendwas mit ihr gemacht hast…“
„Ihre Bluse war falsch geknöpft“, sagte Tristan lässig.
Alle sahen ihn verdutzt an. Auch ich.
„Bitte?“, fragte Cath.
„Ja. Als ich die Tür aufgemacht habe, sah ich, dass sie ihre Bluse falsch geknöpft hatte. Mann hatte einen guten Einblick, muss ich schon sagen“, grinste er wieder. „Jedenfalls dachte ich, dass es vielleicht peinlich wird, wenn sie so den ganzen Tag lang rumläuft. Immerhin möchte ich ja nicht, dass sie von irgendwelchen notgeilen Typen dumm angemacht wird.“
„Na dann solltest DU auf alle Fälle nicht mehr mit ihr reden“, entgegnete Cath, dann wandte sie sich an mich. „Stimmt das?“
Alle Augen waren auf mich gerichtet. Jeder wartete auf eine Antwort von mir. Ich konnte sehen, wie Cath darauf hoffte, dass ich nein sagen würde und ihr somit einen Grund gab, ihn bis ans Ende ihrer Tage zu verabscheuen. Ich sah Tristan an, wie er für alle nicht sichtbar seinen Zeigefinger an die Lippen hob und zwinkerte.
„Ja“, sagte ich.
„Na, dann hat sich ja die Sache selbst geklärt“, sagte Brian und lächelte. „Ike, würdest du bitte die Tür schließen, es muss ja nicht gleich wieder jedermann wissen, dass wir hier drin sind.“
Cath sah mich immer noch an und versuchte herauszufinden, ob ich ihr etwas vormachte. Ich fühlte mich schlecht. Schon wieder hatte ich ihr gegenüber gelogen. Das zweite Mal an nur einem Tag. Ich wollte das nicht. Aber ich konnte auch nicht sagen, warum ich es tat. Es ist mir eigentlich mehr herausgerutscht, als das ich wirklich darüber nachgedacht hatte.
Tristan grinste.
„So, wollen die Damen vielleicht eine Tasse Tee?“, fragte Brian uns und lächelte sein charmantestes Lächeln.
Cath sah ihn ungläubig an. „Wie kommst du darauf, dass wir eine Tasse Tee trinken wollen? Ausgerechnet mit euch?!“
„Nun, vielleicht, weil wir gut aussehen“, grinste Jake.
Cath schnaubte verächtlich, sagte jedoch nichts.
„Es gibt viele Mädchen an dieser Schule, die sich darum reißen würden, mit uns einen Tee zu trinken“, lächelte Brian.
„Und Kuchen zu essen“, ergänzte der Junge, der links neben Jake stand und hob einen kleinen Karton von einem unserer Schulcafés hoch.
Tristan lachte kurz auf und auch die anderen konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Nun, dass Mat euch etwas von seinem Kuchen abgeben will, grenzt an ein Wunder. Normalerweise ist er alles alleine auf. Ihr solltet also besser nicht abschlagen. So eine Gelegenheit kommt vielleicht nie wieder.“ Brian strahlte uns förmlich an und ergriff ohne auf eine Antwort zu warten Cath Hand und führte sie in den Raum.
„He, warte mal…“, begann sie, doch er lächelte fortwährend und führte sie letztendlich zu einem Sofa, auf das er sie vorsichtig absetzte.
„Ich mach dann mal den Tee“, sagte Ike und ging zielstrebig zu einer Tür am anderen Ende des Raumes. Jetzt, wo sich alle etwas verstreuten, konnte ich den Raum besser erkennen.

Wie Cath gesagt hatte, hier wurde vieles verändert. Nichts erinnerte mehr an ein ehemaliges Klassenzimmer. Der Boden und die Wände wurden im hellen Stil beibehalten und überall im Raum waren bequeme Sitzmöglichkeiten mit Tischen aufgestellt. Den Mittelpunkt des Raumes zierte ein alter schwarzer Flügel, der im matten Licht der hereinfallenden Sonne glänzte. Er war einfach wunderschön.
Ich spürte den Drang in mir aufsteigen mich an ihn zu setzen und ihn zu spielen. Ich war mir sicher, dass er schöner klang, als jedes andere Instrument, das ich bisher gespielt hatte.
Fasziniert ging ich auf ihn zu und streifte mit der Hand über das glatte schwarze Holz. Es fühlte sich wunderbar an, so harmonisch. Ich streifte über die Tasten. Sie gaben ganz leicht nach, erzeugten jedoch noch keinen Ton. Sie waren oft bespielt worden, da war ich mir sicher. Ich lächelte, setzte mich auf den Sitz und begann den Flügel anzuschlagen.

 

Er setze sich auf ein Sofa, genau gegenüber von Cath. Er konnte nicht anders, er musste sie einfach provozieren. Sie sah ihn zornfunkelnd an und er grinste. Diese ganze Situation war einfach zu komisch. Noch vor ungefähr 5 Minuten waren er und J.J. allein in diesem Raum gewesen und hatten etwas gemacht, wofür ihm diese Cath vermutlich an die Gurgel springen würde.
Es war ihm schwer gefallen, sich zu beherrschen. So sehr sehnte er sich bereits nach ihr. So sehr war sein Verlangen, sie zu haben… sie zu berühren… sie zu halten.
Es war ihm egal, was J.Js Schoßhündchen dazu dachte. Er musste kurz auflachen. Ja, Schoßhündchen. Das passte perfekt zu ihr. Sie ließ J.J. ja nicht mehr aus den Augen. Wie eine Klette hing sie an ihr und fuhr ihre spitzen Stacheln aus, wenn sich ein Junge ihr auch nur auf 5 Metern näherte.
Doch ihm war es egal. Ihm war es egal, was diese Cath von ihm hielt, ob sie ihn mochte oder nicht, ob sie diese Geschichte glaubte oder nicht. Das spielte für ihn keine Rolle. Ihn interessierte nur J.J.
Er ließ seinen Blick, auf der Suche nach ihr, durch den Raum gleiten. Stand sie etwa immer noch an der Tür? Hier bei ihnen war sie jedenfalls nicht. Am liebsten hätte er sie auch an der Hand genommen, so wie gestern und sie für den Rest seines Lebens nicht mehr losgelassen.
Sie waren so weich und zart. Er hatte Angst gehabt, sie zu zerbrechen, wenn er sie zu fest drücken würde.
Schließlich entdeckte er J.J. am Flügel. Eine Hand streichelte sanft über das Holz und er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. Was machte sie da nur? Niemand sonst schien ihre Abwesenheit bemerkt zu haben. Auch Cath nicht, die gerade mit dem Versuch beschäftigt war, Brian auf Abstand zu halten.
Sie hob ihren Kopf  und ihre braunen Haare fielen zur Seite und offenbarten ihr Gesicht. Für einen Moment stockte ihm der Atem und er war unfähig sich zu bewegen. Er konnte seine Augen einfach nicht von ihrem Gesicht nehmen, begann sich jedes winzige Detail zu merken. Er wollte sich dieses Bild so oft es ging in Erinnerung rufen, so sehr fesselte es ihn. Am liebsten hätte er dieses Szenario, um es sich immer ansehen zu können. Wie sie da stand. Ihr Blick war voller Glück… Freude… Faszination… und Liebe. In ihrem Blick steckte so viel Liebe. Er wusste gar nicht, dass ein Mensch zu so viel Liebe fähig war.
Ihre Augen leuchteten und ein traumhaftes Lächeln umspielte ihre weichen Lippen. Dieses Bild war so perfekt… so… wunderschön und einzigartig. Fotografen waren jahrelang auf der Suche nach einem Bild, das nur halb so viele Gefühle in einem Beobachter hervorrief, wie dieses hier.
Auf einmal war er froh darüber, dass die anderen gekommen waren. Wären sie nicht unterbrochen worden, dann hätte er dies hier vermutlich nie gesehen. Doch er war auch wütend. Er wollte nicht, dass irgendein anderer dies hier sah. Er wollte dieses Bild ganz für sich allein.
J.J. setzte sich auf den Hocker und ihre Finger streiften noch einmal kurz über die Tasten. Es hatte immer noch niemand mitbekommen, dass sie nicht da war. Mat teilte freudig seinen Kuchen aus und Ike kam gerade mit einer großen Kanne Tee zurück. Jake lehnte sich über die Lehne und sein Kopf war direkt neben Cath‘s, was sie sichtlich störte. Brian war wie immer der Gentleman und lächelte die ganze Zeit.
Plötzlich schlug J.J. einen Ton an. Niemand hatte es mitbekommen, denn sie waren alle zu sehr mit ihren eigenen kleinen Gesprächen beschäftig. Ike, der Mat zur Vorsicht ermahnte. Jake, der versuchte Cath auf sich scharf zu machen und Brian, der andauernd nach ihrem Wohlbefinden fragte. Niemand hatte es mitbekommen, niemand außer ihm.
Begierig wartete er auf die Musik. „Los“, dachte er, „Spiel!“
J.J. richtete sich noch einmal kurz auf und begann dann einen weiteren Ton anzuschlagen. Auf den ersten folge ein weiterer und dann noch einer, bis schließlich eine liebliche Melodie den Raum erfüllte.
Die anderen hielten inne und lauschten der Musik.
Wie alles andere an J.J. war dieses Stück wunderschön. Er kannte es nicht und dennoch hatte er das Gefühl, dass es nichts anderes auf der Welt gab, was ihn so harmonisierte. Er hätte ihr stundenlang zuhören können.
Für einen kurzen Augenblick schloss er die Augen, um der Melodie noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Sie durchdrang ihn und es schien, als würden alle Anspannungen der letzten Wochen, wenn nicht sogar Jahre, von ihm abfallen. Harmonie war das einzige, was er in diesem Moment fühlte.
Niemand sagte ein Wort. Sie waren alle zu sehr von diesem Stück gebannt. Selbst Jake, der sonst immer die Worte auf den Lippen trug, schwieg dieses eine Mal und hörte interessiert zu.
Das Stück neigte sich langsam wieder dem Ende zu. Auf einmal bekam er Panik. Er wollte nicht, dass es aufhörte, er wollte, dass es endlos so weiter ging. Er hatte Angst, dass die Harmonie, die ihn durchdrang mit dem letzten Ton verschwinden würde.
Er öffnete die Augen und blickte wieder zu J.J. Erst jetzt bemerkte er, dass sie neben dem riesigen Flügel sehr zierlich wirkte. Ein großes schwarzes Monstrum und ein kleines Mädchen, das in ihrer Naivität nur das Gute im Menschen sah. Er spürte den Drang in sich, sie zu beschützen. Er musste sie beschützen. Vor allem und jeden. Wie er es versprochen hatte, würde er sich daran halten. Und wenn es bedeuten würde, dass er selbst darunter litt, er würde sie mit aller Macht beschützen. Denn er wollte nicht, dass sie jemals Angst haben musste. Sie sollte niemals Schmerz empfinden, Trauer oder gar Einsamkeit.
Selbst wenn es hieß, dass er sich von ihr fern halten musste. Selbst wenn es bedeutet, dass sie in Zukunft sich nicht mehr so oft sehen konnten. Das, was gestern geschehen war, durfte nie wieder geschehen. Brian hatte Recht. Wenn er auch nur einem Mädchen den Hof machte, geschah eine Katastrophe. Und das konnte er J.J. kein zweites Mal antun.
„My Dear, no one can make you stained. Because I’m gonna defend you from evil“, flüsterte er.
Der letzte Ton erklang und mit ihm die Liebe zu einem Mädchen, derer sich Tristan Morran gerade bewusst wurde.

 

Als der letzte Ton im Raum verklang, herrschte für einen kurzen Augenblick Stille. Dann, auf einmal, brachen sie in Beifall aus. Ich erschrak und drehte mich um. Alle klatschten, Cath strahlte sogar bis über beide Ohren. Ich spürte, wie die Röte mir ins Gesicht schoss. Hatten sie etwa alles mit angehört? Ich war so fasziniert gewesen, dass ich ga nicht bemerkt hatte, dass außer mir noch andere da waren... ich hatte sie einfach vergessen.
Ich lächelte. "Entschuldigung, dass ich, ohne zu fragen, einfach so gespielt habe."
"Aber das macht doch nichts", erwiderte Brian mit einem Lächeln, "Wir sind sogar sehr froh, dass du es getan hast. So eine liebliche Melodie habe ich seid langem nicht mehr gehört."
"Das war wunderschön, Süße", lächelte Cath.
Ich bedankte mich und stand auf. Erst jetzt bemerkte ich die etwas ungewohnte Situation, in der sich Cath befand. Sie saß neben Brian und Jake, was ihr offensichtlich unangenehm war. Brian lächelte sie die ganze Zeit an. Jake hatte seinen rechten Arm auf die Rücklehne des Sofas gelegt und sie bedachte ihn mit einem bösen Blick. Gegenüber von ihnen saßen Tristan und Mat, der fröhlich ein Stück seines Kuchens aß. Den Rest hatte er auf andere Teller verteilt.
Tristan blickte aus dem Fenster. Seinen Gesichtsausdruck konnte ich nicht erkennen, aber ich vermutete, dass er träumte. Ich lächelte innerlich. Zu gerne hätte ich sein träumendes Gesicht gesehen. Seine tiefen grünen Augen einmal ohne jeglichen Ausdruck. Vermutlich waren sie dann noch tiefer.
Ich stockte. Warum interessierte ich mich so für seine Augen?
Auf einmal räusperte sich Ike. Ich blickte ihn an. Von allen fünf, hatte er bisher am wenigsten gesprochen. Er sah mich durchdrigend an und ich erwiderte seinen Blick leicht verwirrt. Er sagte kein Wort, was mich nur noch mehr verwirrte. Ich lächelte, doch seine Miene blieb regunglos. Mitlerweile hatten auch die anderen das Szenario mitbekommen. Unverwandt ging ihr Blick von meinem zu seinem Gesicht und dann wieder zurück.
"J.J., was ist los?", fragte Cath.
"Ich weiß nicht", antwortete ich ihr.
"Ach, das ist so, wen ihr mit Ike zu tun habt", erwiderte Jake lässig. Sein Arm hing immer noch über dem Couchrücken, weswegen Cath ein Stück zur Seite gerückt war, was Brian offensichtlich ziemlich freute.
"Wie bitte?", fragte ich nach. Ich verstand nicht worauf er hinaus wollte.
"Naja, ich sag's mal so: Ike ist nicht gerade der Typ, der viel spricht und viel agiert. Er hält sich eher im Hintergrund, hat was mystisches an sich." Bei dem Wort mystisch fuchtelte er kurz mit seinen Armen in der Luft herum. "Vermutlich stehen die Mädels deswegen auf ihn.  Er hat so was undurchschaubares. Er ist geheimnisvoll."
Cath prustete los. Offenbar amüsierte sie der Blick, denn Ike verzog sein Gesicht zu einer Grimasse.
Ich blickte Ike an. Was war wohl der Grund dafür. Ike jedoch schien keine Lust mehr auf dieses Gespräch zu haben, denn er ging Richtung Tür. Ich blickte ihm nach. Er musste doch deswegen nicht gleich gehen.
Doch zu meiner Überraschung ging er nicht. Er blieb kurz vor der Tür stehen und hob etwas, das auf dem Boden lag auf. Ich erschrak. Das war ja das Bento für Tristan. Ich hatte es vorhin fallen gelassen, als mir plötzlich schwindelig wurde und vergessen gehabt es wieder aufzuheben. Ike kam mit der Box wieder zurück und hielt es mir ohne ein Wort zu sagen hin.
Ich lächelte. "Danke."
Er nickte nur kurz und ging dann wieder auf seinen Platz von vorhin. Ich blickte ihn noch eine Weile an, obwohl seine Aufmerksamkeit wieder dem Ausschenken von Tee golt. War das eben gerade ein Hauch von Lächeln gewesen?
"Hier, bitteschön." Ich hielt Tristan das Bento hin und lächelte. Er sah mich einen kurzen Augenblick durchdringend an, so als suchte er nach etwas in meinen Augen.
Dann lächelte er und nahm es entgegen. "Danke."
"Was ist das?", fragte Brian interessiert.
"Ein Bento", antwortete ich.
"Ein Bento?", fragten Jake, Brian und Mat wie aus einem Munde. Ike hielt sich wie immer im Hintergrund.
Ich nickte: "In einem Bento werden verschiedene Speisen aufbewahrt und transportiert. Normalerweise ist die Hauptspeise Reis. Dazu werden verschiedene Beilagen angereichert. Gemüse, Fleisch, Fisch... In diesem Fall aber habe ich nur Onigiris gemacht. Ich dachte für den Fall, dass du noch nie etwas asiatisches gegessen hast, wäre das ein guter Anfang."
Ich wandte meinen Blick wieder Tristan zu. Sein Blick war schwer zu definieren. So einen Ausdruck hatte ich noch nie bei ihm gesehen. Es schien fast, als wäre er traurig.
Doch noch bevor ich etwas sagen konnte, nahm er die Box und öffnete sie. "Onigiris", murmelte er, während er die Reisbällchen ansah.
Mat rutschte weiter zu Tristan und sah ebenfalls in die Box. Seine Augen fingen an zu leuchten. "Darf ich eins?", fragte er.
Tristan sah ihn kurz an, dann lächelte er und sagte: "Na klar."
"Danke!" Mat wollte gerade eines nehmen, als er plötzlich stockte. "Also...ähm...", begann er und sah mich dann an, "Wie ist man so was? Mit Stäbchen?"
Ich musste lachen. "Nein. Für Stäbchen sind Onigiris viel zu groß. Siehst du das Nori-Blatt, da in der Mitte einer Seite? Das ist dafür da, damit man sie in die Hand nehmen kann."
"Aber fallen die nicht auseinander? Immerhin bestehen die doch nur aus Reis. Oder hast du die zusammengeklebt?"
Mittlerweile hatten sich auch Brian und Jake vorgebeugt und sahen in die Box. Ich konnte sehen, wie Cath aufatmete. Vermutlich war sie froh darüber, nicht von den Jungen eingeengt zu werden.
"Oh nein, sie fallen nicht auseinander. Und ich habe sie auch nicht zusammengeklebt. Probiert es doch einfach aus."
Mat war der erste, der sich traute. Fast schon begierig griff er in die Box und hob dann vorsichtig das erste an. Als er sich versichert hatte, dass es hielt, nahm er einen Bissen.
"Und?", fragte Jake und Brian wie aus einem Munde.
Ich musste lachen. Sie sahen irgendwie aus, als würden sie vermuten, ich hätte es vergiftet.
Mat kaute kurz, dann schluckte er es herunter. Ein breites Lächeln stahl sich auf seine Lippen: "Lecker!"
Ich freute mich.
Brian und Jake sahen nun begierig Tristan an. Er rollte kurz mit den Augen und zuckte dann mit den Schultern: "Julia hat 5 gemacht, als kann jeder eins haben. Ich bin ja nicht so", grinste er.
Abwechselnd nahmen sich die beiden auch ein Onigiri und probierten es.
"Echt lecker", sagte Jake.
"Sag ich doch", erwiderte Mat und grinste.
Das Lob der anderen Jungen bemerkte ich kaum. Meine Gedanken kreisten nur um ein einziges Thema. Warum hörte es sich so komisch an, wenn Tristan mich bei meinem richtigen Namen ansprach?
Das Klingeln riss mich aus meinen Gedanken. War es etwa schon so spät? Für Cath schien es jedenfalls ihre Rettung zu sein.
Hastig sprang sie vom Sofa auf und versuchte nicht einmal ihre sarkastische Stimme zu verstellen. "Oh, schon so spät. Das ist jetzt aber auch wirklich schade, dass wir schon gehen müssen. Ich fand es gerade so richtig gemütlich", grinste sie.
"Na, wenn das so ist, dann sehen wir uns morgen wieder. Selbe Zeit, selber Ort", lächelte Brian. Es gab selten jemanden, der Cath kontern konnte und sich nicht von ihren Bemerkungen einschüchtern lies.
"Tse und wovon träumst du nachts, wenn ich mal fragen darf?!"
"Oh, ich glaube das übersteigt deine Vorstellungskraft." Dieses Mal war es Jake, der ihr antwortete.
Tristan lachte in sich hinein.
"Was gibt es da zu grinsen?", fuhr sie ihn an.
"Ich finde es amüsierend." Er grinste sie an.
Cath bedachte ihn mit einem wütenden Blick. "Komm, J.J., wir gehen!" Damit machte sie auf den Absatz kehrt und ging zur Tür.
Bevor ich ihr folgte, bedankte ich mich noch einmal bei den Jungen: "Vielen Dank für den Tee. Auf Wiedersehen", lächelte ich und folgte dann Cath.
"Bis morgen", lächelte Brian und winkte.
Cath schnaubte und schlug dann hinter uns die Tür zu. "Wenn die wirklich glauben, wir würden die morgen besuchen, dann irren die sich aber gewaltig." Cath stampfte wütend den Flur entlang.
"Warum regst du dich denn wieder so auf?"
"Warum? Warum nicht? Das sind vollkommene Idioten, die glauben sie könnten sich alles erlauben, nur weil ein paar hirnverbrannte Teenager ihnen hinterher schreien. Aber da schätzen die uns falsch ein. Auf so etwas stehen wir nämlich überhaupt nicht. Wir gehen da morgen nicht hin. Hundertprozentig gehen wir da morgen nicht hin. Der wird sich noch wundern, dass wir nicht kommen."

 

"Sie werden kommen", lächelte Brian.
"Bist du dir da so sicher?", fragte Jake.
"Natürlich." Brian nahm einen Schluck von seinem Tee.
"Und woher?", fragte ihn Tristan.
Brian lächelte ihn an. "Intuition."
Tristan und Jake sahen sich einen Augenblick lang skeptisch an. "Na, wenn du meinst."
Brian wandte sich dem unangerührten Kuchen zu, der vor ihm stand und Ike hatte sich mittlerweie auch hingesetzt.
Alles ging seinen gewohnten Gang. Nur er kam nicht zur Ruhe. Die ganze Zeit musste er an sie denken. Sein Blick fiel auf den letzten Onigiri. Er nahm ihn in die Hand. Sieht nicht ungefährlich aus, dachte er sich. Er nahm einen Bissen. Es schmeckte wirklich gut. Wie konnte sie jemals nur daran geglaubt haben, dass es furchtbar schmecken würde? Insgeheim freute er sich schon auf das nächste Bento, welches er noch bekommen würde. Und dieses Mal würde er dafür sorgen, dass sie allein waren.

 

"Weißt du eigentlich schon, was du am Wochenende machst?"
"Ich weiß noch nicht. Vermutlich werde ich mich schon einmal mit der Hausarbeit von Mr. Hudson anfangen."
"Aber die müssen wir doch erst in drei Wochen abgeben." Entsetzt sah mich Cath von der Seite her an.
"Je früher ich damit anfange, desto früher bin ich damit fertig. Ich mag es nicht, Dinge aufzuschieben und sie dann hektisch in der letzten Minute zu erledigen."
"Ja, ist schon gut. Aber auch wenn du erst nächste Woche damit anfängst, wird das noch reichen."
"Wieso fragst du überhaupt?"
"Ich wollte was mit dir unternehmen."
"Und was?", fragte ich sie.
Plötzlich begann sie zu strahlen. "Ich wollte mit dir ins 'Blue Moon' gehen."
"Ins Blue Moon?", fragte ich interessiert. "Was ist das?"
"Einer der angesagtesten Clubs."
"Oh nein, Cath", erwiderte ich lachend.
"Was? Warum denn nicht?"
"Ich werde bestimmt nicht mit dir in einen Club gehen. Du wirst doch eh nur die ganze Zeit mit irgendwelchen Männern beschäftigt sein. Ich darf mich dann allein vergnügen."
"Aber nein, ganz gewiss nicht. Wenn du dabei bist, dann werde ich ganz brav sein. Naja... zumindest so weit wie ich das kann." Ich musste lachen. "Weißt du, wenn du willst nehmen wir noch ein paar andere Leute mit. Dann fühlst du dich erst Recht nicht allein, wenn wir so viele sind."
Und dann wandte sie sich der Klasse zu. "Hat irgendwer von euch Lust am Wochenende mit mir und J.J. ins "Blue Moon" zu gehen?" Außnahmslos alle Jungs meldeten sich.
"Aber Cath. Du kannst doch nicht so einfach in die Klasse brüllen."
Doch sie ignorierte mich. "Jungs vergesst es! Wir nehmen keinen von euch mit. Die Frage galt den Mädels."
"Du kannst uns nicht verbieten dorthin zu gehen", grinste Michael.
"Nein, Aber ich kann dir in deinen verklemmten Ar*** treten, solltest du dort auftauchen."
"Oh, drohst du mir etwa?" Michael und seine Jungs lachten.
"Nein. Ich warne dich nur." Dieses Mal lachten die Mädchen. "Also, was ist nun?"
"Natürlich kommen wir mit." Alice hatte sich zu Wort gemeldet. "Nicole, Samantha und ich sind dabei."
"Super!", lächelte Cath und wandte sich dann mir zu. "Tja, dann wäre alles geklärt."
Ich lächelte zögernd.
"Ich habe gehört, dass dieses Wochenende sogar der Besitzer da sein soll", sagte Nicole.
"Der Besitzer? Ist der nicht immer da?"
"Nein. Ich glaube, der war für ein paar Monate verreist oder so. Naja, er soll angeblich stinkreich sein und auf der ganzen Welt Clubs besitzen, die total angesagt sind. Ich glaube, er war unterwegs, um weitere Verträge abzuschließen."
"Und warum sollte uns das interessieren?", fragte Cath.
"Na, ich hab gehört, dass er total heiß sein sol.  Richtig gut aussehen und immer für Spaß offen. Und stell dir mal vor du hättest mit jemanden was am Laufen, der so viel Management betreibt wie er. Du könntest vermutlich in jeden seiner Clubs kostenlos rein."
"Vermutlich", wiederholte Cath und sah mich dann augenrollend an.
Ich erwiderte lachend: "Na, der wär doch was für dich, Cath."
"Ha ha. Glaubst du im ernst ich steh auf irgendwelche alten Anzugträger?"
"24."
"Wie bitte?", fragte Cath.
"24. Er ist nur 24 Jahre alt und schon so erfolgreich." Nicole grinste ihre Freundinnen an und die grinsten zurück. Es war ihnen anzusehen, dass sie liebend gerne eine Unterhaltung mit diesem Inhaber hätten, wenn nicht sogar mehr.
"Trotzdem zu alt. 20 Jahre, nicht älter. Ich steh eher so auf meinesgleichen."
"Na, dann haben wir ja eine Konkurenz weniger", mischte sich auch nun Samantha in das Gespräch mit ein.
Alle drei sahen dann mich an.
"Was?"
"Du wirst dich doch nicht an ihn ranmachen, oder?"
"Wie bitte?" Ich sah sie leicht entsetzt an.
"Nein.", antwortete Alice für mich. "Sie hat ja jetzt ihren Tristan."
Mit diesem Satz zwinkerte sie mir zu und ich sah, wie Cath sich versteifte.
"Na gut, wir können ja dann morgen noch bequatschen, wann wir uns treffen." Mit diesen Worten gingen die drei zu ihren Plätzen.

Willkommen im Blue Moon

Gerade, als ich unsere Haustür aufschließen wollte, wurde sie mir auch schon geöffnet.
"Willkommen daheim, Miss. Hatten Sie einen schönen Tag?" Nancy hielt mir lächelnd die Tür auf. Ich trat ein und bedankte mich.
"Der Tag war wie jeder andere." Sie schloss die Tür hinter mir und wollte mir meine Jacke abnehmen. Ich lächelte sie an: "Wie oft haben Sie mir schon die Tür aufgemacht und mir die Jacke abgenommen, Nancy?"
"So gut wie jeden Tag, Miss."
"Und wie oft habe ich Ihnen gesagt, dass Sie Ihre Zeit nicht damit verbringen brauchen vor der Tür zu warten und mir sie dann zu öffnen?"
"So gut wie jedes Mal, Miss."
Ich lächelte. "Sie brauchen mir nicht dauernd die Tür zu öffnen. Ich habe einen Schlüssel und weiß, wie ich ihn benutzen kann."
"Oh, das wollte ich damit nicht aussagen, Miss." Nancy lief leicht rot an.
"Das weiß ich. Sie machen das aus Höflichkeit und weil es Ihre Arbeit ist."
"Das auch, Miss. Aber ich dachte mir, wenn Sie jemand Zuhause willkommen heißt, dann fühlen Sie sich gleich viel wohler. Da Ihr werter Herr Vater und Ihre Frau Mutter immer lange arbeiten, hatte ich geglaubt, dass sie sich in dem riesigen Haus eventuell allein und verlassen fühlen. Um Ihnen das Gefühl zu nehmen, begrüße ich Sie jeden Tag." Sie sah nach unten. Offenbar schalt sie sich innerlich dafür, dass sie mir ihre Gedanken mitgeteilt hatte.
Ich seufzte. Wann würden unsere Hausmädchen wohl endlich einsehen, dass wir auch nur Menschen waren. Und sie die gleichen Rechte besaßen wie wir. Ich lächelte aufmunternd. "Danke, Nancy."
Sie sah wieder auf und strahlte. Ich reichte ihr meine Jacke und sie hing sie auf. "Möchten Sie vielleicht etwas zu essen oder zu...?"
"Nancy, verdammt, was machst du da?" Joanne kam auf uns zugeeilt. In der Hand hielt sie einen Kochlöffel. Ich lachte kurz auf.
"Ich begrüße die junge Miss Jacksen."
"Ja ja, mein Kindchen. Das hast du gut gemacht. Aber jetzt geh! Die Wäsche macht sich schließlich nicht von alleine."
"Natürlich." Dann knickste sie einmal in meine Richtung und verschwand dann.
Ich sah Joanne entgeistert an. "Hast du ihr das etwa eingeredet?"
"Was denn?", fragte sie.
"Na, dass sie mich tagtäglich begrüßen soll. Und vor allem, was soll dieses Knicksen?"
"Ach, ist doch jetzt unwichtig.!" Sie nahm mich bei der Hand und brachte mich in die Küche. "Setz dich, Kindchen." Auf dem Tisch stand eine Kanne Tee und ein Teller mit Gebäck. Joanne goss mir eine Tasse ein und schob den Teller näher zu mir heran. "Na dann, erzähl doch mal!" Sie lächelte breit und setzte sich mir gegenüber.
"Was soll ich den erzählen?" Ich roch an dem Tee. Hmmm. Es war grüner. Ich liebte grünen.
"Wie hat er darauf reagiert?"
"Wer hat auf was reagiert?"
"Na, dein Prinz."
"Mein Prinz? Was für ein Prinz? Ich kann dir leider nicht ganz folgen."
Joanne schüttelte den Kopf. "Der Junge, für den du gestern das Bento gemacht hast. Wie hat es ihm geschmeckt?"
"Ach so. Du meinst Tristan." Sie nickte eifrig. "Das weiß ich gar nicht."
"Wie bitte?"
"Ich hatte es ihm gebracht und er hat sich bedankt. Aber als ich dann ging, hatte er es noch nicht gegessen gehabt, also weiß ich das nicht." Joanne stöhnte. "Aber die anderen fanden es lecker." Ich lächelte und nahm einen Schluck.
"Die anderen?"
"Ja. Mat, Jake, Brian und Cath. Sie haben auch gekostet und fanden es lecker. Das habe ich nur deiner guten Kochkunst zu verdanken."
"Die anderen haben auch gekostet?", fragte Joanne ungläubig und ignorierte das Lob.
"Ja."
"Na, der muss ja Nerven haben." Ich sah sie verwirrt an. "Da wird ihm von einem hübschen Mädchen ein Bento geschenkt und dann verschenkt er es einfach weiter." Sie sprach eher zu sich, als zu mir.
"Was ist denn daran so schlimm?"
Sie lächelte mich zärtlich an und antwortete: "Nichts, mein Kindchen. Nichts." Dann stand sie auf und ging zum Herd. "Ich muss schon mal das Abendessen vorbereiten. Iss ruhig etwas von dem Gebäck. Nancy ist extra losgegangen, um dir eine Freude zu machen."

In meinem Zimmer angekommen, legte ich meine Tasche an den Tisch und ließ mich auf das Bett fallen. Ich schloss für einen kurzen Augenblick die Augen und ließ den Tag revue passieren. Cath Freude über das Bento... Die drei Mädchen die sich während des Mathematik-Unterrichtes unterhalten haben... Ich fragte mich worüber... Waren es wirklich Brian, Jake, Tristan, Mat und Ike gewesen über die sie angeregt getuschelt hatten? Cath' Aufregung über das gestrige Geschehen... Die Pause im Musikraum... Der Flügel... ... Der Kuss... Ich fuhr mit meinem Finger die Konturen meiner Lippen nach. Ich konnte immer noch seine Berührungen spüren. Warum nur?
Ich sah sein Gesicht. Er lächelte mich an. 'Du bist wunderschön, J.J.'
Ich hatte das Gefühl, als würden seine Lippen immer noch auf den meinigen liegen. Ganz sanft... Ich sah seine grünen Augen. Sie blickten mich an und ich verlor mich in ihnen. Ihr Anblick faszinierte mich. Ich konnte mich nicht von diesen Augen lösen. Mein Herz raste plötzlich und ich schreckte hoch. Etwas außer Atem saß ich auf meinem Bett und starrte an die gegenüberliegende Wand. Es war so echt gewesen. Seine Augen sahen so real aus.
"Darling, kommst du runter? Abendessen ist fertig." Das war meine Mutter.
Ich blickte auf meinen Wecker neben meinem Bett. Es war halb sieben. Erst jetzt bemerkte ich, dass es schon langsam zu dämmern anfing. Ich war eingeschlafen.
"Ich komme!", antwortete ich meiner Mutter. Dann stand ich auf und verließ mein Zimmer, nicht ohne noch einmal kurz vorher in den Spiegel zu sehen.

Im Esszimer fand ich meine Eltern auf. "Hi Mum. Hi Dad." Ich gab beiden einen Kuss auf die Wange und gesellte mich dann zu ihnen.
"Hallo, mein Schatz. Hast du einen schönen Tag gehabt?" Joanne brachte gerade mehrere Tabletts mit unserem Abendessen herein.
Ich lächelte: "Papa. Ich geh jeden Tag zur Schule. Es ist jeden Tag also immer der gleiche Tag."
"Nein das stimmt so nicht. Du hast jeden Tag anderen Untericht, also..."
"...erlebst du auch jeden Tag etwas anderes", beendete meine Mutter den Satz für ihn. Wir mussten beide lachen.
Jedes Mal, wenn wir auf dieses Thema zu sprechen kamen, antwortete er mit diesem Satz. Ich nahm mir von dem Hühnchen und dem Gemüse, während mir Joanne ein Glas Wasser einschenkte. Meine Eltern tranken Wein.
"Wie war euer Tag denn so?", fragte ich sie.
"Hach, naja. Du weißt ja. Momentan geht es bei uns etwas drunter und drüber. Mr. Dabbit hat erst kürzlich..."
"Du weißt, Darling. Keine Gespräche über die Arbeit am Tisch", lächelte ihn meine Mutter zärtlich an.
Er nickte nur und lächelte zurück: "Du hast Recht. Also, wenn wir von der Arbeit absehen, dann war der Tag relativ normal." Ich nickte und wandte mich dann wieder dem Essen zu.
"Wie geht es eigentlich Cath?", fragte mich meine Mutter.
"Oh, ihr geht es ausgezeichnet."
"Und wie geht es ihrer Familie?"
"Das weiß ich nicht so genau. Sie hat in letzter Zeit nicht viel darüber geredet, aber ich denke mal, dass sie wohlauf sind."
"Das freut uns.", und dann wandte sie sich an ihren Mann, "Vielleicht sollten wir sie mal wieder zu uns einladen. Das würde sie sicherlich freuen."
"Warum nicht am Wochenende?", fragte mein Vater.
"Ja, Wochenende wäre gut. Also Julia, Darling. Würdest du morgen Cath... ach was... ich rufe einfach nachher bei ihnen an. Das ist freundlicher." Vergnügt wandte sie sich wieder ihrem Essen zu.
Ich war derweil in Gedanken versunken. Irgendetwas wollte ich am Wochenende unternehmen. Nur was?

Der nächste Tag begann wie jeder andere. Ich stand auf, frühstückte mit meinen Eltern, Niles fuhr mich zur Schule und am Eingang traf ich auf Cath. Nichts außergewöhnliches. Mit der Außnahme, dass dieses Mal Cath nicht allein auf mich wartete.
Neben ihr standen niemand geringeres, als Brian, Tristan, Ike, Mat und Jake. Niles hielt den Wagen an und ich starrte verwirrt aus dem Fenster. Cath regte sich wieder einmal auf und schimpfte mit Brian und Jake. Ike und Tristan standen nebeneinander und beide sahen sie so aus, als würde ihnen das Geschehene nicht interessieren. Nur Tristan konnte nicht umhin, hin und wieder zu Cath und den beiden Jungen zu sehen und zu grinsen. Mat starrte fröhlich in die Luft und als er bemerkte, dass der Wagen hielt, sprang er freudig darauf zu.
Niles wollte ihn höflich davon abhalten, die Tür aufzumachen, doch Mat war zu schnell. Er riss förmlich die Tür auf und grinste mich an. "Hast du wieder Bentos bei?", fragte er strahlend.
"Wie bitte?" Ich sah ihn verwirrt an. Dadurch, dass er die Tür blockierte, konnte ich nicht aussteigen.
Etwas weiter weg hörte ich Cath laut schimpfen. "Ach Herrgott, könnt ihr uns nicht in Ruhe lassen? Das nervt echt total. Haut ab! Geht zu euren Mädels. Die sind bestimmt entäuscht, dass ihr noch nicht da seid."
Derweil redete Mat weiter. "Na, hast du wieder so leckere Oniris oder wie die heißen gemacht?"
Ich musste lachen. "Das waren Onigiris und nein, tut mir leid, heute habe ich keine dabei."
"Schade." Entäuscht zog er einen kleinen Schmollmund und ließ mich dann endlich aussteigen.
Niles hatte die ganze Zeit die Tür gehalten und ich dankte ihm. Er nickte nur, setzte sich dann wieder ins Auto und fuhr los.
Cath hatte sich von Brian und Jake losgemacht und kam auf mich zu. "Morgen, Süße", sagte sie gestresst und gab mir ein Küsschen.
"Hey, wo bleibt meins?", fragte Jake und grinste.
"Da, wo du es nicht erwartest."
"Oh, ich wusste nicht, dass unsere Beziehung schon so weit ist."
"Jake!", ermahnte ihn Brian. Doch der grinste nur.
"Ähm. Guten Morgen", lächelte ich sie an.
"Morgen", kam es von Brian, Jake und Mat wie aus einem Munde.
Cath rollte mit den Augen. "Wollen wir?", fragte sie mich wieder einigermaßen lächelnd. Ich nickte und ging mit ihr die Allee entlang, im Schlepptau die Jungs.
"Hat euch gestern eigentlich noch meine Mum angerufen?", fragte ich Cath.
"Oh ja. Sie hat uns für Samstag zum Essen eingeladen."
"Habt ihr zugestimmt?"
"Du hättest mal meinen Vater sehen sollen. Er war sofort Feuer und Flamme", lachte Cath.
"Aber schon irgendwie schade."
"Warum?", fragte ich sie.
"Na, weil wir doch weggehen wollten." Jetzt fiel es mir wieder ein. Das Blue Moon. Wie konnte ich das nur vergessen?
"Oh, am Samstag Abend sollten aber junge Damen, wie ihr es seid nicht allein unterwegs sein. Vielleicht wäre es angebracht, wenn wir euch begleiten", lächelte Brian freundlich.
"Genau! Ich hab schon lange keine Party mehr gemacht. Vor allem nicht mit so heißen Mädels", grinste Jake. Ich sah ihn an und er zwinkerte mir zu. Tristan kab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. "Hey, wofür war das denn?", beschwerte sich Jake.
"Oh, tschuldigung. Meine Hand hat sich selbstständig gemacht", grinste er. Cath rollte mit den Augen.
"Nun, wohin dürfen wir also die Damen begleiten?", hakte Brian nach, ohne dabei sein charmantes Lächeln zu verlieren.
"Tse. Wer hat was davon gesagt, dass wir euch dabei haben wollen? Außerdem sind wir schon mit jemand anderen verabredet."
"Mit wem?", fragte er.
"Das glaubst du denen doch nicht etwa?", fragte Jake spöttisch. "Sie ist mit niemanden verabredet. Sie will uns nur eifersüchtig machen." Er grinste frech.
"Ach so?", fragte Brian.
"Och, schade. Jetzt hast du meinen geheimen Plan erraten. Wie bist du nur darauf gekommen?", erwiderte Cath sarkastisch.
"Ich kenne Frauen. Ich weiß alles über sie." Jake grinste wieder.
"Wir wollten mit Nicole, Samantha und Alice ins Blue Moon gehen", lächelte ich.
Mit einem Mal änderte sich die Stimmung schlagartig. Brian verlor sein Lächeln und sah leicht besorgt zu Tristan. Jakes Grinsen fror ein und er hob ungläubig die Augenbrauen. Mat hörte mit seinem freudigen Herumspringen auf und lief traurig neben Ike her, der, so weit das überhaupt möglich war, noch ruhiger wirkte. Tristans Reaktion jedoch war die heftigste. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Kurz darauf jedoch beruhigte er sich wieder und sah ernst Richtung Schule. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er angespannter war, als alle Jungen zusammen.
"Das Blue Moon, also", sagte Brian und versuchte ein Lächeln. Es war freundlich und warm, jedoch nicht so herzhaft, wie sonst.
"Ja, ins Blue Moon. Irgendein Problem damit?", meckerte Cath. Sie schien die Stimmungsänderung nicht bemerkt zu haben.
"Ganz und gar nicht." Brian hatte sich wieder gefangen und lächelte erneut wie ein Gentleman.
"Na dann ist ja gut. Und ich warne euch, wehe ihr taucht da auf, dann werde ich..."
"Oh, keine Sorge, wir gehen nicht ins Blue Moon", nahm auch nun Jake das Gespräch wieder auf.
"Na dann ist ja alles geklärt", lächelte Cath glücklich und wandte sich dem Gebäude zu.
"Nein, wir gehen nicht ins Blue Moon", wiederholte Brian flüsternd.
"Warum nicht?", fragte ich ihn.
"J.J.!" Cath sah mich entsetzt an, "Du willst sie doch nicht etwa einladen?"
Ich lächelte und schüttelte den Kopf. Dann wandte ich mich wieder Brian zu und sah ihn fragend an.
Er lächelte zaghaft. "Nun, sagen wir es einmal so. Wir haben dort Hausverbot." Tristan schnaubte. Brian bedachte ihn mit einem kurzen ernsten Blick.
"Hausverbot?"
"Ja, so etwas in der Art. Ist jetzt zu kompliziert euch das zu erklären." Ich sah ihn verwirrt an.
"Oh, sagt bloß ihr habt Ärger am Stecken. Die ach so umwerfenden, beliebten, vornehmen und perfekten Top 5 haben Ärger. Ach, wenn das eure Fans mitkriegen. Obwohl... die würden vermutlich euch noch mehr anhimmeln. Die Mädels von heute stehen auf Rowdies." Die letzten beiden Sätze sagte Cath mehr zu sich, als zu den anderen.
Auf einmal fing Brian an zu lachen. Cath sah ihn entgeistert an. Doch Brian stand nur da und lachte herzhaft. "Vermutlich hast du recht", war das einzige, was er sagte. Und dann ging auch schon das Gekreische los.
"Brian! Brian! Schau mal, was ich dir gemacht habe!"
"Ich auch, Brian!"
"Ike, ich brauch deine Hilfe!"
"Oh Mat! Süßer Mat!"
"Jaaaaake!"
"Aaaaah, seht, heute ist wieder Tristan dabei!"
Angeregt und wild durcheinander redend kamen ungefähr zwei Dutzend Schülerinnen auf uns zugerannt.
"Ach du liebe Güte", war das einzige, was Cath herausbrachte. Ich sah sie an. Ihr Blick war vor Entsetzen geweitet. "Jetzt geht das schon wieder los." Sie nahm meine Hand und zog mich etwas abseits von den Jungs. "Ich will nicht, dass du noch umgerannt wirst. Das ist ja schlimmer als beim Sommerschlussverkauf bei 'Royal Streets' und das soll schon was heißen."
Mein Blick schweifte teilnahmslos über die Reihen der Mädchen. Mittlerweile hatten sie die Jungs erreicht, die sie allesamt freundlich begrüßten.
"Hallo, meine Hübschen", lächelte Brian charmant und nahm die vielen Geschenke entgegen.
"Oh, Kuchen", war das einzige, was Mat sagte, als ihm mehrere Mädchen etwas Selbstgebackenes gaben. Ich musste lächeln. Es sah so süß aus, wie er sich freute.
Zum ersten Mal sah ich Ike lächeln. Es war freundlich und warm. Es stand ihm sehr, obwohl es ein ungewohnter Anblick war. Trotzdem sprach er nicht viel.
"Komm, lass uns gehen. Vielleicht haben wir so ein paar Minuten für uns, bevor der Unterricht losgeht." Cath nahm mich wieder sanft an der Hand und führte mich an dem Geschehen vorbei.
"Sag mal, Tristan, stimmt das, was die anderen so erzählen?" Ein Mädchen stand mit roten Wangen vor ihm, hatte die Hände zusammengelegt und sah ihn verzweifelt an. Es sah fast so aus, als würde sie zu ihm beten.
Cath umklammerte meine Hand fester und sah Tristan wütend an. Dieser hob für einen kurzen Moment seinen Blick. Cath formte stumm den Satz: "Wag es ja nicht."
Tristan lachte kurz und wandte sich dann wieder den Mädchen zu. "Nun, kommt drauf an, was ihr so hört", grinste er.
"Dass du eine Freundin hast?"
Jake sah kurz zu Tristan und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, bevor er sich wieder seinem Geschehen widmete. "Hm. Wenn man es so bezeichnen will..." Die Mädchen kreischten.
Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Mit solch einer heftigen Reaktion hatte ich nicht gerechnet.
"Aber pst... das bleibt unser kleines Geheimnis." Er hielt seinen linken Zeigefinger vor die Lippen, beugte sich ein wenig zu den Mädchen herunter und zwinkerte. Nun war es vollkommen um sie geschehen.
Wild redeten sie durcheinander. Ich hörte nur Wörter, wie "...Geheimnis...", "...Herz rast...", "...so heiß...", "...beneide sie..." Cath stöhnte und rollte mit den Augen.
Meine Aufmerksamkeit galt jedoch seiner Aussage. Sie rief etwas in mir hervor. Etwas, was ich nicht kannte, etwas, was ich bisher noch nie gefühlt hatte. Es war komisch, intensiver, als das Gefühl von gestern.
Das bleibt unser kleines Geheimnis. Das hatte er gestern zu mir gesagt. Heute sagte er es zu ihnen. Wie viel Geheimnisse mochte er noch haben?
Bilder entstanden in meinem Kopf. Verschiedene Mädchen, in der selben Situation, wie ich gestern. Das bleibt unser kleines Geheimnis.
Ein Kloß breitete sich in meinem Hals aus und mir wurde wieder schlecht. Viel schlechter, als gestern. Ich sah Cath an.
"Oh, mein Gott, J.J.! Was ist los mit dir?" Sie nahm besorgt mein Gesicht in ihre Hände und sah mich verzweifelt an.
"Ich...", verwirrt sah ich umher. Die Frage stellte ich mir auch schon seit einiger Zeit. Was war nur los mit mir?
"Du bist ganz blass. Geht es dir nicht gut?" Ein noch besorgterer Blick. In ihrer Stimme schwang ein Hauch von Panik. Ich schüttelte den Kopf. "Komm, lass uns schnell ins Krankenzimmer gehen. Ich möchte nicht, dass du mir hier zusammenbrichst." Sie nahm mich an der Hand und zog mich eilig hinter sich her.
"Hey, was ist denn los?", rief uns Jake nach. "Ist alles in..."
"Halt endlich deine dämliche Klappe und geh uns nicht auf die Nerven! Ich könnt einen ja echt ankotzen!", brüllte Cath, ohne sich umzudrehen. Schweigend folgte ich ihr.

"Können sie ihr helfen?" Besorgt tigerte Cath im Krankenzimmer umher.
Ich saß auf einer Barre und Mrs. Cobridge, die Krankenschwester, untersuchte mich. "Cath. Ich hab dir doch gesagt, dass ich mich wieder besser fühle."
"Nicht reden!" Mrs. Cobridge hatte mir einen kleinen Holzstab auf die Zunge gelegt und sah in meinen Rachen.
"J.J. Du sahst richtig blass aus. Ich hatte echt Angst, dass du mir umkippst. Außerdem hattest du nicht gestern gesagt, dass es dir nicht gut geht und du glaubst, dass du krank wirst? Solltest du wirklich krank werden, dann werde ich mir mein Leben lang Vorwürfe machen, weil ich dir nicht zugehört habe."
"Atmen Sie einmal bitte tief ein." Ich befolgte die Anweisung und sah lächelnd zu Cath.
"Dich trifft doch deswegen keine Schuld. Wenn einer Schuld hätte, dann ich, weil ich mich nicht schon gestern untersucht habe lassen." Cath lächelte zaghaft, doch ich wusste, dass sie dieser Aussage nicht ganz zustimmte.
"Also ich kann nichts auffälliges feststellen." Mrs. Cobridge setzte sich auf ihren üblichen Platz und lehnte sich zurück, während sie mich ansah. Sie war eine junge Frau, ich glaubte gerade mal 23 Jahre alt, hatte lange rote Haare, die sie während ihrer Arbeit immer zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Außerdem war sie sehr hilfsbereit und freundlich und aufgrund ihres jungen Alters konnte sie mit Jugendlichen sehr gut umgehen. Die Schüler liebten sie.
"Das kann doch aber nicht sein...", begann Cath, doch Mrs. Cobridge schüttelte nur den Kopf.
"Beschreibe mir das unangenehme Gefühl, welches du hattest." Sie sah mich aufmerksam an.
"Na ja...", begann ich, "Mir wurde irgendwie schlecht."
"Was heißt 'irgendwie'?"
"Nun, es war nicht ganz die Art von Übelkeit, die ich kannte. Ich hatte nicht das Gefühl mich übergeben zu müssen. Und es war auch nicht die Art von Übelkeit, die man vieleicht hat, wenn man zu viel ist. Sie war irgendwie anders. Gestern war es noch angenehm gewesen, heute schon wieder nicht."
"Übelkeit, die angenehm war?" Cath sah mich entsetzt an, "Sie ist defintiv krank."
Mrs. Cobridge ignorierte sie. "Hattest du noch etwas anderes gefühlt, außer Übelkeit?"
Ich überlegte kurz. "Ja, es war, als würde mich jegliche Kraft in meinem Körper fehlen. Gestern auf der Fahrt hierher zum Beispiel, da fühlten sich meine Muskeln plötzlich ganz schlapp an, ich fühlte mich schwach."
Sie nickte nur. "Und in welcher Situation hast du dich befunden, als dir schlecht wurde?"
"Was hat das denn mit ihrer Krankheit zu tun?" Cath war leicht entsetzt. Doch zur Antwort hob die Krankenschwester nur die Hand und bedeutete dann mir, zu antworten.
Ich überlegte. "Gestern saß ich einmal im Auto. Niles hat mich wie jeden Tag zur Schule gefahren. Dann war ich einmal mit Cath im Musikraum mit Brian, Tristan, Jake, Mat und Ike. Sagen ihnen die Namen etwas?"
"Das sind die hirnverbrannten Top 5", fügte Cath hinzu.
Mrs. Cobridge lachte. "Ja, ich kenne sie. Und heute?", fragte sie weiter.
"Heute waren wir auf dem Weg durch die Allee, auch mit den Jungs", antwortete ich lächelnd.
"Als du im Auto saßtest, hast du da an etwas gedacht oder über etwas geredet oder kam die Übelkeit einfach so?"
"Ja. Ich hatte ein Bento für zwei Personen gemacht und mich gefragt, wie sie wohl darauf reagieren würden."
"War eine der Personen davon Cath?"
"Ja", antowrtete ich.
"Und die andere ein Junge? Vielleicht einer der 'hirnverbrannten' Top 5?" Ich nickte nur. "Na, dann ist alles klar", lächelte Mrs. Cambridge und schloss die Akte wieder.
"Und, welche Krankheit hat sie?", fragte Cath besorgt. Sie sah Mrs. Cobridge verzweifelt an.
"Keine. Es sei denn, du würdest Liebe als eine Krankheit bezeichnen."
"Liebe?", fragte Cath entsetzt. Ihr Mund klappte auf und zu.
"Ja. Liebe. Diese Sympthome, wenn du sie als solche bezeichnen willst, sprechen dafür, dass Julia verliebt ist." Sie wandte sich wieder mir zu und lächelte mich freundlich an. "Herzlichen Glückwunsch."
Ich blickte sie verwirrt an. "Aber mir war doch schlecht."
Mrs. Cobridge lächelte: "Verliebte würden das als 'Schmetterlinge im Bauch' bezeichnen. Es kribbelt heftig, man fühlt sich benommen, fast so, als hätte man zu viel Alkohol getrunken. Menschen, die noch nie verliebt waren, beschreiben dieses Gefühl gern als Übelkeit."
Ich blickte zu Cath. Sie sah traurig zu Boden und sagte keinen Ton. Das glaubte sie doch nicht etwa. Ich und verliebt? Das konnte nicht sein. Ich wusste ja nicht einmal, wie das ging - verliebt sein.
Ohne den Blick vom Boden zu nehmen, sagte Cath: "Mrs. Cobridge. Könnten Sie und bitte für einen Moment alleine lassen?"
Die Krankenschwester blickte mich an, dann wieder zu Cath und sagte schließlich: "Natürlich. Ich werde euch eine Entschuldigung für die erste Stunde schreiben, dann könnt ihr in Ruhe reden." Sie lächelte und verließ dann den Raum in ihr angrenzendes Büro.
Als sie weg war, wandte ich mich an Cath: "Du glaubst doch nicht wirklich..."
"Ich wollte eine Party machen." Sie wandte den Blick vom Boden und sah mich an. "Ich wollte eine Party machen, an dem Tag, an dem du freudestrahlend zu mir kommen würdest und mir sagen würdest, dass du verliebt wärst." Sie lächelte zaghaft und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Ich sah sie verwirrt an. "Ich hatte mich so gefreut. Meine J.J. würde endlich erwachsen werden. Sie hätte jemanden, den sie liebte, der sie glücklich machte, sie würde jeden Tag lächeln. Nur das wollte ich." Eine kurze Pause. "Doch ich hatte auch Angst. Angst davor, dass sich dieser Jemand zwischen uns stellen könnte. Dass du diesen Menschen zu sehr lieben würdest... mehr lieben würdest als mich." Ein weitere zaghaftes Lächeln. "Doch das war mir egal, solange du nur glücklich wärst. Ich wollte nur, dass du glücklich bist." Ich schluckte, wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. "Du hast dich verändert J.J. Du merkst es vielleicht nicht und die anderen auch nicht. Aber ich. Ich kenne dich fast mein gesamtes Leben und ich spüre, dass du dich veränderst. Und, auch wenn es mir persönlich nicht gefällt, du veränderst dich, seit dem Tag, an dem wir Tristan getroffen haben."
"Jetzt gib bitte nicht Tristan wieder..."
"Ich gebe niemanden die Schuld. Auch nicht Tristan. Obwohl ich jetzt gut und gerne auch diesen Raum rennen würde und ihn umbringen würde. Doch ich glaube, das würde dich traurig machen. Trauriger, als du dir eingestehen würdest." Jetzt nahm sie mein Gesicht in beide Hände. "Ich hab dich lieb, J.J.! Du bist nicht nur meine beste Freundin, du bist meine Schwester. Liebe kann etwas so wundervolles sein. Auch, wenn ich sie selbst noch nicht erlebt habe. Doch ich weiß, dass sie es ist. Denn mein Dad liebt meine Mum und aufgrund dessen liebt er uns. Ich habe meinen kleinen Bruder jahrelang gehasst. Mum ist bei seiner Geburt gestorben - er war Schuld, dass sie tot war. Würde er nicht existieren, wäre sie noch da gewesen. Doch Paps hat mir immer wieder gesagt: 'Mum liebt uns. Und deswegen hat sie ihn uns gegeben. Als Beweis ihrer Liebe.'" Eine Träne lief mir die Wange herunter. Dass sich Cath so gefühlt hatte, habe ich nicht gewusst. "Mum hat ihn geliebt, obwohl sie ihn nicht mal kannte. Sie hat ihn von Anfang an geliebt. Deswegen liebt Paps ihn. Und deswegen liebe ich ihn. Denn er hat so vieles von Mum in sich. Verstehst du, was ich sagen will? Dad liebt Mum abgöttisch. Auch noch heute, wo sie schon seid gut 10 Jahren tot ist. Ich hab gelernt, was es heißt zu lieben, obwohl ich sie nie selbst erfahren habe." Sie wischte mir die Träne weg. "Ach, hör auf zu heulen, sonst fang ich auch noch an." Wir mussten beide lachen. "Auch, wenn es mir missfällt, dass ausgerechnet er es ist...", nun war die alte Cath wieder da, "ich bin froh, dass es so ist." Sie grinste breit. "Aber ins Blue Moon gehen wir trotzdem. Vielleicht besteht ja noch die Chance, dass du es dir anders überlegst." Ich musste lachen.
War ich verliebt? Das konnte nicht sein... Und wenn doch?

"Hey! Cath...Julia... wartet mal!" Wir drehten uns um. Nicole, Alice und Samantha kamen angeregt auf uns zu.
"Herrgott, gehen die denn nie irgendwo alleine hin?", nuschelte Cath. Mittlerweile schien sie es zu bereuen, sie eingeladen zu haben.
"Wir wollten euch noch fragen, wann wir uns morgen treffen wollen."
"Nun... ehrlich gesagt, wissen wir das noch nicht."
"Häh? Wieso nicht?"
"Naja. Uns ist etwas dazwischen gekommen. Wir müssen vorher noch was erledigen, erst dann können wir ins Blue Moon. Und da wir nicht wissen, wann wir fertig sein werden, können wir auch nicht wissen, wann wir ungefähr da sind."
"Oh", sagten alle drei wie aus einem Munde.
"Wir kommen auf alle Fälle", beteuerte Cath, "Jedoch glaube ich, dass wir es vor 8 nicht schaffen werden. Aber ihr könnt ja schon mal vor gehen und den Besitzer schon mal betören. Wir stoßen dann dazu." Cath grinste breit.
Einen Moment sahen sich die drei an. "Ok", sagte dann schließlich Alice, "Ihr könnt uns ja schreiben, wenn ihr da seid."
"Ja... oder wir suchen euch."
"Gut. Na dann... bis morgen", lächelte Alice.
"Jepp... Bis morgen", antwortete ihr Cath. Und schon waren die drei verschwunden.
"Also essen wir vorher mit unseren Eltern Abendbrot?", fragte ich sie.
"Ja, müssen wir. Ich hab meinen Dad gefragt, er meinte, dass es kein Problem wär, wenn wir eine Stunde später oder so abhauen. Ich sollte mich halt wenigstens mal blicken lassen, das wäre höflicher."
"Dann solltest du dir vielleicht etwas zum Umziehen mitbringen."
"Wieso?"
"Nun, du willst doch nicht in den Sachen, in denen du in den Club gehen willst, mit meinen Eltern Abendessen? Ich weiß nicht, aber ich glaube sie wären damit nicht einverstanden."
"Oh, echt nicht?"
Ich lächelte: "Sagen wir es mal so. Sie sind es nicht gewohnt. Ich trage meistens normale Kleidung."
Cath seufzte: "Hast vermutlich Recht." Einen Augenblick später grinste sie. "Ja, dann muss ich mir wohl wirklich etwas mitbringen."
Ich sah sie verdutzt an. Ihr Grinsen konnte nichts gutes heißen.

Wir waren gerade auf dem Weg ins "Rouge", einem Restaurant, welches zu unserer Schule gehörte und nur 200 Metter von dem riesigen Gebäude entfernt war. Cath kramte schon die ganze Zeit in ihrer Tasche herum. "Ach man, wo ist das denn?"
"Was suchst du denn?", fragte ich sie, als sie schließlich sogar auf der Treppe stehen blieb.
"Ich kann mein Blackberry nicht finden"
"Vielleicht hast du es ja Zuhause vergessen?"
"Nein, das kann nicht sein. Ich war mir sicher, dass ich ihn gestern noch in der Tasche hatte. Ich hab ihn nicht rausgenommen, nur als wir..." Cath stockte und ihr Blich wechselte sich von Entsetzten zu Wut. "Dieses verdammte Ar***loch", schimpfte sie, machte auf den Absatz kert und stampfte wütend die Treppen hoch.
Verwirrt folgte ich ihr. "Cath?"
"Boah, der kann was erleben."
"Cath...!"
"Wenn ich den in die Finger krieg."
"Cath...!", schrie ich schon fast. Doch es war zwecklos. Sie hörte mir nicht zu. Hastig eilte sie voran und ich im Laufschritt hinterher. Das war es wohl mit unserer gemütlichen Freistunde. Wenn Cath sich so aufregte, dauerte es seine Zeit, bis sie sich wieder beruhigte.
Geduldig folgte ich ihr, bis sie plötzlich stehen blieb. Ich sah erst sie an, dann wandte ich meinen Blick nach oben, um das Schild lesen zu können. Musikraum stand da in goldenen Lettern. Verdutzt blickte ich wieder zu Cath.
Doch sie stand mittlerweile nicht mehr neben mir, sondern hatte die große Tür aufgerissen und stampfte geradezu auf Brian zu.
"Einen wunderschönen..."
"Deinen Tag kannst du dir sonst wohin stecken!", fauchte sie, "Wo ist mein Blackberry?"
"Oh, da hat aber jemand schlechte Laune", grinste Jake.
Cath blickte ihn nur wütend an und wandte sich dann wieder zu Brian. "Gib mir mein verdammtes Blackberry wieder!"
"Wenn es so verdammt ist, warum willst du es dann wieder haben?" Tristan blickte sie kühn an.
Cath wollte etwas erwidern, stockte dann und blickte für einen kurzen Augenblick mich an. Dann wandte sie sich wieder Brian zu und ignorierte Tristans Aussage. "Dass du echt sogar so weit gehst und mir mein Blackberry stiehlst, nur um mich zu sehen, ist ja echt erbärmlich."
"Moment mal", Jake stand auf. "Nur weil du es hier vergisst, heißt das ja noch lange nicht, dass wir es stehlen."
"Jake, ist schon gut", lächelte Brian.
"Nein, überhaupt nichts ist gut", beschwerte sich Jake weiter. "Ich lass mich doch von so'ner verkniffenen Schlampe nicht verarschen!"
"Verkniffenen Schlampe? Hast du mich gerade verkniffene...?"
"Och bitte, bist du jetzt auch noch taub oder was? Du hast ganz genau verstanden, was ich gesagt habe." Cath klappte der Mund auf und wieder zu. "Oh, jetzt weiß sie nicht was sie sagen soll", spielte er den Mitfühlenden sarkastisch.
"Boah, ich wusste, dass ihr alle die totalen Ar***löcher seid."
"Ach bitte. Fällt dir nichts besseres ein? Anstatt dich gegen mich zu wehren, weitest du deine Beleidigungen auf alle aus. Was können bitteschön Mat oder Ike dafür, dass du..."
"Jake, es reicht jetzt!" Brian war mittlerweile auch aufgestanden.
"Nein es reicht nicht!", blickte Jake ihn wütend an. Dann wandte er sich wieder an Cath. "Du beschimpfst uns als Idioten, als Ar***löcher, nur weil ein paar Mädchen auf uns stehen?"
"Ein paar?", fragte sie sarkastisch.
Jake ging einen Schritt auf sie zu und war mit seinem Gesicht bedenklich nah an ihrem. "Pass auf, was du sagst!"
"Jake! Wenn das einer von draußen mitbekommt..."
"Oh ja, das wär ja dann ziemlich schlecht. Euer ach so toller Ruf wäre ja dann in Windeseile futsch. Und außerdem...", wandte sie sich wieder Jake zu. "Ich hätte kein Problem damit, wenn ein paar Mädchen auf euch nur stehen würden. Aber ihr nutzt das ja schamlos aus und betört sie ja sogar richtig, dass sie total benebelt im Kopf sind."
Jake lachte kurz auf. "Was sollen wir stattdessen machen? Sie ignorieren? Ihnen sagen, dass sie uns einen Dreck interessieren? Dann wärst du doch auch sauer auf uns, weil wir Mädchenherzen brechen. Was wir auch machen, es ist in deinen Augen falsch. Weil du einfach mal voreingenommen bist." Cath erwiderte nichts. "Tse. Und wenn's ernst wird, dann bist du still wie ein kleines Mäuschen. Ich geb dir einen Tipp. Vielleicht solltest du mal von deinem hohen Ross runtersteigen. Denn im Grunde interessiert sich doch niemand für dich. Sie reden doch nur mit dir, weil du Julias Freundin bist. In den Augen der anderen, bist du eine arrogante, gewalttätige Kuh."
Ich sah ihn entsetzt an und auch Brian, Tristan und Mat fehlten die Worte. Ein abschätzender Blick und dann ging Jake an ihr vorbei in Richtung Tür, wo ich immer noch verharrte. "Du solltest dich vielleicht mal durchv****n lassen, vielleicht wirst du dann etwas lockerer." Als er an mir vorbeilief, blieb er für einen kurzen Augenblick stehen und sah mich an. Dann grinste er, stemmte eine Hand gegen die Tür hinter mir und hob mein Kinn. Ich blickte ihn entsetzt an.
"Jake!" Brian rief und ein Blick zur Seite verriet mir, dass er ziemlich wütend war. Jake sah mich noch ein Mal kurz an, dann wandte er sich ab und ging den Flur entlang, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen.
"Ich muss mich für das Benehmen von Jake ent..."
"Mein Blackberry", sagte Cath nur und streckte ihre Hand aus.
"Aber..."
"Ich will nur mein Blackberry." Sie hatte Mühe ihre Stimme ruhig zu halten.
Brian lächelte: "Natürlich." Er ging kurz in den Nebenraum und holte es.
Als sie es hatte, sagte sie "Danke" und verließ dann schnell den Raum, mich im Schlepptau.
Den ganzen Weg über, versuchte ich mit ihr zu reden. Doch jedes Mal, bevor ich auch nur ein Ton heraus bekam, stockte ich und verwarf den Gedanken wieder. Was sollte ich zu ihr sagen? Oder besser gesagt, was wäre das beste, zu ihr zu sagen? Alles wird gut!? Er hat es nicht so gemeint!? Ignorier ihn einfach!?
All das waren Sätze, die ich aus irgendwelchen Büchern kannte. Doch würden sie auch hier helfen? Ich war mir nicht sicher, aber würde ein Satz, wie 'Alles wird gut' wirklich helfen? Und wenn ja, wie?
Traurig blickte ich auf Cath Rücken. Auch sie hatte seit dem Vorfall im Musikraum kein Wort mehr gesagt. Sie lief einfach nur stur geradeaus. Ich fragte mich, wo sie wohl hin wollte. Doch es nützte nichts. Ich konnte nicht einfach nur so da stehen und nichts tun. Immerhin war ich ihre beste Freundin. "Du, Cath...", begann ich.
Sie wirbelte herum und strahlte mich an. "Was ist denn, J.J.?" Sie lächelte fröhlich. Keine Spur davon, dass sie gerade zutiefst verletzt wurde.
Leicht verwirrt sah ich sie an. "Ähm. Wo wollen wir jetzt hin?" Eigentlich wollte ich das nicht fragen. Eigentlich wollte ich etwas ganz anderes sagen, doch ihre Reaktion brachte mich für einen Moment aus dem Konzept.
"Na, wir wollten doch ins 'Rouge'. Komm, wenn wir uns beeilen, bekommen wir noch einen guten Platz." Sie nahm meine Hand und zog mich wieder hinter sich her. Die ganze Zeit über, soweit ich das sehen konnte, lächelte Cath.
Dieses Verhalten von ihr, war ich nicht gewohnt. Normalerweise hätte sie jetzt einen riesen Aufstand gemacht, lauthals über das eben Gesagte, protestiert und gesagt, dass es nicht stimme, oder immerhin Jake beleidigt. Doch nichts. Nichts von alledem machte sie. Es war, als wäre vor mir eine komplett andere Cath.
"Du, Cath?"
"Hm?", lächelte sie.
"Ich mache mir Sorgen", gab ich zu.
"Oh, das brauchst du nicht."
"Ich glaube schon", erwiderte ich. Ich sah sie immer noch ganz besorgt an. Ihr Lächeln verschwand nicht, ganz so, als hätte sie es eingefroren. "Seit der Sache eben mit Jake verhälst du dich auf einmal so komisch."
"Komisch? Warum sollte ich mich komisch verhalten? Ach J.J., du machst dir wie immer über nichts Gedanken."
"Ja, du bist komisch", ignorierte ich ihre Aussage. "Jake hat dir nicht gerade nette Sachen gesagt, er hat dich beschimpft. Und du nimmst das einfach so hin? Die Cath, die ich kenne..."
Cath schüttelte den Kopf und lächelte leicht. Ich merkte sofort, dass sich ihre Stimmung wieder geändert hatte. Sie war nicht mehr so aufgesetzt, nicht mehr so gespielt. Einen Moment sagte sie nichts, sondern sah nur schräg nach unten an mir vorbei. "Was würdest du sagen, wenn er Recht hätte?"
"Wie bitte?" Hatte ich sie gerade richtig verstanden?
"Ach nichts." Sie sah mich an und lächelte. "Nicht so wichtig."
"Aber, Cath."
Zur Antwort streckte sie mir die Zunge raus. "Komm, beeilen wir uns. Sonst ist die Stunde vorbei, bevor wir überhaupt den Ausgang dieses Gebäudes erreicht haben." Und mit diesen Worten lief sie los.
Ich folgte ihr schnell, bis ich auf gleicher Höhe mit ihr war. Ich war mir sicher, dass ich mich nicht verhört hatte! Was würdest du sagen, wenn er Recht hätte? Meinte sie damit Jake? Und wenn ja, womit sollte er Recht haben?

Der restliche Freitag verlief ohne weitere Vorkommnisse. Cath verhielt sich wie immer. Nichts war davon zu spüren, dass Jake und sie eine Auseinandersetzung hatten oder, dass ihr irgendetwas Kummer bereitete. Sie war, wie die Cath, die ich kannte.
Dennoch machte ich mir Sorgen, auch wenn ich sie nicht wieder darauf ansprach. Was meinte sie damit? Was, wenn er Recht hat? Hatte ich das wirklich richtig verstanden?
Ich blickte auf die Uhr. Es war kurz vor um 7, also dürften Cath und ihre Familie gleich da sein. Ich ging noch einmal zum Spiegel und überprüfte mein Aussehen. Ich war nicht eitel oder darauf bedacht, immer durch mein Aussehen hervorzustechen, doch bei einem Abendbrot mit Bekannten, pflegten meine Eltern stetz auf ein gutes Benehmen, sowie Aussehen.
In diesem Moment klingelte es. Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Freudig betrat ich den Flur und ging die Treppe herunter. Nancy stand schon an der Tür und wartete nur noch auf das Zeichen meiner Eltern, die aufgeregt neben der Treppe standen, den Blick zur Tür.
"Julia, bitte beeile dich, wir wollen sie doch nicht warten lassen."
Eilig lief ich die Stufen herab und blieb neben meiner Mutter stehen. Als sie dies bemerkte, nickte sie Nancy zu und diese öffnete die Tür. Ein wirres durcheinander von 'Guten Abend' war zu hören, als alle gleichzeitig, den jeweilig anderen begrüßen wollten. Dann folgte ein Lachen und sofort war die Stimmung freundlich und warm, ohne jegliche Anspannung und Ordnung, die bis vor kurzem noch geherrscht hatte.
Nach Mr. Sanders folgte Cath, ihr kleiner Bruder neben ihr. Als sich unsere Blicke trafen, strahlten wir förmlich.
"Hi Süße." Ein Küsschen links, ein Küsschen rechts.
"Hi", antwortete ich ihr. Dann wandte ich mich ihrem Bruder zu. "Hi Jonas. Na, wie geht es dir?"
"Hi Julia. Mir geht's super", grinste er breit. Ich lächelte zur Antowrt.
Mittlerweile versuchte Nancy aufgeregt den Gästen die Mäntel abzunehmen, ohne im Weg zu stehen.
"Ich hab was mitgebracht", grinste Cath. Ich wandte mich wieder ihr zu und sah sie leicht verwirrt an. Doch zur Antwort schnippte sie nur mit dem Finger. Auf einmal trat ein großer, kräftiger Mann, einen Kleiderständer tragend, in den Eingangsbereich, genau neben Cath. "Nach oben bitte, rechts, die zweite Tür." Zur Antwort nickte er nur knapp und machte sich dann auf den Weg. "Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich den Zimmer benutze?", fragte Cath und zwinkerte mir zu.
Doch ich ignorierte ihre Aussage, denn auf einmal kamen mehr Männer herein, allesamt trugen sie die verscheidensten Kleindungsstücke mit sich und brachten sie nach oben. 3... 4... 5... Bei 8 hatte ich aufgehört zu zählen.
"Cath, was soll das?", fragte ich sie, ohne den Blick von den Männern zu nehmen, die mittlerweile wieder zurück kamen und anscheinend erneut neue Kleidung nach oben brachten.
"Für nachher, wenn wir ins Blue Moon gehen. Du hast gesagt, ich soll mich bei dir umziehen, also dachte ich, wenn ich mich schon aufstyle, dann kann ich das auch gleich für dich tun", grinste sie. Ich sah sie entgeistert an. "Toll, oder?", fragte sie.
"Ja", war das einzige, was ich im Moment heraus bekam. "Sag mal, Cath... Ist das alles deins oder hast du vorher eine Boutique überfallen?"
"Das ist alles von Dad. Du weißt doch, er hat vor langer Zeit mal diese Modekette aufgekauft, einfach so aus langer Weile. Und ich dachte mir, er wird bestimmt nichts dagegen haben, wenn ich mir ein paar Sachen ausborge."
"Ein paar?", fragte ich skeptisch.
"Naja, wenn wir unser Outfit haben, dann geht der Rest sofort wieder in den Laden zurück."
"Und, warum konnten wir dann nicht im Laden uns die Outfits aussuchen, anstatt ihn nach hier zu verlegen?"
"Weil es so schneller geht. Sonst müssten wir erst zum Laden und von da zum Blue Moon. Das dauert doch ewig. Aber komm jetzt, ich hab Hunger." Und mit diesen Worten zog sie mich weg von dem Geschehen.
Allein zurück blieb Nancy, verwirrt und aufgescheucht und der Situation überfordert.

Ich legte mein Messer und meine Gabel weg und tupfte mir mit der Serviette den Mund ab. Bis jetzt verlief der Abend relativ entspannt und die Stimmung war ausgelassen. Meine Eltern und Mr. Sanders lachten viel und die Weingläser wurden reichlich nachgeschenkt. Währenddessen war Cath ganz in Gedanken beim Blue Moon. Sie überlegte schon die ganze Zeit, was sie wohl anziehen könnte. Es überraschte mich nicht, dass sie genau wusste, welche Kleidungsstücke oben in meinem Zimmer auf uns warteten. In Thema Mode konnte ihr so schnell keiner das Wasser reichen. Ich beschäftigte mich stattdessen lieber mit ihrem kleinen Bruder. Jonas wirkte fehl am Platz, zwischen all den Erwachsenen.
"Was macht die Schule?", fragte ich ihn freundlich.
Zur Antwort zuckte er mit den Schultern. "Nichts besonderes. In meiner Klasse sind alle irgendwie etwas arrogant. Jeder will hervorstechen, jeder will derjenige sein, der von allen am meisten geachtet wird. Sie stellen eine Rangliste auf. Der mit den einflussreichsten oder vermögendsten Eltern, hat dementsprechend auch den meisten Einfluss in der Klasse."
Ich lächelte: "Das wird sich mit der Zeit legen. Spätestens, wenn du auf die High School gehst. Bei uns war das früher auch so."
"Wirklich?", fragte er ganz interssiert.
Ich nickte. "Ja. Es gab viele, die behaupteten ihre Eltern hätten mehr Macht oder besaßen das größere Anwesen, die meisten Autos, das schnellere Boot. Wir hatten hunderte solcher Ranglisten, aber am Ende haben selbst sie nicht mehr so ganz durchgesehen. Deine Schwester war auch bei einer Gruppe unangefochtene Nummer eins."
"Lass mich raten", unterbrach er mich. "Bei der Gruppe, in der es um Mode ging."
Ich musste lachen und nickte. "Immer, wenn es um Mode ging, sei es in Gesprächen zwischen Schülern, oder in irgendwelchen Zeitschriften, oder wer heute das beste Kleidungsstück trug, Cath war immer ein Thema in dieser Angelegenheit. Entweder wurde über sie geredet oder man hat sie nach ihrer Meinung gefragt. Es ging sogar so weit, dass einiger Mitschüler sie fragten, welches Oberteil sie sich kaufen sollten und prompt hatten sie es einen Tag später an."
"Wow. Ich wusste gar nicht, dass meine Schwester so cool war."
"Ich bitte dich", sah Cath ihn von der Seite herab an.
Doch Jason grinste nur. "Und was ist mit dir? Bei welcher Gruppe warst du die Nummer eins?", wandte er sich wieder an mich.
"Bei keiner", antwortete Cath für mich. Ich streckte ihr flüchtig die Zunge raus, sodass meine Eltern es nicht bemerkten.
"Bei keiner?", wiederholte Jason entsetzt. "Warum denn nicht?"
"Ach, ich habe mich aus solchen Angelegenheiten lieber rausgehalten. Das war nichts für mich. Ich wollte als das respektiert und angesehen werden, als das, was ich bin und nicht als das, was meine Eltern sind oder besitzen. Deshalb habe ich auch nie eine Frage zu solchen Themen beantwortet."
"Oh. Dann musst du ja ziemlich weit unten gestanden haben." Ich zuckte nur mit den Schultern. "Ich hatte ja Cath. Sie mochte mich auch so wie ich war und ehrlich gesagt, Lehrer ließen sich durch solche Ranglisten nicht beeinflussen."
"Genau. Und alle Jungs standen trotzdem auf sie!", grinste Cath.
"Das stimmt doch gar nicht", erwiderte ich.
"Oh, und ob das stimmt. Deswegen haben dich ja auch immer aller Mädchen beneidet. Du hast jedem Jungen den Atem verschlagen. Genau wie heute auch noch."
Ich wandte mich an Jason. "Cath übertreibt." Ich wollte nicht, dass er ein falsches Bild von mir bekam. "Und außerdem... Nick stand nicht auf mich. Er war ja schließlich mit, wie hieß sie noch gleich? Ach ja, mit Sandra zusammen."
"Ach, meinst du die, die sich immer in den Mittelpunkt gestellt hat und darüber geprahlt hat, wenn ihr Daddy ihr was neues gekauft hat?", Cath lachte kurz. "Doch, der stand auch auf dich. Deswegen hat sie dich ja auch so gehasst. Sie wusste, wenn er auch nur den Hauch einer Chance bei dir gehabt hätte, dann hätte er sie sofort fallen gelassen. Aber da du nicht zur Verfügung standest, musste er sich halt nur mit dem zweit-besten zufrieden geben", grinste sie.
"Wieso stand sie nicht zur Verfügung? Hattest du etwa schon einen Freund?"
"Das nicht", antwortete Cath wieder für mich. "Aber sagen wir es mal so. An mir führte kein Weg vorbei. Ich lass doch keinen 0-8-15 Jungen an meine JJ ran."
Jasons Blick wanderte von mir zu Cath und wieder zurück. "Oh", war das einzige, was er hervorbrachte.
Für Cath schien sich das Thema erledigt zu haben, denn sie blickte kurzerhand auf die Standuhr. Es war kurz nach halb 8. Sie blickte zwischen meine Eltern und ihrem Vater hin und her und schien zu überlegen, ob es unhöflich wäre, wenn sie sich jetzt schon vom Tisch erheben würde.
"Es gibt noch Nachtisch", flüsterte ich ihr zu.
"Das ist mir egal. Ich will lieber ins Blue Moon, da wartet ein Haufen von leckerem Nachtisch auf uns", zwinkerte sie mir zu.
"Es gibt Tiramisu", ignorierte ich ihre letzte Aussage.
Ihre Augen weiteten sich und einen Augenblick später rang sie mit sich selber. Cath liebte Tiramisu. Es gab selten eine Situation, in der sie freiwillig darauf verzichtete.
"Na gut", sagte sie schließlich und ich musste grinsen. "Aber wir essen schnell." Wie auf ein Stichwort betrat Joanne das Speisezimmer mit dem Nachtisch. Obwohl sie sich nichts anmerken lassen wollte, bemerkte ich doch, wie Cath Augen vor Aufregung aufleuchteten, als das Tiramisu vor ihr plaziert wurde. Ich lächelte in mich hinein. Anscheind gab es doch etwas, was Cath von einem Haufen von 'Nachtisch' abhalten konnte. Wenn auch nur für kurze Zeit.

"Probier doch das mal an. Und dazu kombinierst du... das hier."
Wir waren in meinem Zimmer. Überall standen Kleiderständer, Taschen, Schmuck und andere Assecoires lagen auf Podesten im ganzen Raum verteilt. Ich war ehrlich überrascht, dass das alles hier rein gepasst hatte und man sich auch noch einigermaßen frei bewegen konnte. Cath warf mir zwei Kleidungsstücke zu und ich fing sie auf. Beim genaueren Betrachten, bemerkte ich, dass sie noch gewagter waren, als die letztens im Einkaufszentrum.
"Das zieh ich nicht an", erwiderte ich und legte die Sachen beiseite.
"Ach komm, das sieht bestimmt gut an dir aus. Alles sieht gut an dir aus", versuchte sie mich zu überreden, während sie sich durch die weiteren Kleidungsstücke arbeitete.
"Warum kann ich nicht etwas normales anziehen?", fragte ich sie.
"Weil wir ins 'Blue Moon' gehen. Da kommst du nicht mit Jeans und T-Shirt rein. Die bestehen auf Style. Ansonsten wär das doch nicht der zur Zeit angesagteste Club. Da kommen nur die besten der besten, die heißesten und geilsten Leute rein."
Ich seufzte. "Ja aber muss das denn ausgerechnet so etwas sein?", fragte ich und hielt das sehr gewagte Oberteil hoch. "Du hast doch selbst gesagt, dass alles an mir gut aussieht. Kann ich dann nicht etwas anziehen, was wenigstens etwas mehr Haut verdeckt?"
Cath stöhnte. "Ich wollte dir ja nur helfen. Schließlich gehen wir nicht sehr oft zusammen weg. Aber, wenn du nicht willst, dann such dir selbst was aus. Dann kann ich mich besser auf meine Kleidung konzentrieren", spielte sie beleidigt.
Ich lächelte leicht. Cath schaffte es immer wieder mich zu überreden. "Ist das alles oder soll ich dazu vielleicht noch einen Gürtel tragen oder besondere Ohrringe?", fragte ich sie und nahm die Kleidung wieder auf.
Cath drehte sich um und strahlte. "Ja, schau mal das hier und die Schuhe." Ich blickte auf die Uhr. Kurz vor 8. Wenn das noch so weiter ging, könnten wir auch gleich Zuhause bleiben.

"Können Sie nicht etwas schneller fahren?"
"Cath!" Wir saßen im Roles Royce und waren auf dem Weg ins Blue Moon. Es war kurz vor halb 9. Das Anprobieren hatte länger gedauert, als vorher eingeplant. Aber bei Cath war das ja auch kein Wunder. Jetzt saß sie ungeduldig neben mir und nervte schon seit Beginn der Fahrt Niles, der uns freundlicher Weise zum Club fuhr.
"Bedränge ihn bitte nicht, sonst baut er noch einen Unfall", versuchte ich sie zu beruhigen.
"Keine Sorge, Miss", lächelte er mir durch die Heckscheibe zu.
"Genau JJ, deswegen solltest du dir keine Sorgen machen. Wenn wir es nicht rechtzeitig schaffen, dann solltest du dir Sorgen machen."
"Wer hat denn so lange gebraucht, das richtige Outfit zu finden?" Cath erwiderte nichts, sondern tippte ununterbrochen mit den Fingern auf ihre Beine. "Bitte Cath, beruhige dich. Du machst mich sonst auch noch nervös und das möchte ich nicht."
Sie wandte ihren Kopf vom Fenster an und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Seit wann wirst du nervös?"
"Eigentlich nicht sehr oft. Nur, wenn es jemand in meiner Nähe ist. Dann geht das irgendwie auf mich über", lächelte ich.
Cath atmete einmal tief ein und wieder aus. "Ok. Ich versuche mich zu beruhigen."
"Danke", antwortete ich, ergriff ihre Hand und drückte sie leicht. Das schien ihr wirklich zu helfen. Sie lächelte mich an und ich merkte, wie ihr Bulsschlag sich wieder normalisierte.
"Wir sind da." Auf Niles Aussage hin, drehte sich Cath ruckartig um und schrie kurz vor Freude auf. Ich blickte an ihr vorbei und versuchte etwas zu erkennen.
Ein großer grauer Würfel, vor dem sich eine Schar von Menschen tummelte, kam in mein Blickfeld. Über dem großen, zweitürigen Eingang leuchtete kräftig eine Leuchtreklame mit den Lettern Blue Moon. Dahinter war ein großer Vollmond, der, anders als die Reklame, in einem satten, aber dennoch intensiven Blauton leuchtete. Es hatte etwas magisches und beruhigendes, wenn man es ansah.
"Nun trödel nicht rum", ermahnte mich Cath, die schon halb aus dem Wagen ausgestiegen war, noch ehe Niles richtig zum Stehen kam. Ich folgte ihr aus der selben Tür.
"Wann soll ich sie abholen, Miss?"
"Gegen Mitternacht. Sie wissen ja, wir sind noch nicht volljährig."
"Ach JJ. Sei keine Spielverdärberin", beschwerte sich Cath.
Ich rollte die Augen. "Ich werde Sie anrufen."
Niles nickte: "Viel Vergnügen, Miss", lächelte er.
"Danke", lächelte ich zurück und stieg aus dem Wagen. Ich hatte kaum Zeit richtig zum Stehen zu kommen, da zerrte mich Cath auch schon zum Eingang. "Müssen wir lange warten?"
"Ach was! Zeig mal, wie du aussiehst?" Sie musterte mich kurz von oben bis unten. "Wühl ein bisschen durch die Haare, sodass mehr Volumen rein kommt", sagte sie und überprüfte dann ihre Aussehen.
"Wie bitte?", fragte ich verwirrt.
"Mach einfach", erwiderte sie nur knapp.
Immer noch verdutzt, sah ich sie an, tat jedoch, wie geheißen. Ich fuhr mir leicht durch die Haare, genau so, wie es mir Cath heute vor dem Spiegel gezeigt hat. "So und jetzt lächel dein schönstes Lächeln."
"Cath, was..."
"Vertrau mir. Lächel. Strahl mich an. So wie du es jeden Tag machst."
"Ich kann doch nicht einfach auf Knopfdruck lächeln."
Cath seufzte und blickte umher, leicht in Gedanken versunken. "Ähm... Kommt ein Pommes um die Ecke und knickt um."
"Was?", rutschte es aus mir heraus, bevor ich zu lachen anfing.
Cath lächelte und schüttelte ihre Haar nach hinten. Immer noch ein leichtes Grinsen auf den Lippen, sah ich sie verwundert an. In dem Moment kam ein großer Mann ganz in schwarz auf uns zu. "Meine Damen, würden Sie mir bitte folgen?"
"Natürlich!", strahlte Cath ihn an. Hinter seinem Rücken zwinkerte sie mir zu. "Hat super geklappt", flüsterte sie. Was hatte super geklappt? Doch ich kam nicht mehr dazu, sie zu fragen, denn in dem Moment betraten wir das Blue Moon und gleichzeitig, die ereignisreichste Nacht meines Lebens...
"Cath, wolltest du nicht Alice anrufen?"
"Was?" Durch die laute Musik, verstand sie kaum ein Wort.
"Wolltest du nicht Alice anrufen?", schrie ich.
"Nein!", brüllte sie zurück. "Wir haben abgemacht, dass wir sie hier suchen!"
"Wie bitte?" Ich hatte den letzten Teil nicht ganz verstanden.
"Suuuuuchen!", brüllte sie, "Wir suuuuuchen sie!" Ich nickte nur, da ich mir bewusst war, dass eine Antwort wohl unsinnig war. "Komm!", formten ihre Lippen und sie nahm mich bei der Hand.
Gemeinsam liefen wir durch den Club und auf der Suche nach den dreien, hatte ich genug Zeit, das Blue Moon genauer zu erkunden. Vor uns war eine riesige Fläche, auf der sich dutzende von Menschen tummelten und sich im Rythmus der Musik bewegten. Verschieden farbige Lichter wurden abwechselnd auf die Bühne gestrahlt, was die Menge noch mehr in Ekstase versetzte. Um die Fläche waren 3 verschiedene Bars, sowie etliche Sitzmöglichkeiten aufgestellt, an denen sich ebenfalls eine Hand voll Leute ihren Lüsten hingaben. Würde ich die größe dieses Raumes vergleichen müssen, dann kam selbst unser gesamtes Erdgeschoss nicht dagegen an. Das Blue Moon hatte eine Größe, wie ich es noch bei keinem anderen Club gesehen hatte. Als ich meinen Blick an die Decke richtete, bemerkte ich, dass es noch eine weitere Etage gab.
"Da oben sitzen die ganz Reichen, die VIPs", sagte Cath dicht an meinem Ohr, als sie meinen Blick bemerkt hatte. Ich nickte und wandte meinen Blick wieder auf die Tanzfläche. Wie um alles in der Welt sollten wir da die drei Mädchen finden?
"Lass uns erst Mal was zum Trinken holen!" Cath zog mich zu einer der Bars. Zum Teil waren sie von Wänden umgeben, die rechts und links, als auch einmal in der Mitte eine Öffnung hatten. Das diente wohl, um einen Teil der Musik abzuschirmen. Und tatsächlich, nachdem wir den Barbereich betraten, schien es mir um einiges leiser, obwohl die gewaltige Lautstärke der Musik immer noch überwältigend war.
"2 Caipis!" brüllte Cath dem Barmann zu.
"Was sind Caipis?", fragte ich sie, während ich mich immer noch umsah.
"Das wirst du gleich sehen", grinste Cath. "Hast du sie schon entdeckt?"
Ich schüttelte den Kopf. Während wir so an der Bar standen und auf unsere Getränke warteten, hatte ich auf einmal das Gefühl, dass jemand meinen Namen rief. Doch das konnte nicht sein. Die Musik war so laut, dass ich ja schon Mühe hatte Cath zu verstehen, die direkt neben mir stand. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen.
"JULIA! CATH!" Ganz leise vernahm ich den Klang unserer Namen.
"Hast du das gehört?", fragte ich Cath.
"Was denn?" Doch noch bevor ich ihr antworten konnte, strahlte sie auf einmal.
"Schau mal, da sind sie!" Ich wandte meinen Kopf in die Richtung, in die sie deutete und... tatsächlich. Samantha, Alice und Nicole kamen auf uns zu.
"Da seid ihr ja endlich", fing Nicole sogleich an. "Kommt ja reichlich spät."
"Jetzt sind wir doch da, oder?", sagte Cath eine Spur gereizt.
"Habt ihr schon den Besitzer gesehen?"
"Wen?", fragte Cath, die in dem Moment nicht zugehört hatte, da ihr unsere Getränke gereicht wurden. Ich nahm ihr meines ab und probierte einen kleinen Schluck. Es schmeckte nicht schlecht, obwohl ich glaube, dass 3 bei mir vollkommen reichen würden.
"Der Besitzer!", brüllte Samantha und versuchte das Wort so deutlich auszusprechen, wie nur möglich.
"Ich kenne den Typen doch gar nicht", erwiderte Cath augenrollend. "Woher soll ich dann wissen, ob ich ihn schon gesehen habe? Und ehrlich, mich interessiert das nicht. Ich geh jetzt tanzen." Mit diesen Worten nahm sie mich bei der Hand und zog mich auf die Tanzfläche, der riesigen Meute entgegen.
Ich schluckte, denn ich hatte gerade erneut von meinem Caipi getrunken. Ich konnte doch überhaupt nicht tanzen! Ungefähr in der Mitte der Fläche blieb Cath stehen und drehte sich zu mir um. Lächelnd stand sie vor mir und begann dann sich im Takte der Musik zu bewegen. Ich fühlte mich unwohl. Überall um mich herum waren Leute, die ich nicht kannte.
"Komm schon, JJ!" Cath hob ihre Arme in die Luft, in der einen Hand hatte sie immer noch ihren Caipi, und bewegte ihre Hüfte unablässig. Mittlerweile sind uns auch Samantha, Alice und Nicole gefolgt und in einem Trupp von 5 Mädchen, begannen wir uns zu bewegen - abgesehen von mir.
"Was ist los, Julia?", fragte Alice direkt neben mir.
"Ich kann nicht tanzen", antwortete ich.
"Wie, du kannst nicht tanzen?" Ihr Blick sprach Bände.
"Ich habe sowas vorher noch nie gemacht", gab ich zu und lächelte.
"Na, dann wird's ja höchste Zeit", grinste sie und tanzte mich an. Ich musste unwillkürlich lachen. "Los, komm schon, JJ. Versuch' es einfach. Lass dich von der Musik leiten. Es ist genau wie beim Klavier spielen! Gib dich der Melodie und dem Rythmus hin. Lass sie deinen ganzen Körper durchfahren, jede einzelne Zelle erregen und dann lass es frei."
Ich wusste nicht, wie mir diese Erklärung weiterhelfen sollte. Doch ich versuchte es. Lass sie deinen ganzen Körper druchfahren. Gespannt lauschte ich der Musik. Sie war so anders, als die, die ich sonst immer hörte oder spielte. Doch sie war gut. Langsam spürte ich, wie sie in meinen Körper eindrang und meinen ganzen Körper zum Kribbeln brachte. Am Anfang war es nur mein Oberkörper, der sachte und leicht zum Rythmus sich bewegte. Dann hatte ich das Gefühl, als würde der Rest ein Eigenleben führen. Auf einmal begannen sich meine Füße zu bewegen, meine Arme hoben sich, genau wie die von Cath, und ich wirbelte herum. Ich dachte nicht einmal nach, jede einzelne Faser meines Körpers schien von selbst zu wissen, was zu tun war.
"Wuhu!", schrie Samantha. "Das ist so geil!"
Ich hatte mich noch nie so gut gefühlt. Ich blickte mich im Raum um und erkannte, dass alle ihren Spaß hatten. Jeder tat das, was er wollte, egal ob es gut oder schlecht aussah... er tat es, weil es sich gut anfühlte und weil es richtig war. Ich lächelte und wandte meinen Blick nach oben. Zwei Augenpaare starrten mich an. Das Gesicht dazu, kam mir irgendwie bekannt vor, doch mir fiel nicht ein woher. Ich wandte den Blick wieder ab und blickte in die Runde.
Cath hatte, wie üblich, ein paar Jungs angequatscht und flirtete heftig, während sie ihren Körper unablässig bewegte. Samantha und Alice schien das sichtlich zu amüsieren. Allein Nicole ließ sich nicht von Äußerlichkeiten ablenken und tanzte ohne Unterlass. Auf einmal merkte ich, wie meine Kehle trocken wurde. Das ganze Bewegen hatte meinen Körper ganz schön viel Flüssigkeit entzogen. Ein Blick auf das Glas in meiner Hand verriet mir, dass ich mir schnellstmöglich was neues holen sollte.
Ich wandte mich zu Nicole. "Ich geh mir mal schnell was zu trinken holen."
"Warte, ich komm mit." Ich blickte noch einmal flüchtig zu Cath, doch sie war so mit den jungen Männern beschäftigt, dass es sie wohl nicht stören würde, wenn ich mal kurz von der Tanzfläche verschwand, ohne ihr Bescheid zu sagen. Nicole im Nacken, schlängelte ich mich durch die Menschenmenge in Richtung Bar.

 

Von seinem üblichen Platz aus schaute er sich das Geschehen an. Der Club war gut gefüllt, wie jeden Samstagabend. Ein Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. Wie sie alle danach lechzten in seinen Club zu kommen. Doch nur den Besten war es erlaubt. Schließlich wollte er auch seinen Spaß. Eine junge Frau, er schätzte sie auf Anfang 20, erhob sich von ihrem Platz und kam auf ihn zu. Sie strich mit ihrer Hand über seinen Rücken und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
"Willst du etwa die ganze Nacht hier stehen und in die Runde schauen. Ich langweile mich langsam." Er blickte zur Seite. Sie hatte einen leichten Schmollmund gezogen, der ihre Lippen, nur noch voller und erotischer wirken ließ. Er ließ seinen Blick über ihren Körper wandern und das, was er sah, gefiel ihm. Auf Nick war Verlass. Er hatte ein gutes Spielzeug für diese Nacht besorgt. Spiezeug, das waren sie alle. Nur Spielzeug. Und sie wussten es. Sie rissen sich schier danach, sein Spielzeug zu sein - wenigstens für eine Nacht. Doch momentan war ihm nicht nach spielen zumute.
"Setz dich wieder hin und trink noch was. Vielleicht komm ich später nochmal zu dir." Ihr Schmollmund wurde größer und ihre Augen blickten ihn verführerisch an. "Setz dich", erwiderte er kalt.
Ihr Ausdruck entglitt ihr für einen kurzen Augenblick, dann lächelte sie gezwungen und folgte seiner Anweisung. Er blickte wieder nach unten, wo sich alle im Takt der Musik bewegten. Seine Aufmerksamkeit wurde von einem Mädchen geweckt, dass ungefähr in der Mitte der Fläche stand. Sie war hier fehl am Platz, denn als einzige bewegte sie sich nicht. Gott, wie er das hasste. Auf seine Türsteher war echt kein Verlass mehr. Er wollte die Besten und was bekam er? Nur weil sie umwerfend aussah, hatte sie hier noch lange nichts zu suchen. Er wollte Leute, die Party machten... richtige Party. Schließlich wäre dies sonst nicht der angesagteste Club und er nicht der begehrteste Mann in der Stadt. Er schnippte mit dem Finger und Nick, seine rechte Hand, trat an ihn heran.
"Wer hat heute draußen Dienst?"
"Brighton und George."
Ihm entfuhr ein Seufzer. Der Neue - das war ja klar. Es wär wohl das Beste, wenn er selbst den Job übernahm. Auf andere war eben kein Verlass. "Würdest du bitte Brighton zu mir..." Er stockte. Das Mädchen begann sich langsam zu bewegen. Immer ausdrucksstarker wurden ihre Bewegungen, bis sie sich schließlich vollends der Musik hingab.
"Was?", fragte Nick, doch er schüttelte nur mit der Hand und bedeutete ihm somit wieder zu verschwinden. Nun war sein Interesse geweckt. Das Mädchen, das eben noch wie angewurzelt dagestanden hatte und aussah, als würde es hier nicht hingehören, bewegte sich im Rythmus der Musik, als hätte sie nie etwas anderes gemacht - als sei sie aus dieser geboren worden. Ihr Blick wanderte über die Menschenmenge und dann zu ihm nach oben. Einen kurzen Moment streiften sich ihre Blicke. Ihrer blieb an seinem Gesicht haften und ein Grinsen umspielte seine Lippen. Dann wandte sie sich wieder von ihm ab. Er musste sie haben. Heute... morgen... und vielleicht noch viel öfters. Noch nie hatte ein Mädchen solch eine Begierde in ihm ausgelöst. Noch nie verlangte er nach einer Frau, wie jetzt. Er musste sie haben. Koste es was es wolle. Und er würde sie haben. Denn er bekam immer, was er wollte.

 

"Was möchtest du trinken?", fragte ich Nicole.
"Ich nehm einen Sex on the Beach", antwortete sie mir, während sie sich immer noch leicht zur Musik bewegte.
Entsetzt sah ich sie an. "Bitte was?"
Nicole lachte. "Das ist ein Getränk, du Dummerchen."
"Ach so."
Ich wandte mich dem Barmann zu "Einen Sex on the Beach und für mich..." In dem Moment trat ein Mann ganz in schwarz gekleidet auf mich zu. Völlig aus dem Konzept gebracht, vergaß ich meine Bestellung weiter aufzugeben und sah ihn leicht verwirrt an.
"Würden die Damen mir bitte folgen?" Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Was würde mit uns passieren, wenn wir ihm folgten?
Doch Nicole antwortete prompt. "Natürlich!" Sie strahlte und gab mir einen leichten Stoß.
Der Mann nickte, ohne eine Miene zu verziehen und ging voraus. "Los, geh schon!" Nicole gab mir einen weiteren Stoß und gemeinsam folgten wir ihm.
"Wohin gehen wir?", fragte ich sie.
Sie strahlte mich an. "Dorthin, wo nur sehr wenige hin dürfen... in den VIP-Bereich!"
Erstaunt blickte ich den Mann an und tatsächlich steuerte er auf eine der Treppen zu, die in die obere Etage führte. "Und warum?"
"Keine Ahnung, aber ich find's geil. Ein Glück bist du heute mitgekommen", strahlte sie bis über beide Ohren. Was hatte ich mit der ganzen Sache zu tun?
Ganz aufgeregt lief Nicole dem Mann hinterher. Ich folgte mit einigem Abstand und auf der Treppe blickte ich über die Tanzfläche. In dem Getümmel konnte ich Cath nicht ausfindig machen. Suchte sie vielleicht schon nach mir?
"Julia, komm schon!" Nicole zerrte mich die letzten paar Stufen hoch und zog mich hinter sich her. Als wir die Tanzfäche von oben zur Hälfte umkreist hatten, blieb der Mann plötzlich stehen. Nicole stoppte abrupt und ich wäre beinahe in sie hineingelaufen.
"Setzen Sie sich bitte." Ohne jeglichen Ausdruck im Gesicht deutete er auf eine leere Lounge. Nicole folgte sofort seiner Aufforderung und setzte sich in die Mitte der riesigen Couch. Ich jedoch blieb stehen. Mich überkam ein komisches Gefühl.
"Junge Dame?!", deutete er immer noch auf die Couch. Ich sah ihn an. Sollte ich seiner Aufforderung wirklich nachgehen?
Plötzlich richtete er sich auf und stellte sich ohne ein weiteres Wort zu sagen, hinter die Couch. Verdutzt über diese Reaktion, wusste ich noch immer nicht, was ich tun sollte.
"Es ist unhöflich eine solch nette Einladung auszuschlagen", sagte jemand ganz dicht an meinem linken Ohr.
Ich bemerkte, wie Nicoles Mund nach unten klappte und sie vor lauter Aufregung nach Luft schnappte. Langsam drehte ich mich um und sah in zwei grüne Augen, genau die gleichen, die ich vorhin von unten erblickt hatte. Der Mann vor mir war ungefähr 1.85 m groß, hatte dunkelbraune Haare und ein Gesicht, wofür er glatt Model werden könnte. Erneut hatte ich das Gefühl, dieses Gesicht zu kennen. Doch mir wollte nicht einfallen, wo ich ihm schon einmal begegnet war. Er grinste immer noch. "Mein Name ist Dwight Harper und bin der Eigentümer dieses Clubs."
Überrascht sah ich ihn an. Das war der Mann, von dem Nicole, Alice und Samantha so geschwärmt haben. Und wie es aussah, auch zurecht.
"Mit wem habe ich die Ehre?"
"Meine Name ist Julia Jacksen."
"Und ich bin Nicole Caulfield!"
"Hi Nicole", antwortete ihr Dwight, ohne den Blick von meinem Gesicht zu nehmen.
"Hi", war ihre einzige Erwiederung, so aufgewühlt war sie.
"Nun, hätten die Damen vielleicht Interesse, an einer kleinen Plauderrunde? Eine kleines Pause, um sich vom Tanzen zu erholen?"
"Oh, natürlich!" Ich blickte Nicole an. Sie nickte heftig mit dem Kopf und sah mich flehend an.
"Oh, natürlich?" Die Frage richtete er defintiv an mich. Ich atmete tief ein. Ein kleines bisschen Plaudern, würde doch nichts Schaden, dachte ich mir und stimmte zu.
Dwight lächelte, während er mich an die Hand nahm und zur Couch führte. Ich blickte noch einmal auf die Tanzfläche. Ich war mir nicht ganz wohl bei der Sache, Cath so einfach zurück zu lassen. Sie suchte mich bestimmt schon überall. Ich wandte mich an Dwight. "Ich habe aber nicht sehr viel Zeit."
"Ach, das ist aber Schade. Darf ich fragen, warum?"
"Ich bin mit Freunden hier. Sie werden uns bestimmt schon suchen, da wir ja eigentlich nur einmal kurz zur Bar wollten."
"Na dann laden wir sie eben auch ein", lächelte er.
Ich blickte ihn leicht verwirrt an, über diese spontane Aussage. Warum sollte er 5 normale Mädchen einfach so in den VIP-Bereich lassen? Er kam einen Schritt auf mich zu und flüsterte mir sehr nah am Ohr etwas zu: "Ich tue alles, damit so eine hübsche Frau bleibt." Er grinste.
Warum nur kam er mir so bekannt vor? Sanft schob er mich zur Couch und bedeutete mich hinzusetzen, während er einem Mann etwas zuflüsterte, der dann nickte und verschwandt. Ich hatte mittlerweile neben Nicole Platz genommen und wusste nicht so Recht, was ich jetzt sagen sollte. Ich fühlte mich etwas unwohl, in dieser, mir vollkommen fremden Situation. Ich glaubte, selbst Cath hatte noch nie so etwas erlebt, wie ich jetzt. Dwight behielt sein Grinsen und setzte sich neben mich.
"Champagner?", fragte er mich, doch es war Nicole, die ihm antwortete.
"Sehr gern!", strahlte sie. Sie rutschte näher an mich heran. Um nicht unhöflich zu sein, hatte ich versucht etwas Abstand zwischen mir und Dwight zu bringen, doch das war nun schwierig, da ich von Nicole in seine Richtung gedrängt wurde.
Dwight nahm eine Flasche, die in einem Kühler auf dem Tisch stand und goss 3 Gläser mit Champagner voll. Er stellte die Flasche wieder zurück und reichte uns dann die Gläser. "Auf einen wunderbaren und unvergässlichen Abend, meine Damen", prostete er uns zu.
Mir lief ein kleiner Schauer über den Rücken. Die Art, wie er unvergässlich aussprach, ließ mich unweigerlich aufhorchen. Doch ich ließ mir nichts anmerken, lächelte und nahm dann einen Schluck. Die kühle Flüssigkeit breitete sich in meinem Mund aus und stillte für einen Augenblick meinen Durst. Ich hätte gerne noch einen Schluck genommen, doch ich musste aufpassen. Für Champagner und Sekt war ich sehr anfällig und ich wollte vor all diesen Menschen nicht betrunken werden. Vermutlich bekamen wir dann Hausverbot und Cath würde das sicher nicht gefallen.
Ich widmete meine Aufmerksamkeit wieder der Tanzfläche zu, von der ich allerdings nur ein Viertel einsehen konnte. Ich seufzte. Hoffentlich ging es Cath gut. Und hoffentlich fand ich sie nachher auch wieder. Doch meine letzte Sorge erübrigte sich, denn in diesem Moment kam der Mann, mit dem Dwight vorhin geredet hatte, zurück und hinter ihm liefen zum einen eine verwirrte und misstrauische Cath und zum anderen eine aufgebrachte Samantha und Alice. Als Cath mich sah, wurde ihr Blick noch misstrauischer und sie musterte Dwight, der lässig seine Arme über den Couchrücken gelegt hatte und die Neuankömmlinge anlächelte.
Als sie vor der Lounge standen, erhob er höflich, ging zu Cath und begrüßte sie freundlich. "Guten Abend, die Damen. Mein Name ist Dwight Harper und ich würde mich freuen, wenn sie mir und meinen Freunden heute etwas Gesellschaft leisten würden."
Cath nickte und lächelte, doch ihre Augen blieben kalt. Ich wusste, dass sie Dwight von Anfang an nicht ausstehen konnte. Die Runde wurde immer ausgelassener und die Feierlaune stieg ins unermässliche. Dwight hatte ein paar Freunde von sich eingeladen, um mit uns zu feiern. So weit ich das mitbekam, war jeder von ihnen nett und Alice, Samantha und Nicole hatten offensichtlich Spaß. Auch Cath unterhielt sich interessiert mit zwei Männern. Jedoch bemerkte ich, wie sie ab und zu Blicke zu mir und Dwight warf, mit dem ich ins Gespräch gekommen war.
"Wie alt bist du eigentlich?", fragte er mich, nach einer längeren Gesprächspause.
"17", antwortete ich. Zur Antwort zog er die Augenbrauen hoch. "Was?", fragte ich und musste lachen. Mittlerweile hatte ich schon mein 2. Glas Champagner und ich merkte, wie der Alkohol mich redselig und lockerer machte. Meine Unsicherheit und Zweifel von vorhin, waren verschwunden und ich hatte den Eindruck, dass Dwight sehr nett war. Ich musste mir also keine Gedanken machen.
"Willst du mich verarschen?", fragte er lachend.
Ich schüttelte den Kopf. "Nein. Wir sind alle noch 17."
Einen Moment war er geschockt, dann grinste er wieder. Er blickte mich mit einem komischen Ausdruck in den Augen an, doch ich beachtete dies nicht. Bestimmt bildete ich mir das nur, aufgrund des Alkohols, ein. "Du siehst älter aus", erwiderte er. Das lag bestimmt an Cath. Sie war schließlich diejenige, die mir dieses Outfit ausgesucht und mich gestylt hatte. "Ich frage mich, ob du vielleicht Lust hättest mal mit mir auszugehen."
Überrascht sah ich ihn an. Damit hatte ich jetzt nun nicht gerechnet.
"Sie hat einen Freund", grinste Nicole, die sich von ihrem Flirt losgeeist hatte und mit glasigen Augen Dwight ansah. Sie schwankte leicht, obwohl sie saß. Offensichtlich schien ihr der Alkohol noch weniger zu bekommen, als mir.
Dwight sah mich an. "Wirklich?"
Tristans Gesicht tauchte plötzlich vor meinen Augen auf. Du bist verliebt. Das war Mrs. Cobridge Stimme. Ich schloss die Augen und schüttelte leicht den Kopf. Jetzt haluzinierte ich schon.
"Nein?", holte mich Dwight aus den Gedanken.
Ich sah ihn erschrocken an. "Oh... äh... das Schütteln galt nicht deiner Frage."
"Also hast du einen Freund?"
"Ich... also..." Warum konnte ich diese Frage nicht benein? Was hielt mich davon ab? Dwight sah mich erwartungsvoll an. Ich schluckte. "Also... ich bin mir nicht sicher."
Einen Augenblick war er verwirrt, dann fing er an zu lachen. Was war daran jetzt so amüsant? Als er sich beruhigt hatte, erwiderte er. "Du bist dir nicht sicher? Warum nicht?"
Ich überlegte kurz. "Nun ja, ich bin mir halt nicht sicher, ob man diese Beziehung als solch eine Beziehung bezeichnen kann. Wir haben nicht direkt darüber gesprochen. Wir haben eigentlich generell nicht wirklich viel miteinander gesprochen."
"Nein, dazu waren sie zu sehr mit was anderem beschäftigt", unterbrach mich Nicole und grinste so, als wisse sie etwas, was andere nicht wussten.
Cath wandte sich zu ihr. "Hör auf Nicole! So etwas haben die beiden hundert prozentig nicht gemacht. Vielleicht solltest du dich weniger voll laufen lassen. Das ist ja echt schon Mitleid erregend, wie du dich verhälst", schimpfte sie.
"Oh, ein freches Mundwerk", grinste Dwight und wandte den Blick zu ihr. Cath grinste zur Antwort, genau wie bei der Begrüßung. Ihre Mundwinkeln bewegten sich nach oben, doch das Lächeln erreichte nicht ihre Augen.
"Nun, der eigentliche Grund, warum wir nicht so viel miteinander reden, ist der, dass ich ihn nur selten sehe."
Dwight wandte den Blick wieder zu mir und rutschte näher an mich heran. "Wenn ich er wäre, würde ich jede freie Minute versuchen mit dir zu verbringen."
Ich lächelte, da ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte. Er kam noch ein Stück näher. "Weißt du eigentlich, wie du auf Männer wirkst?" Die Frage irritierte mich noch mehr, als die vorige.
Seine linke Hand glitt von der Lehne, über meine Schulter und blieb an meiner Hüfte hängen. Mit der anderen streichelte er leicht über meinen Oberschenkel, während er meinem Ohr immer näher kam. Ich wandt mich aus seinen Armen und stand auf. Die Berührungen ließen mich unweigerlich an Tristan denken. Doch warum?
Das Champagnerglas in der Hand ging ich an ihm vorbei, zur Brüstung von der man einen guten Überblick auf den gesamten Club hatte. Die Tanzfläche hatte sich noch mehr gefüllt und ich vermutete, dass die Musik eine Spur lauter war, als vorher. Definitiv konnte ich das nicht sagen, da in den VIP-Breich nur ein Bruchteil der gesamten Lautstärke durchdrang. Ich atmete einmal tief ein und beobachtete die Tanzenden.
Jemand trat von hinten an mich heran und beugte sich rechts zu mir herunter. Ich blickte zur Seite und sah in Dwights grinsendes Gesicht. "Hm, wenn du es nicht vor allen anderen machen willst, können wir auch gerne wohin gehen, wo wir ungestört sind." Mit seiner Nase fuhr er meinen Hals entlang und drückte sein Becken leicht gegen meines.
Plötzlich lief ein Schauer über meinen Rücken und eine Reihe von Ereignissen passierte, die mir selbst im Nachhinein unerklärlich waren. Eine Abfolge von Bildern tauchte vor meinem inneren Auge auf. Ich sah Tristans Gesicht, wie er mich angrinste. Die Szene, als er wutendbrannt gegen den Baum schlug und mich anschrie. Seine Hilfe, als mich die Mädchen zum Pool gelockt hatten. Der Kuss. Das bleibt unser kleines Geheimnis.
Ich spürte wie mein Herz raste und ich keuchte. Dwight hatte längst begonnen, meinen Hals zu küssen.
>>Nein<<, dachte ich. >>Tu das nicht. Tu das bitte nicht. Das darf nur Tristan!<< Unwillkürlich stieß ich ihn von mir weg. "Bitte nicht."
Meine Stimme brach und ich sah zu Boden. Meine Hände lagen immer noch auf seiner Brust. Mein Atem ging schneller. Ich blickte auf und sah Dwights verwirrtes Gesicht.
"Entschuldigung. Es tut mir leid", brachte ich hervor.
Dwight lächelte freundlich. "Ich muss mich für mein rüpelhaftes Benehmen entschuldigen. Ich hätte wissen müssen, dass dir der Junge sehr am Herzen liegt. Verzeih mir."
Ich lächelte zaghaft. "Schon in Ordnung."
"Der Junge hat ein Glück, jemanden, wie dich zu haben."
Ich lächelte. Eigentlich wollte ich noch etwas sagen, um die Situation wieder zu lockern, doch da mischte sich Cath ein. "JJ, ich glaub Niles wartet schon." Sie stand auf und trat neben mich.
"Alles in Ordnung mit dir?", fragte sie so leise, dass nur ich es hören konnte. Ich senkte meine Augen nach unten, dann blickte ich kurz unauffällig nach oben. Das war unser geheimes Zeichen für Nicken.
"Ist Niles dein Freund?", fragte mich Dwight interessiert.
Ich schüttelte den Kopf. "Nein, unser Fahrer. Er hat uns hierher gefahren und holt uns auch wieder ab." Ich stutzte. Woher wollte Cath wissen, wann Niles uns abholt? Sie war doch schon längst ausgestiegen, als ich mit Niles den Termin ausgemacht hatte. Und überhaupt, sollte ich ihn nicht anrufen?
"Es war ein sehr schöner Abend, vielen Dank", lächelte Cath. Sie gab sich die größte Mühe freundlich zu sein.
"Ich danke euch, für die nette Gesellschaft."
"Nun, wir müssen dann." Sie wandte noch einmal den Blick zu Samantha, Alice und Nicole. Dann seufzte sie.
"Los kommt, Mädels!", sagte Cath genervt und ging wieder auf die Couch zu. Sie packte alle einzeln am Arm und zog sie hoch. Durch die Beeinträchtigung des Alkohols ging das auch sehr leicht.
"Ach, nööööö!", sagte Alice und schwankte. Ich tat ein paar Schritte nach vorne und fing sie so noch auf.
"Kommt. Draußen gibt George Clooney 'ne Autogrammstunde."
"Was? George Clooney?" Samantha stürmte los, hatte jedoch die Enge des Freiraums zwischen Tisch und Couch nicht richtig einkakuliert und fiel auf einen jungen Mann. Der grinste nur und half ihr wieder hoch. Cath rollte mit den Augen. Sie stützte Samantha und nahm Nicole bei der Hand, die von allen Dreien am wenigsten unter dem Alkohol litt. Ich hakte mich bei Alice unter und verabschiedete mich von Dwight.
"Es tut mir leid für diese Szene eben. Es war ein netter Abend. Vielen Dank für die Einladung."
"Nichts zu danken. Ich würde mich freuen, euch bald wiederzusehen."

 

Er blickte ihnen nach, als sie sich entfernten. An der Treppe sah sich Julia noch einmal um. Er hob zum Abschied leicht die Hand und sie lächelte. Dann machte sie sich auf den Weg, raus aus dem Club. Sein Lächeln verschwand und an deren Stelle trat ein begieriges Grinsen.
"Mann ey, da hast du dir ja wieder jemanden ausgesucht." Seine Freunde standen auf.
"Oh ja", erwiderte er. "Da habe ich mir jemanden ausgesucht. Hat einer von euch rausgekriegt, auf welche Schule sie gehen?"
"Die Ouran High", antwortete jemand.
Er stockte und sein Grinsen entglitt ihm. "Was hast du gesagt?"
"Ich sagte, sie gehen auf die Ouran High."
Die Ouran High, also. Sein Grinsen schlich sich wieder auf sein Gesicht, noch hämischer und erwartungsvoller, als vorher.
"Hier. Für euch." Er zog ein dickes Bündel zusammengerolltes Geld aus der Tasche und warf es ihnen zu, ohne sie anzusehen. "Für jeden 100. Wie abgemacht. Ihr könnt nachzählen, wenn ihr wollt, aber es ist alles da."
Ohne sie noch eines Blickes zu würdigen, begab er sich wieder zur Lounge.
"Ey, Dwight." Er sah sich um. "Es macht echt Spaß, deine Freunde zu sein", grinste Collin und machte sich dann mit seinen Kumpels wieder auf den Weg zur Tanzfläche.
Dwight schnaubte nur und ließ sich zurückfallen. Von hinten trat Nick an ihn heran. "War es wirklich richtig, sie für das auch noch zu bezahlen?"
"Ach, Nick. Du weißt doch. Das ist für mich nur Kleingeld." Der Mann hinter ihm seufzte. "Außerdem geben sie es doch eh hier wieder aus. Also warum sollte ich mir Sorgen machen?", grinste er.
Es kam keine Antwort. Offensichtlich schien er dies so zur Kenntnis zu nehmen.
"Wo ist eigentlich die Kleine von vorhin?"
"Ich hab sie wieder weggeschickt", antwortete Nick knapp.
Dwight stöhnte. "Und mit wem soll ich mich jetzt amüsieren?"
"Verzeiht. Ich werde sofort Ersatz beschaffen."
"Nein, nein, lass nur. Ich mach das schon." Mit diesen Worten stand er auf und ging auf ein Pärchen zu, dass sich angeregt unterhaltete. "Hallo schöne Frau. Wollen Sie vielleicht ihre Zeit mit jemanden verbringen, der mehr zu bieten hat?" Er grinste verführerisch. Ihre Augen weiteten sich.
"Hey, siehst du nicht, dass ich mich mit ihr unterhalte? Verpiss dich!"
"Hm." Sein Grinsen wurde breiter. "Und siehst du nicht, dass es sie langweilt, was du zu sagen hast?" Dann wandte er sich wieder an das Mädchen. "Also, was ist nun?"
Sie war ihm schon von Anfang an verfallen, das wusste er genau. Unsicher sah sie ihren Gesprächspartner an, entschied sich dann aber doch, ihn links liegen zu lassen.
Dwight nahm ihre Hand und führte sie weg vom Geschehen, an einen abgelegen Ort. Als er an Nick vorbei lief, flüsterte er ihm etwas zu: " Ich hätte eine Bitte an dich: Zeig mal unserem Freund da hinten, was mit Leuten passiert, die mir wiedersprechen." Nick nickte. "Ach ja", fügte er noch hinzu. "Lass ihn, wenn möglich am Leben. Ich hab keine Lust, dass die Polizei hier rumwimmelt."
Das Mädchen immer noch an der Hand, öffnete er eine kaum erkennbare Tür und befand sich in seinem Privatbereich, den er eigens für solche Situationen eingerichtet hatte. Zügig zog er sie ins Schlafzimmer und noch bevor sie zum Stehen kam, begann er sie schon auszuziehen.
Sie kicherte und ließ es zu, dass er sie überall küsste. An ihr Gesicht konnte er sich kaum noch erinnern. Doch das war ihm egal. Denn er würde sich einzig allein ihr Gesicht, ihren Mund, ihre Haut und ihren Geruch vor Augen führen, wenn er es mit dieser kleinen Schlampe hier trieb.

 

Ich sah aus dem Fenster, in die schwarze Nacht hinaus. Schon seit Beginn der Fahrt, führten Niles und Cath eine Unterhaltung, an der ich mich allerdings nicht beteiligte. Ich bemerkte ehrlich gesagt auch gar nicht, dass ein Gespräch stattfand. Meine Gedanken kreisten einzig und allein um den heutigen Abend. Die Begegnung in Dwight hatte irgendetwas in mir hervorgerufen. Ich wusste nur nicht was. Und warum kam er mir so bekannt vor? Mein Unterbewusstsein gab mir jedes mal einen kleinen Dämpfer, wenn ich an ihn dachte. Doch ich konnte den Gedanken nicht greifen, nicht sichtbar machen. Es war etwas wichtiges, etwas, was ich nicht so einfach übersehen sollte.
Doch, so sehr ich mich auch bemühte, das Gefühl des Kennens näher zu definieren, desto verschwommener und unerkennbarer wurden meine Gedanken. Es war zum verrückt werden. Doch das war nicht meine größte Sorge.
Tristan. Wieso musste ich in letzter Zeit so oft an ihn denken? Meine eigenen Gedanken vorhin, hatten mich erschreckt und ich hatte Angst vor ihnen. Das darf nur Tristan. Ich schluckte. Warum hatte ich das gedacht? Ich war froh, es nicht laut gesagt zu haben, sonst wäre Cath vermutlich noch wütender gewesen. Doch wie kam ich dazu, so etwas zu denken? Er war der erste, der mich so berührt hatte. Der erste, der mir so nah kam. Der erste, der solch ein Chaos in mir anrichtete.
Das bleibt unser kleines Geheimnis.
Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und atmete tief ein und aus. Mein Herz hatte wieder angefangen, schneller zu schlagen. Ich verdrängte die Gedanken, die sich mir energisch und mit solch einer Offensichtlichkeit entgegendrängten. Ich wollte sie nicht denken, wollte nicht, dass sie in meinen Kopf feste Gestalt annahmen und nie wieder verschwinden würden. Ich hatte Angst, was dann mit mir passieren würde. Hatte Angst vor den Konsequenzen.
"Wir sind da, Miss." Ich zuckte zusammen und sah Niles erschrocken an.
"JJ, ist alles in Ordnung mit dir?" Ein Blick zur Seite verriet mir, dass Cath micht wieder mit einem besorgten Gesicht ansah.
Ich versuchte ein Lächeln. "Ja, mir geht es gut."
Ihre Augenbrauen zogen sich kurz zusammen, dann nickte sie. "Ok."
"Ich bringe Miss Sanders noch nach Hause."
"Danke Niles", lächelte ich.
"Tschüss, Süße." Cath gab mir links und rechts ein Küsschen. "Wir sehen uns Montag."
"Ja, bis Montag." Dann stieg ich aus. Ohne mich noch einmal umzusehen, ging ich geradewegs auf unsere Eingangstür zu. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, mich darüber zu wundern, dass Nancy zu so später Stunde noch wach war und mir die Tür öffnete.
"Gute Nacht, Nancy", war das einzige, was ich sagte, dann lief ich eilig die Treppen hoch und ging in mein Zimmer. Dort angekommen holte ich einmal tief Luft. Wovor rannte ich eigentlich weg? Was machte mir solche Angst? Und warum, sehnte ich mich so sehr nach der Wahrheit?
Das bleibt unser kleines Geheimnis.

Tristans Gesicht kam näher. Seine Lippen berührten die meinen und ein angenehmes Gefühl breitete sich in mir aus. Dann veränderte sich plötzlich das Bild. Ich stand mit Cath in der Allee, hinter uns waren Brian, Jake, Tristan, Mat und Ike.
"Das bleibt unser kleines Geheimnis", grinste Tristan das Mädchen vor ihm an. Meine Augen weiteten sich, mein Herz schlug schneller, ich bekam kaum noch Luft. Wieder veränderte sich die Szene.
Ich war im Musikraum. Tristan stand vor mir, hinter mit hämmerte Cath gegen die Tür. "Das bleibt unser kleines Geheimnis." Begierig drängten sich seine Lippen auf die meinigen.
Doch dann stand ich nicht mehr vor ihm, sondern beobachtete vom Flügel aus, wie er jemanden küsste. Ein Mädchen, dass ich nicht kannte. Und als sie den Kuss beendet hatten, flüsterte Tristan: "Unser Geheimnis. Meine Geheimnisse."

Schweißgebadet schreckte ich aus dem Schlaf. Mein Atem ging stoßweise und mein Herz raste wie wild. Ich schluckte und versuchte das trockene Gefühl in meinem Mund loszuwerden. Mein Kopf tat mir weh und ich fasste unwillkürlich an mein Gesicht. Nässe. Meine Hände wurden feucht. Hatte ich etwa im Schlaf geweint? Ich schüttelte den Kopf und stand auf. Am besten war es, wenn ich mir ein Glas Wasser holte. So würde ich einen klaren Kopf bekommen.
Auf dem Weg nach unten in die Küche, versuchte ich mich zu beruhigen. Leise stieg ich die Treppen herunter, während ich horchte, ob noch jemand wach war. Aus der Küche war kein Geräusch zu entnehmen, doch in Joannes Zimmer brannte noch Licht.
Schnell und vorsichtig schlich ich mich in die Küche, holte mir eine kleine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und ging dann schnurstraks wieder nach oben. Als ich meine Zimmertür hinter mir schloss und ich mich umdrehte, erschrak ich.
Tristan.
Doch als ich blinzelte, verschwand er wieder. Die Flasche fiel mir aus der Hand. Kraftlos und erschöpft, sank ich an der Tür zu Boden. Mein Herz raste wieder und ich merkte, wie sich neue Tränen einen Weg über meine Wangen bahnten.
Das bleibt unser kleines Geheimnis.
Warum? Warum hatte er es zu ihr gesagt? Wie viele Geheimnisse hatte er noch. Das Bild aus dem Traum erschien vor meinem geistigen Augen. Wie er dieses fremde Mädchen küsste. Ich schluckte und versuchte den Kloß in meinem Hals verschwinden zu lassen.
Warum nahm mich das so mit? Warum wollte ich es nicht, dass er mit anderen Mädchen Geheimnisse hatte? Warum? Warum? Warum? Völlig erschöpft und kraftlos rollte ich mich auf dem Boden zusammen. Es war sinnlos. Zu stark war es. Zu besitzergreifend. Und zu müde war ich, um dagegen anzukämpfen und so ergab ich mich dem Gefühl, welches anscheinend schon seit längerem meinen Körper so offensichtlich beherrschte.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, taten mir alle Glieder weh. Ich richtete mich auf und erkannte sogleich den Grund dafür. Ich lag auf dem Boden, direkt vor meiner Tür. Doch ich wunderte mich. Ich konnte mich nicht erinnern, wie ich hier hergekommen war. Als ich gestern nach Hause gekommen war, habe ich mich umgezogen und bin dann völlig erschöpft ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen. Doch ab da, erinnerte ich mich an nichts mehr.
Als ich mich weiter aufrichtete, steifte meine Hand eine Wasserflasche, die direkt neben mir lag. Wie kam die dahin? Es gab nur eine Möglichkeit. Ich musste schlafwandeln. In der Nacht hatte ich vermutlich unterbewusst Durst bekommen und habe mir so eine Flasche aus der Küche geholt. Doch als ich wieder hier oben war, bin ich wieder eingeschlafen, direkt vor der Tür auf dem Boden. Anders konnte ich mir die Situation nicht erklären.
Ich stand auf, was mit schmerzenden Gliedern nicht sehr einfach war und schleppte mich zum Bett. Mein Kopf pochte und meine Augen und Wangen brannten. Als ich mir mit der Zunge über die trockenen Lippen fuhr, breitete sich ein salziger Geschmack in meinem Mund aus. Was war in der Nacht nur passiert?
Um wieder klaren Kopfes zu werden, öffnete ich die Wasserflasche und nahm ein paar kräftige Schlucke. Meine vertrockneten Kehle begrüßte die kühle Flüssigkeit und mein Kopf tat nicht mehr ganz so weh. Ich blickte auf meinen Wecker. Es war halb 10. Meine Eltern saßen vermutlich schon am Frühstückstisch und warteten sicherlich auf mich. Ich warf mir nur einen Morgenmantel über und ging dann, noch einigermaßen benommen, die Treppen runter.
"Guten Morgen, mein Engel", begrüßte mich meine Mutter.
"Morgen", versuchte ich ein Lächeln.
"Ach herrje, wie siehst du denn aus? Geht es dir nicht gut, mein Schatz?" Meine Mutter sah mich besorgt an und auch mein Vater blickte von der Zeitung auf.
"Ich habe anscheinend fast die gesamte Nacht auf dem Boden geschlafen", antwortete ich
"Wie bitte?" Mein Vater schien sichtlich entsetzt.
"Warum?" Joanne kam auf mich zu und wollte mir helfen, mich zu setzen, doch ich dankte ab.
"Ich weiß es nicht. Ich vermute ich bin geschlafwandelt, denn als ich aufgewacht bin, lag neben mir eine Wasserflasche. Anders kann ich es mir nicht erklären." Meine Eltern tauschten besorgte Blicke. "Macht euch keine Sorgen", lächelte ich. "Vielleicht lag das einfach daran, dass ich gestern so lange weg war. Das war schließlich das erste Mal, dass ich mit Cath nachts unterwegs war. Da war mein Körper eben einfach etwas durcheinander."
"Wenn du meinst, mein Schatz", sagte meine Mutter ruhig, doch der Blick, den sie meinem Vater zuwarf, besagte, dass sie mir nicht ganz glauben wollte.
"Ich denke, ich nehme erst mal eine schöne Dusche. Danach geht es mir bestimmt besser. Ihr werdet schon sehen. Es gibt nichts, worüber man sich Sorgen machen muss." Ich erhob mich wieder und ging Richtung Treppe.
"Ich werde dir etwas aufbewahren. Du kannst dann dein Frühstück später zu dir nehmen", lächelte Joanne.
"Danke", lächelte ich zurück, während ich mich auf den Weg wieder nach oben machte.
Als ich mein Zimmer betrat, hatte ich auf einmal ein Déjà Vu. Ich konnte nicht erklären, was für eins, aber es war, als hätte ich in dieser Position, vor nicht allzu langer Zeit, schon einmal gestanden. Kopfschüttelnd lief ich durch mein Zimmer ins angrenzende Bad. Eine kühle, erfrischende Dusche war jetzt genau das richtige, was mein erschöpfter Körper brauchte.

Geschwisterliebe

Das kalte Wasser lief über meinen gesamten Körper und ließ mich kurz frösteln. Es tat so gut. Ich merkte, wie die Trägheit nachließ und ich wieder Kraft und Energie tankte. Zwar raste mein Herz mittlerweile wie wild und über meine Arme breitete sich langsam eine Gänsehaut aus, doch das war mir im Moment egal.
Eine viertel Stunde stand ich da - regungslos - und ließ einfach nur das kalte Wasser über mich gleiten. Irgendwie wollte ich hier nicht weg. Ich hätte stundenlang hier stehen können, doch ich wusste, wenn ich das tun würde, würde ich mir entweder eine Erkältung holen oder meine Glieder würden einfrieren.
Widerwillig stieg ich, nachdem ich mich eingeseift und gewaschen hatte, aus der Dusche und trocknete mich ab. Im Spiegel betrachtete ich mein Gesicht. Meine Augen waren leicht gerötet, zumindest sah es unter dem grellen Licht so aus. Ich spritzte mir erneut kaltes Wasser ins Gesicht und putzte mir dann die Zähne. Als ich auf die Uhr blickte, stellte ich fest, dass ich schon eine Stunde im Bad war. Normalerweise brauchte ich nur eine viertel, mit Duschen eine halbe Stunde. Ich seufzte und spuckte die Zahnpasta ins Waschbecken. Hoffentlich ging diese Trägheit wieder weg.
Doch sie blieb. Auch beim Essen spürte ich, dass ich länger brauchte als gewohnt und für meine Hausaufgaben konnte ich keinen klaren Kopf fassen. Doch ich musste.
Mit für mich ungewohnter Anstrengung nahm ich meinen Stift in die Hand und zwang mich das Referat anzufangen. Langsam begann ich die Gedanken, die in meinem Kopf Form annahmen, aufzuschreiben. Auch wenn ich heute vielleicht nicht viel schaffte; ein Anfang war besser als gar nichts.
Nach gut einer Stunde hatte ich auch eine komplette Seite zustande gebracht. Gerade glücklich drüber war ich nicht, denn normalerweise schaffte ich 3, wenn nicht sogar mehr in dieser Zeit. Aber ich hatte ja 3 Wochen Zeit. Hoffentlich würde es mir morgen wieder besser gehen.
Ich seufzte. Das war wirklich das letzte Mal, dass ich mit Cath abends weggegnagen war. Wenn es sich immer so anfühlte, dann fragte ich mich, warum sie dann am Montag wieder so guter Laune und Tatendrang war. Vielleicht hatte sie sich schon an diese Trägheit gewöhnt? Ich für meinen Teil wollte dieses Gefühl nie wieder, also würde ich es auch in Zukunft erst einmal sein lassen.
Seufzend stand ich auf und verließ mein Zimmer. Wenn es etwas gab, dass mich beruhigen konnte, dann war es Klavierspielen. Langsam ging ich den Flur entlang und in unsere Bibliothek, in der ein Piano stand. Zwar hatten wir unten im Salon auch einen großen Flügel, doch mir fehlte die Kraft, die Treppen wieder hinunterzusteigen.
Ich setzte mich auf den Hocker und strich über das kühle dunkle Holz. Das war mein erstes Instrument gewesen und ich hatte immer mit einer solchen Hingabe und Begeisterung drauf gespielt. Bis zu dem Tag, an dem mir meine Eltern verkündeten, dass es mir nun erlaubt sei, auf dem Flügel zu spielen. Seidher hatte ich nie wieder hier gesessen.
Erinnerungen wurden wach, wie ich hier mit 5 1/2 Jahren saß und in die Tasten schlug. Schon sehr früh hatte ich mich für dieses wunderbare Instrument interessiert. Und bis heute hielt die Begeisterung und die Zuneigung an. Ein Gedanke schlich sich mir in den Kopf und ich musste schmunzeln. Dann begann ich die ersten Töne anzuschlagen und die Melodie von 'Bruder Jakob' drang mir entgegen. Irgendwie hatte ich Lust, heute einfach mal Stücke zu spielen, die ich als erstes gelernt hatte... Stücke, die mich unerklärlicherweise erfreuten.

Ich befürchtete, dass ich krank wurde. Zum einen verschwand die Trägheit nicht. Egal, was ich versuchte, egal womit ich mich beschäftigte. Ich war immer kraftlos und hatte keine Lust, irgendetwas zu tun. Das kannte ich von mir nicht.
Als Joanne bemerkte, dass es mir selbst am Nachmittag immer noch nicht besser ging, schickte sie mich kurzerhand ins Bett. Widerwillig folgte ich ihrer Anweisung. Würde es mir gut gehen, hätte ich ihr widersprochen und darauf bestanden unten im Wohnzimmer zu bleiben. Doch so fehlte mir einfach die nötige Kraft und der Wille dazu.
In meinem Zimmer, zog ich mich bis zur Unterwäsche aus und legte mich ins Bett.
Joanne kam mir hinterher, schloss die Gardinen und strich mir dann über die Stirn. "Also heiß bist du nicht. Das ist schon mal gut, dann kannst du auf alle Fälle keine Grippe haben."
Ich stöhnte. Eine Grippe würde mir im Moment auch gar nicht passen.
"Ich bringe die einen Tee", lächelte sie.
"Nein", stöhnte ich. "Lieber etwas kaltes."
Joanne runzelte die Stirn, gab dann aber glücklicherweise nach. "Ok. Ich bringe dir frisch gepressten Orangensaft. Der ist voller Vitamine und wird dir gut tun." Dann verließ sie das Zimmer.

Der andere Grund, warum ich befürchtete, dass ich krank wurde, war der, dass ich unruhig schlief. Nachdem Joanne mir den Saft gebracht hatte, versuchte ich wieder zu Kräften zu kommen, indem ich mich umdrehte und schlief. Doch alle paar Minuten schreckte ich hoch und mein Herz raste. Nach einer Weile begann ich sogar zu schwitzen und legte die Decke beiseite.
Doch es nützte nichts. Irgendetwas machte mich fertig. Irgendetwas ließ mich nicht in Ruhe schlafen und bereitete mir solche Sorgen, dass ich jedes Mal aus dem Schlaf fuhr. Doch immer, wenn ich wieder wach war, hatte ich es vergessen.
Erschöpft drehte ich mich auf die andere Seite und versuchte erst gar nicht wieder einzuschlafen. Ich würde ja sowieso wieder aufwachen, also konnte ich es auch gleich sein lassen. In Gedanken versunken starrte ich an die Wand.
Was machte mich nur so fertig? Was setzte in mir solch einen Druck aus? Hatte ich vielleicht etwas wichtiges vergessen, etwas, was ich unbedingt hätte machen sollen? Ich durchforstete meine Erinnerungen, doch finden, tat ich nichts. Es war zum Verrückt werden.
Mein Blick wanderte durch mein Zimmer und blieb schließlich an einer meiner Taschen hängen. Sie war hellbraun und auf ihr waren lauter asiatische Sachen aufgedruckt. Ich hatte sie letztes Jahr zufällig in der Stadt entdeckt und konnte einfach nicht umhin sie zu kaufen. Doch das war es nicht, was mich beschäftigte. Es waren eher die Bilder, die darauf waren. Auf einem war nämlich eine Schüssel mit Reis und zwei Essstäbchen zu sehen.
Plötzlich sprang ich auf. Meine Trägheit war verschwunden, an ihrer Stelle kehrte Energie und Tatendrang. Ich zog mir schnell ein T-Shirt und eine Jeans an und ging hastig hinunter in die Küche. Das Bento. Wie konnte ich es nur vergessen? Ich schuldetet Tristan doch noch ein Bento.
"Joanne?" Ich kam schlitternd in der Küche zum Stehen, in der Joanne gerade damit beschäftigt war, das Abendessen vorzubereiten.
"Oh Gott, Julia. Ist alles in Ordnung?" Entsetzt sah sie mich an. "Du kannst doch nicht so einfach aufstehen, wenn es dir so schlecht geht."
"Ach was", ich schüttelte den Kopf. "Mir geht es schon viel besser."
Ungläubig sah sie mich an.
"Du Joanne, ich muss dich um etwas bitten", lächelte ich und ging auf sie zu.
"Und um was?" Sie sah mich besorgt an. Offenbar gefiel es ihr nicht, dass ich schon wieder auf den Beinen war.
Doch das kümmerte mich im Moment wenig. "Ich muss wieder ein Bento machen."
"Also Julia, wenn du ein Bento essen willst, dann hättest du es mir auch..."
"Nein, nein", unterbrach ich sie. "Ich will keines essen, ich will eines machen." Ungläubig sah sie mich an. "Für Tristan", fügte ich hinzu.
Ihre Augen weiteten sich, dann wurde sie ernst. "Miss Julia Jacksen", fing sie an. "Das kann jetzt nicht Ihr ernst sein, dass Sie wegen eines Jungen einfach so Ihr Bett verlassen, obwohl Sie körperlich geschwächt sind?"
Ich zuckte zusammen. Sie war wütend. Und entäuscht. Ich schluckte. "Ich hab doch gesagt, dass es mir wieder besser geht."
"Und das soll ich Ihnen glauben?" Sie kam auf mich zu. "Gehen Sie wieder in ihr Zimmer und legen Sie sich hin oder ich werde Sie hochtragen müssen."
Entsetzt sah ich sie an. Joanne hatte mich noch nie so angesprochen - so formell. Es war ihr sehr ernst. Doch, aus welch unbegreiflichen Gründen auch immer, mir war es auch ernst. "Es tut mir wirklich Leid, Joanne. Aber ich kann nicht." Ihre Lippen pressten sich aufeinander und sie atmete einmal tief ein. "Ich kann nicht", flüsterte ich und meine Stimme brach.
Noch einmal holte sie tief Luft. "Und wenn ich das Bento für dich mache?"
"Das geht leider nicht. Ich soll es machen... und ich will es machen. Es tut mir wirklich Leid, Joanne. Ich weiß ja auch nicht mal, warum."
Sie seufzte. "Na gut. Aber wenn es dir wieder schlechter geht oder dir schwindelig wird oder dergleichen, dann sagst du Bescheid und gehst sofort wieder zurück in dein Bett."
Ich nickte und lächelte. Eine Freude durchströhmte mich und begierig lief ich zum Kühlschrank. Doch ich hatte gelogen. Ich hatte schon wieder gelogen. Denn ich würde es ihr nicht sagen, wenn es mir wieder schlechter ginge. Ich musste dieses Bento unbedingt allein herstellen. Doch warum? Das war mir selbst nicht so ganz klar.

There was a boy A very strange enchanted boy,
They say he wandered very far, very far,
Over land and sea,
A little shy and sad of eye,
But very wise was he

"Miss Jacksen?"

And then one day,
One magic day he passed my way,
And while we spoke of many things,

"Miss Jacksen?"

Fools and kings,
This he said to me,
"The greatest thing you'll ever learn,
Is just to...

"Miss Jacksen?" Mr. Wells schrie förmlich.
Ich zuckte zusammen und sah ihn erschrocken an. Er stand vor meinem Tisch und sein Blick haftete auf mir, die anderen im Raum hatten sich uns zugewandt.
"Ja, wie kann ich Ihnen helfen?", fragte ich zögernd.
"Miss Jacksen, ich hab sie gerade 5 mal aufgerufen und keine Reaktion von Ihnen bekommen. Geht es Ihnen eventuell nicht gut? Möchten Sie vielleicht, dass Sie jemand zum Krankenzimmer begleitet?" Sein Blick war voller Besorgnis.
Ich schluckte. "Nein, nein. Mir geht es gut." Ich lächelte. "Es tut mir leid, aber ich war gerade mit meinen Gedanken woanders. Verzeihung."
Mr. Wells zog die Augenbrauen hoch, dann lächelte er breit. "Aber das passiert doch jedem mal, selbst den Besten", strahlte er. Vermutlich war er froh, dass er selbst auch bei mir eine Art von Schwäche feststellen konnte.
Ich nickte und lächelte weiterhin.
"Nun. Der Grund, warum ich Sie angesprochen habe, ist der, dass ich möchte, dass Sie Aufgabe 2g an der Tafel vorrechnen. Glauben Sie, dass Sie sich dazu in der Lage fühlen?"
Gekicher. Ich drehte mich um und blickte in die Gesichter dreier Mädchen, die angeregt miteinander tuschelten. Es waren die gleichen, wie letzte Woche.
"Nicht schon wieder", stöhnte Cath hinter Mr. Wells. Dieser holte einmal tief Luft, rollte mit den Augen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder mir zu.
"Natürlich", lächelte ich. Ich erhob mich und ging zusammen mit meinem Buch an die Tafel.
"Brauchen Sie nicht eher Ihr Heft, Miss Jacksen?", fragte Mr. Wells leicht verwirrt.
"Nein, das Buch reicht." Ich wandte mich der Tafel zu und begann die Aufgabe anzuschreiben. Mein Heft nutzte mir nichts... immerhin hatte ich nicht eine einzige Zahl dort notiert gehabt.
Warum war ich nur abgeschweift? Das passierte mir doch sonst nicht. Und dann hatte ich schon seit heute morgen die ganze Zeit diesen Text im Kopf. Merkwürdig.
"Miss Jacksen, was schrieben Sie denn da?"
Ich erwachte zum zweiten Mal innerhalb von 10 Minuten aus meinen Gedanken und las die geschriebenen Wörter vor mir.

The greatest thing you'll ever learn...

Erschrocken blickte ich die Tafel an. Jetzt war ich schon so in meinen Gedanken vertieft, dass ich sie sogar unbewusst zu Blatt brachte.
"Was steht da?", fragte Mr. Wells und versuchte die Worte zu entziffern, was ihm bei seinen wenigen Englischkenntnissen nicht einfach viel. "The...", begann er.
"The greatest thing, you'll ever learn", unterbrach ihn Michael.
"Aha", erwiderte Mr. Wells. "Und was heißt das?"
"Das Größte, was du jemals lernen wirst."
"Aha." Nach einer Pause, wandte er sich an mich. "Und was ist das größte, was man jemals lernen wird?"
Ich schluckte. "Mathematik?", log ich. Es war eine schlechte Lüge, das lag zumal daran, dass ich Lügen hasste und bisher noch nie vor einem Lehrer gelogen hatte. Doch ich glaubte, wenn ich ihm die richtige Antwort geben würde, wäre er nicht so begeistert gewesen.
Zu meiner großen Überraschung, strahlte Mr. Wells. "Das nenn ich mal eine fleißige Schülerin. Nehmt euch ein Beispiel an ihr, vor allem ihr Quaseltanten da hinten", fügte er hinzu, ohne den Blick von mir zu wenden. "Mathematik. Genau." Er strahlte immer noch und sah mich erwartungsvoll an.
Ich lächelte zögernd zurück, nahm den Schwamm und wischte die Wörter weg. Dann wandte ich mich der Aufgabe zu.

"Was war denn mit dir vorhin los?", fragte mich Cath nach dem Unterricht.
"Ich weiß es auch nicht so genau", gab ich zu.
"Wie, du weißt es auch nicht so genau?"
Ich zuckte mit den Schultern. "Ich war vollkommen in Gedanken versunken."
"Ja, das haben wir alle mitgekriegt."
"Aber ich weiß nicht warum. Mir ist so etwas noch nie passiert. Meine Gedanken sind immer ganz und gar auf den Unterricht eigestellt."
Ich blickte aus dem Fenster. "Doch heute... ich weiß auch nicht... ich hab nicht einmal mehr mitbekommen, das überhaupt Unterricht war. Ich dachte ich liege zu Hause auf meinem Bett oder sitz noch im Auto."
Cath blickte nachdenkend auf den Boden. "Naja, wie Mr. Wells schon gesagt hat. Das passiert auch mal den Besten."
"Hm", war das einzige, was ich erwiderte.
"Musikzimmer?"
"Wie bitte?", wandte ich meine Aufmerksamkeit vom Fenster ab.
"Musikzimmer? Da willst du doch hin, oder?", fragte sie und deutete auf das kleine Päckchen, dass ich in den Händen hielt.
"Oh, ja", lächelte ich. "Aber du musst nicht mitkommen."
"Natürlich komm ich mit", protestierte Cath. "Ich kann dich doch nicht in einen Raum mit 5 hungrigen Raubtieren namens 'Top 5' alleine gehen lassen. Nachher fallen die noch über dich her."
Ich lachte und auch Cath grinste. Ich war glücklich, dass sie die Situation neuerdings so locker sah und sich nicht mehr aufregte, wenn das Gespräch auf Tristan und seine Freunde kam. Ihre Meinung hatte sie zwar immer noch nicht geändert, dennoch schaffte sie es, sie ab und zu für sich zu behalten.
Je näher wir dem Musikraum kamen, desto wortkarger wurde Cath und als wir schließlich davor standen, verstummte sie vollends und starrte kalt vor sich hin. Ich klopfte. Hoffentlich war wenigstens einer von ihnen anwesend, sodass ich das Bento dalassen konnte. Einen Augenblick passierte nichts, dann öffnete sich die Tür und Jake stand von uns.
Sobald er Cath sah, verfinsterte sich sein Blick und sein Mund bildete nur noch eine schmale Linie. Auch Cath schien irgendwie angespannter als vorher. Damit die Situation nicht eskalierte, sprach ich Jake an.
"Guten Tag", lächelte ich. Er wandte sich mir zu und sein Blick wurde etwas weicher.
"Ist Tristan da?"
Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen. "Nein, aber wenn du willst, kann ich dir auch zur Hand gehen."
"Jake, vergiss es!", erwiderte Cath. Auch, wenn es ihr offensichtlich nicht gefiel sich mit ihm zu unterhalten, das ging ihr dann doch zu weit. Jake wandte sein Blick ihr zu und schnalzte mit der Zunge. "Außerdem ist Tristan da, ich hab ihn schon gesehen", sah sie ihn ohne jegliche Emotionen an. "JJ will ihm nur etwas geben, dann sind wir auch schon wieder weg. Also, wenn du bitte nur ganz kurz zur Seite treten könntest und uns durchlassen würdest? Meinetwegen bleibe ich auch draußen, wenn es dich so stört."
Ich sah Cath erstaunt an. Vorhin sagte sie noch, sie wolle mich nicht da allein reingehen lassen und jetzt änderte sie auf einmal ihre Meinung. Mein Blick wanderte von Cath zu Jake und wieder zurück - hin und her. Was hatte Jake an sich, dass Cath sich so unwohl fühlte? Hatte er gar etwas damit zu tun, dass sie ihn und seine Freunde nicht leiden konnte?
Jake antwortete nichts, sondern drehte sich um und ging zurück an seinen Platz. Die Tür ließ er auf. Vorsichtig betraten wir den Raum und Cath schloss hinter uns die Tür. Als sie sich umdrehte, merkte ich, dass sie jetzt gerne überall wäre - nur nicht hier. Und das hatte irgendetwas mit Jake zu tun...
"Einen wunderschönen guten Morgen." Brian stand auf und kam auf uns zu.
"Guten Morgen", lächelte ich.
"Morgen", erwiderte Cath.
"Wie kann ich den Damen behilflich sein?", fragte er und strahlte uns weiterhin an, während er uns sanft in Richtung der anderen führte.
"Ich wollte nur etwas abgeben", sagte ich und wandte mich dann an Tristan. "Hier bitteschön", lächelte ich und hielt ihm das Bento entgegen. Sein Blick wanderte resigniert vom Bento zu meinem Gesicht und dann wieder zurück. Er lächelte nicht, sondern starrte es nachdenklich an.
Keiner sagte ein Wort, während jeder auf seine Reaktion wartete. Er seufzte, erhob sich und ging dann, ohne mich eines Blickes zu würdigen, an mir vorbei. Verdutzt blickte ich ihm hinterher. Er wollte doch ein zweites Bento haben... warum ignorierte er es denn jetzt?
"Hey, Tristan. Was ist denn los?", fragte Mat neugierig und war drauf und dran ihm hinterher zu rennen.
Doch Tristan hob nur die Hand. "Keine Sorge. Ich hole nur etwas Tee. Wir haben ja jetzt schließlich Besuch bekommen." Dann öffnete er eine fast unsichtbare Tür und verschwand in einem Nebenraum.
Immer noch überrascht, sah ich ihm hinterher.
"Julia?" Ike lief dicht an mir vorbei und flüsterte mir etwas ins Ohr. "Vielleicht solltest du ihm hinterhergehen."
"Wie bitte?", fragte ich verwirrt. Ich verstand nicht, worauf er hinaus wollte.
"Tristan kann keinen Tee machen." Ohne, das jemand unsere kleine Unterhaltung mitbekommen hatte, wandte er sich wieder Mat zu.
Ich sollte ihm hinterhergehen, weil er keinen Tee machen konnte? Wie zur Bestätigung seiner Aussage, hörte man aus den Nebenzimmer ein Scheppern.
Jake stöhnte. "Hoffentlich war das nicht das gute Porzelan." Dann wandte er sich dem Buch vor sich zu.
Als ich mich umsah, machte keiner groß Anstalt, Tristan zur Hilfe zu eilen. Brian hatte sich Cath zugewannt, die wieder wie immer war - aufbrausend und abweisend. Ich seufzte und folgte schließlich Tristan.

Vorsichtig öffnete ich die Tür.
"Ähm, brauchst du Hilfe?", fragte ich, doch ich bekam keine Antwort. Ich blickte mich um, doch nirgendwo war Tristan zu sehen. Hatte ich etwa die falsche Tür genommen?
Doch plötzlich wurde ich ruckartig am Arm in das Zimmer gezogen und die Tür hinter mir verschlossen. Ich wollte vor Schreck aufschreien, doch mein Mund wurde plötzlich von etwas verschlossen. Und das waren defintiv keine Hände.
Tristan presste begierig seine Lippen auf die meinigen. Seine linke Hand lag auf meinem Rücken und zog mich so näher an sich heran, während er mit der anderen mein Gesicht umschloss. Zu überrascht von der Aktion machte ich keine Anstalten, den Kuss zu erwidern oder abzulehnen - meine Hände hingen einfach herunter und erstaunt sah ich ihn an. Seine grünen Augen sahen mich halb verschlossen sanft an und unweigerlich verlor ich mich in ihnen. Es war so hypnotisierend, sie anzusehen.
Sein Mund öffnete sich und seine Zunge bat sanft um Einlass. Langsam, ohne jedoch eine Ahnung zu haben, was ich hier eigentlich tat, öffnete ich meinen Mund und er begann abwechselnd meine Ober- und Unterlippe zu liebkosen, während er ab und zu seine Zunge mit meiner spielen ließ. Mein Herz begann wieder zu rasen und ich keuchte, doch Tristan hörte nicht auf. Ich kniff die Augen zusammen, während seine Berührungen und Liebkosungen mir auf unerklärlicher Weise den Atem raubten.
Nur kurz löste er sich von mir und sagte: "Hab ich nicht gesagt, dass das unser kleines Geheimnis bleibt?!" Dann hatte er seine Lippen wieder auf die meinigen gelegt.
Doch dieser Satz löste etwas in mir aus - etwas unerklärliches und doch so bekanntes. Es war, als hätte ich das Gefühl schon einmal gehabt. Unsanft stoß ich ihn mit aller Kraft von mir fort und es gelang mir mich irgendwie aus seiner Umarmung zu befreien. Entsetzt sah er mich an. Mein Atem ging schnell und ich schluckte. Verschiedene Bilder rasten durch meinen Kopf, doch ich versuchte sie zu ignorieren. Mit diesem Satz, hatte er ein Chaos in mir ausgelöst...
Wir standen uns gegenüber, zwei Meter zwischen uns. Er blickte mich leicht verwirrt an. Ich hatte meinen Kopf etwas gesenkt und sah links an ihm vorbei.
"Was ist los?", fragte er. Ich schluckte, konnte jedoch nicht antworten. Er kam einen Schritt auf mich zu. Ich rührte mich nicht vom Fleck. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund, konnte ich mich nicht bewegen. Er stand nun wieder vor mir.
"Was ist los?", wiederholte er, dieses Mal etwas kühler.
"Nichts", erwiderte ich und drehte mich um. Ich wollte Tee machen, um die Situation zu entschärfen. Doch Tristan ließ mir kein Entkommen. Er nahm meine linke Hand und drückte sie mit der Handfläche nach unten auf den Tisch, das gleich machte er mit der rechten. Dann beugte er sich zu mir herab.
"Was ist los?" Er betonte jedes Wort.
Ich schluckte. "Ich wollte Tee machen. Ike meinte, dass du keinen Tee machen kannst, also wollte ich dir helfen" erwiderte ich trocken. Einen Moment passierte nichts. Dann ließ er mich los. Ich öffnete den Schrank über mir auf der Suche nach Tee.
"Nun, wenn das alles ist, dann wirst du ja wohl nichts dagegen haben, wenn ich das mache." Er ergriff meine ausgestreckte Hand und streichelte sie, während er die andere um meine Hüfte schlang und mich näher an sich zog. Gleichzeitig begann er meinen Hals zu liebkosen. Mein Herz raste wieder, ich keuchte und fing an zu zittern. Seine Berührungen ließen einen angenehmen Schauer über meinen Rücken gleiten. Ich kniff die Augen zusammen und biss mir auf die Lippen, um keinen Laut von mir zu geben. Die Art, wie er mich anfasste, raubte mir schier den Verstand.
Hatte Mrs. Cobridge am Ende doch Recht? War ich in Tristan verliebt? Auf einmal drückte er meine ausgestrecke Hand wieder auf den Tisch und beugte mich mit dem Oberkörper vorne über, während er weiterhin mich zärtlich überall berührte, wo er rankam. Mittlerweile biss ich schon so fest auf meine Lippen, dass sie anfingen zu bluten. Doch ich wagte nicht es mit meiner Zunge wegzuwischen, aus Angst, dass mir dann ein Seufzer oder dergleichen entfuhr.
Tristan hielt kurz inne und schien mich zu mustern. Er drehte mich langsam um und ich sah ihm zögernd in die Augen. Sein Blick war sanft und warm. Als er jedoch seinen Blick auf meine Lippen senkte, erstarrte er kurz.
"Was...?", begann er und sah mich entsetzt an. Ich blickte beiseite. "Wenn es dir so missfällt, dann musst du es sagen, JJ." Ich sah ihn verwirrt an. "Ich möchte nicht, dass du wegen mir leidest." Sanft drückte er seine Lippen auf die meinigen und leckte das Blut ab.
Nicht möchten? Ein Teil von mir, ein bislang unbekannter Teil war entsetzt. Wie kam er darauf, dass ich es nicht mochte? Doch dieser Teil machte mir immer noch etwas Angst, also sagte ich nichts. Langsam drückte er seine Lippen wieder auf die meinigen und liebkoste meine Lippen wie vorhin. Ich zitterte erneut und ein Gefühl von Schwäche durchfloss meinen Körper. Meine Beine knickten ein und Tristan fing mich auf.
Als ich meinen Kopf hob, grinste er. "Oh ja, ich mach dich eindeutig verrückt."
Den Blick gesenkt, lächelte ich. Ja, er machte meinen Körper verrückt. Und mich irgendwie auch. Es schien, als hätte Mrs. Cobridge tatsächlich Recht. Ich war verliebt...

"Oh Gott, wie du mich ankotzt!" Verwirrt sah ich mich um. Das war Cath' Stimme.
"Scheint, als hätte deine kleine Freundin wieder mal einen Anfall." Tristan grinste mich an.
Ich beachtete ihn nicht, stand wieder auf und ging zielstrebig auf die Tür zu. Cath ging es nicht gut, das spürte ich. Ich wollte so schnell wie möglich zu ihr.
Eilig öffnete ich die Tür und stoppte abrupt. Alle Augenpaare, eingeschlossen die meiner und Tristans waren auf Cath und Jake gerichtet, die sich in ungefähr einem Abstand von 5 Metern gegenüber standen und anschrien.
"Wenn es dich so ankotzt, dann frage ich mich, warum du überhaupt noch hier bist?"
"Wegen JJ, du hirnverbrannter Idiot!", schrie sie ihm entgegen. Ihr Blick war voller Abscheu.
Jake ballte mittlerweile seine Hände zu Fäusten. "Tse, das ist ja wieder typisch für dich, Cath!" Er spuckte ihren Namen förmlich aus.
"Was soll das nun wieder heißen?"
Jake lachte. "Genau das gleiche, was ich dir auch letzte Woche gesagt habe."
Cath erwiderte nichts, sondern wandte wütend ihren Blick ab. Eilig lief ich zu ihr hin. "Ist alles in Ordnung?", fragte ich besorgt.
Als sie mir in die Augen blickte, veränderte sich ihr Ausdruck schlagartig. Ihre Gesichtszüge wurden weicher und ihre Augen wärmer. Sie nickte nur, antwortete jedoch nicht.
Jake schnaubte. "War ja wieder mal typisch, kaum ist JJ da..."
"Halt verdammt nochmal JJ da raus!", schrie ihn Cath an.
Ich sah sie erschrocken an. Sie drückte mich sanft beiseite und ging wütend ein paar Schritte auf Jake zu. "Wag es ja nicht, JJ irgendwie in den Schmutz zu ziehen. Meinetwegen kannst du mich als sonstwas bezeichnen auf mir rumhacken und mich psychisch fertig machen... und ja... vielleicht habe ich es auch verdient. Aber JJ hat mit all dem hier nichts zu tun." Sie stand jetzt direkt vor ihm und sah ihn zornentbrannt in die Augen.
Entsetzt und erschrocken zugleich sah ich die beiden an. Und ich war nicht die einzige. Brian sah abwechselnd von Jake zu Cath und wieder zurück und war offensichtlich damit in Gedanken versunken, wie er die beiden wieder beruhigen konnte. Mat hatte nicht mitbekommen, wie ein Stück seines Kuchens ihm in den Schoß gefallen war, so sehr war er von der Szenerie eingenommen. Und Ike... Ikes Gesichtszüge schienen ihm wahrscheinlich zum ersten Mal auch entglitten zu sein.
Cath Atem ging schwer, sie schnaubte fast. Jake presste seine Kiefer aufeinander, dann entspannte er sich wieder. Er lachte kurz. "Manchmal weiß man echt nicht, woran man an dir ist." Er schüttelte den Kopf und wandte sich dann ab. Fast schon erschöpft ließ er sich auf ein Sofa nieder und begann Cath zu ignorieren.
Langsam ging ich auf sie zu. "Was ist hier los?", fragte ich sie besorgt.
Sie sah mich an. "Nichts", antwortete sie und lächelte. Sie log, da war ich mir 100%ig sicher. Ich merkte immer, wenn Cath mich anlog.
"Und wieder rennst du weg." Jake starrte aus dem Fenster und er schnalzte mit der Zunge.
"Schön", sagte Cath und hob die Hände. "Schön. ich hab's langsam echt satt." Sie schluckte kurz, richtete sich dann auf und wandte sich an mich. "Jake und ich hatten mal was miteinander."
Die Reaktion der Anwesenden war heftig. Brian entfuhr ein kleiner Aufschrei. Mat spuckte den Tee aus, den er gerade getrunken hatte und ließ vor Schreck die Tasse fallen. Ike erstarrte nun vollkommen, mit offenenem Mund und weit aufgerissen Augen. Tristan hielt kurz inne, dann bekam er einen solchen Lachanfall, dass er sich an die Tür klammern musste, um nicht umzufallen. Und ich... ich war nur verwirrt und überrascht zu gleich.
Herausfordernd sah Cath Jake an, der wie angewurzelt auf dem Sofa saß.
"Oh ja. Euer lieber Jake und ich hatten mal was miteinander. Es war auf einer Party um genau zu sein. Er hatte etwas getrunken. Ich hatte etwas getrunken. Da kam das eine zum anderen. Man hat sich unterhalten... naja, wenn man das in unserem Zustand noch als Unterhaltung bezeichnen konnte und dann... naja... muss ich jetzt ins Detail gehen?" Ich sah sie entsetzt an.
"Wie bitte?", fragte Brian. Es war nur zu offensichtlich, was er jetzt gerade dachte.
"So war das jetzt nun auch wieder nicht", rollte Cath mit den Augen. "Es war halt nur ein bisschen rummachen, wenn ihr das so nennen wollt." Cath seufzte. "Sorry JJ, ich wollte es dir eigentlich sagen, aber... naja... das gehört nicht gerade zu den Sachen, an die ich mich gerne erinnere."
Jake schnaubte. "Da sind wir ja ein Mal einer Meinung."
Cath sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Seit wann denkst du so darüber?"
"Wie...?"
"Ach komm schon. Erzähl mir nicht, dass dein angeknackster Ego diese Abfuhr einfach so hingenommen hat."
"Einbildung ist auch 'ne Bildung", lachte Jake.
"Wirklich? Nun, dann korrigier mich, wenn ich falsch liege, aber warst du es nicht, der nach dem Abend mich... warte mal, wie oft war das...?", spielte Cath übertrieben. Jake erhob sich langsam. Seine Gesicht wurde starr.
"Ach, ich glaub bei 20 unbeantworteten Anrufen hab ich nicht mehr mitgezählt", grinste sie gehässig.
"20?", prustete Tristan hervor.
Jake ging langsam auf Cath zu. Brian schien mittlerweile wieder fähig sich zu bewegen und bemühte sich nun, Herr der Lage zu werden. "Ich denke, dass das alles nur ein Missverständnis ist", lächelte er sein typisches Gentleman-Lächeln. Doch keiner beachtete ihn.
"Oh, du wagst es dir echt, deinen Mund so weit aufzumachen." Cath sah ihn wütend an.
"Sei froh, dass ich betrunken war. Ich hätte dich sonst nicht einmal mit meinem kleinen Zeigefinger angefasst." Sein Gesicht war bedenklich nah an ihrem.
"Wirklich nicht?", meinte sie. "Nun, ich hätte dich nicht einmal mit meinem Ar*** angesehen."
"Das reicht jetzt", meinte Brian ernst, doch niemand schien ihn wahrzunehmen.
"Du fühlst dich großartig, nicht wahr? Kaum gibt es ein paar Jungs, die hinter die her rennen und schon fühlst du dich als Miss Perfect auf. Aber es ist wie ich es letzte Woche gesagt habe. Sie interessieren sich doch nur für dich, weil du mit JJ zusammen bist." Ich sah ihn entsetzt an.
"Jake!", meinte Brian ernst.
"Keiner würde sich mit dir abgeben, wenn du nicht JJs beste Freundin wärst. Niemand würde deinen Namen kennen, würde JJ ihn nicht dauernd in den Mund nehmen. Und wenn ihr auf eine Party gehen würdet, wäre JJ immer im Mittelpunkt, während du nur ihre kleine Freundin sein wirst... niemand sonst... nur die kleine, freche, vorlaute, arrogante Freundin von JJ. Und du weißt, dass ich Recht habe."
Cath schluckte, war unfähig sich zu bewegen. Doch das brauchte sie nicht. Denn ihre Antwort, wurde ihr von einer anderen Person abgenommen. Nämlich von mir.
Wutentbrannt und gleichzeitig nicht wissend, was ich tat, ging ich ein paar Schritte auf Jake zu, holte mit der rechten Hand aus und schlug ihm mit der Handfläche hart ins Gesicht.
Es war das erste Mal, dass ich jemanden ohrfeigte. Es war auch das erste Mal, dass ich etwas tat, worüber ich vorher nicht nachgedacht hatte. Und obwohl es beides Gründe waren, die mich meine Tat hätten bereuen lassen, tat ich es nicht. Obwohl ich genauso überrascht und verwirrt zugleich war, sagte mir ein Teil von mir, dass ich mich nicht entschuldigen sollte. Und zum ersten Mal, tat ich auch das nicht.
Überrascht und verwirrt zugleich wanderte mein Blick zu meiner rechten Hand, die sich langsam rot färbte. Hatte ich da gerade wirklich Jake eine Ohrfeige verpasst? Ich schluckte. Was war nur in mich gefahren.
"JJ?", flüsterte Cath hinter mir.
Ich sah Jake an, der mich voller Entsetzen ansah und sich seine linke Wange hielt. Und da fiel mir wieder der Grund ein. Der Grund, warum ich es getan hatte und meine Wut kehrte wieder zurück. "Ich weiß nicht genau, was zwischen dir und Cath vorgefallen ist. Vermutlich war es nichts Gutes, denn sie hat es mir gegenüber nie erwähnt. Doch auch wenn es vielleicht das Schlimmste in deinem Leben war... das gibt dir noch lange nicht das Recht, so mit ihr umzugehen." Ich schluckte. Alle im Raum hatten die Luft angehalten. "Cath ist ein wunderbarer Mensch. Sie ist immer für mich da... hilft mir... unterstützt mich... auch wenn ich sie nicht darum bitte. Sie weiß, was sich gehört, auch wenn sie das nicht immer zeigt. Und sie würde nie absichtlich etwas machen, was andere Leute Schaden zufügen würde. Das kannst du vielleicht nicht wissen, da du sie nicht so gut kennst, wie ich. Und genau da ist der springende Punkt. Aufgrund dessen, dass du sie nicht kennst... wie kannst du dir dann ein Urteil erlauben?" Ich atmete tief durch und sah ihn durchdringend an. "Du behauptest, sie sei arrogant, hätte keine Freunde und alle würden sich nur mit ihr abgeben, weil sie mit mir befreundet ist. Doch... ähnelt ihr euch da nicht ein bisschen?" Jakes Augen weiteten sich. "Würde sich... Würde sich jemand mit dir abgeben, auch wenn du nicht zu den Top 5 gehören würdest?"
Niemand rührte sich. Zu gespannt waren sie von der Szenerie. Ich hatte mich mittlerweile wieder beruhigt und fuhr ernst, und ein wenig traurig, fort. "Cath hat nicht viele Freunde, das stimmt. Sie geht jedes Wochenende auf Partys, flirtet dort mit Männern und hat sie im nächsten Augenblick schon wieder vergessen. Das mag für den einen oder anderen hart und arrogant klingen. Doch... ist es bei dir nicht genauso? Jeden Tag unterhälst du dich mit Mädchen, gibst ihnen das Gefühl etwas Besonderes zu sein... und dann lässt du sie fallen."
"Das kann man nicht vergleichen", schnaubte Jake, doch er wusste, wie Recht ich hatte.
"Ich würde für Cath durch's Feuer gehen... und sie für mich. Und vielleicht gibt es nur eine Hand voll weitere Personen, für die sie das tun würde. Aber irgendwie...", ich wandte mein Blick den anderen zu, "...irgendwie erinnert mich das an dich. Ich habe noch nie gesehen, wie ihr euch mit jemanden, der nicht zu eurer Gruppe gehört, getroffen habt." Ich wandte meinen Blick wieder Jake zu. "Ich verlange nicht von dir, dass du mich verstehst. Und ich verlange auch nicht von dir, dass du mit ihr jetzt Freundschaft schließt. Ich verlange nur, dass du sie nicht so einfach verurteilst, obwohl du sie nie wirklich kennengelernt hast."
Ich sah mich um. Keiner sagte ein Wort, sie waren alle zu sehr gespannt, was Jake wohl antworten würde. Er schloss kurz seine Augen, dann sah er mich kalt an. "Du hast doch überhaupt keine Ahnung." Er richtete sich wieder auf und ging an mir vorbei, ohne Cath oder die anderen noch eines Blickes zu würdigen. Verwirrt sah ich ihm hinterher, als er die Tür hinter sich zuschlug.
"Ihr müsst Jake entschuldigen." Brian kam auf uns zu. "Bislang gab es noch nie ein Mädchen, dass ihm so direkt ihre Meinung gesagt hat. Nur einmal." Den letzten Satz sagte er mehr zu sich, so als würde er sich an etwas erinnern. "Nur einmal", flüsterte er.
"Was meinst du damit?", fragte ich ihn.
"Wie bitte?" Brian schien aus seinen Gedanken zu erwachen und sah mich lächelnd an.
"Ich habe gefragt, was du damit meinst? 'Nur einmal'?"
Sein Blick wanderte zögernd zu Tristan und dann wieder zu mir zurück. "Nichts besonderes." Sein Lächeln war charmant wie immer. "Würden die Damen uns noch einmal mit ihrer Anwesenheit, bei einer Tasse Tee, bereichern?"
Ich sah Cath fragend an. "Nein, tut mir leid. Der Unterricht fängt gleich wieder an. Wir sollten uns so langsam auf den Weg machen", antwortete sie ihm.
"Schade." Er schein wirklich entäuscht zu sein. "Vielleicht ein anderes Mal."
Cath nickte. "Ja, vielleicht." Dann wandte sie sich um und führte mich, an der Hand, Richtung Tür.
Tristan setzte sich in Bewegung und folgte uns in einigem Abstand. Als wir gerade den Raum verlassen hatten, beugte er sich noch einmal schnell zu mir herunter und flüsterte mir, sodass nur ich es verstehen konnte, etwas zu. "Selbe Zeit, selber Ort, genau wie letzte Woche." Dann lächelte er zum Abschied noch einmal und schloss dann hinter sich die Tür.
Was sollte das nun wieder? 'Selbe Zeit, selber Ort?' Was meinte er damit?
"JJ, kommst du?" Cath war schon etwas vorgelaufen und sah sich jetzt nach mir um.
"Ja", antwortete ich und folgte ihr.

Wir liefen schweigend nebeneinander her. Ab und zu wollte ich das Wort ergreifen, doch ich hoffte insgeheim, sie würde mir alles von sich aus erzählen. Ich wollte nicht nachfragen, sie auf etwas ansprechen, über dass sie vielleicht nicht reden wollte. Ich wollte sie nicht nerven. Doch ich konnte das eben geschehene auch nicht so einfach ignorieren. Was war vorgefallen? Was war passiert, dass Jake sie so behandelte und sie wiederum ihn und seine Freunde perdu nicht leiden konnte?
"Nun frag schon." Mit ihrer Aufforderung riss sie mich aus meinem Dilemma und brachte mich in die Gegenwart zurück. Sie sah mich herausfordernd an. "Ich kann es an deinem Gesichtsausdruck genau erkennen. Du willst alles wissen, nicht wahr?"
Zögernd nickte ich. "Ja."
Cath seufzte. "Na dann frag!"
Ich schluckte. Wo fing ich am besten an? "Wann war das?"
Sie überlegte kurz. "Wenn ich mich recht erinnere, vor ungefähr einem Jahr. Könnte aber auch etwas mehr gewesen sein."
"Und wo?"
"Auf einer Party. So genau was für eine, weiß ich auch nicht mehr. Irgendjemand hatte, glaub ich, Geburtstag. Ich hatte davon erfahren und bin da einfach mal hingegangen. Wollte sehen, wie es so ist. Dir habe ich nichts gesagt. Auf so 'nen Partys geht es am Schluss immer sehr obszön her. Ich wollte nicht, dass du in irgendetwas verwickelt wirst oder vielleicht sogar bedrängt." Sie lächelte.
"Und, was war dann da mit Jake?"
Es dauerte eine Weile, bis ich die Frage stellte. Ich war mir immer noch nicht ganz sicher, ob sie das wirklich erzählen wollte. "Die Party war der total Reinfall. Zeitverschwendung. Ich kannte niemanden und diejenigen, die dort waren... nun, sagen wir es mal so... ich war nicht gerade scharf drauf, sie kennenzulernen! Ich war grad im Begriff zu gehen, da tauchte Jake plötzlich auf der Bildfläche auf. Er schien sich genauso zu langweilen, wie ich, blieb aber anscheinend aus Höflichkeit an seinem Platz. Ich hatte mittlerweile schon ein paar Cocktails getrunken, also dachte ich mir, wenn er diese Party genau so öde findet, wie du, dann werdet ihr bestimmt auf der gleichen Wellenlänge sein." Cath lachte über ihrer eigenen Gedanken. "Ich habe ihn angequatscht. Anfangs dachte er vermutlich ich bin eines dieser betrunken Mädchen, die sich an den nächstbesten ranschmeißen. Doch meine Schlagfertigkeit schien ihn zu verblüffen. Mich allerdings auch. Hätte nicht gedacht, dass ich in angeheitertem Zustand noch zu solchen verblüffenden Antworten fähig bin." Cath lachte erneut und ich schmunzelte. "Wir haben angefangen uns zu unterhalten", fuhr sie fort, "Haben getrunken und gelacht. Uns amüsiert. Irgendwann kam dann das eine zum anderen. Er hat mich geküsst, ich hab ihn geküsst. Ich dachte mir nichts dabei, immerhin war ich hacke dicht. Nach 'ner Weile bin ich gegangen. Ich hatte keine Lust auf irgendwelchen Stress mit Dad und da ich eh erst 16 war, durfte ich eigentlich auch nicht so lange raus."
Cath zuckte mit den Schultern und blieb schließlich vor einem großen Fenster stehen. Ihr Blick wanderte über die Bäume, während sie sich jene Nacht wieder in Erinnerung rief. "Frag mich nicht, woher er meine Nummer hatte. Ich glaube, ich hatte sie ihm gegeben, aber so sicher bin ich mir da auch nicht mehr. Naja, nach dem Abend hat er mir öfters SMS geschrieben und mich angerufen. Wollte eine Wiederholung, wie er es nannte. Aber ich hatte keine Lust. Ich wollte nur Spaß. Ich dachte er auch, immerhin wusste ich von Anfang an, dass er zu den Top 5 gehört. In der Schule hab ich ihn ignoriert oder bin ihm aus dem Weg gegangen. Ein paar Wochen später war wieder eine Party." Einen Moment hielt Cath inne. Dann fuhr sie fort. "Ich amüsierte mich gerade mit ein paar Jungs, die ich kennengelernt hatte. Und dann tauchte auf einmal Jake auf. Er ist vollkommen durchgedreht, als er mich sah. Er hat die Typen angeschrien, sie sollen mich in Ruhe lassen. Irgendwann eskalierte die ganze Situation und... sie fingen sogar an sich zu prügeln. Es war eine Katastrophe. Unter anderen Umständen hätte ich es vielleicht lustig gefunden, wenn sich Jungs um mich streiten." Sie lachte kurz. "Aber so ganz gewiss nicht. Ich war letzten Endes so sauer, dass ich, als sie mal kurz voneinander abließen, Jake am Ärmel packte und ihn vor die Tür zog. Ich habe ihn angeschrien. So sehr, dass sogar die Nachbarn wach wurden, doch das war mir egal. Er redete wirres Zeug, so von wegen 'letzte Party' und irgendeine Verbindung zwischen uns, so genau habe ich das nicht mitbekommen. Ich habe ihm klar gemacht, dass es nichts war, nur Spaß, nicht mehr. Dass ich betrunken war und mich vermutlich sogar mit einer Kakerlake angefreundet hätte. Da ist er ausgerastet. Hat mich beschimpft. Ich glaube, er ist das ganze Tierreich durchgegangen." Cath schmunzelte erneut. Sie sah mich an. "Seitdem kotzen mich diese Typen an. Sie dürfen Spaß haben, sie dürfen nach Lust und Laune sich mit den verschiedensten Mädchen abgeben und wenn sie sie links liegen lassen, ist das was ganz normales. Doch kaum macht das jemand anderes mit ihnen, schon drehen sie durch." Sie schüttelte lachend den Kopf. "Irgendwie sinnlos, findest du nicht auch?"
Ich sah sie leicht bedrückt an. "Glaubst du nicht, dass da mehr dahinter steckt?"
"Wie?" Cath sah mich verwirrt an.
"Naja, glaubst du wirklich, dass er nur so durchgedreht ist, weil du das gleiche gemacht hast, wie er auch?"
Sie runzelte die Stirn. "Natürlich. Warum denn sonst?"
Ich schluckte. Hoffentlich würde sie sich nicht aufregen. "Nun ja, glaubst du nicht, dass er... eventuell... vielleicht... nun ja... etwas in dich verliebt war?"
"Was?" Cath prustete los und kam aus dem Lachen nicht mehr heraus. "Er in mich verliebt? Ach, hör auf!" Sie lachte so herzhaft, dass ich nicht wusste, ob sie diese Vorstellung wirklich amüsierend fand, oder mir etwas vorspielte.
Ich seufzte. "Cath, warum sonst, sollte er so durchdrehen?"
"Nun, vielleicht weil er mal so behandelt wurde, wie er sonst immer die Mädchen behandelt hat und ihm das entschieden gegen den Strich ging. Jetzt war er nämlich mal in der Rolle, dessen Herz gebrochen wurde."
"Eben, du hast es doch selbst gerade gesagt. 'Dessen Herz gebrochen wurde'."
"JJ." Cath sah mich wieder mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. "Das ist nur so eine Redensart. Er war 100%ig nicht in mich verliebt. Der weiß doch bestimmt nicht mal, was Liebe überhaupt bedeutet, geschweige denn, wie man es buchstabiert. Also, hör jetzt auf damit und komm endlich." Damit war das Gespräch für sie beendet.

Gedankenverloren ging ich die langen Flure der Schule entlang. Mich beschäftigte Zweierlei. Zum einen ging mir das Gespräch mit Cath nicht mehr aus dem Kopf. War das wirklich alles, was zwischen ihr und Jake vorgefallen war? Wenn ja, warum reagierte er dann auf einmal so? Die ganze Zeit hatte er seinen Charme spielen lassen und jetzt... jetzt war er auf einmal wie ausgewechselt. Und was meinte Brian mit der Aussage 'Nur einmal'? Hatte das etwas mit Jake zu tun oder bezog er es auf etwas anderes?
Die zweite Sache, die mir keine Ruhe ließ, war Tristan. 'Letzte Woche, selbe Zeit, selber Ort.' Was meinte er nur damit? Offensichtlich wollte er sich mit mir treffen. Das kam mir gelegen, denn ich hatte vorhin nicht die Möglichkeit gehabt, ihm das Bento zu geben. Jetzt trug ich es mit mir rum, während ich darauf wartete, dass es Zeit für den Literatur-Kurs wurde.
Mittlerweile hatte ich den Ausgang des Gebäudes erreicht und so schlenderte ich über den mit hellem Kies belegten Platz. Eine Woche. Genau eine Woche war es her, da hatte ich Tristan zum ersten Mal gesehen. Mit einem leichten Lächeln erinnerte ich mich noch daran, wie Cath sich schon am frühen Morgen über ihn und seine Freunde aufgeregt hatte. Und der Zusammenstoß in der Bibliothek. Unsere erste Begegnung. Cath' Stimme hallte in meinem Kopf. 'Wie kann er es wagen, so mit dir umzugehen?!' Ob er mich wirklich küssen wollte, wie sie behauptet hatte? Er kannte mich ja noch nicht, also warum sollte er? Eine Woche und es war schon so viel passiert.
"Hey, Julia!" Jemand rief meinen Namen und ich blickte mich um. Vom Gebäude abwendend, kam in eiliger Hast und mit einem breiten Lächeln auf den Lippen Dwight auf mich. Verwirrt und überrascht zugleich sah ich ihn an. Was machte er hier?
"Hallo."
Er kam vor mir zum Stehen und lächelte mich charmant an. "Schön dich zu sehen. Ich hatte nicht gedacht, dich hier zu treffen."
Ich erwiederte sein Lächeln. "Hallo, Mr. Harper. Wie geht es Ihnen?"
Entsetzt sah er mich an. "Seit wann sind wir beim Sie?"
"Oh, ich dachte das wäre höflicher. Immerhin sind Sie älter."
"Ach Papperlapap. Der Altersunterschied ist nun auch wieder nicht so groß. Bleib beim Du." Sein Grinsen wurde breiter und ich nickte.
"Und, was machst du dann hier? Wenn ich fragen darf?"
"Oh, ich habe etwas geschäftliches zu erledigen." Er zwinkerte mir zu. "Aber verrat's keinem. Das bleibt unser kleines Geheimnis." Entsetzt sah ich ihn an. Dieser Satz. Dieses Grinsen. Nein, das konnte unmöglich sein. Doch noch bevor sich meine Gedanken richtig ordnen konnten, wurden sie auch schon wieder unterbrochen.
"Dwight!" Mit leicht verzerrtem Gesicht und geballten Fäusten, kam Tristan hastig auf uns zu.
Dwight drehte sich um und lächelte ihn an. "Hallo, Bruderherz."
Ich keuchte leise. Deswegen kam mir Dwight so bekannt vor. Er war Tristans Bruder. Jetzt, wo sie nebeneinander standen, wunderte ich mich, warum ich nicht schon früher darauf gekommen war. Auch wenn Dwights Haare dunkler waren und von der Statur etwas schlacksiger war, als Tristan. Es waren dieselben grünen Augen. Derselbe Mund. Und haargenau das gleiche Grinsen.
"Was willst du hier?" Tristan ließ ungefähr zwei Meter Abstand zwischen sich und Dwight. Ab und zu musterte er mich.
"Nun, ich habe geschäftlich zu tun."
"Ach komm hör auf!", schnauzte Tristan ihn an. "Die einzigen Geschäfte, die du führst, sind Nachtclubs und Frauen. Und bei beiden suchst du nur den Spaß."
Dwight grinste jetzt breiter, fast schon hämisch. "Wie Recht du hast, mein Bruderherz." Dann wandte er sich an mich und beugte sich zu mir herab. "Bis dann, Julia", flüsterte er. Ein leichtes Lächeln, ein tiefer Blick in meine Augen und dann ging er an Tristan vorbei.
Wir sahen ihm noch lange hinterher. Ich verwirrt - Tristan wütend.
"Was wollte er von dir?" Tristan wirbelte herum und sah mich wütend an.
"Nichts", antwortete ich zögernd. Warum nur war er so sauer?
"Ihr habt euch über irgendetwas unterhalten. Was war das?"
"Ich weiß es nicht mehr." Seine heftige Reaktion machte mir ein wenig Angst.
"Was war es?" Er kam geradewegs auf mich zu und packte mich an den Armen. Erschrocken sah ich ihn an. Seine Augen sprühten vor Wut und sein Mund bildete nur eine schmale Linie.
"Wir haben uns nur zufällig getroffen. Ich hab ihn gefragt, was er hier macht und er meinte er sei geschäftlich unterwegs. Weiter kamen wir nicht. Du bist ja dann gekommen." Es viel mir nicht leicht zu antworten.
Zum Einen taten mir langsam meine Arme weh, so fest packte er mich. Zum Anderen hatte ich Angst, etwas falsches zu sagen und ihn somit noch mehr zu erzürnen.
Er blickte mir tief in die Augen, als versuchte er in ihnen zu lesen, ob ich die Wahrheit sagte oder nicht. "War das alles?" fragte er weiter. Ich nickte. "War das wirklich alles?" Er erhob seine Stimme wieder.
"Ja", bestätigte ich.
Langsam löste er seine Hände von meinen Armen und beruhigte sich wieder. Er trat einen Schritt nach hinten und schloss kurz die Augen. Besorgt sah ich ihn an. Was war mit ihm los? "Du musst dich von ihm fern halten." Er öffnete seine Augen und sah mich ernst an.
"Warum?", erwiderte ich verwirrt.
"Er ist nicht gut für dich." Nicht gut für mich? Was meinte er damit? "Man kann Dwight nicht vertrauen. Er..." Tristan zögerte, rang mit sich, wie viel er mir erzählen konnte. "Er ist kein guter Mensch. Halt dich von ihm fern!"
Ich verstand nicht, was Tristan mir eigentlich sagen wollte. Dwight kam mir nicht als schlechter Mensch vor. Er war manchmal vielleicht etwas seltsam, aber trotzdem... nett. Eine Zeit lang sahen wir uns an. Keiner sagte ein Wort.
"Hast du mich verstanden? Halt dich von ihm fern. Wenn du ihn siehst, renn weg. Wenn er dir zu nahe kommt, dann schrei um Hilfe. Aber lass nicht zu, dass er dir zu nahe kommt."
"Aber, Tristan..." Weiter kam ich nicht.
"Bitte", flüsterte er. Er beugte sich zu mir herab und nahm mein Gesicht in seine Hände. Seine Augen hatten solch einen flehenden Blick, dass ich nicht wusste, was ich antworten sollte. Vorsichtig traf seine Stirn die meinige und er schloss die Augen. Ich konnte seinen Atem auf meiner Haut spüren. Da, wo er mich berührte, kribbelte sie und ein angenehmes Gefühl breitete sich in meinem Körper aus. "Bitte." Seine Stimme war ruhig und dennoch konnte ich einen Hauch von Ernsthaftigkeit feststellen.
Ich konnte nicht anders, als zu nicken. Seine Augen öffnete sich wieder und er grinste mich an. "Braves Mädchen", antwortete er leicht amüsiert. Dann küsste er mich. Sanft, aber dennoch begierig.
Nach einer Weile löste er sich von mir, blickte mir noch einmal tief in die Augen und machte sich von mir los. Er drehte sich ohne ein Wort zu sagen um und ging.
Ich sah ihm verwirrt und überrascht zugleich nach, bis er schließlich hinter der Ecke verschwand. Nur ein Kribbeln auf meinen Lippen, war das einzige, was er zurückließ.

 

Er konnte sich nur schwerlich beherrschen. So sehr machte es ihn wütend, JJ mit ihm gesehen zu haben. Woher kannten sie sich? Und was wollte er von ihr? Er hatte ihr wehgetan, ihre Arme waren leicht gerötet gewesen, nachdem er sie wieder losgelassen hatte. Nur schwer konnte er sich von ihr lösen und sie zurücklassen.
Doch es gab etwas, was er zu erledigen hatte. Als Dwight gegangen war, hatte er noch etwas zu ihm gesagt - unauffällig und so, dass JJ es nicht mitbekommen hatte. Allein der Gedanke an diesen Satz machte ihn rasend und er wäre ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen.
"Ich hätte nicht gedacht, dass sie dich meint, Bruderherz."
Tristan blieb abrupt stehen. Er brauchte sich nicht umzudrehen, er kannte diese Stimme nur zu gut.
"Was meinst du damit?", erwiderte er kühl. Ihm war jetzt ganz und gar nicht nach Rätselraten.
"Nun." Dwight trat von hinten an ihn heran und flüsterte: "Wir hatten am Wochenende eine sehr aufschlussreiche Unterhaltung."
Er wirbelte herum und versuchte ihn am Kragen zu packen, doch Dwight weichte ihm geschickt aus und trat ein paar Schritte zurück. "Immer so temperamentvoll", grinste er.
"Lass JJ in Ruhe." Nur mit Mühe konnte er sich zurückhalten.
"Oh, ihr Spitzname ist JJ. Er gefällt mir irgendwie." Sein Grinsen wurde breiter.
Tristan ballte seine Hände zu Fäusten. "Lass sie in Ruhe! Komm ihr ja nicht zu nahe!"
"Sonst was? Willst du auf mich losgehen? Mach doch. Du wirst mir nicht einmal ein Feilchen verpassen können. Aber ich hätte mal eine Frage."
Tristan mochte sein Grinsen nicht. Der Teufel lächelte im Vergleich dazu verführerisch.
"Glaubst du echt, JJ will jemanden, der gewalttätig ist?" Er erwiderte nichts. Dieser verdammte Bastard. "Ich hab euch beobachtet und muss sagen... mit Frauen geht man anders um. Ich dachte du wüsstest das, aber anscheinend habe ich dich falsch eingeschätzt."
"Was willst du?" Er ignorierte Dwights Aussage komplett.
"Nun, du weißt es doch schon." Tristan ging einen Schritt auf ihn zu, doch es ließ ihn kalt. Stattdessen fügte er hinzu: "Meinen Spaß." Einen langen Moment sahen sie sich in die Augen - Tristan voller Wut, Dwight amüsiert. Dann kam er ein paar Schritt auf ihn zu und grinste. "Ach ja, eh ich's vergesse. Ihr Stöhnen ist echt unglaublich."
Ehe Tristan sich versah, war es um ihn geschehen. Voller Wut und seiner Selbstbeherrschung beraubt, ging er auf Dwight los. Er wollte auf ihn einschlagen, jeden seiner verdammten Knochen brechen... ihm sein Grinsen vom Gesicht wischen.
Doch noch ehe er ihn mit dem kleinen Finger hätte berühren können, wurde er plötzlich von hinten gepackt und zurückgehalten. Ein flüchtiger Blick nach hinten verriet ihm, dass Jake und Ike ihn festhielten. Selbst Mat, der sich sonst immer aus Streitereien heraushielt, trat auf ihn zu und versuchte ihn zu stoppem, in dem er ihn von vorn leicht zurückdrängte.
"Beruhig dich, Tristan." Mehr sagte er nicht. Brian blickte ihn einmal kurz an und wandte sich dann an Dwight. "Mr. Harper." Er lächelte. Doch es war ein aufgesetztes Lächeln. "Unbefugten ist das Betreten dieses Grundstückes strengstens verboten. Haben Sie bei der Verwaltung ihren Besuch angemeldet?"
Dwight grinste. "Hallo Brian. Sag bloß, du gibst dich immer noch mit diesen Typen ab. Was dein Vater wohl dazu sagt?"
"Mein Vater spielt hier überhaupt keine Rolle", antwortete er kühl. "Wenn Sie keine Erlaubnis haben, dann möchte ich Sie darauf hinweisen, dieses Grundstück zu verlassen." Ein Lächeln.
Dwight schnaubte, erwiderte jedoch nichts, sondern blickte noch einmal zu Tristan und verschwand dann. Nachdem er außer Reichweite war, ließen Jake und Ike Tristan los. "Warum habt ihr euch eingemischt?"
"Nun, weil Freunde andere Freunde vor Dummheiten bewahren", strahlte Brian. Dann blickte er auf die Uhr. "Oh. Unser Tee wird kalt. Jetzt sollten wir uns langsam mal sputen."
Und somit ging er vergnügt zurück zur Schule. Es war, als hätte er eben nichts spannenderes als einen Spaziergang gemacht. Widerwillig folgte Tristan ihnen, doch in Gedanken, war er woanders.
'Ihr Stöhnen ist echt unglaublich.'
War es zwischen ihm und JJ wirklich so weit gekommen? Hatten sie etwa miteinander...? Nein, das war unmöglich. JJ würde so etwas nie tun. ... Und wenn doch...?

 

Nun hatte ich immer noch das Bento. Wir wollten uns treffen, doch anstelle es entgegen zu nehmen, ging er einfach wieder. Was war in letzter Zeit nur los mit ihm? Und wieso verhielt er sich vorhin so vollkommen anders, als er auf Dwight traf? Ich sollte mich von ihm fern halten. Doch warum?
Er und Dwight waren Brüder. Sagte man nicht, dass Geschwister eine spezielle Verbindung hatten? Was war also vorgefallen, dass diese spezielle Verbindung so offensichtlich zerbrach? Lag das daran, dass sie im Blue Moon Hausverbot hatten? Oder steckte da etwa mehr dahinter? Ich glaubte nicht, dass Tristan einfach so aus Trotz, wegen eines Hausverbotes, sich gleich so gehen ließ.
"Mrs. Jacksen, haben Sie vielleicht etwas, was sie uns gerne vorstellen möchten? Wir haben lange nichts mehr von Ihnen gehört." Ich blickte auf und sah Mr. Adams direkt in die Augen. Er lächelte.
"Oh, es tut mir leid. In letzter Zeit gehen mir die Ideen irgendwie verloren."
"Das ist wirklich schade", bedauerte er. "Ihre Parodie über den schwarzen Ritter und Lanzelot fand ich sehr amüsierend. Ich würde mich freuen, mehr davon zu bekommen." Zustimmendes Murmeln.
Ein Lächeln umspielte meine Lippen. "Nun, wenn Sie wollen, kann ich Sie mit etwas anderem vertrösten."
"Mit was denn?", fragte er erwartungsvoll.
"Seit kurzem geht mir ein Lied nicht mehr aus dem Kopf. Ich finde den Text sehr ausdrucksstark. Aber es ist halt nur ein Songtext."
"Ich bin offen für alles", strahlte er.
"Und er ist auf Englisch."
"Na was für ein Zufall, dass ich Englischlehrer bin", lachte er und die anderen stimmten mit ein.
Ich lächelte und ließ den Text in meinem Kopf revue passieren. Dann trug ich ihn vor.

"There was a boy A very strange enchanted boy
T
hey say he wandered very far, very far
Over land and sea
A little shy and sad of eye
But very wise was he
And then one day
One magic day he passed my way
And while we spoke of many things
Fools and kings
This he said to me
The greatest thing you'll ever learn
Is just to love and be loved in return!"

Einen Moment war es still im Raum. Keiner sagte ein Wort. Sie alle schienen ihren eigenen Gedanken nachzugehen. Ich merkte wie mir ein paar Leute verstohlene Blicke zuwarfen.
"Warum gefällt es Ihnen?", fragte Mr. Adams plötzlich.
"Ich weiß es eigentlich nicht so genau", lächelte ich. "Es ist nicht so, dass ich es mag. Es ist in meinem Kopf, die ganze Zeit. Ich kann es nicht abschalten. Es ist als... als hätte ich einen Ohrwurm davon, dabei habe ich es seit Jahren nicht mehr gehört."
Mr. Adams nickte. "Wie heißt das Lied?"
"Es heißt 'Nature Boy' und ist aus dem Film 'Moulin Rouge'."
"Sehr interessant", murmelte er und war offensichtlich wieder in Gedanken versunken.
"Jedenfalls ist es ein schöner Text. Vor allem der Schluss gefällt mir. Oder, was meinen Sie?", fragte er in die Runde. Niemand antwortete, ein paar zuckten vereinzelt mit den Schultern. "Ich seh schon, ich hab Sie wieder einmal zu lange gefoltert", er seufzte und lächelte. "Nun dann. Das war ein schöner Abschluss für unsere Runde. Ich sehe Sie dann hoffentlich nächste Woche wieder. Einen schönen Tag noch."
"Auf Wiedersehen", erwiderten ein paar und erhoben sich dann, um zu gehen.
Auch ich folgte Ihnen und trat dann anschließend aus dem Raum. Als ich die Tür hinter mir schloss und mich wieder umdrehte, sah ich Jake vor mir stehen. Er sah mich ernst an. "Kann ich kurz mit dir reden?" Überrascht und leicht verwirrt sah ich ihn an. Dann nickte ich und folgte ihm hinaus aus dem Gebäude.

Halt dich fern von ihm!

Wir liefen eine Weile über das Schulgelände, so lange, bis das Gebäude aus unserer Sichtweite verschwand. Er sagte lange Zeit kein Wort und ich überlegte, worüber er mit mir sprechen wollte. Hatte es vielleicht etwas mit Cath zu tun?
"Wir waren nicht von Anfang an Freunde gewesen", begann er schließlich zögernd. Er blieb stehen, die Hände in den Hosentaschen und sah leicht nach oben, der Sonne entgegen. Ich runzelte die Stirn. Ich verstand nicht ganz. "Brian, Tristan, Mat, Ike und ich." Er sah mich kurz an und lächelte zögernd. Ich erwiderte nichts. Worauf wollte er hinaus?
Er setzte sich wieder in Bewegung und ich folgte ihm. "Brian war derjenige, der auf uns zugekommen ist. Er hat uns zusammengeführt, deswegen halten wir viel von ihm." Eine Pause. Dann fuhr er fort. "Er ging auf uns alle zu. Sprach uns an. Einzelnd." Er seufzte. "Am Anfang wollte ich damit nichts zu tun haben. Er wollte eine Art Club gründen. Die Schule sollte Abwechslung bekommen. Er meinte, ich würde da gut hinein passen. Aufgrund meines guten Aussehens und meiner hervorragenden Noten." Ich hörte ihm gespannt zu. Was wollte er mir damit nur sagen? "Doch... er wusste über mich Bescheid. Und nicht nur über mich...auch über die anderen." Er blieb wieder stehen und sah mich direkt an. "Weißt du JJ, der Grund, warum wir befreundet sind, ist nicht der, dass wir uns seit dem ersten Treffen so gut verstanden oder dass wir alle die gleiche Sportart mögen. Der Grund, warum wir befreundet sind, ist der, dass Brian von Anfang an unsere... nun ja... unsere Geheimnisse kannte. Und somit uns persönlich." Er lächelte zaghaft. "Und trotzdem wollte er mit uns befreundet sein. Was uns also wirklich verbindet, ist, dass wir uns ähneln und in gewisser Weise uns das Schicksal zusammengeführt hatte." Sein Blick wurde wieder ernst.
"Was für Geheimnisse?" Mir kam die Frage über die Lippen, bevor ich sie eigentlich gedacht hatte.
Jake sah zur Seite. "Ich kann nicht für alle sprechen, JJ. Nur für ein paar." Verwirrt sah ich ihn an. "Unsere Geheimnisse, wie wir sie gerne nennen, haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Mat zum Beispiel. Er ist der Sohn eines der einflussreichsten Männer im ganzen Staat. Auf seinen Schultern lastet ein sehr hoher Druck. Von klein auf wurde er dazu erzogen, der Nachfolger zu sein. Er hatte nie wirklich eine Kindheit. Ihm wurde schon mit 4 1/2 Jahren ein Privatlehrer zur Seite gestellt. Er musste sowohl Karate- als auch Kendo-Training absolvieren und spricht wahrscheinlich fließend mehr verschiedene Sprachen, als wir Kulturen an dieser Schule haben." Er seufzte erneut und ich sah ihn leicht überrascht an. "Brian hat ihn damals angesprochen, weil er gesehen hatte, wie unwohl er sich in seiner Haut fühlte und hat ihm angeboten, dass, wenn er mitmacht, so sein kann, wie er will. Und das ist er jetzt. Er hatte nie eine Kindheit, also lebt er sie in gewissem Sinne jetzt aus." Er lachte in sich hinein und ein Schmunzeln trat über meine Lippen. Ich wusste was er meinte. "Ike ist eigentlich nur bei der Gruppe, weil Mat drin ist. Wenn ich mich nicht irre, sind sie um ein paar Ecken rum miteinander verwand. So eine Art Cousins oder ähnlich. Ikes Vater hatte ein Firma, die ging Bankrott und Mats Vater nahm sich seiner an. Somit rettete er ihre Existenz und als eine Art Dankeschön ist Ike jetzt Mats Aufpasser. Er lässt ihn niemals alleine, begleitet ihn überall hin, hilft ihm in der Schule weiter. Mat hat kein Problem damit, er findet es spaßig, hat dadurch das Gefühl einen großen Bruder zu haben, den er nie hatte und mit dem er nie spielen konnte. Deswegen ist Ike auch so verschlossen. Als Bodyguard sollte man nie viel reden."
"Und du?" Mich interessierte, was Jake für ein Geheimnis hatte. Ich war mir sicher, dass es die Reaktion gegenüber Cath erklärte. Ich war mir sicher, dass es dafür eine ganz einfache Erklärung gab.
Jake seufzte und sah gen Himmel. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und er schloss kurz die Augen. Er zögerte. Dann schluckte er und erzählte mir eine Geschichte, die ich nie für möglich gehalten hätte...
"Ich hatte mal eine Schwester. Sie war ein Jahr jünger als ich und wir waren unzertrennlich. Ich kam der Rolle als großer Bruder gerecht, beschützte sie, brachte sie zum Lachen, wenn sie traurig war und half ihr, wo ich nur konnte. Leute, die uns nicht kannten, hatten uns des Öfteren für ein Liebespaar gehalten. Umso überraschter waren sie, als heraus kam, dass wir nur Geschwister waren." Jake erinnerte sich mit einem Lächeln an die Zeit mit seiner Schwester.
Ich konnte es mir genau vorstellen. Ein kleines Mädchen, von vielleicht 3 Jahren, blonde lange Haare, spielte mit Bauklötzen und lachte. Und hinter ihr stand Jake, der mit seinen 4 Jahren schon sehr ernst aussah und genau darauf achtete, was sie tat, um im Notfall eingreifen zu können. Es schien eine Geschwisterliebe wie aus dem Bilderbuche zu sein.
"Sie war ungefähr 15 da kam sie angeregt nach Hause gerannt. Sie erzählte mir, dass sie jemanden kennengelernt hatte. Je älter wir wurden, desto fester wurde unsere Beziehung und desto mehr waren wir füreinander da. Sie erzählte mir immer ihre Geheimnisse, noch bevor sie es ihren Freundinnen erzählte." Jake schluckte und schloss kurz die Augen. Er atmete tief durch und fuhr dann fort. "Jedenfalls erzählte sie mir, dass er nett wäre, lustig und sie gut behandelte. Sie war ganz aus dem Häuschen. Zum ersten Mal hatte sie sich verliebt. Ich freute mich für sie. Eine ihrer Eigenschaften war, dass sie sehr schüchtern war und zu diesem Zeitpunkt nicht viel mit Jungs zu tun hatte. Dieser Typ musste schwer in Ordnung sein. Zwar hatte ich ein komisches Gefühl bei der Sache und ich erzählte meiner Schwester, sie solle vorsichtig sein, doch sie meinte, ich brauche mir keine Sorgen zu machen. Ich vertraute ihr, also ignorierte ich das Gefühl. Heute bereue ich es." Ich sah ihn verwundert an. Was war nur passiert, dass er auf einmal so melancholisch wirkte? "Sie traf sich immer öfters mit ihm. Eines Abends ging sie weg. Auf eine Party, wie sie mir erzählte. Sie kam erst spät in der Nacht wieder, ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Als ich sie sah, wirkte sie anders. So... gebrochen. Als ich nachfragte, meinte sie, es sei nichts, vermutlich nur die Müdigkeit. Sie ging ins Bett und, obwohl ich dieses Gefühl nicht los wurde, folgte ich ihrem Beispiel. Am nächsten Tag, war sie wie immer. Feundlich, lachend, glücklich. Als ich sie auf die Party ansprach, meinte sie, sie sei toll gewesen und dass ich das nächste Mal unbedingt mitkommen sollte. Leider gab es kein nächstes Mal. Ungefähr einen Monat. Einen Monat hielt sie durch..." Er stoppte und atmetete tief durch.
Ich merkte, wie schwer es ihm fiel und bereute zugleich, ihn danach gefragt zu haben. Doch eigentlich brauchte er auch nicht weitersprechen. Irgendein Gefühl sagte mir, dass es nicht gut ausging. Die ganze Zeit, während er sprach, sah er zum Himmel. So, als würde er nach etwas suchen.
"Einen Monat", murmelte er. "Dann brachte sie sich um. Sie schnitt sich ihre Pulsadern auf. Ich fand sie im Bad... überall war Blut. Ich ging auf sie zu. Sie lebte noch und war gerade noch so bei Bewusstsein. Ich rief ihren Namen, schrie nach meinen Eltern, doch keiner war zu diesem Zeitpunkt Zuhause. Ich wollte losrennen und den Krankenwagen verständigen, doch sie klammerte sich an mich. Sie wollte nicht, dass ich gehe. Sie sagte, dass sie nicht alleine sterben will. Nicht auf dieser kalten, harten Fliese. Ich beteuerte ihr, sie müsse das nicht. Ich bräuchte nur den Krankenwagen rufen und sie würde weiterleben. Doch sie schüttelte mit dem Kopf und lächelte mich an. So, wie sie es immer tat. Dieses freundliche, warme, liebevolle Lächeln. Und dann..." Seine Stimme brach. Keine Träne lief an seiner Wange herunter, doch ich war mir sicher, dass er lange genug geweint hatte. "Dann... dann sagte sie allen ernstes Entschuldigung. Sie entschuldigte sich dafür, dass ich das mit ansehen musste. Doch sie war auch froh darüber, dass ich jetzt bei ihr war. Sie könnte sich niemanden sonst wünschen, als mich in dieser Situation. Der bei ihr war, während sie ihre letzte Zeit auf Erden verbrachte. Und dann zum Schluss sagte sie, dass sie mich liebt. Dass sie mich liebt, wie sie nur einen Bruder lieben konnte." Er machte eine Pause. Es musste schrecklich für ihn gewesen sein, nicht helfen zu dürfen, obwohl er wollte. "Und dann war sie tot. Ihre Augen wurden kalt und leer. An meinen Händen klebte überall ihr Blut. Und ich saß nur da und hielt sie. Hielt sie die ganze Zeit in meinen Armen. So wie sie es wollte. Ich weiß nicht wie lange ich da saß. Irgendwann kamen meine Eltern und als sie sahen, was passiert war, riefen sie die Polizei. Meine Mutter brach zusammen, mein Vater versuchte sie zu beruhigen. Er brachte sie ins Wohnzimmer und wollte, dass ich meine Schwester losließ. Doch ich konnte nicht. Ich konnte sie nicht loslassen, immerhin hatte ich es ihr versprochen." Er atmete einmal tief ein und fuhr dann fort. "Später erfuhren wir den Grund, warum sie sich umgebracht hatte. Der Typ, den sie kennengelernt hatte, hatte ihr Vertrauen misbraucht. Auf dieser Party hatten er und ein ein paar Kumpels sie... sie..." Er fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Es fiel ihm sichtlich schwer, das auszusprechen. "Sie hatten sie vergewaltigt. Und ich... ich hatte das nicht mitbekommen. Ich ließ mich von ihrer perfekten Fassade irreleiten. Ich war nicht für sie da, hatte ihr nicht geholfen. Wie musste sie sich gefühlt haben. So allein, obwohl ich sonst immer für sie da war."
Ich merkte, wie mir eine Träne über die Wange lief. Ich wischte sie mir schnell weg, er sollte davon nichts mitbekommen. Schließlich war es für ihn wahrscheinlich schon schwer genug.
"Damals sah ich sie in Cath." Seine Stimme war wieder ruhig und er blickte mich ernst an. "Ich vermute sie hat dir von der Party damals erzählt. Jedenfalls, als ich sie da mit den Typen sah, brannte bei mir die Sicherung durch. Keine Ahnung, warum ich Cath mit ihr identifizierte, sie hatten eigentlich nicht wirklich viel gemein. Jedenfalls kam wieder dieses Gefühl in mir hoch und ich hatte das Bedürfnis, sie von diesen Typen fern zu halten." Er zuckte mit den Schultern. Eine Zeit lang war es still. Nur der Wind, der in den Bäumen raschelte, deutete darauf hin, dass die Zeit nicht stehen geblieben war.
"Und...", begann ich. Es fiel mir schwer, meine Vermutung auszusprechen. "Hattest du dich vielleicht auch in Cath verliebt?"
Er seufzte. "Ich weiß nicht. Keine Ahnung. Vielleicht. Villeicht hatte ich wirklich irgendwie in ihr meine Schwester gesehen. Vielleicht hatte ich mich deswegen so zu ihr hingezogen gefühlt. Ich weiß es nicht." Jetzt sah er mich wieder direkt an. "Aufgrund unserer Geheimnisse, sind wir zu dem geworden, was wir jetzt sind. Menschen, die sich von der Liebe fern halten und vielen anderen das Gefühl geben, etwas besonderes zu sein. So, wie Brian es wollte. Doch jetzt hat Tristan dich mitgebracht. Er scheint sich so langsam in dich zu verlieben, wenn er es nicht gar schon ist."
Mein Herz schlug schneller. Würde er mir jetzt etwas über Tristan erzählen? "Ich kann dir nicht sagen, was Tristan für ein Geheimnis hat", fuhr er fort, so als könnte er meine Gedanken lesen. "Und Brians kann ich dir auch nicht erzählen. Ich weiß sie zwar, aber wenn, sollen sie es dir persönlich sagen. Jedenfalls ändert sich Tristan mehr und mehr, seit er dich kennt und sein Geheimnis, scheint dadurch ein immer größeres Problem zu werden." Er sah mich ernst an. Was wollte er mir damit sagen? "Ich kann dir nicht befehlen, dich von ihm fern zu halten. Ich kann dir nur sagen, dass Liebe nicht das ist, was weder er, noch wir im Moment gebrauchen können. Es bereitet uns nur Schwierigkeiten. Wenn dir Tristan wirklich am Herzen liegt, dann solltest du auf Abstand gehen."
Erschrocken und entsetzt sah ich ihn an. Meinte er das jetzt wirklich ernst?
"Du wirst Tristan weh tun, das weiß ich. Du wirst nichts dagegen tun können. Ich hoffe nur, dass, wenn es soweit ist, er nicht daran zugrunde geht."
Einen Moment sahen wir uns schweigend an. Es war wirklich sein Ernst. Er wollte, dass ich mich von Tristan fern hielt. Meine Gedanken schweiften ab. Wäre es vielleicht wirklich das Beste, wenn ich mich von ihm fern hielt? Jake meinte, es würde ihn verletzen, wenn ich bei ihm blieb. In letzter Zeit verhielt er sich so komisch. Vorhin war er wütend gewesen, nur weil ich mit Dwight gesprochen hatte.
Vielleicht... sollte ich mich wirklich von ihm fern halten. Doch, konnte ich das überhaupt? Mittlerweile, empfand ich so viel für ihn, wie ich es nie für möglich gehalten hatte. Konnte ich mich wirklich einfach so von ihm fern halten.? Ich sah Jake in die Augen. Er sah mich ernst an, wartete auf eine Antwort von mir.
"Ok", sagte ich. Leicht überrascht sah er mich an, doch nur kurz, dann lächelte er zögernd und nickte. "Ich werde mich von ihm fern halten"
Jake sah mich noch einmal kurz an und machte sich dann auf den Weg, zurück zum Gebäude. "Wenn er das will", fügte ich hinzu, nachdem er sich gerade mal 2 Meter von mir entfernt hatte. Er blieb stehen und drehte sich um. "Wenn Tristan möchte, dass ich mich von ihm fern halte, er der Meinung ist, dass ich ihm nicht gut tue und dass es besser ist, wenn ich gehe, dann werde ich mich fern halten. Doch, solange er das nicht will, werde ich immer kommen, wenn er meinen Namen ruft." Verdutzt sah Jake mich an. Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet. Ich lächelte und ging auf ihn zu. Direkt vor ihm, blieb ich stehen und sah ihm tief in die Augen. "Du solltest mit Cath reden."
"Was...?", begann er, doch ich schüttelte den Kopf.
"Du solltest mit Cath reden. Du musst ihr nicht alles erzählen. Doch, du solltest Klarheit verschaffen." Ich lächelte. "Ich kenne deine Schwester zwar nicht, aber ich bin mir sicher, dass sie das nicht gewollt hatte. Sie hätte dich nie darum gebeten, bei ihr zu bleiben, wenn sie gewusst hätte, was es mit dir anrichtet. Ich denke, sie will, dass du glücklich bist. Das will schließlich jeder. Dass derjenige, den man liebt, glücklich wird. Und du solltest weiterleben. Damit du eines Tages, wenn ihr euch wiederseht, ihr davon erzählen kannst und sie daran teilhaben kann." Jake sagte kein Wort. "Rede mit Cath. Sag ihr zumindest einen Teil der Wahrheit. Ich bin mir sicher, sie wird es verstehen. Und ich bin mir sicher, dass du irgendwann jemanden finden wirst, den du beschützen kannst. Und zwar so, wie du deine Schwester beschützt. Du hast nämlich etwas getan, was nicht jeder hätte tun können. Und darauf solltest du stolz sein. Ich wünschte, ich hätte solch einen Bruder."
Sein Blick war ernst, doch nach einer Weile lächelte er zaghaft. Ich war mir sicher, dass wenn wir uns das nächste Mal trafen, er sich verhalten würde, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden. Ich war mir aber auch sicher, dass der Jake, den ich wiedertreffen würde, ein anderer wär...

Der nächste Tag war genau so herrlich, wie der vorige. Die Sonne strahlte der Erde entgegen und die warme Luft blies uns zaghaft ins Gesicht und spielte mit den Blättern. Während der Pausen und Freistunden hielt sich der größte Teil der Schüler draußen auf, sehr zum Leidwesen einiger Lehrer. Es schien ihnen anscheinend zu missfallen, ihren Unterricht fort zu führen, wenn zeitweise Gelächter durch die geöffneten Fenster drangen. Und doch hatte ich das Gefühl, dass die gute Stimmung auch in gewisser Weise auf sie überging.
Mr. Connor schien an dem heutigen Tag genau so wenig Lust auf den Unterricht zu haben, wie der Rest der Klasse, also gab er uns Aufgaben auf, die wir eigenständig oder in Gruppen bearbeiten konnten. Aufgaben für die wir normalerweise nicht einmal eine halbe Stunde gebraucht hätten.
Mrs. Hinsen unterbrach ihren Unterricht über Zellteilung und scheuchte uns raus in die Natur. Sie war der Meinung, ein bisschen frische Luft würde es uns erleichtern, den von ihr so geschätzten Stoff besser aufzunehmen. Aber es war ihr anzusehen, dass der eigentliche Grund, ein ganz anderer war.
Und selbst Mr. Garner, der sonst immer bestrebt und zielorientiert an seinem Unterricht festklammerte, schaute heute ab und zu verträumt aus dem Fenster und antwortete auf einige Fragen sogar humorvoll.
So verging der Tag wie im Fluge. Ich merkte gar nicht wie spät es war, als ich nach längerer Zeit auf die Uhr schaute. Es war schon 4 Uhr, dabei wollte ich eigentlich nur kurz in der Bibliothek vorbei schauen. Und jetzt, jetzt hatte ich meine ganzen Utensilien über den Tisch ausgebreitet und machte mir Notizen aus einem Buch. Ich seufzte und lächelte leicht. Wenn Cath das sehen würde.
Als ich meinen Blick erhob, bemerkte ich, dass außer mir, nur zwei weitere Schüler anwesend waren. Der Rest war anscheinend schon nach Hause gegangen. Aber wie konnte man es ihnen auch verübeln, bei dem schönen Wetter?! Langsam packte ich meine Sachen wieder ein und stellte die Bücher, die ich für meine Recherchen verwendet hatte, zurück in die Regale. Dann nahm ich meine Tasche und ging, nicht ohne mich vorher noch bei der Bibliothekarin zu verabschieden.
Draußen auf dem Flur, blieb ich kurz stehen. Ich wusste nicht, warum, aber irgendetwas veranlasste mich darüber nachzudenken, in den dritten Stock zu gehen. Doch wozu? Ich blickte erneut auf die Uhr. Sollte ich diesem Drang wirklich nachgehen? Und wenn ja, was würde ich dann vorfinden? Warum nur, wollte ich unbedingt in das Musikzimmer? War es der Flügel oder vielleicht doch etwas ganz anderes? Ich seufzte und beugte mich schließlich. Ob ich nun um halb oder um dreiviertel fünf zu Hause war, machte doch eigentlich gar keinen Unterschied.
Ich ging die Treppen hoch, während ich verträumt aus dem Fenster blickte. Der Tag war wirklich herrlich. Ich bereute es fast, so viel Zeit in der Bibliothek verbracht zu haben, anstatt nach draußen zu gehen und dort eventuell ein bisschen zu lesen oder einfach nur zu entspannen.
Als ich den dritten Stock erreichte, blieb ich plötzlich stehen. Musik drang leise an mein Ohr. Doch ich konnte nicht sagen, woher. Langsam ging ich weiter und je mehr ich den Korridor entlang lief, desto lauter und klarer wurde sie. Jemand musste auf einer Gitarre spielen, im Hintergrund waren noch ein paar weitere Instrumente zu hören, doch die Gitarre stach eindeutig hervor.
Ich blieb stehen und drehte mich um. Vor mir war eine große, doppelseitige Tür und hinter dieser, kam eindeutig die Musik heraus. Ich blickte auf und musste feststellen, dass ich vor dem Musikzimmer stand. Ich hatte nicht bemerkt, dass mich mein Weg unweigerlich hierher führte. Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter und öffnete langsam die Tür.
Anfangs konnte ich kaum etwas erkennen, da mich das durch die großen Fenster hereinfallende Licht blendete. Es spielte eindeutig jemand auf einer Gitarre, das war jetzt unmittelbar zu hören. Ich betrat den Raum und blickte mich langsam um. Doch es war niemand da. Verwirrt schloss ich die Tür hinter mir. Bildete ich mir jetzt etwa schon Geräusche ein? Meine Blicke schweiften von einer Ecke zur nächsten, durch den ganzen Raum, doch nirgendwo sah ich jemanden mit einer Gitarre.
Dann erblickte ich eine weitere Tür, die leicht versteckt in der Wand war und ging auf sie zu. Als ich sie schließlich erreichte, öffnete ich sie neugierig und blickte herein. Viele Instrumente, waren entweder in einer Ecke abgestellt oder fein säuberlich in der Mitte aufgereiht. Ich konnte Flöten erkennen, Keyboards, Gitarren, Bässe, sogar ein Cello fand ich vor. Am Ende des Zimmers, nahe dem Fenster, spielte jemand auf einer Gitarre, während aus einem Player Musik dröhnte. Beide schienen perfekt aufeinander abgestimmt zu sein.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Spieler zu und zu meiner Überraschung musste ich feststellen, dass es Tristan war. Er blickte aus dem Fenster, während er perfekt zu der Musik aus dem Player die Seiten seiner Gitarre anschlug. Ab und zu schloss er seine Augen, um sich der Musik noch mehr hinzugeben. Ein breites Lächeln umspielte seine Lippen. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden. Tristan war so anders. Es wirkte fast, als wäre das einzige, wofür er geboren wurde, die Gitarre, auf der er spielte. Seine Augen leuchteten, doch ich konnte nicht genau erkennen, ob das nun vor Freude war oder einfach nur aufgrund der Sonne, die durch das Fenster fiel.
Fasziniert beobachtete ich ihn. Er schien mich nicht bemerkt zu haben, also schloss ich leise hinter mir die Tür und lauschte. Er konnte wirklich gut Gitarre spielen. Es war unbeschreiblich. Mein Herz fing an zu rasen und ich fühlte mich so leicht, wie nie zuvor. Ein Gefühl der Freude und Glückseligkeit drang in mir auf und ich schloss einfach nur die Augen und wippte leicht im Takt. Obwohl es nicht die Art von Musik war, die ich hörte, gefiel sie mir dennoch sehr gut.
Plötzlich hörte die Musik auf und ich öffnete meine Augen. Tristan blickte mich durchdringend an. Ich konnte seinen Blick nicht ganz deuten. War er vielleicht sauer, dass ich einfach so hereingeplatzt war? Ich lächelte zögernd. „Entschuldigung, ich wollte dich nicht stören. Ich hab mich nur gewundert, woher die Musik kam und bin dann schließlich hier gelandet.“ Er antwortete nicht, sondern sah mich nur ernst an. Ich schluckte und trat einen Schritt auf ihn zu. „Ich wusste nicht, dass du Gitarre spielst, und dann auch noch so gut. Das einzige Instrument, was ich spielen kann, ist Klavier. Es interessiert mich, wie so etwas geht.“
Ohne etwas zu sagen, streckte er seine Hand aus. Verwirrt sah ich ihn an. Was wollte er? Ich ging ein paar Schritte vorwärts und streckte ihm schließlich zaghaft meine Hand entgegen. Leicht legte ich sie in seine und er umschloss sie. Sein Blick war immer noch ernst und ich sah ihn verdutzt an. Dann zog er mich zu sich und wirbelte mich herum, während er mit der linken Hand seine Gitarre festhielt.
Er stand jetzt ganz dicht hinter mir, sein rechter Arm hielt mich an ihn gedrückt. Langsam hob er die Gitarre hoch und hielt sie leicht vor mir. Er griff nach meiner linken Hand und führte sie an den Hals der Gitarre. Vorsichtig rückte er meine Finger in eine bestimmte Position. Er nahm meine andere Hand und strich mit ihr vorsichtig die Seite an. Ein langer Ton entstand und breitete sich in dem Raum aus. Ich wandte mich mit dem Kopf zu ihm um und er sah mich zärtlich an.
„Siehst du“, flüsterte er. „So geht das.“ Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen.
Ich konnte nicht umhin dieses Lächeln zu erwidern und mein Herz schlug wieder wie wild. Dann wandte ich meine Konzentration wieder der Gitarre zu ließ mich durch Tristans Hand über die Seiten führen. Nach einiger Zeit begann er auch die Griffe am Hals zu ändern und so spielten wir eine mir bekannte Melodie.
„Das ist das Lied, was ich neulich gespielt habe“, stellte ich fest und sah ihn wieder an. Er lächelte und nickte nur. Ich schloss meine Augen und ließ es zu, dass er weiterhin mit meinen Fingern Gitarre spielte. Es war irgendwie befreiend einfach nur hier zu stehen und zu wissen, dass Tristan hinter mir war. Sein Duft drang wieder in meine Nase und mein Herz schlug schneller. Ab und zu blickte ich zu ihm auf und jedes Mal hatte er einen anderen Gesichtsausdruck. Mal zärtlich, dann wieder konzentriert oder gar ganz in Gedanken versunken.
Nach einiger Zeit, legte er die Gitarre weg und umschloss mich ganz mit seinen beiden Armen. Ich fühlte mich irgendwie geborgen, obwohl dieses Gefühl mir vollkommen fremd war. Wie alle Gefühle, die ich in seiner Gegenwart wahrnahm. Dann ließ er mich los, griff nach meiner Hand und zog mich eilig aus dem Raum.
„Ähm, Tristan? Warte, wo willst du hin?“, war das einzige, was ich herausbekam.
Er drehte sich um und grinste mich an. „Zu unserem ersten Date.“ Überrascht sah ich ihn an. Was für ein Date?

Ich saß auf dem Beifahrersitz und blickte aus dem Fenster. Ab und zu sah ich zu Tristan herüber, doch er konzentrierte sich auf die Straße. Nachdem wir den Musikraum verlassen hatten, hatte er mich weiter Richtung Ausgang geführt und war schließlich auf dem Parkplatz stehen geblieben. Dass er ein Auto besaß, wunderte mich. Dadurch merkte ich, dass ich eigentlich gar nichts über ihn wusste. In Gedanken versunken blickte ich aus dem Fenster. Wo er wohl mit mir hin wollte? Er meinte, zu unserem ersten Date. Doch wo war das? Und was verstand er unter dem Wort Date?
Eine Erinnerung schlich sich in meinen Kopf. Cath lag ausgestreckt auf meinem Bett, während ich am Schreibtisch saß. „Weißt du, JJ, wenn ein Junge dich nach einem Date fragt, dann musst du aufpassen.“
„Nach was, bitteschön?“, fragte ich, noch immer in meine Arbeiten versunken.
„Nach einem Date. Das ist eine Verabredung zweier Menschen, die sich zueinander hingezogen fühlen. So was wie ein Rendezvous, aber wir Jugendliche sagen dazu Date.“ Ich nickte nur. Cath seufzte, stand auf und zwang mich sie anzusehen.
„Cath, ich…“, doch sie unterbrach mich. „Wenn dich jemand mal nach einem Date fragt, musst du vorsichtig sein!“ Ich sah sie verdutzt an. „Jungs verstehen unter Dates die verschiedensten Dinge.“
„Und was?“, fragte ich, nun doch leicht neugierig.
„Nun, das, was sie selbst verkörpern.“ Ich verstand nicht ganz. Was wollte sie mir damit sagen? „Du weißt doch, es gibt halt solche und solche Jungs“, fuchtelte sie mit den Armen. Ich zuckte leicht mit den Schultern, um ihr zu zeigen, dass ich immer noch nicht verstand. Sie seufzte erneut. „Es gibt Jungs, die sind total harmlos. Sie sind schüchtern, trauen dich kaum anzusprechen, oder stottern in deiner Gegenwart. Die würden dich vermutlich höchstens zu einem Eis einladen, sollten sie es überhaupt jemals schaffen, dich anzusprechen ohne zu kollabieren.“ Cath musste bei den Gedanken grinsen.
„Und die anderen?“
„Nun, die anderen sind die Monster“, erwiderte sie und zog eine Grimasse. Ich musste lachen. „Sie sind arrogant, überheblich, Machos und interessieren sich nur für das eine. Vermutlich würden die dich bei einem Date zu einem Lovehotel zerren.“ Ich musste immer noch lachen. Manchmal waren ihre Jungstheorien einfach komisch. „Ich meine das ernst. Es gibt wirklich solche Kerle. Deswegen darfst du nie zustimmen, wenn dich jemand nach einem Date fragt.“
„Warum nicht? Die anderen, harmlosen, so wie du sie nennst, würden mich doch nur zu einem Eis einladen.“
„Jaha, aber das wissen auch die Monster. Und die tun dann so, als seien sie unschuldig, nur um dich reinzulegen und dann fallen sie über dich her.“
„Du glaubst doch nicht wirklich an das, was du sagst, oder?", fragte ich sie und unterdrückte ein Grinsen.
„Natürlich! Und das sollest du auch.“ Mit diesen Worten warf sie sich wieder auf mein Bett und streckte sich. Ich wandte mich wieder meinen Notizen zu und hatte das Gespräch bald wieder vergessen.

Zu welcher Kategorie Tristan wohl gehörte? Wenn ich nach Cath‘ Verhalten urteilen müsste, dann wahrscheinlich zu den Monstern. Obwohl, mir kam er eigentlich nicht wie ein Monster vor. Ich blickte zur Seite und musterte ihn. Sein Blick war auf die Straße gerichtet, eine Hand umfasste das Lenkrad, die andere behielt er auf der Kupplung. Dann wandte ich mich der Umgebung zu. Es wirkte nicht, als würde er mich zu einem Lovehotel bringen. Ganz im Gegenteil, er fuhr geradewegs raus aus der Stadt. Ich seufzte leise. Wo wollte er nur hin?
„So, da sind wir.“ Er stoppte den Wagen und schaltete den Motor aus. Ich blickte mich um und sah erstaunt, wo wir waren.
Er hatte mich geradewegs zum Vergnügungspark am Rande unserer Stadt gebracht. Verwirrt sah ich ihn an, doch er war bereits ausgestiegen und lief nun um den Wagen herum, um mir die Tür aufzuhalten. Ich stieg aus und er schloss hinter mir den Wagen ab. Dann nahm er meine Hand und grinste mich an. „Komm!“
Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte. Was wollte er nur hier? Er führte mich zum Eingang und kaufte zwei Tickets. Dann waren wir drin.
„Also, wo willst du als erstes hin?“ Sein Lächeln war freundlich und er hielt mir eine Karte des Parks entgegen.
„Nun, also… ich weiß nicht“, erwiderte ich. Zu überrumpelt war ich noch von der raschen Wendung, die dieser Tag genommen hatte.
„Gut, dann musst du mir halt folgen“, grinste er und nahm erneut meine Hand.
„Aber Tristan…“, begann ich, doch er unterbrach mich. „Hab einfach Spaß, JJ!“
„Ich war hier noch nie, ich weiß doch nicht, was…“ Weiter kam ich nicht, denn da hatte Tristan schon seine Lippen auf die meinigen gelegt und mich geküsst. Mein Herz schlug wieder schneller und in meinem Körper breitete sich ein Kribbeln aus. Als er sich von mir löste, grinste er. „Lass dich einfach fallen und hör auf, ständig über alles nachzudenken.“
Dann zog er mich weiter und reichte mir die Karte. „Wir haben alle Zeit der Welt. Und wenn wir heute nicht alles schaffen, kommen wir halt morgen wieder her.“ Er grinste mich an und zwinkerte mir zu.
Verdutzt sah ich die Karte an und überblickte alles. Dann wandte ich mich wieder zu und lächelte. „Ok.“

Es war ein herrlicher Nachmittag. Wir besuchten die verschiedensten Attraktionen, aßen Zuckerwatte und lachten. Ich hatte Tristan noch nie so locker und frei erlebt. Er war wie ausgewechselt. In der Schule wirkte er immer so kühl und unnahbar, aber wenn er sich unbeobachtet fühlte, war er das totale Gegenteil. Genau wie vorhin beim Gitarrespielen. Langsam begann es zu dämmern und ich sah auf die Uhr. Meine Eltern hatte ich angerufen, dass ich noch unterwegs war, dennoch war es besser, wenn ich nicht ganz so spät nach Hause kam.
„Ähm Tristan, vielleicht sollten wir uns so langsam auf den Weg nach Hause machen.“ Er erwiderte nichts, sondern starrte in die Ferne. Ich sah ihn an, doch ich bekam keine Antwort. „Tristan?“, fragte ich zögernd.
Er wandte sich mir zu und sah mich durchdringend an. Dann grinste er wieder. „Nur noch eins“, sagte er und zog mich weiter.
„Aber es dämmert doch schon.“
„Genau deswegen.“ Ich ergab mich und folgte ihm.
Mittlerweile war ich etwas müde geworden, sodass ich momentan nicht die Kraft hatte, ihm zu wiedersprechen. Immer weiter zog er mich bis wir schließlich vor dem Riesenrad zum Stehen kamen. Mir schwante übles. „Tristan, du willst doch jetzt nicht…“
„Und ob“, grinste er und zog mich in eine Gondel. Er schloss die Tür und das Riesenrad setzte sich in Bewegung. Ich zuckte unwillkürlich zusammen und klammerte mich am Sitz fest. Ich hatte schreckliche Höhenangst.
Tristan saß mir gegenüber. Er hatte sich lässig nach hinten gelehnt und starrte seitlich aus der Gondel. Ich umklammerte währenddessen immer noch meinen Sitz und wagte nicht irgendwo hinzusehen. Bislang hatte ich noch nie Probleme damit gehabt. Schließlich bin ich auch noch nie in einem Riesenrad gefahren. Ich versuchte ruhig zu atmen und ignorierte das Schaukeln, was nicht leicht war. Irgendwann kniff ich sogar die Augen zu, aber das machte alles eigentlich noch schlimmer.
„Alles in Ordnung, JJ?“ Ich öffnete die Augen und sah, das Tristan mich besorgt ansah. Ich versuchte ein Lächeln.
„Ja, alles bestens.“
„Du bist so blass, stimmt etwas nicht“, überging er meine Antwort.
Ich schluckte. „Das ist bestimmt nur das Licht.“ Ich stockte. Warum sagte ich ihm eigentlich nicht die Wahrheit?
Sein Blick glitt hinunter zu meinen Händen und seine Augen weiteten sich leicht. „Hast du etwa Höhenangst?“ Ich nickte leicht. Verdutzt sah er mich an, unfähig ein Wort zu sagen. Dann grinste er. „Tja, dann müssen wir wohl etwas dagegen machen. Angst bekämpft man nur, wenn man sich ihr stellt.“ Verwirrt sah ich ihn an.
Plötzlich stand Tristan auf und die Gondel schaukelte nur noch mehr. Ich zuckte zusammen und klammerte mich fester an den Sitz, während ich konzentriert auf den Boden starrte. Warum musste er auch ausgerechnet jetzt aufstehen? „Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin doch da“, grinste er. Ich zitterte leicht und wagte nicht, aufzusehen.
„Vertrau mir!“ Er hielt mir seine Hand entgegen. Wollte er etwa, dass ich sie ergriff? Aber dafür müsste ich den Sitz loslassen und der gab mir gerade so schön Halt. „Vertrau mir, JJ!“ Ich blickte zögernd auf und sah ihn an. Er lächelte mich zärtlich an.
Ich schluckte, doch ich konnte meine Hand nicht lösen. Tristan seufzte, ergriff mein Handgelenk und zog mich mit einem Ruck zu sich heran. Mir entfuhr ein leichter Aufschrei und ich klammerte mich, nun da ich nicht mehr saß, an Tristan fest. Ich vergrub mein Gesicht in seinem Hemd und hoffte, dass das Schaukeln bald wieder aufhören würde. Dann gab es einen Ruck und die Gondel kam zum Stehen. „Was?“, war das einzige, was ich heraus bekam.
„Wir stehen.“ Ich hörte an seiner Stimme, dass er ein Lachen unterdrückte.
„Das habe ich mitbekommen. Warum?“
„Weil wir ganz oben sind“, erwiderte er ruhig. Ich atmete einmal tief durch. Tristan lachte kurz auf. Ohne ein Wort zu sagen, löste er vorsichtig meine Hände von seinem Hemd und drehte mich herum, so dass ich wie vorhin mit dem Rücken zu ihm stand und gezwungen war, aus dem Fenster zu sehen. Ich schloss unwillkürlich die Augen, denn ich befürchtete, noch mehr Angst zu bekommen, sobald ich runter sah. Langsam machte er einen Schritt vorwärts und bedeutete mir so auf das Fenster zuzugehen. Voller Angst machte ich einen Schritt vorwärts, dann noch einen, immer noch mit geschlossenen Augen. Dann blieb er stehen.
Mit dem rechten Arm hielt er mich fest umschlungen, mit dem linken hielt er meine Hand fest. Somit gab er mir das Gefühl in Sicherheit zu sein. „Na los, öffne dein Augen!“ Ich schüttelte mit dem Kopf. Mein Atem ging unruhig und mein Herz raste. „Vertrau mir!“ Ich atmete einmal tief durch, dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und öffnete die Augen.
Mein Atem stockte, doch nicht aus Angst. Am Horizont ging gerade die Sonne unter und tauchte den Himmel in ein leichtes orange. Es war wunderschön! Mein Atem beruhigte sich wieder und die Höhe bereitete mir keine Probleme mehr, so sehr faszinierte mich dieses Bild. „Das war es, was ich dir unbedingt zeigen wollte“, flüsterte mir Tristan zu und umfasst mich noch eine Spur fester.
Fasziniert blickte ich den Sonnenuntergang an. Dass ich mich in einer Höhe von über 100 Metern befand, war mir gar nicht mehr so bewusst. Langsam neigte sich die Sonne immer mehr dem Horizont entgegen und die Umgebung wurde somit immer dunkler. Die Lampen in der Gondel waren mittlerweile angesprungen. Tristan hielt mich immer noch fest umklammert, während er mit seinem Kopf ganz dicht an meinem linken Ohr war. Ich konnte seinen Atem in meinem Nacken spüren und ein angenehmer Schauer lief mir über den Rücken. Mein Herz begann wieder heftig gegen meine Brust zu schlagen. Warum nur löste er diese wohligen Gefühle in mir aus? Ich kannte ihn doch eigentlich kaum. Ich wusste nichts über ihn, außer dass er auf meiner Schule war, Gitarre spielte und selbst Auto fuhr. Sonst, wusste ich nichts. Und dann war da noch dieses Geheimnis, von dem Jake erzählt hatte. Was war es?
Inzwischen war die Sonne vollkommen untergegangen und kleine Lampen brachten den Park zum Leuchten. Das Riesenrad setzt sich wieder in Bewegung und die Gondel schaukelte sacht hin und her. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, doch es war nicht ganz so schlimm, wie vorhin. Tristan drehte mich zu sich herum und umfasste mein Gesicht. Dann küsste er mich. Begierig drang seine Zunge in meinen Mund ein und er presste mich sacht gegen das Fenster. Seine linke Hand glitt meinen Rücken hinunter und schließlich zog er mich an meiner Teile näher zu sich heran. Er löste sich von meinen Lippen und wanderte meinen Hals herunter, während er meine linke Hand mit seiner rechten gegen die Wand drückte. Ich kniff die Augen zusammen. Begierig liebkoste er meinen Hals und wanderte weiter zu meinem Dekolleté
„Das darf nur ich, JJ.“ Verdutzt sah ich ihn an. Er hob seinen Kopf und blickte mir durchdringend in die Augen. Sein Blick war ernst. „Niemand darf dich so berühren. Verstanden?“ Meine Augen weiteten sich. Was sollte das? „Hast du mich verstanden, JJ?“ Ich schluckte und nickte zögernd. Dann presste er seine Lippen wieder auf die meinigen, doch nach kurzer Zeit löste er sich wieder. „Ich könnte es nicht ertragen, wenn dich jemand anderes so anfassen würde“, flüsterte er.
Das Riesenrad kam zum Stehen und ich wusste, dass wir unten waren. Ich stieß ihn sachte von mir, denn ich wollte nicht, dass uns alle anstarrten. Sein Blick war wieder ernst und er nahm meine Hand und zog mich aus der Gondel, hinter sich her. Es waren kaum noch Menschen unterwegs. Vermutlich empfanden sie es schon für zu spät, als dass sie noch um diese Uhrzeit in einem Vergnügungspark verweilen wollten. Schließlich blieb er wieder stehen, wirbelte herum und wollte mich erneut küssen. Ich zuckte zusammen und wandte mein Gesicht ab.
Irgendwie machte er mir wieder Angst. Eine Zeit lang musterte er mich, dann ließ er mich los und wandte sich von mir ab. Verwirrt sah ich ihn an. „Warum?“, fragte ich ihn schließlich. „Warum willst du mich dauernd küssen?“
Er sah mich mit einem Blick an, als ob das selbstverständlich wäre. Dann grinste er breit „Das ist doch klar. Weil ich dich süß finde.“ Verdutzt blickte ich ihn an. Mein Herz klopfte schneller und mein Gesicht wurde warm. Dann fasste ich einen Entschluss.
„Ok“, sagte ich mit ruhiger Stimme. „Du kannst mich küssen.“ Ich hatte die Augen geschlossen und wartete darauf, dass er etwas machte. Ich kniff sie unweigerlich noch mehr zusammen, vor dem, was jetzt kommen würde. Auf einmal spürte ich, wie der Boden unter meinen Füßen verschwand.
Ich öffnete erstaunt meine Augen und blickte auf Tristan herab, der mich lächelnd hochgewirbelt hatte. „Du bist so leicht. Als hättest du Flügel." Er grinste und ich sah ihn überrascht an. Dann nahm er mich wieder herunter und ich fiel somit in seine Arme. Ich musste lächeln und gab ihm, ohne darüber nachzudenken, einen Kuss, seitlich an seinem Ohr. Ich hörte, wie Tristan lachte und fühlte mich sogleich wieder viel besser.

Es war erstaunlich, wie schnell ein Tag vorüber sein konnte. Früher war mir das nie aufgefallen. Zwar hatte ich oft in Arbeit versunken, vergessen, wie spät es war… trotzdem hatte ich nie das Gefühl, dass ich die Zeit zurückdrehen müsste. Doch heute, da war irgendwie alles anders. Nachdem mich Tristan gestern wieder nach Hause gebracht hatte, musste ich unweigerlich feststellen, dass es eigentlich schon fast Zeit war, schlafen zu gehen. Der ganze Tag war vorbei gewesen, ohne dass ich irgendetwas für die Schule gemacht hatte. Schlimm war das nicht, da ich die Hausaufgaben schon vorgearbeitet hatte. Dennoch… zum einen war es beunruhigend und ungewohnt. Zum anderen aber auch befreiend.
Damit nicht genug, konnte ich es irgendwie nicht erwarten, dass die Schule wieder zu Ende war. Er wollte sich heute mit mir treffen. Gleich nach der Schule. Das zweite Date, wie er es nannte. Ich freute mich ihn wiederzusehen. Dieses Gefühl war mir völlig fremd. Jedes Mal, wenn ich daran dachte, musste ich unweigerlich lächeln und mein Herz machte einen Hüpfer. Fühlte sich so die Liebe an?
Als es zum Ende der letzten Stunde klingelte, packte ich eilig meine Sachen zusammen, verabschiedete mich von Cath, die mir etwas verwirrt hinterher sah und machte mich auf den Weg Richtung Treffpunkt. Je näher ich dem Parkplatz kam, desto aufgeregter wurde ich. Mein Herz schlug wieder schneller, wie bei fast allem, was irgendwie mit Tristan zu tun hatte. Ich konnte es mir nicht erklären, doch ich fühlte mich in seiner Gegenwart wohl. Genau so wohl, wie bei Cath… wenn nicht sogar noch etwas mehr.
Ganz in Gedanken versunken, bemerkte ich nicht, wohin ich ging und stieß somit mit jemanden zusammen. „Oh, entschuldigen Sie bitte“, erwiderte ich, sobald ich mich gefangen hatte.
„Keine Ursache“, antwortete mir mein Gegenüber.
Ich hob lächelnd meinen Kopf und als ich sah, wer vor mir stand, machte sich leichte Überraschung auf meinem Gesicht breit. „Ich hatte nicht erkannt, dass Sie es sind.“
Dwight lachte. „Das habe ich bemerkt. Du bist so in Gedanken versunken vor dich hingegangen, du hättest so einiges nicht mitbekommen.“ Sein Lachen war herzhaft und ich konnte nicht umhin, es zu erwidern. „Wohin des Weges?“, fragte er mich und sah mir dabei tief in die Augen.
„Oh, ich bin auf dem Weg zu Tristan“, erwiderte ich lächelnd. Einen Moment verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck, aber so kurz, dass ich mich fragte, ob ich es mir vielleicht nicht eingebildet hatte.
Dann lächelte er wieder. „Na, dann wünsche ich euch viel Spaß.“
„Danke“, erwiderte ich.
„Wie geht es dir eigentlich? Wir wurden letztens ja leider unterbrochen, ich konnte mich gar nicht so wirklich mit dir unterhalten.“ Er zwinkerte mir zu.
„Mir geht es gut, danke der Nachfrage“, antwortete ich immer noch lächelnd.
Wir unterhielten uns noch eine Weile weiter. Ab und zu machte Dwight ein paar Witze und dann lachten wir zusammen. Die Sonne schien mir warm auf das Gesicht und ich hatte vollkommen die Zeit vergessen. Ich glaubte, wir hätten uns noch ein wenig weiter unterhalten, wären wir nicht in diesem Moment von jemand unterbrochen worden. Als ich an Dwight vorbei blickte, sah ich Tristan auf uns zukommen. Mit geballten Fäusten und einem Gesichtsausdruck, der mir Unbehagen bereitete.
„Halt dich von ihr fern!“
Dwight drehte sich langsam zu ihm herum und lächelte ihn an. „Hallo Bruderherz. Lange nicht gesehen.“
„Dein gespieltes Geschwistergetue kannst du dir sparen. Was willst du hier?“
Dwight seufzte. „Ich wüsste nicht, was dich meine Geschäfte angehen“, erwiderte er kühl.
Tristans Blick verfinsterte sich noch mehr. „Wenn diese Geschäfte etwas mit JJ zu tun haben, dann gehen sie mich hundert prozentig etwas an.“
Verwirrt sah ich von Tristan zu Dwight und wieder zurück. Ich konnte ihnen irgendwie nicht folgen.
Dwight lachte amüsiert. „Als ob dir JJ gehören würde. Sie kann verdammt noch mal selbst entscheiden, mit wem sie sich abgibt und mit wem nicht. Ich habe sie nicht aufgehalten. Sie hätte jederzeit gehen können.“
„Du verdammter…!“, begann Tristan, doch er wurde von Dwight unterbrochen. „Hey, frag sie doch, wenn du mir nicht glaubst.“ Er grinste jetzt.
Irgendwie hatte es etwas unheimliches, ich konnte es nicht so genau definieren. Tristans Blick schweifte kurz zu mir herüber, dann sah er wieder Dwight an. „JJ würde so etwas nie tun.“
„Was denn?“, fragte Dwight nun sichtlich interessiert.
„Jemanden einfach so stehen lassen. Du kennst sie nicht Dwight. Sie hätte dir nie den Rücken zugedreht. Nicht einmal, wenn du ihr weh getan hättest. Dazu… ist sie viel zu freundlich.“ Sein Blick haftete wieder auf meinem. Er sah mir tief in die Augen und mein Herz begann wieder zu hüpfen. „Halt dich von ihr fern“, presste er zwischen seinen Zähnen hervor und wandte sich ihm wieder zu. „Solltest du ihr noch einmal zu nahe kommen, dann bringe ich dich um!“ Den letzten Satz schrie er fast.
Ich zuckte zusammen und sah ihn entgeistert an. Das konnte nicht sein ernst sein.
Doch Dwight lachte nur und wandte sich an mich. „Es ware schön, dich wieder zu sehen, JJ. Ich hoffe, dass wir das nächste Mal nicht so schnell unterbrochen werden.“ Er lächelte, trat ganz dicht an mich heran und gab mir einen leichten Kuss auf die Wange.
Verwirrt sah ich ihn an. Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, wandte er sich ab und verschwand. Ich hatte nicht lange Zeit, ihm hinterher zu sehen, denn da wurde ich schon grob am Arm gepackt und weiter Richtung Parkplatz gezerrt. Ich hatte Mühe mit Tristan mitzuhalten und stolperte des Öfteren, doch er drosselte sein Tempo nicht. Im Gegenteil. Er umklammerte meinen Arm noch fester, sodass ihn ein stechender Schmerz durchfuhr. „Autsch“, entfuhr es mir, doch Tristan schien es nicht gehört zu haben. „Bitte, Tristan, lass los!“
„Warum, damit du ihm hinterher gehen kannst?“ Er stoppte und wirbelte zu mir herum. Seine Augen waren voller Zorn.
Ich zuckte zusammen. „Nein, aber du tust mir weh!“ Sein Blick wanderte zu meinem Arm, der mittlerweile schon leichte Rötung aufwies und lies augenblicklich los.
Eine Zeit lang herrschte Schweigen, dann brach er es. „Warum hast du dich mit ihm unterhalten?"
Für einen kurzen Moment war ich verdutzt, dann antwortete ich. „Warum nicht? Er hat mich begrüßt und ich wollte nicht unhöflich sein.“
Tristan schnaubte. „Das hättest du aber sein sollen. Hab ich dir nicht gesagt, dass du dich von ihm fern halten sollst?“ Das gleiche hatte Jake auch über Tristan gesagt. Ich schluckte. Wenn ich seiner Aufforderung nachgeben sollte, musste ich dann nicht auch Jakes nachgeben?
„Wir haben uns doch nur unterhalten“, erwiderte ich.
„Ja, so fängt es immer an. JJ, du kannst ihm nicht trauen. Er denkt als erstes immer nur an sich. Es interessiert ihn nicht, wie andere sich dabei fühlen, Hauptsache er bekommt das, was er will.“
„Das glaube ich nicht“, lächelte ich zaghaft.
„Ja verdammt, weil du ihn nicht kennst“, fluchte er. „Halte dich von ihm fern, hast du mich verstanden?“
Ich zuckte zusammen. Er hatte die Stimme erhoben. Ich wich seinem Blick aus und sah an ihm vorbei.
„Ich bekomme ja nicht einmal die Chance, ihn kennenzulernen. Er gehört zu deiner Familie und ist somit ein Teil von dir. Ich wollte doch nur…“
„Er ist ganz und gar nicht ein Teil von mir!“, schrie er jetzt. Entsetzt sah ich ihn an. „Er gehört genau so wenig zu meinem Leben, wie der Rest meiner Familie. Also solltest du dich darauf einstellen, dass du kaum etwas von ihnen erfahren wirst.“ Er machte eine Pause und sah mich durchdringend an. „Halte dich von ihm fern.“
Ich schloss die Augen. Irgendwie konnte ich diesen Satz nicht mehr hören. Er bereitete mir Unbehagen und er tat auf gewisse Weise weh. „Ich erinnere mich gerade, dass ich noch so einiges für die Schule erledigen muss“, erwiderte ich und versuchte ein Lächeln. „Vielleicht sollten wir das verschieben, es tut mir leid.“
Damit wandte ich mich um und ging. Ich mochte es nicht, wenn er so war, wie jetzt. Von dieser Art von Tristan hielt ich mich lieber fern. Auch wenn es mir innerlich schmerzte.

Den Rest der Woche hatte ich Tristan nicht mehr gesehen. Es war nicht so, dass ich mich versteckte. Doch irgendwie schien er immer da zu sein, wo ich in dem Moment gerade nicht war. Ein Teil von mir war darüber erleichtert. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, wenn ich ihn auf dem Flur treffen würde oder wie seine Reaktion ausfallen würde. Ich hatte Angst, er würde mich ignorieren und einfach an mir vorbei laufen, so wie damals, nach der Sache am Pool. Der andere Teil bereitete mir Schmerzen. Mit mir bis dahin noch unbekannter Intensität sehnte ich mich nach ihm. Nach seinen Händen, die mich immer streichelten und sanft meine Hand hielten. Seinen Augen, die so klar und tief waren, dass man sich darin mit Leichtigkeit verlor. Sein Lächeln, das sich langsam über seine Lippen schlich. Ich ertappte mich des Öfteren, wie ich mich in den Korridoren der Schule umsah, hoffend, ihn auch nur für einen kurzen Moment zu sehen.
Doch die Woche verstrich, ohne dass ich ihn weder hörte, noch sah. Und je weiter das Geschehene zurücklag, desto mehr bereute ich meine Reaktion. Ich bekam Schuldgefühle, für das, was ich gesagt hatte und wie ich ihn dann letztendlich stehen gelassen hatte. Es musste einen Grund geben, weshalb er so reagierte. Einen Grund, warum er nicht wollte, dass ich mit Dwight auf irgendeine Weise in Kontakt stand.
„Eifersucht. Ganz klar: Eifersucht“, meinte Cath, nachdem ich ihr das Geschehene geschildert hatte.
„Eifersucht?“, fragte ich nach.
„Ja, Eifersucht. Jungs werden sehr schnell eifersüchtig, wenn es um ihre Mädchen geht. Sie mögen es nicht, wenn andere sie anbaggern oder auch nur ansprechen. Vielleicht hat er herausbekommen, dass ihr im Blue Moon aufeinander getroffen seid und denkt sich jetzt die wildesten Fantasien aus.“
„Was denn für Fantasien?“
„Na du weißt schon. Dinge, die Männlein und Weiblein nun mal machen“, grinste sie. Ich sah sie verdutzt an. Männlein und Weiblein? Sie seufzte. „Bienchen und Blümchen?“
„Oh“, war das einzige, was ich in diesem Moment erwidern konnte. Cath nickte nur und widmete sich dann wieder ihrem Mittagessen. „Aber, warum sollte er so etwas denken?“, fragte ich nach einer längeren Pause.
„Weil Jungs immer daran denken. Ihr ganzer Kopf ist voll davon. Aber das ist jetzt auch egal. Fakt ist, Tristan glaubt, dass Dwight dich ihm ausspannen will. Und er glaubt auch, dass er das schaffen könnte. Bei solcher Art von Bruderbeziehung herrscht immer so ein gewisser Wettstreit. Wer schleppt die Beste ab. Wer bekommt die Hübschere. Für wen wird sie sich letztendlich entscheiden?“ Sie zuckte mit den Schultern. „All dieser ganze Liebeskram halt.“
Ich sah sie nachdenklich an. Ein Wort ließ mich aufhorchen und bereitete mir Unbehagen. Nach einem Moment der Stille, fragte ich sie schließlich: „Glaubst du, Tristan interessiert sich nur für mich, weil er mit seinem Bruder darum gewettet hat?“
Cath hielt plötzlich inne und ihre Augen weiteten sich leicht. Nein, das konnte nicht sein. Tristan war nett. Er war freundlich und lieb zu mir. Er hatte mir des Öfteren schon geholfen. Er würde mir nie wehtun.
>>Und wenn das Teil seines Planes war?<<, fragte plötzlich eine tief in mir verborgene Stimme.
Schweigen. Keiner von uns sagte ein Wort. Dann meinte Cath ernst: „Ich weiß es nicht.“ Sie hob ihren Kopf und sah mich mit einem durchdringenden Blick an.
Und dann, ganz plötzlich lachte sie lauthals los. Ich sah sie entgeistert an, doch sie konnte sich einfach nicht beruhigen. „Du klingst wirklich wie eine Verliebte“, presste sie hervor. Mittlerweile hielt sie sich den Bauch und hatte ihren Kopf nach hinten in den Nacken geworfen und lachte aus vollem Halse. Als sie sich wieder beruhigt hatte, sah sie mich lächelnd an.
„Was war das denn?“, fragte ich sie immer noch verdutzt.
Sie grinste. „Solche Sachen, sagen nur Menschen, die verliebt sind. Ich erkenne dich nicht wieder.“
„Wie meinst du das?“
„Du hast bislang nie so etwas gedacht. Immer nur das Gute in jedem Menschen gesehen. Und auf einmal fragst du, ob Tristan ein falsches Spiel mit dir treibt.“
Ich wandte meinen Blick ab und versuchte meine Gedanken zu ordnen. „JJ. Ich hab wirklich keine Ahnung, ob deine Befürchtungen richtig sind“, meinte sie immer noch lächelnd. „Doch ich weiß, dass ich ihm jeden Knochen einzeln brechen werde, sollte es so sein. Und ich glaube, er weiß das auch.“
Nun stahl sich auch auf meine Lippen ein leichtes Lächeln. „Weißt du. In jeder Beziehung hat man Angst. Angst davor, dass eine andere kommt und ihn wegschnappt. Angst davor, dass alles nur ein Spiel für den jeweilig anderen ist. Keine Beziehung ist perfekt. Manche schaffen es, diese Angst zu verstecken, irgendwo tief in ihrem Inneren einzusperren. Und wiederum andere geben sich nicht einmal die Mühe, sie zu verbergen. So wie Tristan halt. Es bringt dir nichts, wenn du jetzt stundenlang dasitzt und dir den Kopf darüber zerbrichst, ob das jetzt nur so sein könnte oder nicht. Du musst in die Offensive gehen.“
„Offensive?“, wiederholte ich.
„Ja“, bestätigte sie. „Sprich ihn darauf an. Sag, dass du das nicht länger mitmachen willst. Er soll dir gefälligst den Grund sagen, was zwischen ihm und Dwight läuft. Vielleicht erfährst du so ein bisschen mehr über ihn und kannst deine Vermutungen selbst beantworten.“
Ich dachte über das, was sie gesagt hatte nach. Ein Treffen mit Tristan, das war es, was ich im Moment am meisten wollte. Doch ich hatte auch Angst, es würde wieder so enden, wie letztes Mal.
„Du kannst natürlich auch hier den Rest deines Lebens hier sitzen bleiben und darüber grübeln, ob… ob nicht… inwieweit…“
Ich streckte ihr lächelnd die Zunge raus. Cath hatte Recht. Ich brachte nichts, wenn ich einfach nur dasaß und den Dingen ihren Lauf ließ. Manchmal musste man selbst einen Schritt nach vorne gehen. Ich sollte mit ihm reden. Ich wollte mit ihm reden. Und ich hoffte, dass danach alles wieder wie vorher war. Hatte ich mich wirklich so verändert wie Cath gesagte hatte? War das schlimm?

TUT. TUT. Es war Freitagnachmittag. Die Schule war gerade vorbei und ich hatte Tristan immer noch nicht gesehen. So blieb mir nichts weiter übrig, als ihn anzurufen. Er hatte mir seine Nummer nach unserem ersten Date gegeben.
>>Du kannst mich jederzeit anrufen. Auch nachts. Ich bin immer für dich da.<<, hatte er gemeint und gelächelt.
Mittlerweile schien dieser Moment schon Jahre zurückzuliegen. Nun saß ich also auf meinem Bett und wartete darauf, dass Tristan abnahm. Nach dem sechsten Klingen, wollte ich bereits auflegen, doch da meldete er sich.
„Ja?“, fragte er mit rauer Stimme.
„Ähm, hi Tristan, ich bin’s. Julia.“ Schweigen. Auf der anderen Seite der Leitung war nichts zu hören. Ich schluckte. „Also, der Grund, warum ich dich anrufe.“ Ich zögerte. „Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht morgen mit mir… nun ja… ob wir unser zweites Date vielleicht nachholen wollen.“ Mein Gesicht brannte und ich merkte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Mein Herz raste aus einem mir unerklärlichen Grund.
„Ok“, meinte er nur. Mein Herz machte einen Hüpfer und ich musste lächeln.
„Weißt du…“, begann ich wieder. „Ich wollte mich für das auf dem Parkplatz entschuldigen. Ich hätte dich vielleicht nicht dort stehen lassen sollen. Es tut mir leid.“
„Vergessen“, erwiderte er knapp.
„Also, wo…?“
„Wir treffen uns im Zentrum, vor der Bellingham Company“, fuhr er mir ins Wort.
„Oh, ok“, lächelte ich. Dann stutzte ich. „Du Tristan, geht es dir nicht gut?“
„Warum?“, fragte er nur knapp.
„Deine Stimme klingt etwas komisch.“
„Ja, ich bin leicht erkältet.“ Er hustete. „Aber mach dir keine Sorgen. Morgen bin ich wieder fit.“
„Schön. Dann bis morgen.“
„Ja, bis morgen“, sagte er und legte dann auf. Ich blickte aus dem Fenster und lächelte der Sonne entgegen. Ich würde mich morgen mit Tristan treffen und dann konnten wir in Ruhe reden. Ich warf mich zurück auf mein Bett und mein Herz klopfte wie wild, bei den Gedanken daran.

 

Er öffnete die Tür zu seinem Zimmer und blieb ruckartig stehen.
„Was machst du hier?“, fragte er Dwight kühl und funkelte ihn leicht an.
Dieser hob den Kopf und grinste. „Ich wollte mir nur mal ansehen, wie mein kleiner Bruder so lebt.“
„Hör auf mit dem Scheiß, das kauf ich dir nicht ab.“
„Warum so abweisend? Immerhin leben wir unter einem Dach.“
„Seit wann?“
„Seit heute.“ Das Lächeln, was Dwight aufgesetzt hatte, gefiel ihm nicht. Dann sah er sich kurz im Zimmer um, um festzustellen, ob etwas fehlte.
Sein Blick blieb an Dwights Hand hängen. „Was willst du mit meinem Handy?“
„Nichts“, erwiderte Dwight und legte es zurück auf den Tisch. „Es hatte geklingelt und mich ehrlich gesagt tierisch genervt. Und weil du nicht da warst, bin ich halt rangegangen.“
Tristans Blick verdüsterte sich. „Und wer war dran?“
„Falsch verbunden“, meinte er nur mit einem Lächeln. Dann sah er sich noch einmal im Zimmer um. „Hübsch hast du es hier.“
„Verschwinde!“ Dwight seufzte und schüttelte belustigt den Kopf, folgte aber der Anweisung und verließ das Zimmer.
Tristan wandte sich seinem Kleiderschrank zu und zog sich um. Im Spiegel konnte er das Handy erkennen. Er verharrte kurz, schüttelte dann jedoch den Kopf.

 

Ich spielte Beethovens Symphonie No. 9, während ich darauf wartete, dass es Zeit für das Treffen wurde. Unaufhörlich flogen meine Finger über die Tasten und erzeugten so eine Melodie, die mich innerlich beruhigte. Ich verlor mich in der Harmonie aus Melodie, Ton und Klang und meine Gedanken waren allein auf das Stück konzentriert. So war es mir möglich, das Bevorstehende für einen kurzen Moment zu vergessen.
Ich konnte es mir nicht erklären, doch ich ertappte mich des Öfteren dabei, wie ich vom Thema abschweifte und meinen eigenen Gedanken nachging – Gedanken über Tristan. Fast eine Woche war es her, dass ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte. Es kam mir merkwürdigerweise wie eine Ewigkeit vor. Jedes Mal, wenn ich an unsere letzte Begegnung dachte, schnürte sich mein Herz zu und es fühlte sich an, als würde ein Kloß in meinem Halse stecken. Ich versuchte ihn hinunterzuschlucken, doch er blieb, wurde sogar noch stärker, je mehr ich daran dachte.
Ich hatte Schuldgefühle… schreckliche Schuldgefühle. Und ich hoffte, er würde meine Entschuldigung annehmen. Ich schloss die Augen und versuchte so weiterzuspielen. Als kleines Kind wollte ich immer so gut werden, wie die berühmten Pianisten, also übte ich mit verbundenen Augen. Jedoch hatte ich Beethovens Symphonie lange nicht mehr gespielt, sodass ich nach einigen Sekunden einen falschen Ton anschlug und das Stück abrupt beendete.
Meine Augen wieder öffnend, strich ich über die Tasten und hing meinen Gedanken nach. Eine andere Melodie schlich durch meinen Kopf und ich gab dem Drang nach, sie zu summen. Es war genau das gleiche Stück, was Tristan mit mir auf der Gitarre gespielt hatte. Ich blickte auf meine Hände, während ich unaufhörlich weitersummte. Er hatte sie berührt, sie zärtlich in seine genommen und mit ihnen die Seiten angeschlagen. Als die Erinnerungen durch meinen Kopf strömten, begannen meine Hände plötzlich an zu kribbeln. Es fühlte sich an, als würden seine Hände immer noch auf den meinigen liegen. Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich an die verschiedenen Ausdrücke auf seinem Gesicht dachte. Jeder dieser Ausdrücke war ein Teil von ihm. Ein Teil seiner selbst.
„Miss Jacksen?“, rief jemand plötzlich durch das Haus und riss mich somit aus meinen Gedanken. Ich horchte auf. Es war Niles. „Miss Jacksen. Es wird Zeit zu gehen!“, fügte er hinzu.
„Ich komme sofort, Niles!“, antwortete ich ihm und erhob mich.

Die verschiedensten Gebäude schweiften an mir vorbei, während ich im Wagen saß und aus dem Fenster starrte. Das Zentrum unserer Stadt bildete einen starken Kontrast zu der täglichen Fahrt zur Schule. Während sich mir sonst ein Anblick von großen und prachtvollen Villen bot, vereinzelt durch Wälder getrennt, so erhielt ich jetzt einen Ausblick über riesige Backsteingebäude, die dicht an dicht gereiht waren. Auf den Straßen tummelten sich die Menschen und gingen geruht und gelassen, ihrem persönlichen Treiben nach. Doch im Gegensatz zu ihnen, konnte ich das nicht. Je näher wir dem vereinbarten Treffpunkt kamen, desto schneller schlug mein Herz. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so aufgeregt gewesen zu sein. Schließlich kam der Wagen kam zum stehen.
„Wir sind da, Miss.“ Ich bedankte mich bei Niles und verabschiedete mich von ihm. Als ich die Tür öffnete und ausstieg, strahlte mir die Sonne entgegen und machte mich für einen kurzen Moment fast blind. Ich schirmte sie ab und versuchte, Tristan zwischen all den Passanten, ausfindig zu machen. Vor der Bellingham Company stand eine einzelne Person, den Rücken mir zugewandt und offensichtlich auf jemanden wartend. Eilig lief ich auf ihn zu. Mein Herz schlug wieder schneller und ein Lächeln trat auf meine Lippen. Als ich ungefähr die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, drehte sich die Person plötzlich um. Doch es war nicht Tristan.
Abrupt blieb ich stehen. Nachdem auch mich die Person endlich bemerkt hatte, lächelte sie und kam eilig auf mich zu. „Hi, JJ.“
Verwirrt blickte ich in sein Gesicht. „Hallo Dwight.“
„Schön dich zu sehen“, lächelte er weiter und umarmte mich zur Begrüßung. Ich war völlig perplex über diese freundschaftliche Geste.
„Wo ist Tristan?“, fragte ich ihn.
„Oh.“ Sein Blick wurde traurig. „Verstehe, ich bin hier unerwünscht.“
„Nein, nein. So war das nicht gemeint.“
Grinsend hob er den Kopf. „Ich weiß, war auch nur ein kleiner Scherz.“
Verwirrt sah ich ihn an. Was meinte er damit?
„Naja, jedenfalls kann Tristan leider nicht selbst kommen. Die leichte Erkältung von gestern hat sich weiter ausgedehnt und er muss jetzt strickt das Bett hüten.“ Irgendetwas an seinem Lächeln machte mich stutzig. Nur was? „Hallo, JJ?“, fragte er und winkte mit der Hand v
or meinem Gesicht.
„Oh, ja. Geht es ihm gut?“, fragte ich leicht besorgt.
„Dem Umständen entsprechend“, meinte er. „Er hustet die ganze Zeit, hat Fieber und Kopfschmerzen und als ich gegangen bin sogar Anzeichen eines Schüttelfrostes.“
Entsetzt sah ich ihn an. „Kann ich ihm helfen?“
„Lieber nicht. Er ist im Moment höchst ansteckend. Es würde ihm sicher nicht gefallen, wenn du jetzt zu ihm gehen würdest und dann selbst das Bett hüten müsstest“, meinte er immer noch lächelnd.
Ich wandte meinen Blick ab. Vermutlich hatte er Recht. Dennoch wollte ich nichts sehnlicher, als jetzt zu ihm zu fahren. „Danke, dass du extra hierhergekommen bist, um mir Bescheid zu sagen.“
„Kein Problem“, meinte er.
„Dann, auf Wiedersehen“, ich wandte mich um, doch Dwight hielt mich am Arm. „He, wo willst du hin?“
„Nach Hause“, erwiderte ich verdutzt.
„Aber du bist doch gerade erst gekommen.“ Verwirrt sah ich ihn an. Worauf wollte er hinaus? „Ich bin zwar nicht Tristan, aber vielleicht kann ich ja seine Vertretung sein“, grinste er. „Dein Chauffeur ist gerade weg und da wir eh beide gerade hier sind, warum sollten wir uns den Tag vermiesen, indem wir sinnlos hin und zurück gefahren sind?“
Ich biss mir leicht auf die Lippe. Sollte ich zusagen? Tristan hatte mir gesagt, ich solle mich von Dwight fern halten. Wenn er heraus bekam, dass ich mit ihm unterwegs war…
„Ach komm schon. Muss auch nicht lange sein.“ Andererseits fand ich Dwight nett. Er war extra hergekommen, um mir zu sagen, dass Tristan nicht konnte. Und er hatte Recht. So wäre es wenigstens kein sinnloses hin und her fahren.
Ich wandte den Blick ab und wog das Für und Wider ab. „Komm schon. Ich verrate dir auch, warum Tristan nicht so gut auf mich und seine Familie zu sprechen ist“, meinte er ernst.
Ich blickte ihn erstaunt an. Den Grund, warum er wollte, dass ich mich von ihm fern hielt. Tristans Geheimnis. Vielleicht könnte ich ihn dann besser verstehen und unsere nächste Begegnung wäre anders, als unser letzte. Ich schloss kurz die Augen und fasste einen Entschluss.
„Ok“, antwortete ich.
Dwight strahlte. „Super! Dann komm.“ Er fasste mich bei der Hand und zog mich leicht hinter sich her.
„Warte, wo willst du hin?“
„Das wird eine Überraschung“, meinte er, drehte sich um und zwinkerte mir zu. Er hielt immer noch meine Hand. Ich hatte versucht, sie ihm zu entziehen, doch sein Griff war zu fest. Er ließ einfach nicht los. Hoffentlich begegneten wir niemanden, den ich kannte.

Unser erster Stopp war ein riesiges Einkaufscenter, genau im Zentrum der Stadt. Was wollte er nur hier? Hastig zog er mich hinter sich her und hielt dann plötzlich an. Ich wäre beinah in ihn hineingelaufen, doch er hielt mich im letzten Moment noch fest. Dann wandte er sich mir zu und grinste. „Da wären wir.“
„Wo?“, fragte ich und sah ihn verwirrt an. Er antwortete nicht, sondern zeigte mit dem Finger auf ein Schaufenster.
Ich wandte meinen Blick zu Seite, in die Richtung, in die er deutete. Mir stockte der Atem. Ein riesiger Raum voller Klaviere, Keyboards und Flügel schlich sich in mein Blickfeld. „Ich habe gehört, dass du gerne auf Flügeln spielst“, meinte er und musterte mich von der Seite.
Ich lächelte, doch einen Moment später, sah ich ihn verwirrt an. „Was möchtest du hier?“
Er grinste. „Ich will dich spielen hören.“ Mit diesen Worten zog er mich in das Geschäft hinein.
Mein Blick wanderte von Instrument zu Instrument. Am Meisten faszinierten mich die Flügel. Sie alle strömten einen Glanz aus, der mich magisch anzog. Schwarze und weiße gab es am Meisten, doch ich konnte auch ein paar in den Farben Dunkelgrün und –blau, sowie Weinrot erkennen. Sie waren alle einfach traumhaft.
„Entschuldigung, dürfte meine Freundin wohl auf einem ihrer Instrumente spielen?“, fragte Dwight einen Mitarbeiter. Dieser lächelte und nickte dann.
„Komm!“, meinte er dann wieder an mich gewandt. „Auf welchem möchtest du spielen?“
Ich blickte mich im Raum um. Die Entscheidung fiel mir nicht schwer. Ein schwarzer Flügel stach zwischen all den anderen hervor. Er sah dem aus dem Musikraum sehr ähnlich. Ich ging langsam darauf zu und blieb schließlich vor ihm stehen. Dwight stellte sich neben mich. „Oh, eine gute Auswahl“, meinte er.
Ich sah ihn an. „Du kennst dich mit Flügeln aus?“
„Äh… nein. Da gibt es Unterschiede?“, fragte er gespielt entsetzt.
Ich musste lachen. „Ja, die gibt es. Kein Flügel ist gleich, seien sie auch aus dem gleichen Material, mit den gleichen Maßen, von dem gleichen Menschen hergestellt worden. Jeder Flügel ist einzigartig“, lächelte ich ihn an.
Er erwiderte das Lächeln. „Wow. Ich könnte dir stundenlang zuhören.“
Verlegen wandte ich meinen Blick wieder dem Flügel zu.
„Na los, spiel etwas. Ich habe gefragt… du darfst“, meinte er dann.
„Aber, ist das nicht unhöflich?“
„Ach iwo. Was glaubst du, wie viele vorher auf den verschiedensten Flügeln spielen, bevor sie sich für einen entscheiden und ihn kaufen." Ich lächelte. Vermutlich hatte er Recht.
Langsam ging ich um den Flügel herum und setzte mich anschließend. Die Tasten waren schneeweis. Auf ihnen war bestimmt noch nie gespielt worden. Ich brachte meine Finger in Position und begann ein Stück zu spielen. Obwohl er so neu war, spielte er sich wunderbar. Mit Leichtigkeit flogen meine Finger von Taste zu Taste. Die Melodie, die erklang, war traumhaft. Dieser Flügel war nicht irgendein Flügel. Er war mit einem großen Aufwand und viel Liebe hergestellt worden. Sonst wäre er nicht so… unglaublich.
Dwight setzte sich neben mich und sah mir zu, während ich immer weiter spielte. Ich wollte gar nicht mehr aufhören. So war ich auch ein wenig traurig, als das Stück sein Ende fand. Ich atmete einmal tief ein und genoss den letzten Ton, bis er verklang. Einen Moment herrschte Stille, dann klatschten ein paar Passanten, die im Vorbeigehen innegehalten und mit zugehört hatten. Verlegen und leicht lächelnd wandte ich den Kopf ab.
„Wow!“, meinte Dwight nur. „Das war… traumhaft. Ich habe noch nie jemanden so gut Klavier spielen sehen.“
„Danke“, lächelte ich. „Das liegt aber zum Teil an dem Flügel. Er ist perfekt, so einen grandiosen Flügel habe ich noch nie gesehen.“
„Wenn das so ist…“, erwiderte Dwight. „Dann kauf ich ihn dir.“
Entsetzt sah ich ihn an. Meinte er das etwa ernst? Er lächelte und erhob sich. Ich blickte derweil auf das Preisschild. Die Kosten lagen weit mehr im sechsstelligen Bereich.
"Dwight, warte!“ Ich erhob mich und folgte ihm.
„Was denn?“, meinte er nur und grinste mich an.
„Das kann nicht dein ernst sein.“
„Doch ist es.“ Er ging geradewegs auf einen Verkäufer zu.
„Das geht nicht.“ Mehr fiel mir im Moment nicht ein. Ich war viel zu überrascht.
„Und warum nicht?“ Er war endlich stehen geblieben und musterte mich.
„Erstens ist er viel zu teuer.“
„Ach, das ist für mich nicht viel“, lachte er.
„Aber, um es für jemanden auszugeben, den man nicht kennt, schon“, protestierte ich.
„JJ. Zermarter dir mal nicht dein hübsches Köpfchen darüber, für wen ich alles wie viel Geld ausgebe. Du hast wunderbar auf diesem Flügel gespielt, als sei er eigens für dich angefertigt worden. Ich kann ihn doch nicht einfach hierlassen.“
„Aber wir haben schon einen.“ Mein letztes Argument. Mehr viel mir nicht ein. Er konnte doch nicht für so viel Geld einen Flügel kaufen.
„Dann nehme ich ihn halt mit zu mir. Und jedes Mal, wenn du uns besuchst, kannst du darauf spielen. Wenn es Tristan sogar besser geht, kannst du ihm ja was vorspielen. Er würde sich bestimmt freuen.“ Somit war auch mein letztes Argument zerschlagen worden.
Ich wusste nicht, wie ich ihn sonst davon abhalten konnte. Ich seufzte. Lächelnd wandte er sich wieder dem Verkäufer zu und begann die Verhandlungen. Ich blickte zurück zum Flügel. So etwas Traumhaftes zu besitzen, davon hatte ich immer geträumt. Doch ihn auf solch eine Weise zu bekommen, hatte ich nie in Betracht gezogen. Es war nicht richtig. Und doch konnte ich nicht umhin, über Dwights Argumentation zu lächeln. Was Tristan wohl sagen würde, wenn ich ihm was darauf vorspielte? Vielleicht könnten wir auch einmal zusammen spielen. Er auf der Gitarre und ich auf dem Flügel.
„Kommst du, JJ?“ Dwight riss mich aus meinen Gedanken. Ein letztes Mal blickte ich noch den Flügel an, dann wandte ich mich um und verließ mit Dwight das Geschäft.
„Danke“, sagte ich leise, als wir draußen standen.
Er lächelte. „So ist’s brav. Und jetzt komm!“ Er nahm wieder meine Hand.
„Wo gehen wir denn jetzt hin?“
„Nun, ich dachte an ein Café. Eine kleine Erfrischung, wie ein Eis oder dergleichen, würde uns gut tun“, lächelte er.
„Du wolltest mir über dich und Tristan erzählen“, fiel es mir wieder ein.
„Immer der Reihe nach“, meinte er. Ich sah ihn von der Seite her an. Sein Griff um meine Hand war fest, sodass ich meine erneut nicht lösen konnte. Er lächelte ununterbrochen. Dieser Tag schien ihm wirklich Spaß zu machen. Ich hoffte, ihn besser kennenzulernen. Auch wenn es mir Tristan verbot, er war trotz allem ein Teil seiner Familie und ich wollte so viel wie möglich über ihn erfahren.
Den ganzen Weg über sagte keiner von uns ein Wort. Ich wusste auch nicht, worüber wir uns hätten unterhalten können. Von Tristan und ihm wollte er mir noch nichts erzählen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten.
Wir erreichten ein kleines Café. Von außen war es hübsch, es hatte etwas typisch Französisches. Obwohl draußen die Sonne schien, zog er mich hinein und blickte sich um. Viele Menschen, die unterwegs waren, schienen den gleichen Gedanken zu haben wie Dwight, doch er fand einen freien Tisch am Fenster und ging schnurstracks darauf zu, während er mich hinter sich herzog.
„Schön hier, nicht wahr?“, meinte er und blickte lächelnd nach draußen.
Ich nickte nur. Es war wirklich schön. Auf jedem Tisch standen kleine Blumentöpfe, an den Wänden hingen Bilder von Landschaften und in der Luft schwebte der Duft von Kaffee.
„Hier bitte.“ Er reichte mir die Karte und ich nahm sie ihm zögernd ab. Eigentlich war mir nicht nach Essen zumute, deshalb bestellte ich nur einen Kaffee und dazu einen frisch gepressten Orangensaft. „Du kannst auch ein Eis essen“, meinte er.
„Nein danke. Ich habe momentan keinen Hunger.“
„Für dieses Eis hier muss man auch keinen Hunger haben. Nur Appetit.“
Ich lachte, erwiderte jedoch nichts. Dwight lehnte sich zurück und musterte mich. Ich weichte seinen Blicken aus und sah aus dem Fenster.
Menschen strömen hin und her, unterwegs um Besorgungen zu machen oder einfach nur Bekannte zu treffen. Es hatte etwas Hypnotisierendes. Ich konzentrierte mich wieder auf das Geschehen im Raume und stellte fest, dass mich Dwight noch immer anstarrte.
„Habe ich etwas im Gesicht?“, fragte ich ihn erschrocken.
„Nein“, lachte er. „Ich finde es nur faszinierend, dich zu beobachten.“
Leicht errötend wandte ich den Blick wieder ab. Die Situation war mir unangenehm, also versuchte ich das Thema zu wechseln. „Was ist zwischen dir und Tristan vorgefallen?“, fragte ich ihn erneut.
Er lächelte. „Nur nicht so stürmig mit den jungen Pferden. Sonst muss ich nachher noch glauben, dass du nur mit mir ausgehst, weil du diese Frage beantwortet bekommen willst.“
„Oh, nein!“, erwiderte ich.
„Schön. Also alles der Reihe nach. Erzähl mir etwas über dich.“
Verdutzt sah ich ihn an. „Warum?“
„Weil ich mehr über dich wissen möchte. Nur so kann man eine fähige Beziehung aufbauen“, grinste er.
Fähige Beziehung. Ich wusste nichts über Tristan. Waren wir also nicht fähig eine Beziehung aufzubauen?
„JJ, geht es dir nicht gut?“ Dwight beugte sich vor und sah mich besorgt an.
„On nein, mir geht es gut. Ich war gerade nur in Gedanken, entschuldige.“ Ich lächelte.
„Also, erzählst du mir jetzt etwas über dich?“ Die Kellnerin reichte uns unsere Getränke.
„Was soll ich dir denn erzählen?“
„Na zum Beispiel, was deine Hobbies sind, was du für Musik hörst. In welchen Clubs du in der Schule bist. Was du später mal machen möchtest. Vielleicht hast du auch einen Traum?“
Wow, das waren viele Fragen auf einmal. Ich schluckte. Wenn ich ihm etwas erzählen würde, vielleicht würde er mir dann auch von sich und Tristan erzählen.
„Also, mein Hobbies… Ich lese sehr gerne und viel. Das stört meistens Cath und sie regt sich dann immer darüber auf. Außerdem spiele ich sehr gerne Klavier, wie du ja schon weißt. Schon als kleines Kind war ich von dem Flügel fasziniert, den wir in unserem Salon haben. So kamen meine Eltern darauf, mir Unterricht zu geben. Musik höre ich am liebsten die, die ich selber mache. Sonst habe ich keine spezielle Richtung." Während ich erzählte, lächelte ich ununterbrochen.
„Deine Clubs und Zukunftspläne?“, erwiderte Dwight.
„Ich bin im Literaturklub. Ich liebe Bücher über alles und verbringe meine freie Zeit sehr gerne mit ihnen.“ Dwight lachte. „Ich wollte auch noch ein paar andere besuchen, doch irgendwie kam ich nie dazu. Meine Zukunftspläne…“ Ich überlegte kurz. „Ich habe darüber noch nie nachgedacht. Es wäre toll, wenn ich vielleicht etwas mit Musik machen könnte oder mit Büchern. Aber es gibt auch ein paar andere Berufe, die mich interessieren. Vielleicht tue ich es auch meinen Eltern gleich. Seit langem versuchen sie mich schon für ihre Firmen zu interessieren.“
„Was arbeiten sie denn?“
„Nun, mein Vater ist Anwalt und meine Mutter Immobilienmaklerin.“
Dwight nickte. „Und hast du einen Traum?“
Ich lächelte wieder. „Einen Traum nicht direkt, eher einen Wunsch. Träume sind Dinge, die sich nicht erfüllen lassen, sonst wären ja schließlich keine Träume. Das sagt mein Vater immer.“
„Sehr kluger Mann, dein Vater. Und, was ist dann dein Wunsch?“
Eine Pause entstand, in der meine Gedanken abschweiften und sich in die Bilder, die ich gesehen hatte, vertieften.
„Irgendwann möchte ich einmal nach Japan“, antwortete ich abwesend. „Und zwar dann, wenn es Frühling ist. Dann blühen alle Kirschbäume und die Parks sind voll von rosa Blüten. Es ist einfach traumhaft. Ich hab das bislang nur auf Bildern gesehen, doch in Wirklichkeit muss es viel viel schöner sein. Einfach unbeschreiblich.“ Verträumt hing ich meinen Gedanken nach. Dwight nickte nur und sagte nichts.
Ich sah aus dem Fenster. Vielleicht könnte ich ja eines Tages mit Tristan…

Wir waren mittlerweile auf dem Rückweg. Ich saß neben Dwight, der wie Tristan sein eigenes Auto fuhr. Aber bei einem selbstständigen Mann, der mehrere Clubs leitete, war das auch keine Überraschung. Anfangs wollte ich eigentlich Niles anrufen und ihn bitten mich abzuholen, doch Dwight war dagegen. Er meinte, er könne mich mitnehmen, es läge eh auf seinem Wege. Also gab ich nach und nun saß ich auf der Beifahrerseite und sah aus dem Fenster.
Es begann langsam zu dämmern, die Sonne war am Horizont kaum noch zu erkennen. Ich unterdrückte ein leichtes Gähnen. Der Schlafmangel von heute Nacht machte sich nun bemerkbar.
„Ich fand, es war ein schöner Tag.“
„Ich auch“, lächelte ich.
„Vielleicht können wir das ja mal wiederholen?“
Ich erwiderte nichts. Tristan würde das sicherlich nicht erlauben. Ich hatte bereits ein ungutes Gefühl, sollte er herausbekommen, dass ich den heutigen Tag mit Dwight verbracht hatte. Da fiel es mir plötzlich wieder ein. Er hatte mir immer noch nicht gesagt, was zwischen ihm und Tristan vorgefallen war.
„Sagst du es mir jetzt?“
Er wusste, wovon ich sprach. Sein Blick wurde ernst und er starrte auf die Straße. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort.
„Es wird dir nicht gefallen“, meinte er schließlich.
„Ich möchte es trotzdem wissen.“
Er seufzte, dann blickte er kurz zu mir herüber. „Na schön. Ich habe dich gewarnt.“
Ich sah ihn die ganze Zeit an. Die Spannung, die in der Luft lag, war mit bloßen Händen greifbar.
„Er ist einmal auf mich losgegangen.“ Entsetzt sah ich ihn an. „Ja, kaum zu glauben. Der ach so unschuldige Tristan hat seinen eigenen Bruder verprügelt.“
Mein Atem stockte, ich war unfähig mich zu bewegen. „Er hat auf mich eingeschlagen. Immer und immer wieder. Ich musste anschließend ins Krankenhaus. Hatte zwei gebrochene Rippen, eine gebrochene Nase und mehrere Prellungen. Zwei Wochen musste ich dort bleiben, dann durfte ich wieder raus.“ Er musterte mich von der Seite. „Und… immer noch froh darüber, es erfahren zu haben?“
„Warum?“, überging ich seine letzte Aussage.
„Keine Ahnung. Er hatte sich schon immer gegen alles und jeden aufgelehnt. War ein kleiner Rebell. Vermutlich kam er damit nicht klar, dass ich so viele Freunde hatte. Ich weiß es nicht. Aufgrund dessen, das er mein Bruder ist, habe ich auf eine Anzeige verzichtet. Es macht sich nicht gut, wenn man sich an einer Uni bewirbt und in den Akten steht Vorbestrafung aufgrund von Körperverletzung. Er ist trotz allem mein Bruder und ich liebe ihn. Nur leider versteht er das nicht.“
Ich wandte den Blick ab. Konnte das wahr sein? Der Tristan, wie ich ihn kannte, war anders. Auch wenn er ab und zu sich hinreißen ließ und mir seine Wutausbrüche Angst machten… War er wirklich zu so etwas imstande? Sein eigener Bruder? Wir hielten vor meinem Haus. Ich seufzte. Den Rest der Fahrt hatte niemand etwas gesagt. Zu sehr war ich in Gedanken versunken. War das wirklich wahr? Ich konnte es nicht glauben. Ich wollte es auch eigentlich nicht glauben…
„So, da wären wir“, meinte Dwight schließlich.
„Danke, für den lustigen Tag und die Heimfahrt.“
„Kein Problem. Warte, ich helfe dir.“ Er schnallte sich ab und beugte sich dann zu mir herüber. Sein Gesicht war ganz nah dem meinen, während er versuchte, die Tür aufzumachen, was ihm misslang, da er immer wieder danebengriff.
„Hups“, grinste er. „Du machst mich so nervös, JJ, dass ich keinen klaren Verstand mehr fassen kann. Ich bekomm nicht einmal die Tür auf. Aber vielleicht ist das ja auch Schicksal.“ Sein Gesicht näherte sich dem meinigen.
Ich wandte mich ab, doch er fasste mir unters Kinn und zog mein Gesicht in seine Richtung.
„Was…?“
„Sshhht“, machte er und lächelte. Dann, ganz plötzlich, presste er seine Lippen auf die meinigen. Ich zuckte zurück und versuchte mich von ihm zu lösen, doch er packte mich an den Armen und zog mich näher zu sich. Immer drängender wurde sein Kuss. Es war ganz anders, als die von Tristan.
Nach einer Weile löste er sich und begann nun meinen Hals zu liebkosen. Ich versuchte mich aus seinem Griff zu lösen, doch er war viel stärker. Angsterfüllt sah ich ihn an.
„Bitte“, flüsterte ich, doch er ließ nicht ab. „Bitte, hör auf!“
Immer weiter liebkoste er meinen Hals. Seine Hände glitten über meinen ganzen Körper und blieben schließlich zwischen meinen Schenkeln liegen. Mir fuhr ein Schauer durch den ganzen Körper, doch er war nicht vergleichbar mit denen, die mir Tristan bereitete. Dieser fühlte sich unangenehm an.
Er hob wieder seinen Kopf und sah mir tief in die Augen. „JJ, du bist so wunderschön. Hat dir das schon einmal jemand gesagt?“ Ich schluckte und gab ihm keine Antwort. „Vermutlich nicht.“ Er grinste wieder.
Dann, ganz plötzlich ließ er mich los. Ich öffnete schnell die Autotür und rannte zum Haus. Es dauerte eine Weile, bis ich die Tür geöffnet hatte… meine Hände zitterten. Als sie hinter mir ins Schloss fiel, lehnte ich mich mit dem Rücken dagegen und versuchte zur Ruhe zu kommen. Ich konnte das Geräusch von aufheulendem Motor hören und wusste, dass er weg war.
Tief einatmend, ordnete ich meine Gedanken und versuchte dann so unauffällig und natürlich wie möglich in mein Zimmer zu gehen.
„Hallo Schatz“, meinte meine Mutter und kam mir entgegen. „Wie war dein Tag?“
„Schön“, lächelte ich. Ich wollte sie nicht beunruhigen. „Aber ich bin jetzt müde. Wir sind den ganzen Tag unterwegs gewesen.“
„Joanne wird dir bestimmt noch etwas warm machen“, erwiderte sie mit genau dem gleichen Lächeln.
„Nicht nötig. Ich habe in der Stadt gegessen.“
„Na dann, gute Nacht.“
„Nacht“, erwiderte ich, gab ihr einen Kuss auf die Wange und verschwand in meinem Zimmer.
Ich schloss die Augen. Bilder, von dem eben Geschehen tauchten in meinem Kopf auf, also öffnete ich sie wieder. Irgendwie hatte ich das starke Gefühl, mich zu waschen.
ch legte meine Tasche ab und ging ins Bad. Nacheinander zog ich meine Sachen aus. Ich wollte so schnell wie möglich unter die Dusche.
Als ich am Spiegel vorbeikam, schaute ich kurz hinein. Voller Entsetzen betrachtete ich meinen Hals. Was war das? Ein roter Fleck stach schimmernd hervor. Mein Herz raste und ich begann leicht zu zittern. Cath hatte mir davon etwas erzählt. Man nannte es Knutschfleck. Und sie meinte auch, dass das eine Art Markierung war, dass man zu dem jeweiligen gehörte.
Schockiert sah ich mir selbst in die Augen. Was, wenn Tristan es sah?

 

Zufrieden mit sich selbst, fuhr er den langen Weg zu sich nach Hause. Es hatte funktioniert, sein Plan war aufgegangen. Er wollte ihr eigentlich nicht wehtun. Und vergewaltigen schon gar nicht. Es reichte nur ein kleiner Fleck am Halse und Tristan würde vollkommen ausrasten. Sein Grinsen wurde breiter.
Er würde JJ anschreien, mit ihr Schluss machen, sobald man das als Beziehung ansehen konnte. Vermutlich würde er auch auf ihn losgehen, doch das war schließlich Teil seines Planes. JJ würde merken, wie gewalttätig er war und sich von ihm fern halten. Und dann würde er kommen. Als Opfer und gleichzeitig als ihr Retter in der Not. Sein Plan war perfekt.
Es war nur noch eine Frage der Zeit. Aber solange würde es auch nicht mehr dauern. Schließlich war Montag wieder Schule. Er musste nur noch dafür sorgen, dass Tristan und JJ sie wieder vertrugen. Er parkte sein Auto in der Garage, genau neben Tristans. Langsam machte er sich auf den Weg nach oben und fand ihn im Wohnzimmer vor.
„Wo ist Dad?“, fragte Dwight.
„Arbeiten“, murmelten Tristan und starrte gebannt auf den Fernseher. Dwight setzt sich neben ihn. „Was willst du?“, fragte er ihn kühl.
„Ein bisschen fern sehen, so wie mein kleiner Bruder.“
„Hör auf mit dem Schwachsinn. Die Kleiner-Bruder-Nummer nehm' ich dir nicht ab“
„Warum so abweisend? Wie war dein Tag?“
„Wie immer“, erwiderte Tristan kurz angebunden. Dann herrschte Pause.
„Willst du mich nicht fragen, wie mein Samstag so war?“
Tristan wandte den Blick vom Fernseher und musterte ihn kühl. Dann fragte er. „Wie war dein Tag?“ Dwight lächelte. „Wunderbar. Ein hab ein tolles Mädchen getroffen und wir hatten eine Menge Spaß.“
Tristan hob ungläubig eine Augenbraue.
„Ach, ich sollte wohl langsam schlafen gehen.“ Mit diesen Worten erhob sich Dwight wieder. „Ach ja. Kleiner Tipp von mir. Vielleicht solltest du dich mit JJ wieder versöhnen.“
„Was…?“
„Ich bitte dich. Man sieht dir doch an, dass zwischen euch Stunk herrscht. Ich hoffe, es hat nichts mit mir zu tun, ansonsten tut es mir ernsthaft leid.“ Tristan schnaubte. „Nun gut. Ich geh dann mal schlafen. Nacht.“ Als er sich abwandte, konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen. Sein Plan war einfach perfekt.

Laute

Als ich am Montag erwachte, war der Fleck immer noch nicht verschwunden. Ängstlich sah ich in den Spiegel. Tristan würde wieder sauer sein. So wie damals. Wenn nicht sogar noch mehr. Und alles nur, weil ich nicht das gemacht hatte, worum er mich gebeten hatte.
Ich könnte es nicht ertragen, wenn dich jemand anderes so anfassen würde.
Unser erstes Date im Riesenrad fiel mir wieder ein. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Er würde sauer sein. Definitiv.
Ich öffnete meinen Schrank und suchte mir meine Schuluniform aus. Mein Blick fiel auf ein Halstuch, das ich einmal von meiner Mutter geschenkt bekommen habe. Ich nahm es in die Hand und begutachtete es. Nun ja… wenn ich mich vielleicht von ihm fern hielt, solange der Fleck sichtbar war… Vielleicht würde er dann nichts merken.

Die ganze Fahrt zur Schule, starrte ich stumm aus dem Fenster. Andauernd griff ich mir an den Hals, um mich zu vergewissern, dass ich das Tuch auch umhatte. Vielleicht war es etwas auffällig, aber immer noch besser, als wenn man den Fleck sah.
Wir hielten vor der Schule und wie immer wartete Cath auf mich. Ich atmete noch einmal tief durch, dann stieg ich aus. „Morgen Süße“, begrüßte sie mich.
„Guten Morgen", erwiderte ich lächelnd.
„Oh, hübsches Tuch.“
„Danke. Ich hab ein bisschen Halsschmerzen“, log ich. Ich wollte sie nicht anlügen, doch irgendetwas sagte mir, dass es besser wäre.
„Hoffentlich nichts Ernstes“, meinte sie besorgt und sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen.
„Nein. Am Nachmittag ist es bestimmt wieder weg“, lächelte ich.
„Na dann. Wie war dein Wochenende?“, erwiderte sie das Lächeln und ging Richtung Allee.
„Ganz gut.“ Und so berichtete ich ihr von dem Tag mit Dwight. Jedoch ließ ich die Stelle im Auto aus. Sie hätte sich zu sehr aufgeregt. Wenn nicht sogar noch mehr als Tristan. Als ich fertig war, herrschte für einen kurzen Moment Schweigen. Cath war offensichtlich in Gedanken versunken. „Glaubst du ihm? Ich meine die Sache mit Tristan?“
„Ich weiß nicht“, antwortete ich. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so etwas tun würde.“
„Aber du kannst es auch nicht hundertprozentig ausschließen“, fügte sie hinzu. Ich erwiderte nichts. „Ich kann dir nur das raten, was ich dir schon am Freitag geraten habe. Rede mit ihm.“ Und genau das wollte ich vermeiden.
Nichts mehr wollte ich, als mit ihm zu reden. Zum einen, um Klarheit zu schaffen, zum anderen, um ihn endlich wiederzusehen. Doch ich durfte nicht. Sonst bemerkte er vielleicht noch etwas.
„Glaubst du, er ist wieder gesund?“, fragte ich sie, als wir dem Gebäude näher kamen.
„Muss er wohl.“
Ich sah sie verdutzt an. „Wie kommst du darauf?“
„Weil das da sonst eine Fata Morgana wäre“, erwiderte sie und deutete nach vorne.
Ich wandte meinen Blick in die Richtung, in die sie zeigte und sah, in ungefähr 200 Meter Entfernung Tristan und seine Freunde stehen, von einer Schar Mädchen umzingelt. Er selbst war auch dabei und unterhielt sich mit ihnen, wobei er freundlich lächelte.
„Oh, sein Abwehrsystem möchte ich haben. Vorgestern hatte er noch Schüttelfrost und heute steht er hier, als sei nichts gewesen“, meinte Cath belustigt. „Wenn da mal nicht Magie dahinter steckt.“ Sie grinste mich an und ich musste lachen.
Tristan hob den Kopf und sah zu uns herüber. Unwillkürlich griff ich mir an das Halstuch und drückte es fester an meinen Hals. „Vielleicht sollte ich später mit ihm reden“, meinte ich und wich seinem durchdringenden Blick aus.
„Ja, das wäre wirklich besser. Wenn diese Horde von wildgewordenen Gänsen unterwegs ist, sollte man denen besser aus dem Weg gehen. Komm!“, sagte sie und ich war froh, dass ich das Aufeinandertreffen mit Tristan noch eine Weile aufschieben konnte.

Jedenfalls nur so lange, bis ich Mathe hatte. Mr. Wells fuhr mit seinen üblichen Lehrmethoden fort. Anschreiben, Aufgaben lösen, vorrechnen. Immer das gleiche Schema. Ich schrieb eifrig mit. Den Stoff, den wir behandelten, hatte ich bereits Zuhause vorgearbeitet gehabt, so fiel mir das Verstehen nicht schwer und ich konnte ihm gut folgen.
Mr. Wells hatte gerade Aufgaben zum lösen an die Tafel geschrieben und sich an seinen Schreibtisch gesetzt, als plötzlich, ohne vorher anzuklopfen, die Tür aufgerissen wurde. Ich hob den Kopf und griff mir sofort wieder an den Hals. Tristan. Er stand im Türrahmen und blickte der Reihe nach die Schüler an. Ein paar Mädchen kreischten, andere tuschelten. Mr. Wells war von dem plötzlichen Auftauchen so verwirrt, dass er erst einmal nichts sagte.
Dann trafen sich unsere Blick und er kam schnurstracks auf mich zu. Sein Gesicht war ernst, ohne jeglichen Ausdruck. Ich drückte das Tuch noch fester gegen meinen Hals. Tristans Augen verengten sich leicht und er riss mir die Hand weg und somit das Tuch von meinem Hals.
„Tristan, was…“ Ich schluckte, als ich sah, dass er den Fleck mitbekommen hatte. Ich blickte in seine Augen. Nichts. In ihnen war nichts zu sehen. Einfache Leere. Dann packte er mich plötzlich am Arm und zog mich Richtung Tür.
„Aber…“, begann ich.
„Komm mit!“ „Warte Es ist...“
„Ich sagte: Komm mit!“, schrie er fast.
Ich zuckte zusammen und folgte ihm. Mein Herz raste, ich hatte solche Angst. Immer weiter lief er, bis wir schließlich am Musikzimmer ankamen. Er öffnete die Tür, zog mich hinein und warf mich auf die nächst stehende Couch. Dann schloss er die Tür hinter sich und kam näher. „Er hat dich geküsst“, meinte er kalt.
„Ja, aber…“, begann ich, doch er drückte mich gewaltsam zurück und beugte sich über mich.
„Du gehörst zu der Typ Frau, die ihn anzieht. Du hast ihm den Kopf verdreht.“ Ich sah ihn erschrocken an. „Hab ich Recht?!“ Er packte meine Hände und hielt sie über meinen Kopf zusammen, während er sich leicht auf mich setzte. Er war wütend. So wütend. Ich sah es an seinen Augen.
„Nein…“, erwiderte ich, doch er hörte mir nicht zu.
„Hat er es dir richtig besorgt?“ Er beugte sich zu mir herunter. „Hat er dir ins Ohr geflüstert, dass er dich liebt?“ Seine Stimme bebte.
„Ich sagte doch…“
Rrrtsch.
Gewaltsam hatte er meine Bluse entzweigerissen. Er packte mich wieder an den Handgelenken und drehte mich um, sodass ich auf dem Bauch lag, er über mir. „Du hast in seinen Armen gelegen und nach mehr verlangt.“ Er fuhr mir mit der Hand über meinen ganzen Körper.
„Bitte, lass das.“
Doch er hörte nicht auf. „Du warst erregt.“ Er hob meinen Oberkörper hoch und presste mich aggressiv an ihn.
„Hör damit auf, Tristan… Bitte!“ Doch seine Griffe wurden immer stärker.
Er drehte mich wieder um, begann meinen Hals zu küssen und meinen Körper mit seinen Händen zu berühren.
„Bitte!“
Er fuhr mir mit der Hand zwischen die Beine, ich versuchte sie zu schließen, doch er war stärker. Seine Griffe um meine Handgelenke wurden immer fester, sie taten mir mittlerweile höllisch weh. Ich zitterte.
Unaufhörlich warf er mich von einer Position in die andere. Sein Atem keuchte, seine Augen schäumten vor Wut.
„Bitte, hör auf!“, schrie ich. Tränen liefen mir die Wangen herunter. Tristan war so wütend, ich hatte ihn noch nie so erlebt. Er war wie von Sinnen.
Er stocke plötzlich, dann, nach einer kurzen Pause, ließ er mich los und erhob sich. Er verschwand in einem der Nebenräume und nach einiger Zeit hörte ich Wasser platschen. Immer noch zitternd lag ich auf der Couch und war unfähig mich zu bewegen. Er hasste mich. Jetzt hasste er mich bestimmt. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Aber ganz gleich, was ich sagte… der Fleck war für ihn Beweis genug. Jetzt hasste er mich.
Mein Atem beruhigte sich wieder, doch ich zitterte immer noch leicht. Irgendwann hörte ich, wie eine Tür geöffnet wurde und sich Schritte näherten. Ich war nicht fähig, mich zu bewegen. „Es tut mir leid“, hörte ich Tristan sagen. Ich hob leicht den Kopf. „Ich habe die Beherrschung verloren, das wollte ich nicht, aber…“ Seine Stimme war ernst, nicht der Hauch einer Emotion schwang mit. „Es war alles so komisch. Die Sache mit dem Handy… das Gespräch gestern… dein Verhalten heute Morgen. Ich kriegte Panik. Und als ich den Fleck sah, knallten bei mir die Sicherungen durch. Sorry.“ Er drehte sich um und ging Richtung Tür.
>>Nein, bitte… geh nicht. Bitte bleib!<<, schoss es mir durch den Kopf. Ich wandte meinen Kopf zu ihm um und sah ihm hinterher. Mit leiser Stimme, sagte ich: „Nein. Ich muss mich entschuldigen.“
Er blieb stehen, drehte sich jedoch nicht um. „Dwight war gekommen, um mir zu sagen, dass du krank seist und…“
Plötzlich wirbelte er herum. „Was?“
Ich sah ihn erschrocken an. „Er war gekommen, um mir zu sagen, dass du krank seist“, wiederholte ich.
Sein Blick wurde finster und er schlug schließlich gegen die Wand. „Dieser verdammte…“ Seine Augen schlossen sich und er versuchte sich wieder zu beruhigen.
Weil er nichts weiter sagte, fuhr ich fort: „Ich wollte gehen, doch er meinte, dass es sinnlos wäre, jetzt wo wir schon da waren. Er wollte deine Vertretung sein. Er sagte, wenn ich den Tag mit ihm verbringe, erzählt er mir, was zwischen ihm und dir vorgefallen ist.“ Tristan hob den Kopf und sah mich durchdringend an. Ich senkte meinen Blick. „Es tut mir leid. Du hattest es mir verboten, doch ich… ich wollte nur etwas mehr über dich erfahren. Du erzählst so wenig von dir, ich wollte nur wissen, wie du lebst.“
„Warum?“, seine Frage war kühl. Ich schluckte.
„Weil es dein Leben ist. Dwight meinte, dass man keine fähige Beziehung aufbauen kann, wenn man nichts von dem jeweiligen anderen weiß. Ich wollte nur…“ Weiter kam ich nicht, denn eilig lief er auf mich zu und versiegelte meinen Mund, indem er mich küsste.
Doch es war anders als vorhin. Sein Kuss war zärtlich und er fasste mich leicht am Kopf. Mein Herz begann wieder zu rasen und ich schloss die Augen. Als er sich wieder von mir löste, sah er mir tief in die Augen. Irgendetwas schimmerte in ihnen, doch ich konnte diesen Ausdruck nicht deuten.
Ich senkte den Blick. „Ich habe nicht mit ihm geschlafen“, flüsterte ich. Schweigen. Dann antwortete er ernst: „Ich weiß. Ich weiß, dass du kein Mädchen für eine Nacht bist und dich nicht von jedem verführen lässt. Aber ich bitte dich…“ Seine Stimme zitterte leicht und er senkte den Kopf. „Diese furchtbare Eifersucht bringt mich um den Verstand. Ich kann es nicht ertragen, dich mit einem anderen zu sehen. Niemals.“ Er umklammerte wieder meine Handgelenke und ich sah ihn verwundert an.
Eifersucht… genau das hatte Cath gemeint. „Es tut mir leid“, flüsterte ich wieder.
Er hob den Kopf und sah mir tief in die Augen. Es schien, als suchte er etwas in ihnen. Dann, ganz plötzlich sah er an mir herunter und er hielt sich die Hand vors Gesicht und wandte sich ab.
„Was ist?“, fragte ich ihn.
„Nichts“, erwiderte er. „Ich schau mal, ob ich was zum Anziehen für dich finde. Warte kurz.“ Mit diesen Worten stand er auf und verließ den Raum. Erstaunt blickte ich an mir herunter und bemerkte, dass man einen Teil meines Oberkörpers gut durch die zerrissene Bluse erkennen konnte. Sofort schoss mir die Röte ins Gesicht.

 

Als er die Tür hinter sich schloss, lehnte er sich kurzzeitig gegen sie und versuchte sich zu beruhigen. Dass sein Bruder so weit gehen würde, hatte er nie geglaubt. Am Freitag, als er in seinem Zimmer war… er musste mit JJ telefoniert und sie zu diesem Treffen gelockt haben.
Pah, von wegen falsch verbunden. Dieser verdammte… Doch es brachte nichts, sich über Dwight aufzuregen. Er selbst war schließlich auch nicht besser gewesen. Warum nur, hatte er sich so gehen lassen? Er hatte JJ verletzt. In diesem Moment schienen seine ganzen Gedanken nur aus der Vorstellung bestanden zu haben, wie sie in seinen Armen gelegen hatte. Da sah er rot.
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und durch die Haare. Sein Atem hatte sich wieder beruhigt und auch sein Verstand war wieder einigermaßen klar. Und dann eben gerade. Als er sie hielt und bemerkte, dass ihr Busen frei lag, nur von einem kleinen Hauch von Stoff bedeckt, da war es beinahe wieder um ihn geschehen. Nur mit Mühe konnte er den Blick von ihr abwenden und seine Konzentration auf etwas anderes lenken. Vermutlich hätte er sich sonst nicht beherrschen können. Doch allein schon der Gedanke an dieses Bild, ließ sein Blut in Wallungen geraten.
Er schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Es war wirklich das Beste, wenn er nach einer neuen Bluse für sie suchte.

 

Ich erhob mich und blickte mich im Raum um. Da niemand da war, fühlte ich mich ein bisschen verloren. Die Decke wirkte so hoch und der Raum schien sich ins unermessliche zu strecken. Bislang hatte ich ihn nur betreten, wenn Tristan und seine Freunde da waren und zu diesem Zeitpunkt, war mir die Größe nie wirklich bewusst geworden.
Ich lief an einigen Säulen vorbei und kam vor dem Flügel zum Stehen. Sanft glitten meine Finger über das kalte Holz, doch ich hatte nicht das Bedürfnis auf ihm zu spielen. In letzter Zeit hatte ich es oft genug getan.
Meine Beine setzten sich wieder in Bewegung und ich ging geradewegs auf einen Spiegel zu. Ich sah mir selbst ins Gesicht. Meine braunen Augen waren wie immer und auch mein Mund und meine Haare zeigten keine Veränderung. Nur der rote Fleck, der sich langsam lila färbte, deutete darauf hin, dass sich in meinem Leben irgendetwas verändert hatte. Der Fleck und die Bluse, die zerrissen über meinen Schultern hing.
Ich führte meine Hand an meinen Hals und strich sanft über die besagte Stelle. Die Erinnerung an das Geschehen im Auto kam zurück, doch ich schloss kurz die Augen und verdrängte sie. Tristan war so wütend gewesen. Nur wegen eines einzigen Fleckes.
Die Tür flog plötzlich auf und Tristan trat herein. In der Hand hielt er etwas Weißes. „Ich hab noch eine Bluse…“, begann er, doch als er mich sah, stockte er. Verdutzt sah ich ihn an. Seine Augen musterten mich und glitten über meinen ganzen Körper. Meine Wangen färbten sich rot und mein Gesicht brannte.
Langsam kam er auf mich zu. Mein Herz raste und ich war unfähig mich zu bewegen. Kurz vor mir blieb er stehen und sah auf mich herab. Mit der linken Hand an der Wand abstützend, senkte er seinen Kopf und sah mir tief in die Augen. Verlegen wandte ich meinen Blick ab. Irgendetwas an seinem Ausdruck, lies mein Blut kochen und mein Gesicht glühen.
Eine Weile betrachtete er mich nur, dann senkte er den Kopf noch weiter und legte schließlich seine Lippen sanft auf meinen Hals. Ein Kribbeln durchzuckte meinen ganzen Körper und mein Atem ging schneller. Sein Mund wanderte weiter den Hals hinunter und hinterließ ein angenehmes Gefühl. Doch unwillkürlich zuckte ich zusammen. Das waren die Stellen, wo er mich geküsst hatte.
„Nicht“, flüsterte ich. Er hob seinen Blick und sah mich ernst an. „Da hat Dwight…“ Doch weiter kam ich nicht. Ich konnte einfach nicht weiterreden, aus Angst er würde etwas missverstehen.
Seine Augen verengten sich leicht. Dann hob er mich plötzlich hoch und brachte mich zur nächsten Couch. Er setzte sich, während er mich zu sich zog. Ich fiel nach vorne und landete schließlich auf seinem Schoß, meine Beine links und rechts von seinen geschlossenen.
„Tja, dann müssen wir wohl desinfizieren“, grinste er.
Verwirrt sah ich ihn an. Was wollte er desinfizieren. Doch meine Antwort bekam ich sogleich, als er meine Hände in seine nahm. „Er hat deine Hand gehalten, nicht wahr?“ Ich erwiderte nichts, zu erstaunt war ich über diese Frage. Doch mein Schweigen war ihm Aussage genug.
Er führte sie an sein Gesicht und küsste sie vereinzelt. Mein Herz raste. Wie kam es, dass er mich mit einer einfachen Gestik, so durcheinander brachte? Er hob meine rechte Hand höher und fuhr, vom Handgelenk beginnend, mit seiner Liebkosung fort. „Hat er dich am Arm berührt?“, fragte er wieder.
Inzwischen kribbelte es in meinem ganzen Körper und mein Gesicht glühte wieder. Schließlich kam er an meinem Schlüsselbein an wanderte über meinen ganzen Hals. Er stoppte kurz.
„Hm“, meinte er und grinste dann wieder. „Vielleicht sollte ich seines zu meinem machen.“
Ich verstand nicht ganz. Was meinte er damit? Doch Tristan legte seinen Mund wieder auf meinen Hals und liebkoste ihn. Genau da, wo Dwights Fleck war. Ich keuchte und mein ganzer Körper begann zu zittern. Als er sich erneut löste, sah ich an mir hinunter und ich erschrak leicht. Der Fleck war größer geworden.
„Jetzt kannst du sagen, dass er von mir ist.“ Ich wandte mich ihm wieder zu und er grinste mich an. Dann zog er mich an den Handgelenken näher zu sich heran. „Sag mir, JJ. Wo hat er dich noch berührt?“Ich schluckte, unfähig etwas zu sagen.
Unbewusst fuhr ich mir mit der Zunge über die trockenen Lippen. Sein Gesicht wurde breiter. „Na, wenn das so ist.“ Sanft legte er seine Lippen auf die meinigen und küsste mich. Mit einer Hand, fuhr er über mein Gesicht, den Hals hinab und blieb schließlich an meinem Dekolleté hängen. Er streichelte sanft über die Wölbungen, während sein Kuss immer intensiver wurde. Seine Zunge spielte begierig mit meiner und unkontrollierbar entfuhr mir ein leichter Seufzer. Mittlerweile raste mein Herz so stark, dass ich Angst hatte, es würde herausspringen.
Seine Hand glitt wieder hoch und streifte meine Bluse von meiner Schulter. Ihr folgte sein Mund, denn er löste sich von meinen Lippen und bedeckte meine Schulter mit Küssen, während seine Hand an meinem nackten Rücken hinunterglitt. Immer weiter streichelte er mich, über den ganzen Körper und kam schließlich zwischen meinen Schenkeln zum liegen.
Ich zuckte zusammen, mein Blut raste durch meinen Körper und es brannte. Ich versuchte unwillkürlich meine Beine zu schließen, doch in der Position war es mir nicht möglich. Er hob seinen Kopf direkt neben mein Ohr und grinste. „Sag, wo hat er dich noch berührt?“ Seine Hand lag still zwischen meinen Beinen, doch es reichte trotzdem, um mich am ganzen Körper zittern zu lassen. Aber es war ein ganz anderes Zittern. Ein Zittern, was ich bis dahin noch nicht kannte.
Ich kniff meine Augen zusammen und krallte mich in sein Hemd. „Sag es, JJ. Wo hat er dich berührt?“, hauchte er mir ins Ohr. Es durchzuckte mich und mein Atem ging stoßweise. Was machte er nur mit mir? Wie schaffte er es, dass ich mich so komisch fühlte? „Hat er dich etwa auch hier berührt?“ Seine Hand glitt ein Stückchen weiter über meine Schenkel.
Ich krallte mich instinktiv noch fester an ihn. Unkontrollierbar entfuhr mir ein Laut, den ich nicht definieren konnte! „Sag es, JJ“, fuhr er mit seiner rauchigen Stimme fort. „Sag es! Hat er dich hier berührt?“ Ich konnte nicht antworten. Meine Lippen waren fest aufeinander gepresst, ich hatte Angst, dass aus ihnen erneut dieses Geräusch hervorkam. Doch irgendwie wollte ich auch nicht, dass er aufhörte. Ich wusste nicht warum, doch die Gefühle und Reaktionen, die er in mir hervorrief, waren angenehm und schienen nach mehr zu verlangen. So nickte ich nur.
Sofort glitt seine Hand weiter und ich zuckte. Er grinste und begann wieder meinen Hals zu liebkosen. Während er mit der einen Hand mich am Rücken näher an sich heran drückte, fuhr er mit der anderen immer weiter die Innenseite meiner Schenkel entlang. Er glitt unter meinen Rock und berührte schließlich eine empfindsame Stelle. Unkontrollierbar entfuhr mir ein weiterer Laut und ich sah ihn keuchend an. Seine Augen wanderten über mein Gesicht und blieben schließlich an meinen Augen hängen. Er musterte mich, während er die Stelle ein weiteres Mal berührte. Sofort durchzuckte es mich erneut und ich kniff wieder die Augen zusammen. Ich griff mir mit der Hand an meinen Mund und versuchte ihn so vor den Lauten zu schließen.
„Was machst du?“, fragte er und hielt für einen Moment inne.
Nach einer kurzen Pause, flüsterte ich: „Ich gebe Laute von mir, die ich nicht kenne. Es ist mir unangenehm, sie aus meinem Mund zu hören.“ Er grinste wieder und berührte mich erneut. Meine Hand drückte sich fester auf meinen Mund, doch ich konnte nicht umhin, dass mir das Geräusch durch die Kehle fuhr.
Er beugte sich vor, direkt an mein Ohr. „Lass das, nimm die Hand weg.“ Ich schüttelte den Kopf und schnappte nach Luft. „Nimm sie weg.“ Ich schüttelte wieder den Kopf. Tristan seufzte. „Ich will dich sehen und hören, JJ. Ich will das alles hier zu meinem kleinen Geheimnis machen“, grinste er.
Das war nicht fair, dachte ich mir. Wusste er nicht, dass ich mittlerweile eine Schwäche für seine Geheimnisse hatte? Langsam löste ich die Hand und sofort entfuhr mir ein weiteres Mal ein Geräusch. Doch dieses Mal hörte er nicht auf, sondern begann mich durchdringend an dieser Stelle zu berühren. Gleichzeitig legte er seine Lippen auf die meinigen und erstickte so meinen Schwall von undefinierbaren Lauten. Ich krallte mich fester in sein Hemd, während ich keuchend Luft holte und mich aufbäumte. Mein Kopf vergrub sich in seiner Schulter, als es mich am ganzen Körper durchzuckte.

Ich weiß nicht, wie lange wir in dieser Position verharrten. Vielleicht ein paar Minuten oder gar Stunden? Tristan hatte irgendwann seine Hand von der empfindsamen Stelle gelöst und mich fest in seine Arme geschlossen. Mein Kopf lag immer noch auf seiner Schulter, während ich versuchte, mich zu beruhigen und das Zittern einzustellen.
Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und atmete seinen Duft ein. Es hatte etwas Berauschendes und unwillkürlich vergrub ich meinen Kopf noch tiefer in seinen Hals. Ein Lachen entfuhr ihm.
Die ganze Zeit über sprach keiner von uns ein Wort. Wir saßen einfach nur da und hingen unseren eigenen Gedanken nach. Das Geschehene eben gerade verwirrte mich sehr. Im Grunde wusste ich, was es bedeutete. Cath hatte viel darüber erzählt. Doch verstehen, tat ich nichts.
Ich merkte, wie sich Tristan unter mir bewegte und richtete mich auf. Er griff nach rechts - über der Lehne hing die Bluse, die er besorgt hatte - und nahm sie. Dann wandte er sich mir wieder zu. Er blickte mir die ganze Zeit in die Augen, während er mir die Bluse überwarf und sie mir anzog. Zärtlich schob er meine Arme durch die Ärmel und glitt dann sanft an ihnen hinunter, so als wolle er dem dünnen Stoff den Weg zeigen. Erst als er bei den Knöpfen angelangte, senkte er den Blick.
Langsam knöpfte er einen nach dem anderen zu, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Mein Herz machte wieder einen Hüpfer, als er über meine Haut strich und ich zitterte leicht. Das entlockte ihm ein Lächeln.
Als er fertig war, hob er den Blick und blieb an dem Fleck an meinem Hals hängen. Sanft strich er herüber. Seine Augen waren leer, ganz so, als ob er in Gedanken versunken war.
Nach einer Pause flüsterte er: „Es tut mir leid.“ Verwirrt und leicht beunruhigt, sah ich ihn an. Was meinte er damit? „Es tut mir so verdammt leid, JJ“, wiederholte er etwas lauter. Ich konnte ihm irgendwie nicht ganz folgen. Was tat ihm leid? „Das hätte nicht passieren dürfen. Ich hatte es dir versprochen.“ Er atmete einmal tief ein und hob dann den Blick.
Sein Ausdruck war ernst, ohne auch nur den Hauch eines Lächelns. Doch seine Augen… Als ich in seine Augen sah, schnürte es mir den Hals zu und ich musste mehrmals schlucken, um das komische Gefühl teilweise zu verdrängen. „Ich hatte es dir versprochen“, fuhr er mit rauchiger Stimme fort. „Ich hatte dir versprochen, dich zu beschützen. Dir versprochen, dass dir nie jemand mehr wehtun werde. Damals am Pool wollte ich nicht, dass dir noch einmal so etwas wiederfährt. Vor allem nicht wegen mir.“ Kurzeitig löste er den Blick von meinen Augen und starrte aus dem Fenster. Er seufzte, während er sich offensichtlich an damals erinnerte.
Damals. Es schien so lange her zu sein. Dabei waren es gerade mal 2 Wochen gewesen. „Ich hatte es dir versprochen… und ich konnte es nicht einhalten. Wegen mir musstest du diese Angst durchleben. Wegen mir hat er dir so zugesetzt. Dabei hatte ich es dir doch versprochen.“ Sein Blick wurde verzerrt. Er machte sich selbst Vorwürfe.
Um ihn zu beruhigen, lächelte ich. „Das ist doch nicht so schlimm. Es war mein Fehler. Hätte ich bei dir angerufen und…“
„Alles nur, weil ich mich in dein Leben gedrängt habe“, ignorierte er meine Antwort. Eine Pause entstand, in der keiner von uns etwas sagte. Er wandte sich vom Fenster ab und sah mir in die Augen. Doch lange schien er meinem verwirrten Blick nicht standzuhalten, denn er senkte den Kopf und flüsterte: „Vielleicht wäre es besser, wenn wir… wenn ich…“
>>Nein!<< dachte ich auf einmal. Mein Herz schlug schneller und erneut schnürte es mir den Hals zu. Obwohl er nicht zu Ende gesprochen hatte, hatte ich eine Ahnung von dem, was er sagen wollte. Von dem, was er tun wollte. Und ich hatte auf unerklärliche Weise Angst davor.
Mein Atem ging schwer, während ich einfach nur dasaß und darauf wartete, dass er etwas sagte. In Wirklichkeit wollte ich es nicht hören. Die Vorstellung, dass diese Worte über seine Lippen kamen; dass er in diesem Moment daran dachte, ließ in mir leichte Panik aufsteigen. Es war… unbeschreiblich. Ich kannte ihn kaum, wusste nicht, wer er wirklich war… Und dann war da noch die Sache, von der Dwight erzählt hatte. Und dennoch… wie kam es, dass ich mich trotz allem zu ihm hingezogen fühlte? Warum hoffte ich in letzter Zeit in jedem Gesicht, das mir begegnete, seines zu sehen? Seit dem ersten Moment, seit der ersten Begegnung hatte er mein Leben komplett verändert. Ich träumte im Unterricht, Melodien gingen mir durch den Kopf, die ich entweder vor langer Zeit das letzte Mal gehört hatte oder ganz plötzlich neu entstanden.
Ich schluckte und sah zur Seite. Mein Blick blieb an dem Flügel hängen. Selbst die Lust am Spielen nahm er mir. War das gut?
Er hat auf mich eingeschlagen. Immer und immer wieder.
Ich zuckte bei der Erinnerung an Dwights Worten zusammen. Er hatte mir von einem Tristan erzählt, den ich nicht kannte, einem völlig fremden Tristan. Doch wenn ich an eben dachte…
Ich schloss die Augen und versuchte den Gedanken zu verdrängen. Tristan war nicht so. Er war ganz bestimmt nicht so.
>>Und wenn doch?<< Ich schüttelte den Kopf und versuchte den Gedanken loszuwerden.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“ Erschrocken öffnete ich meine Augen und blickte auf. Tristan musterte mich leicht besorgt. Er hatte meine Hände in seine genommen und hielt sie sich kurz vor das Gesicht.
„Ja“, erwiderte ich und lächelte.
Seine Augen verengten sich leicht. Dann grinste er: „Lügnerin.“ Mein Herz schlug schneller. Wie ich dieses Grinsen in letzter Zeit vermisst hatte. Es gehörte zu dem Tristan, den ich kennengelernt hatte. Zu dem, der meine Aufmerksamkeit gewann… und zu dem, von dem ich glaubte, dass es der wahre Tristan war. „Woran hast du gerade gedacht?“
„An Dwight“, antwortete ich, ohne darüber nachzudenken. Seine Augen weiteten sich leicht, der Druck um meine Hände wurde fester und sein Atem wurde schwerer. „Über das, was er gesagt hatte“, fügte ich kleinlaut hinzu.
Er sollte nicht sauer werden. Nicht schon wieder. Ein Blick in seine Augen verriet mir, dass er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. „Und was hat er dir gesagt?“
Ich wollte ihm nicht antworten. Die Stimme in meinem Kopf gab keine Ruhe. Ich hatte Angst, dass sie Bestätigung fand.
„Was hat er gesagt, JJ?“
Ich wandte mich ab und wollte aufstehen, doch er hielt mich fest und zwang mich, ihm ins Gesicht zu sehen. Seine Augen spiegelten die verschiedensten Gefühle wieder: Wut, Angst, Verzweiflung und noch ein paar andere.
„JJ, ich bitte dir, sag es mir.“
Ich schluckte. „Unter einer Bedingung.“ Ich war selbst ganz überrascht, wie fest meine Stimme auf einmal klang.
Leicht verwirrt sah mich Tristan an. Damit hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Doch ich konnte nicht anders, und fuhr fort. „Ich sage es dir, wenn du mir versprichst, den Satz von vorhin nicht zu beenden.“
„Welchen Satz?“
„Den du vorhin angefangen hattest: ‚Es wäre besser wenn…‘ Ich möchte nicht, dass du ihn beendest. Ich möchte nicht einmal, dass du daran denkst.“ Entsetzt über meine eigenen Worte, wandte ich den Blick ab. Irgendwie war mir das eben gesagte peinlich. Und die Tatsache, dass Tristan jetzt grinste, ließ mich nicht besser fühlen.
„Warum nicht?“ Verwirrt sah ich ihn an. „Warum willst du ihn nicht hören?“ Sein Grinsen wurde breiter und sein Gesicht kam näher. „Woher willst du wissen, was ich sagen wollte?“ Mein Herz schlug schneller und die Röte schoss mir ins Gesicht. Wenn er nicht das sagen wollte… was meinte er dann?
Sein Gesicht lag ganz dicht neben meinem und er flüsterte mir ins Ohr: „Vielleicht wäre es besser, wenn ich… dich ab sofort nicht mehr aus den Augen lasse. So muss ich auch keine Angst haben, dass mein kleines Kätzchen verloren geht oder mir gar von einem anderen weggeschnappt wird.“
Einen Moment sah ich ihn erschrocken an. Dann musste ich lachen. Die Vorstellung, dass er mich als Kätzchen bezeichnete, fand ich zu komisch.
Doch Tristan erstickte meinen Lachanfall, indem er plötzlich seine Lippen auf meine legte und begierig mit meiner Zunge spielte. Mein Atem ging schneller und ich musste keuchen. Kurzzeitig löste er sich von mir. „Es tut mir leid, JJ. Ich wollte nicht, dass du dachtest, ich...“ Dann grinste er. „Sag bloß, du hattest Angst?“
Mir stieg die Röte ins Gesicht und ich wandte meinen Blick erneut ab. Auf diese Frage wollte ich nun wirklich nicht antworten.
„Du hattest Angst, ich könnte Schluss machen, nicht wahr, JJ?“
Ich blickte im ganzen Zimmer umher, nur ihn mied ich anzusehen. Das belustigte ihn noch mehr. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass die Stunde bald vorbei war, also erhob ich mich und wollte gehen.
„Nein!“ Tristan sprang ebenfalls vom Sofa auf und umfasste mich von hinten. „Ich habe noch nicht gesagt, dass du gehen darfst.“
Während seine rechte Hand unter meine Blus glitt, legte er seine Lippen auf meinen Hals und wanderte hoch an mein Ohr zu meiner Wange. „Die Vorstellung war einfach zu schön“, flüsterte er. Sein Atem kribbelte auf meiner Haut und hinterließ ein wohliges Gefühl.
Plötzlich klingelte es und Tristan stoppte kurz. Dann seufzte er. „Nirgends hat man seine Ruhe.“ Er hob den Kopf und wandte sich an mich. „Schade. Dann müssen wir wohl ein andern Mal weitermachen.“ Er küsste mich noch einmal auf den Mund und löste sich dann von mir.
Verwirrt sah ich ihn an, während er versuchte meine Bluse wieder zu Recht zu rücken. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, was Dwight dir erzählt hat.“ Unwillkürlich riss er mich aus meinen Gedanken. Sein Blick wurde eine Spur ernster. „Wir haben leider auch keine Zeit mehr. Ich vermute, dass es etwas mit mir zu tun hat. Wir reden später drüber.“ Er grinste mich an. „Jetzt sieht jeder, dass du zu mir gehörst.“
Verwirrung breitete sich auf meinem Gesicht aus. Zur Antwort hob Tristan nur die Hand und deutete auf meinen Hals. Als ich herunter sah, erblickte ich den Fleck, der jetzt durch ihn wieder knallrot war.
„Oh“, erwiderte ich. Dann sah ich mich um. „Wo ist mein Tuch?“
„Im Klassenzimmer. Ich glaube wir haben es da vergessen.“ Sein Grinsen wurde breiter und ich bekam ein mulmiges Gefühl dabei.
„Aber wie verstecke ich das denn jetzt?“
Tristan lachte kurz. „Wie gesagt, jetzt weiß jeder, dass du zu mir gehörst.“ Mit diesen Worten nahm er mich bei der Hand und zog mich aus dem Raum.

 

Er schloss die Tür hinter sich und warf den Schlüsselbund in die Schale, gleich neben dem Eingang. Bei der Erinnerung an den heutigen Tag musste er grinsen.
Sie haben sie alle angesehen. Jeder einzelne, der ihnen über den Weg lief. Erst in ihre Gesichter, dann glitt der Blick zu JJs Hals und im nächsten Augenblick weiteten sich die Augen und man konnte förmlich sehen, was sie dachten.
Ihr war es unangenehm gewesen, das hatte er in ihrem Gesicht gesehen, welches sich jedes Mal rot gefärbt hatte, sobald ein neuer dieses Kunstwerk bemerkt hatte. Brian, Jake und dem Rest war er glücklicherweise nicht begegnet. Sie wussten zwar, was zwischen JJ und ihm lief, doch wenn sie sahen, wie offen er damit umging… Nun, Brian hätte ihn vermutlich geköpft. Er musste grinsen. Oder es zumindest versucht.
Erschöpft ging er durch die große Eingangshalle ins Wohnzimmer. Er wollte jetzt einfach nur die Beine hochlegen und ein bisschen fern sehen. Doch daraus wurde nichts. Als er nämlich den Raum betrat, saß dort niemand geringeres als Dwight, der nun nicht gerade dazu beitrug, seine Laune zu bessern.
„Hallo Bruderherz.“ Er drehte sich nicht um, sondern starrte weiterhin auf die Mattscheibe. „Schönen Tag gehabt?“ Tristan ignorierte seine Frage und ließ sich neben ihm nieder. Auch wenn es ihm missfiel, klein beigeben und einfach wieder verschwinden würde er nicht.
„Hallo? Erde an Tristan? Verstehst du mich? Ich hab dich gefragt, ob du einen schönen Tag hattest.“ Dwight wandte ihm sein Gesicht zu und grinste ihn an.
„Hm“, grummelte er zur Antwort und versuchte sich auf den Film zu konzentrieren.
„Ach“, begann Dwight wieder. „Sag bloß, du hast immer noch Stress mit JJ? Also ich an deiner Stelle…“
Es wäre so einfach. So ganz einfach. Er bräuchte nur seine linke Hand auszustrecken, sie auf Dwights Hinterkopf zu legen und sein Gesicht volle Kanne auf den Tisch knallen zu lassen. So richtig Whamm.
Doch er musste sich beruhigen. Er durfte sich nie wieder so gehen lassen. Das hatte er sich damals geschworen…
Er schloss kurz die Augen, um die Erinnerung zu verdrängen und atmete tief ein.
„Hey, sprichst du jetzt etwa nicht mehr mit mir?“
„Sag bloß, dass beunruhigt dich auf einmal.“ Leicht genervt wandte er den Blick zur Seite und sah Dwight in die Augen. Dieser grinste, doch noch bevor er etwas sagen konnte, klingelte es an der Tür.
„Na endlich, die lassen sich aber auch Zeit.“ Gut gelaunt sprang Dwight von dem Sofa auf und machte Anstalten, die Tür zu öffnen.
Tristan erhob sich ebenfalls und lehnte sich lässig an den Türrahmen. Es interessierte ihn, weswegen Dwight so gut gelaunt war.
„Guten Tag“, lächelte dieser freundlich, während er zwei Herren, einem im Anzug und einem anderen in normaler Arbeitskleidung die Tür öffnete.
„Wir haben ihre Bestellung, Mr. Harper.“ Der Anzugträger hielt ihm ein Klemmbrett entgegen.
„Perfekt“, erwiderte Dwight und unterschrieb das Dokument. Danach drehte sich der andere Mann um, und winkte jemanden zu. „Los, bringt es rein.“
Die beiden Männer traten zur Seite und auch Dwight ging ein paar Schritte zurück, während er freudestrahlend das Geschehen außerhalb des Hauses betrachtete.
Tristan zog die Brauen zusammen. Was in Gottes Namen, hatte er sich nun wieder bestellt? Doch seine Frage wurde gleich darauf beantwortet, als zwei Männer rückwärts den Türrahmen erreichten und versuchten, etwas hindurch zutragen. Das gelang ihnen jedoch nicht, da dafür der Platz offensichtlich zu klein war.
„Einen Moment, ich öffne noch schnell die andere Seite. Wenn sie bitte ein Stück zurückgehen und kurz warten?!“
„Kein Problem“, stöhnte einer der beiden Männer. „Lassen Sie sich ruhig Zeit. Wir betrachten derweil ihren schönen Garten.“
Tristan musste sich ein Lachen verkneifen. Es war dem Mann anzuhören, dass es ihn einen sch*** interessierte, wie der Garten aussah. Er wollte nur so schnell wie möglich die Bestellung abgeben.
Dwight öffnete zwei Scharniere und ließ die zweite Tür nach innen schwänken. Ein Glück, dass sie eine Doppeltür hatten, dachte sich Tristan. Dwight trat erneut ein paar Schritte zur Seite und ließ die Männer passieren.
Insgesamt trugen 6 Männer an einem großen, in mit fast durchsichtiger Schutzfolie eingewickelten Möbelstück. Sie stöhnten, während sie es durch die Tür verfrachteten.
Tristan konnte nur mit dem Kopf schütteln. Anstatt anzufassen, stand Dwight nur daneben und dirigierte die Richtung an. Mit einem leisen Seufzer löste er sich von dem Türrahmen und trat zu den Männern. „Kann ich vielleicht helfen?“
Der Mann, der ihm am nächsten stand, lächelte gequält. „Ach nein. Überlassen Sie das ruhig uns. Schließlich sind wir dafür da.“
Tristan rollte nur mit den Augen und griff einfach zu. Er hatte jetzt nicht große Lust dazu, mit dem Mann hier noch zu diskutieren. Obwohl er versuchte entsetzt dreinzuschauen, konnte man trotzdem in den Gesichtern aller sehen, dass sie dankbar über seine Hilfe waren.
Gemeinsam trugen sie das Stück in den Salon, wo Dwight es direkt in die Mitte haben wollte. Verwundert blickte es sich Tristan genauer an. Es war ein Flügel. Besser gesagt, ein schwarzer. Er erinnerte ihn ein bisschen an den aus dem Musikzimmer. Verwundert hob er den Blick. Was wollte Dwight mit einem Flügel? Er war überhaupt nicht musikalisch, hatte sich immer davor gesträubt Unterricht zu nehmen. Er könnte nicht einmal Alle meine Entchen spielen, geschweige denn hatte er Ahnung, wie die normale c-Dur Tonleiter war. Warum also wollte er auf einmal einen Flügel haben, noch dazu einen so teuren?
„Ich danke Ihnen“, verabschiedete sich Dwight von den Handwerkern und brachte sie zur Tür. Als er sie hinter sich geschlossen hatte, kam er zurück und gesellte sich zu Tristan. „Na, was sagst du?“
Skeptisch blickte Tristan ihn an. „Was soll ich dazu sagen? Das ist ein Flügel. Ein Instrument, von dem ich mir sicher war, dass du es mit einem Keyboard verwechseln würdest.“
Dwight lachte. „Ja, das hätte ich vermutlich wirklich. Bis Samstag.“ Er grinste, während er auf den Flügel zutrat und begann, die Folie von dem Instrument zu trennen.
Tristan jedoch machte keinerlei Anstalten ihm zu helfen. Leicht wütend starrte er ihn an. Samstag war der Tag, wo er sich mit JJ getroffen hatte. Was hatten sie zusammen gemacht?
„Ist er nicht schön. Den hat JJ ausgesucht.“ Es war, als ob man ihm in die Magengrube schlug.
„JJ?“, presste Tristan hervor.
Dwight lachte. „Ja. Sie hat unglaublich darauf gespielt. Also habe ich ihn ihr gekauft.“
„Du hast was?“, erwiderte er entsetzt.
„Ich habe ihr den Flügel gekauft. Sie meinte, sie habe schon einen, also dachte ich, dann nehmen wir ihn halt und dann kann sie jedes Mal darauf spielen, wenn sie uns besucht.“
Tristan ballte die Fäuste. Wie er das Wort uns benutzte, gefiel ihm ganz und gar nicht.
„Es sei denn, du hast dich von ihr getrennt, dann wäre es wohl schade“, meinte Dwight mit einem Grinsen.
Sein Atem ging schwer, er versuchte sich zu beruhigen, sich nicht von ihm provozieren zu lassen.
Plötzlich trat jemand in den Salon. „Dwight was soll das?“
„Hi, Vater. Nun, wie du siehst, habe ich mir einen Flügel gekauft. Oder besser gesagt uns. Er sah umwerfend dort in diesem Laden aus und ich dachte mir, dass er wunderbar in unseren Salon passen würde.“
„In einer Stunde gibt es Abendessen“, ignorierte ihr Vater Dwights Erklärung. „Ich will euch beide pünktlich am Tisch sitzen sehen. Ich habe etwas Wichtiges mit euch zu besprechen.“ Mit diesen Worten trat er wieder aus dem Raum.
Tristan verkniff sich ein Stöhnen. Wenn es etwas gab, was er noch mehr verabscheute als Dwights dämliche Kommentare, dann waren es die Abenden, an denen sie alle beisammen saßen und glückliche Familie spielten.

Es war halb acht, als Tristan sich auf den Weg zum Esszimmer machte. Missgelaunt überquerte er die große Eingangshalle. Was ihr Vater wohl dieses Mal wollte? Vielleicht wieder eine neue Frau vorstellen? Bei dem Gedanken sank seine Laune noch weiter, sobald das überhaupt noch möglich war.
Schnurstracks ging er zu seinem gewohnten Platz und setzte sich. Seinen Kopf stützte er leicht mit der rechten Hand am Tisch ab. Außer ihm war noch niemand da. Das war ja mal wieder typisch. Sie sollen pünktlich kommen und wer sich nicht daran hält, war er selbst.
„Dad noch nicht da?“ Dwight betrat den Raum und setzte sich genau gegenüber von Tristan.
„Siehst du ihn hier irgendwo?“, murmelte dieser genervt.
Einen Moment lang musterte Dwight ihn, dann grinste er wieder. „Also ich frage mich wirklich, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist.“
„Das fragst du dich wirklich?“ Tristan richtete sich auf und beugte sich mit wütendem Ausdruck vor.
„Hör mal“, begann Dwight und beugte sich ebenfalls vor. „Wenn du Probleme mit deiner Freundin JJ hast… mir egal. Aber nerv' mich nicht mit deiner schlechten Laune. Ich kann schließlich nichts dafür, dass du sie so behandelst.“
„Ach nein?“, Tristan wurde langsam wütender. Es missfiel ihm zutiefst an einem Tisch mit seinem verhassten Bruder zu sitzen. „Korrigier' mich, wenn ich falsch liege, aber wer hat JJ etwas vorgelügt, um sie zu einem Date zu zwingen? Wer hat sie letztendlich so sehr bedrängt, dass sie Angst bekam? Anscheinend bleibt dir nichts anderes übrig, denn freiwillig gibt sich wohl keine Frau mit dir ab.“
„Wag es ja nicht…“
„Das reicht jetzt!“ Ihr Vater betrat den Raum und machte dieser Auseinandersetzung ein Ende. Er ließ sich am Kopfe des Tisches nieder und blickte von einem zum anderem. „Hört endlich damit auf! Wir sind eine Familie und als solche sollten wir uns auch verhalten.“
Tristan schnaubte. „Das ich nicht lache.“
Sein Vater wandte sich ihm zu. „Ich lasse es nicht zu, dass du so mit mir sprichst. Du lebst unter meinem Dach, in meinem Haus. Ich habe dich großgezogen, also verdiene ich deinen Respekt.“
Tristan konnte über diese Antwort nur den Kopf schütteln und stand auf. „Das hat doch hier alles keinen Sinn.“
„Setz dich!“ Die Stimme seines Vaters war ruhig, doch man konnte in seinen Augen sehen, mit welcher Schärfe er ihn musterte. Einen Moment zögerte er, dann leistete Tristan widerwillig Folge. „Sehr schön. Nun, das Dinner kann serviert werden.“ Er lehnte seinen Kopf in Richtung eines Bediensteten, der sich sofort auf den Weg in die Küche machte. „Hattet ihr einen schönen Tag ?“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen.
Tristans Magen verdrehte sich und er hätte sich am liebsten übergeben. Es war so falsch… so aufgesetzt und… voller Desinteresse. Dieser Mann war nicht sein Vater… er ist es nie gewesen und er würde es auch nie sein.
„Gut, danke der Nachfrage“, antwortete Dwight ihm prompt. „Heute ist endlich der lang ersehnte Flügel eingetroffen.“
Ihr Vater nickte und wandte sich dann ihm zu. „Und bei dir?“
Was sollte das? Was sollte dieses gespielte Interesse, es war ihm doch sonst auch egal. „Normal“, erwiderte er kurz.
„Was heißt bei dir normal?“
Tristan verkniff sich ein Stöhnen. „Vater, du wolltest uns wegen etwas wichtigem sprechen. Ich glaube nicht, dass es sich dabei um meinen alltäglichen Schultag handelt. Je früher wir das hier hinter uns bringen, desto besser ist es für uns alle.“
Eine Tür wurde aufgeschwungen und mehrere Bedienstete betraten den Raum mit jeweils einem Teller in der Hand. Gleichzeitig servierten sie sie vor ihnen und zogen sich dann wieder zurück. Ein Blick auf den Teller verriet ihm, dass es Lamm war. Er hasste Lamm. Was würde er nicht für ein Bento von JJ geben?
„Nun, wenn du gleich zum Geschäftlichen kommen möchtest, mir Recht.“ Zum Geschäftlichen… wann drehte es sich mal nicht bei ihm um das Geschäft? „Der Präsident unseres Konzerns gibt am kommenden Wochenende eine offizielle Geschäftsfeier. Dazu wurde ich eingeladen, eigentlich keine Überraschung, zumal ich ihm fast direkt unterstehe. Es ist also meine Pflicht dort aufzutauchen.“ Tristan hörte zu, während er in Gedanken ganz woanders war. Was interessierte ihn irgendein Geschäftsessen seines Vaters? „Ich möchte, dass ihr mich begleitet.“
Er nahm gerade einen weiteren Bissen, als er sich plötzlich verschluckte. Hustend und auf die Brust klopfend, versuchte er einen klaren Kopf zu bekommen. Hatte er sich da gerade verhört? Oder wollte sein Vater wirklich, dass Dwight und er ihn auf diese komische Party begleiteten?
Dwight rollte mit den Augen. „Nicht mal essen kann der Kleine.“
Er warf ihm über den Tisch einen finsteren Blick zu. Als ob der sich über diese Nachricht freuen würde. Tristan atmete einmal tief durch und nahm dann einen kleinen Schluck aus seinem Wasserglas. Dann wandte er sich seinem Vater zu. „Ist das dein ernst?“
„Natürlich“, erwiderte dieser und nahm ebenfalls einen Schluck. „Ich werde zwar nicht die Zeit haben, aber ihr könnt euch kurz meinem Chef vorstellen. Vielleicht kannst du dann auch erwähnen, dass du vor hast in Harvard zu studieren.“ Mit diesem Satz wandte er sich ihm zu.
Das war natürlich wieder einmal typisch für seinen Vater. Angeben… in diesem Konzern… in dieser ganzen Stadt ging es doch nur ums Angeben. Wie ein dressiertes Hündchen sollte er einem Mann erzählen, was er später mal erreichen werde. Einem Mann, den er weder kannte, noch sich die Mühe machen würde, dessen Namen zu merken. Er hatte sowas von gar keine Lust dazu.
„Und dann? Soll ich einfach da auftauchen, mich ihm vorstellen und den Rest des Abends irgendwo rumhängen? Nein danke. Frag Dwight.“ Er stocherte in seinem Essen herum. Der Appetit war ihm vortrefflich vergangen.
„Ich möchte, dass ihr beide kommt“, wiederholte sein Vater mit Nachdruck.
„Können wir jemanden mitnehmen?“, mischte sich Dwight ein. Tristan wandte seine Aufmerksamkeit ihm zu und musterte ihn argwöhnisch
„Von mir aus.“ Ihr Vater wollte einer längeren Konversation aus dem Weg gehen und ging auf die Bedingung ein. Solange er das bekam, was er wollte, war ihm alles Recht.
„Super!“, grinste sein Bruder und wandte sich ihm zu. „Dann kann Tristan ja JJ mitbringen.“
Sein Magen verkrampfte sich erneut und er umklammerte die Gabel etwas fester. Was heckte er nun schon wieder für einen Plan aus?
„Wer ist JJ?“
„Niemand wichtiges“, erwiderte er schnell.
Dwight lachte. „JJ ist Tristans Freundin.“
„Du hast eine Freundin? Warum weiß ich das nicht?“ Seine Stimme war ernst. Man merkte, dass es ihm eigentlich nicht interessierte, wer JJ war und dass er auch nicht wütend darüber war, es nicht zu wissen.
„Nun…“, begann Tristan und wandte sich ihm herausfordernd zu. „Ich wollte nicht den Gedanken erwecken, ich könnte nach dir kommen.“
Sein Vater ging nicht darauf ein. Entweder weil er die Anspielung nicht verstand oder weil er sich lieber mit dem Lamm vor sich beschäftigte als mit seinem eigenem Sohn.
Den Rest des Abends sagte keiner ein Wort. Schweigend genossen sie ihr Lamm und auch das Dessert, dass anschließend serviert wurde. Als Tristan sich erhob und sich von seinem Vater verabschiedete, tat es ihm Dwight gleich. „Ich danke dir Vater. Das war ein vortreffliches Mahl.“ Dieser nickte nur.
Schweigend liefen die beiden nebeneinander her. Tristan wollte nur so schnell wie möglich in sein Zimmer. Er hatte keine Lust, sich länger in einem Raum mit Dwight aufzuhalten als notwendig.
„Ich hoffe wirklich, du bringst JJ mit.“ Dwight blieb plötzlich stehen und auch Tristan konnte nicht umhin anzuhalten. Den ganzen Nachmittag und Abend über hatte er versucht sich zu beherrschen. Er wusste nicht, wie langer er noch standhalt. „Sag mal, was hast du eigentlich gemacht, als du ihren Hals gesehen hast?“
Er provozierte ihn… und das mit Absicht. Sein Atem ging schwer. Er ballte die Fäuste zusammen. „Warst du wie damals?“ Geschockt über diese Frage vergaß er plötzlich, weswegen er wütend war und versuchte die Erinnerungen zu verdrängen. „Wundern würde es mich nicht. Schließlich warst du doch schon immer auf Streit aus. Wenn etwas nicht nach deinem Willen geschah, konntest du als kleines Kind einen ziemlichen Aufstand machen. Und im Laufe der Zeit hat es sich nicht gerade verändert.“
Er schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Er durfte jetzt nur nicht die Beherrschung verlieren. Auf gar keinen Fall.
Dwight schritt langsam auf ihn zu und blieb neben ihm stehen. Er lehnte seinen Kopf leicht zur Seite, so als wolle er ihm unauffällig etwas mitteilen. „Zwei gebrochene Rippen… eine gebrochene Nase… mehrere Prellungen… Ich frage mich, wie JJ wohl damit aussieht“, flüstert er. Ein hämisches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit und er machte sich auf den Weg ins Zimmer.
Er ballte seine Hände so fest zu Fäusten, dass sie schmerzten. Sein Atem ging stoßweise. Sein Gesicht war wutverzerrt. Er war zu weit gegangen. Er war definitiv zu weit gegangen.
„Hey Dwight“, presste er zwischen den Lippen hinzu.
Dieser drehte sich um und sah ihn unschuldig an. „Ja bitte?“
Langsam ging Tristan ein paar Schritte vorwärts. Der Druck in seinen Armen und Händen wurde immer stärker. Er brauchte ein Ventil. Er musste ihm freien Lauf lassen.
Den Blick hebend blieb er schließlich kurz vor ihm stehen. Sie waren etwas auf Augenhöhe, doch im Moment war das gleichgültig. Er fühlte sich größer, fühlte sich überlegen. Ihre Gesichter berührten sich fast, ihr Atem traf jeweils die Haut des anderen. Dwight grinste immer noch. Langsam hob er die rechte Hand… führte sie auf Dwight zu…
An seinem Schlüsselbein angekommen stoppte er, um dann schnell aber kräftig mit seinem Zeigefinger auf Dwights Brustkorb zu prallen. „Wag es ja nie wieder, sie JJ zu nennen.“ Sein Gesicht sprühte nur so vor Wut, doch seine Stimme war ruhig. Langsam wandte er sich von ihm ab und machte sich auf den Weg zurück in sein Zimmer.

 

Schwimmunterricht

Ich beugte mich leicht nach vorne und griff mit beiden Händen an den Startblock. Zum ersten Mal seit gut einem halben Jahr hatten wir wieder Schwimmunterricht. Perfekt für so einen heißen Tag. Jede andere Art von Sport wäre gefährlich für den Kreislauf.
Mit einem kräftigen Stoß sprang ich ab und glitt kopfüber ins Wasser. Eiskalt lief es mir am Körper entlang, doch es war ein herrliches Gefühl. Die Sorgen und nagenden Gedanken, die seit Tagen an mir hafteten, schienen mit jedem weiteren Zug, den ich tat, zu verschwinden. Es war, als würde das Wasser sie einfach wegwaschen.
Ein Zug links… ein Zug rechts… ein Zug links… ein Zug rechts… Jeden vierten Zug atmen.
So lebendig hatte ich mich seit langem nicht mehr gefühlt. Bei der ersten Wende merkte ich, dass mir Cath dicht auf den Fersen war. Auch wenn ihr Interesse in diesem Bereich des Sportes eher dem männlichen Geschlecht als dem Unterricht galt, stand sie mir, wie auch in vielen anderen Dingen, in nichts nach.
Eine Gruppe von Schülern weckte meine Aufmerksamkeit. Ich merkte sie erst, als ich die Hälfte der einzuschwimmenden Strecke bereits hinter mir hatte. Aufgeregt und tuschelnd liefen sie am Beckenrand entlang. Genau erkennen konnte ich sie nicht, denn das Wasser lief mir bei jedem Atemzug über das Gesicht, doch an der Haltung und Statur war ich mir sicher, dass sie nicht zu uns gehörten. Jedenfalls nicht zu unserem Jahrgang.
Mit der linken Hand schlug ich an der Wand an und zog meinen Kopf nach oben, um Luft zu holen. Kurz darauf glitt ich an die linke Seite der Bahn, denn nur wenige Augenblick später beendete Cath auch ihr Einschwimmen. Leicht nach Atem ringend, schob sie ihre Brille hoch und blickte zu der Schülertraube rüber, die sich gerade am Beckenrand warm machten.
„Weißt du, wer die sind?“ Ihr Kopf ruckte kurz in deren Richtung.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein.“
Mit leichtem Interesse sah ich mir die Schüler genauer an. Ein paar erkannte ich vom Sehen. Sie waren ein Jahrgang höher als Cath und ich, doch keinen kannte ich wirklich mit Namen.
Sie nickte, um mir zu zeigen, dass sie zugehört hatte. Dann breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. Ihre Aufmerksamkeit wandte sie mir zu. „Hast du die Typen hinten rechts gesehen?“
Ich unterdrückte ein Seufzen, konnte mir ein Lächeln aber nicht verkneifen. Sie ging nicht darauf ein. „Die sehen heiß aus, oder?“, sagte sie mehr zu sich, als zu mir und wandte sich wieder um. „Richtig heiß.“
„Wenn ihr fertig seid, kommt bitte aus dem Wasser heraus.“
Ich merkte, wie sich Cath besondere Mühe gab, elegant aus dem Wasser zu steigen. Dabei behielt sie immer die Schülertraube am Beckenrand im Auge. „Ich glaube, der eine hat mir gerade zugelächelt.“
Auch ich wandte meinen Blick zu den Anderen und tatsächlich… einige Jungen schienen an Cath Interesse zu haben. Mit einem Lächeln auf den Lippen fasste ich sie am Arm und zog sie sanft in Mrs. Carringtons Richtung.
„Lass mir doch meinen Spaß, JJ“, schmollte sie. Doch ich wusste, dass das nur gespielt war.
Mein Lächeln wurde breiter. „Den lasse ich dir nachher so viel du willst. Aber hör jetzt wenigstens zu, was unsere Lehrerin zu sagen hat.“
„Ich habe ein paar wichtige Ankündigungen zu machen.“ Mrs. Carrington hatte ihre Stimme erhoben und blickte in die Runde. „Nun, wie einige von euch mitbekommen haben, fehlt im Moment nicht nur Mr. Stone, sondern auch Mr. Rawes, der für den Unterricht, der oberen Klassen verantwortlich ist. Die Schulleitung hat beschlossen, nicht noch mehr Vertretungslehrer bereitzustellen und hat deswegen die beiden Schwimmkurse zusammengelegt.“ Gemurmel ging durch die Reihen. „Ich werde Sie also in den kommenden Wochen zusammen unterrichten.“ Mrs. Carrington wurde lauter, um sich wieder Gehör zu verschaffen. „Ich werde natürlich darauf achten, dass Sie alle einen unterschiedlichen Leistungsstand haben. Hauptsächlich werde ich mich also mit der unteren Klasse beschäftigen. Ich denke, dass Sie auch mal ohne Leitung ein paar Bahnen schwimmen werden können.“ Damit wandte sie sich an die Gruppe der älteren Schüler.
Cath seufzte neben mir. „Die tut ja fast so, als wären wir kleine Kinder. Ich werde nächsten Monat 18.“ Ich musste lachen und wandte mich ihr zu. In ihrem Gesicht konnte ich sehen, dass, auch wenn Mrs. Carrington uns wie kleine Schüler behandelte, sie nichts gegen ein Zusammenlegen des Kurses hatte.
Plötzlich durchschnitt lautes Gekreische die Luft. Verwirrt wandte ich mich der Quelle des Lärmes zu. Ausnahmslos alle Mädchen hatten ihr Interesse von der Lehrerin abgewandt und ließen es nun jemand ganz anderem zuteil. Sie tuschelten und kicherten unentwegt, den Blick nicht von einer Stelle hinter mir abwendet. In ihren Gesichtern konnte ich vollkommene Begeisterung sehen. Was wohl die Ursache war?
Leicht interessiert drehte ich mich gleichzeitig mit Cath um. Ein paar Schüler, allesamt Jungen, liefen am Beckenrand entlang, genau auf unsere Truppe zu. Sie hatten ihre Schwimmsachen an und winkten einigen der Mädchen zu. Ich erkannte, dass es Tristan und seine Freunde waren.
Unwillkürlich schoss mir die Röte ins Gesicht und Bilder unseres letzten Treffens schossen mir ins Gedächtnis. Das Musikzimmer... der Fleck, der glücklicherweise von meinem kurzen Neoprenanzug verdeckt wurde… die Situation auf der Couch. Mein Herz begann zu rasen.
„Na die haben uns gerade noch gefehlt“, murmelte Cath und rollte mit den Augen.
Die Jungen von vorhin waren schlagartig vergessen. Sie warf einen flüchtigen Blick zu mir herüber, sagte jedoch nichts. Ich war mir sicher, dass sie meinen derzeitigen Zustand mitbekam, wenn auch nur teilweise. Doch ich war ihr dankbar, dass sie nichts sagte.
„Hallo Ladies“, sagte Jake und grinse ein paar Mädchen zu, die ihm am nächsten standen. Sie seufzten und hielten sich gegenseitig fest, um nicht umzufallen.
„Entschuldigen Sie bitte die Verspätung.“ Brian sprach. „Wir wurden aufgehalten.“ Er lächelte charmant, was Mrs. Carrington für einen kurzen Moment aus der Fassung brachte.
„Äh, ja… gut… ich werde es mir merken… wo war ich?“ Leicht unsicher blickte sie auf ihr Klemmbrett. „Ach ja, richtig. Also, wie ich bereits sagte, bevor wir unterbrochen wurden, werden wir für einige Zeit zusammen Unterricht haben, jedenfalls solange, bis Mr. Rawes oder Mr. Stone wieder arbeitsfähig sind. Ich werde den Kurs also folgendermaßen teilen. Alle aus dem höheren Jahrgang, die eigentlich nicht bei mir Unterricht haben, schwimmen sich jetzt erst einmal auf Bahn eins bis vier ein. Der Rest verteilt sich auf Bahn fünf bis acht und wartet so lange, bis ich weitere Anweisungen gebe.“
Es entstand ein kleiner Tumult, in denen jeder damit beschäftigt war, sich auf seiner Bahn einzufinden. Ich folgte Cath in einigem Abstand, die sich ohne ein Wort zu sagen, auf den Weg in Richtung Bahn acht gemacht hatte. Unterwegs nahm ich ein paar Gesprächsfetzen auf.
„Oh, ausgerechnet mit ihnen haben wir Unterricht.“
„Das nenn' ich Glück.“
„Nein, das ist Schicksal.
„Hast du Jakes Körper gesehen?“
„Unglaublich!“, sagte Cath theatralisch, klatschte einmal in die Hände und sah die Mädchen auf der Bahn nebenan, mit großen Augen an. Ein leichtes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Sie konnte es einfach nicht lassen.
Die Mädchen jedoch schienen den Sarkasmus, der in Cath' Stimme mitschwang, nicht gehört zu haben oder aber sie ignorierten ihn. Jedenfalls sahen sie Cath mit hegem Interesse an. „Sag, bist du nicht diejenige, die neuerdings die ganze Zeit mit ihnen abhängt?“
„Äh, wie bitte?“, verwirrt blickte Cath sie an.
„Ja, ganz bestimmt. Ich hab dich schon öfters mit ihnen gesehen. Sag, wie sind sie so?“ Jetzt waren sie es, die Cath mit großen Augen musterten. „Sind sie charmant? Ach, was sag ich da, natürlich sind sie das.“
„Was machen sie so in ihrer Freizeit?“
„Haben sie Haustiere?“
„Ich habe Jake einen Brief geschrieben. Hat er mich mal erwähnt?“
Entsetzt wandte Cath ihren Blick mir zu. Ich lächelte ihr aufmunternd zu. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass jemand bemerkt hatte, wie sie in letzter Zeit immer wieder auf Tristan und seine Freunde traf. Und dass sie jemand darauf ansprechen würde, schon gar nicht.
„Woher soll ich das wissen?“, blickte sie die Mädchen entrüstet an. „Was interessiert es mich, ob die Haustiere haben, oder nicht? Fragt sie doch.“ Kopfschüttelnd drehte sie sich weg.
„Aber du bist doch die ganze Zeit mit ihnen zusammen.“
„Vor allem auch die ganze Zeit“, murmelte sie verächtlich.
In diesem Augenblick gesellte sich Mrs. Carrington zu uns. „Hört mal alle her! Heute werden wir uns intensiv mit der Schwimmart Delphin beschäftigen. Einige von euch werden das im letzten Jahr schon einmal ausprobiert haben, für die anderen wird das neu sein. Kann mir einer von euch sagen, worum es beim Delphin ankommt?“ Fragend blickte sie in die Runde.
Einige zuckten die Schultern, andere murmelten etwas Unverständliches. Mrs. Carrington seufzte. „Ich sehe schon, das wird nichts. Mr. Norris, wären Sie bitte so freundlich und würden kurz herkommen?“, rief sie und blickte dabei zu einem Jungen, der sich auf Bahn drei gerade für den Start bereit machte.
Als er seinen Namen gehört hatte, blickte er auf. Mit einer Leichtigkeit sprang er vom Block herunter und setzte sich die Schwimmbrill ab. Cath entfuhr ein Stöhnen. Es war Jake, der schnurstracks auf uns zulief. „Aber natürlich, Mrs. Carrington. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Er hatte sein typisches Grinsen aufgesetzt. Einige Mädchen kicherten.
„Hätten Sie einen Augenblick Zeit und könnten meinem Schwimmkurs zeigen, worauf es beim Delphin ankommt? Mr. Rawes sagte mir, Sie seien der Beste in dieser Schwimmart.“
„Ich fühle mich geehrt“, grinste er noch eine Spur breiter.
Cath rollte mit den Augen. „Angeber“, murmelte sie so leise, sodass nur ich es verstehen konnte. Ich schmunzelte.
„Soll ich es nur zeigen oder auch erklären?“
„Schwimmen Sie einfach zwei Bahnen, ich denke, dann kann ich davon ausgehen, dass mein Kurs es einigermaßen verstanden hat.“
Jake nickte, setzte sich wieder die Brille auf und trat auf den Startblock. Aufgeregt tummelten sich die Mädchen um ihn und jubelten, als er ins Wasser sprang.
„Hast du gesehen, wie gut er aussieht?“
„Er ist einfach so heiß.“
„Und seine Schultern. Genau richtig zum Anlehnen.“
Mrs. Carrington räusperte sich. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Begeisterung vielleicht auf die Art und Weise wie er schwimmt, beschränken könnten. Ich denke, er wird im Nachhinein zu sehr beschäftigt sein, als Ihnen das Leben zu retten, wenn Sie selbst Delphin schwimmen dürfen.“ Cath lachte.
Interessiert verfolgte ich Jakes Schwimmstil. Er war wirklich gut. Und unglaublich schnell. Es schien fast, als würde ihn das Wasser zusätzlich vorwärts tragen. Kraftvoll hob er seine Arme gleichzeitig aus dem Wasser und schloss sie vorne gestreckt wieder zusammen. Bei ihm sah das so einfach aus.
„Ich danke Ihnen, Mr. Norris“, lächelte Mrs. Carrington Jake zu, als er das Vorschwimmen beendet hatte. „Nun, wer kann mir also sagen, worauf es beim Delphin ankommt?“ Teilweise Gemurmel. „Meine Herrschaften, ich bitte Sie. Sie sind doch wohl alt genug einen vernünftigen zusammenhängenden Satz zu formulieren, nachdem Sie das hier gesehen haben.“
So zog sich der Schwimmunterricht in die Länge. Nachdem Mrs. Carrington uns die Erlaubnis gegeben hatte, selbst Delphin zu schwimmen, waren wir gut anderthalb Stunden im Wasser gewesen. Zuerst die Beine, dann die Arme, dann wieder die Beine, dann die Arme. Und schließlich dann beides zusammen.
Je länger der Unterricht sich hinzog, desto öfter hörte ich das Stöhnen vereinzelter Schüler. Sie alle hatten sich das anders vorgestellt, nicht so anstrengend oder langatmig. Nun bereuten Sie es, diesen Kurs gewählt zu haben. Am Ende ließ uns Mrs. Carrington noch vier Bahnen zur Erholung ausschwimmen, dann hatte auch sie Einsehen und entließ uns für heute, nicht nachdem sie uns noch ein paar Tipps für das nächste Mal gegeben hatte.
Cath schnappte sich ihr Handtuch und lief schnurstracks zu den Umkleiden. „Beeil dich, JJ! Ich habe keine Lust, darauf zu warten, bis die Duschen frei sind.“
Mit einem leichten Lächeln schnappte auch ich mir mein Handtuch. Die meisten Schüler waren schon verschwunden, nur ein kleiner Haufen tummelte sich noch an der Tür zu den Umkleiden, weil alle gleichzeitig hinein wollten. Mrs. Carrington war im Lehrerhaus verschwunden, das direkt neben dem Becken war und zog sich vermutlich da um.
Ich wischte mir mit dem Handtuch über das Gesicht und wartete, damit auch ich mich endlich duschen konnte, als mich plötzlich jemand am Arm packte und nach hinten zerrte. Noch bevor ich irgendetwas sagen konnte, wurde plötzlich eine Tür hinter mir zugeworfen und völlige Dunkelheit umfing mich.
Verunsichert versuchte ich etwas zu erkennen. Ich musste mich im Gerätebereich befinden, direkt neben dem Eingang zu den Umkleiden. Hier wurden alle möglichen Gegenstände aufbewahrt, die man für den Schwimmunterricht brauchte. Warum war ich auf einmal hier?
Plötzlich berührte mich etwas von hinten. Ich erschrak und machte mit einem lauten Aufschrei einen Schritt nach vorne. Was war das? Ein Lachen drang an meine Ohren. Es war dicht neben mir, vielleicht einen knappen Meter entfernt. Wenn ich doch nur etwas erkennen konnte.
„Alles in Ordnung?“, sprach derjenige, nachdem er sich wieder beruhigt hatte.
„Ja, mir geht es gut, aber… Tristan?“, fragte ich ungläubig. Ich war mir nicht sicher, ob er es war. Die Stimme kam mir bekannt vor, doch mit Sicherheit konnte ich es nicht sagen.
„Ja?“ Er berührte mich am Arm und ich erschrak erneut.
„Was ist los? Warum machst du nicht das Licht an?“
„Weil ich es so besser finde.“ Ich konnte mir bildhaft vorstellen, wie er grinste.
„Was findest du so besser?“
„Alles.“ Immer noch meinen Arm festhaltend zog er mich zu sich. „Man kann so nie wissen, wann man wo das nächste Mal berührt wird. Das macht es viel aufregender“, flüsterte er mir ins Ohr. Sein Atem kribbelte auf meiner Haut und mein Herz begann plötzlich wieder zu rasen.
„Aber man sieht doch gar nichts“, stotterte ich.
„Ich will dich ja auch nicht sehen, JJ. Ich will dich fühlen.“ Er strich mit seiner Hand über meinen Arm. Wie ein kleiner Stromschlag durchzuckte es mich plötzlich. Es fühlte sich anders an, viel intensiver als sonst. „Na, was hab ich gesagt?“
Mit der anderen Hand strich er mir sanft über die Wange und über meine Lippen. Einen Augenblick später lagen auch schon seine auf den meinen. Ein Kribbeln durchzuckte mich und ich schloss die Augen, obwohl es sinnlos war. Schließlich war alles dunkel um mich herum.
Seine Lippen liebkosten meinen Mund. Immer und immer wieder löste er sich, um dann wieder erneut auf ihm zu liegen. Während seine rechte Hand auf meinem Gesicht ruhte, strich er mit der anderen Hand über meinen Körper. Seine Finger trafen meinen Neoprenanzug und er hielt inne. „Blödes Teil.“
Verwirrt blickte ich zu ihm hoch, zumindest glaubte ich das. In der Dunkelheit konnte ich ihn nicht genau erkennen. Doch nur einen kurzen Augenblick später, küsste er mich wieder und seine Hände glitten weiter über meinen Rücken.
Schließlich schienen sie das gefunden zu haben, was er gesucht hatte. Den Reisverschluss meines Anzuges. Mit einer einfachen Handbewegung öffnete er diesen und streifte ihn mir über die Schulter, bis knapp unter mein Dekolleté. Ich wollte ihn von mir stoßen, die ganze Situation erinnerte mich an das letzte Mal. Doch mein Körper gehorchte mir nicht.
„Hm. Jetzt wäre es wohl wirklich besser, wenn wir Licht hätten. So kann ich ja nichts von dir sehen, JJ“, raunte er in mein Ohr. Doch ich war ganz froh darüber. Keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn er mich so gesehen hätte. Vermutlich wäre es mir peinlich gewesen und die Röte wäre mir erneut ins Gesicht gestiegen.
Zärtlich strich er mit den Händen über meinen gesamten Körper. Es war wie elektrisierend. Da wo er mich berührt hatte, brannte meine Haut und jeder Windhauch, der darüber strich, hatte eine pulsierende Wirkung. Mein Körper fühlte sich erneut schwach an, doch ich wollte nicht einknicken. Nicht schon wieder.
Vergeblich versuchte ich mich an Tristan festzuklammern, doch meine Hände glitten nur an seinem nassen Oberkörper hinab. Er hatte sich noch nicht abgetrocknet und so sackte ich schlussendlich wieder hinab.
„JJ, alles in Ordnung?“, fragte er leicht besorgt.
Ich konnte seine Umrisse erkennen, wie er sich zu mir hinunter beugte. Etwas Nasses tropfte mir ins Gesicht, vermutlich Wasser von seinen Haaren. „Ja“, keuchte ich nur. „Ich brauche nur einen Augenblick, dann geht es mir wieder gut“, lächelte ich, obwohl er es nicht sehen konnte.
„Hm“, machte er. „Ich dachte, so langsam hast du dich daran gewöhnt. So, wie es aussieht aber nicht.“ Irgendetwas an seiner Stimme ließ mich aufhorchen. „Vielleicht ist es ja bald soweit.“
„Bereit? Wofür?“, fragte ich verwirrt. Mein Atem hatte sich wieder stabilisiert und auch mein Herz raste nicht mehr so.
„Ach, nicht so wichtig.“ Vermutlich grinste er jetzt. „Wir sollten vielleicht wieder zurückgehen, deine kleine Freundin macht sich bestimmt schon Sorgen.“
Mit einem kräftigen Ruck zog er mich hoch und nahm mich in die Arme. Sanft schob er meinen Neoprenanzug wieder an Ort und Stelle, nicht ohne vorher einige Stellen mit seinen Lippen berührt zu haben. Dann schloss er den Reisverschluss wieder zu, küsste mich noch einmal kurz aber bestimmend auf den Mund und zog mich raus aus dem Raum.
„Ach ja, bevor ich es vergesse.“ Er drehte sich zu mir um. Die plötzlich auftretende Helligkeit schmerzte in meinen Augen und so kniff ich sie unwillkürlich zusammen. Tristan beugte sich zu mir herunter. „Am Wochenende hat mein Vater eine kleine Geschäftsfeier und zu der muss ich hingehen. Ich möchte, dass du mich dahin begleitest.“
„Ich?“ Verwirrt blickte ich ihm in die Augen. Irgendetwas ging in ihm vor. Er sah aus, als sei er nicht sicher, ob er gerade das Richtige getan hatte.
Er nickte und grinste dann wieder. „Ausreden akzeptier ich nicht. Du brauchst dir auch kein Kleid besorgen, das mache ich schon.“ Dann zwinkerte er mir zu. „Und wer weiß, vielleicht können wir dort früh verschwinden und uns anderweitig vergnügen“, flüsterte er mir ins Ohr.

Es klingelte und ich horchte auf. Ich hatte den kommenden Samstag mit zweierlei Gefühlen entgegengesehen. Zum einen war ich aufgeregt. Ich würde Tristan außerhalb der Schule wiedersehen. Und ich würde seinen Vater kennenlernen. Etwas aus seinem Leben, was er unerklärlicherweise versuchte vor mir geheim zu halten. Vielleicht würde ich ja heute etwas darüber erfahren. Vielleicht würde ich heute herausfinden, was der Grund für die Spalte in dieser Familie war.
Doch ich hatte auch Angst. Was wäre, wenn ich nicht zu diesen Menschen passen würde? Ich wusste immer, wie ich mich in gehobener Gesellschaft zu verhalten hatte. Ich war damit groß geworden. Ich wurde so erzogen. Doch ich wusste nicht, welcher Art von Geschäft Tristans Vater nachging. War er ein Bankier? Oder vielleicht auch Leiter einer eigenen Firma? Würde ich den ganzen Abend fehl am Platze sein oder gar Tristan blamieren? Und das, was mich am meisten beunruhigte, was mich seit dem Ereignis am Pool am meisten beschäftigte: Wie würde sein Vater über mich denken?
Noch nie hatte ich mir besondere Gedanken darüber gemacht, wie ich auf andere wirkte. Ich war immer freundlich und zuvorkommend, der Etikette meines Vaters folgend. Doch heute würde mein Vater nicht da sein. Heute war ich ganz auf mich allein gestellt.
Es klopfte an der Tür und für einen kurzen Augenblick vergaß ich meine Sorgen. „Herein.“
Mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen und ein Päckchen tragend, trat Nancy herein. „Das wurde gerade für Sie abgegeben, Miss.“ Ich erhob mich von meinem Schreibtisch und trat ihr entgegen. „Wo soll ich es für Sie hintun?“
„Legen Sie es einfach auf das Bett“, lächelte ich und sah ihr zu, wie sie meiner Aufforderung nachkam. Danach wandte sie sich ab, nicht ohne vorher noch einen kleinen Knicks zu tun. Ich beachtete es nicht. Vielleicht würde sie irgendwann von alleine damit aufhören.
Interessiert setzte ich mich auf mein Bett und musterte das Päckchen. Es war groß, knapp einen Meter lang und einen halben breit. Rotes Geschenkband hielt es zusammen. Dazwischen war eine kleine Karte gelegt.
Vorsichtig zog ich sie hervor und öffnete sie. Fein säuberlich standen dort die Worte: Für mein Kätzchen. Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Kätzchen… so hatte Tristan mich letztens genannt.
Die Karte beiseite legend wandte ich mich wieder dem Paket zu. Was wohl darin war? Doch meine Frage wurde sofort beantwortet, als ich den Deckel anhob und ein schwarzes Kleid zum Vorschein kam. Mit einer Hand strich ich sanft über den Stoff – es war pure Seide. Entsetzt und überrascht zugleich nahm ich es in die Hände und hob es aus dem Karton. Geschmeidig fiel es hinab und erschuf in mir den Drang, es anzuprobieren.
Vorsichtig streifte ich es mir über den Kopf, nachdem ich mich meiner Sachen entledigt hatte. Es passte wie angegossen. Wie eine zweite Haut legte es sich an meinen Körper an und ließ ihn gleich viel eleganter wirken. Ich drehte mich vor dem Spiegel, versuchte das Kleid von allen Seiten zu betrachten. Mit so einem Geschenk hatte ich nicht gerechnet. Wollte er, dass ich es heute Abend anzog? Vielleicht würde ich in diesem Kleid nicht ganz so fehl am Platze wirken.
Und so kam es, dass meine Sorgen und beunruhigenden Gedanken durch ein einziges Geschenk verschwanden. Punkt 20 Uhr hielt Tristans Wagen vor unserer Tür. Ich trat ans Fenster und sah, wie er den langen Weg durch unseren Vorgarten zur großen Eingangstür entlangging. Ein Lächeln umspielte meine Lippen. Ich nahm eine kleine Tasche, die perfekt zu dem Kleid passte, von meinem Bett und ging die Treppen hinunter, gerade als Nancy ihn herein bat. Sein typisches Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, als er mich erblickte und mein Herz machte einen leichten Hüpfer.
„Guten Tag, Miss“, sagte er in aller Höflichkeit und senkte leicht den Kopf, um eine Verbeugung anzudeuten. Dann griff er nach meiner Hand und zog mich sanft an seine Seite. „Du siehst wunderschön aus“, flüsterte er mir ins Ohr.
In diesem Augenblick betrat meine Mutter den Eingangsbereich. „Guten Abend, Mrs. Jacksen.“ Tristan ergriff auch ihre Hand und deutete einen Handkuss an.
Meine Mutter lächelte und zwinkerte mir zu. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Morran.“
„Ganz meinerseits.“ Ein freundliches Lächeln. Tristan war ganz anders. Sein Charakter, sein Aussehen, selbst der Ausdruck in seinen Augen hatten sich komplett verändert – er wirkte höflich, aber bestimmend. Genau so, wie es die Etikette verlangte.
„Liebling, kommst du mal eben?“ Meine Mutter drehte den Kopf leicht in Richtung Salon, jedoch nicht ohne Tristan aus den Augen zu lassen. Einen Augenblick später gesellte sich auch mein Vater zu uns. Die Haltung aller Personen im Raum änderte sich augenblicklich. Ich spürte, wie Tristan neben mir sich eine Spur versteifte, wie meine Mutter einen Schritt zurück machte und meinen Vater am Arm hielt, fast so, als wolle sie ihn besänftigen und ich spürte, wie der Blick meines Vaters sich verhärtete. „Sie sind also Mr. Morran?“, fragte er und musterte Tristan flüchtig von oben bis unten.
„Ja, Sir.“ Mein Vater nickte, sagte jedoch nichts.
Verwirrt blickte ich in alle Gesichter. Ich verstand die Situation nicht so recht. Warum mussten sie sich immer so formell verhalten? Ich wollte mich gerade umdrehen, um zu gehen, als Tristan mich zurückhielt. Er schluckte kurz, dann sagte er etwas, was mein Herz schneller schlagen und mir die Röte in den Kopf schießen ließ. „Ich möchte mich offiziell als Julias Freund vorstellen. Ich weiß, Sie wissen noch nicht viel über mich und können daher nicht einschätzen, ob ich es ernst meine oder nicht. Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich es ernst meine und nie zulassen würde, dass ihr etwas Schlimmes wiederfährt. Darauf haben Sie mein Wort.“
Überrascht sah ich Tristan an. Dieser hielt den Blicken meines Vaters stand. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie meine Mutter schmunzelte und meinen Vater leicht anstupste. Vermutlich wollte sie ihn zu einer Antwort ermutigen. Doch mein Vater ließ sich nur zu einem Nicken herab, dann ließ er uns gehen.
Tristan fasste mich an die Hand und führte mich zu seinem Wagen. Wortlos stiegen wir beide ein. Der Kopf schwirrte mir noch von dem, was gerade gesagt wurde.
Ich möchte mich offiziell als Julias Freund vorstellen.
Auch, wenn ich dieses Wort selbst noch nicht gebraucht hatte, wusste ich dennoch, was es bedeutete – Julias Freund – mein Freund. Mein Herz schlug wieder schneller und ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Das Gefühl, dass er mein Freund war, machte mich irgendwie glücklich.
Schweigend fuhren wir die dunklen Straßen entlang. Erst nach zehn Minuten brach er die Stille. „Oh Gott, das war das erste Mal, dass ich das gesagt habe; das ich so etwas überhaupt gemacht habe.“
Ich wandte meinen Blick ihm zu. „Was denn?“
„Na so einen Anstandsbesuch“, grinste er plötzlich und wandte seinen Kopf kurz mir zu. „Ich stand noch nie vor dem Vater einer Freundin und habe ihm das gesagt, was ich heute deinem gesagt habe. Es war mir ehrlich gesagt auch noch nie so ernst.“ Während er das sagte, sah ich ihn die ganze Zeit über an. Er war ihm ernst. Wie meinte er das nun wieder? „Wie ich sehe, hast du das Kleid angezogen, was ich dir geschickt habe.“
Ich lächelte. „Ja, es ist wunderschön. Danke.“
„Weißt du, warum ich es gekauft habe?“, fragte er und sah mich durchdringend an. Wir standen an einer Ampel und so konnte er kurzzeitig die Aufmerksamkeit von der Straße lösen. Langsam beugte er sich zu mir hinüber und flüsterte mir ins Ohr: „Weil es ganz einfach und ganz schnell auszuziehen geht.“ Er grinste kurz, dann trat er auf das Gaspedal und fuhr weiter. Den Rest der Fahrt war ich damit beschäftigt, aus seiner Aussage schlau zu werden.

Kurze Zeit später fuhren wir auch schon auf einen Parkplatz vor einem großen Gebäude. Tristan half mir beim Aussteigen, indem er mir die Tür öffnete und eine Hand hinhielt. Gen Himmel starrend ergriff ich sie und ließ mich aus dem Auto ziehen. Es war mittlerweile so dunkel, dass ich das Dach des Gebäudes nicht erkennen konnte.
„Hier arbeitet dein Vater?“, fragte ich interessiert.
„Hm“, gab Tristan nur als Antwort. Er nahm meine rechte Hand und führte sie an seinen Mund. Dann lächelte er. „Komm, lass uns reingehen. Je eher wir es hinter uns bringen, desto besser.“
Immer noch meine Hand haltend betraten wir gemeinsam die große Eingangshalle. Das Licht schimmerte auf dem Marmorboden und wurde reflektiert. An der linken Seite erstreckte sich die Rezeption, an der um diese Zeit niemand stand. Tristan zog mich geradewegs zu den Fahrstühlen, genau gegenüber.
Während wir darauf warteten, in eine der oberen Etagen zu gelangen, streichelte er sanft mit seinen Fingern über meinen Handrücken. Diese kleine Geste ließ meine Sorgen verschwinden und gab mir ein Gefühl der Geborgenheit. Der Fahrstuhl kam und wir stiegen ein. Anhand der Knöpfe erkannte ich, dass das Gebäude mindestens 85 Etagen haben musste. Was für einen Ausblick man wohl von da ganz oben hatte?
Tristan drückte auf die 36. Sanft setzte sich die Kabine in Bewegung und begleitet von einer typischen Fahrstuhlmusik fuhren wir aufwärts. „Wir werden gleich die Feier betreten“, unterbrach Tristan die Stille. Ich nickte, sagte jedoch nichts. „Du musst wissen, ich bin normalerweise kein Mensch, der sich mit solchen Leuten abgibt. Das ist nicht meine Klasse.“ Eine Pause entstand, in der ich ihn verwundert ansah. „Mein Vater…“, fuhr er fort. „Er ist vielleicht nicht die Sorte von Vater, die man sich unter diesen Begriff vorstellt.“
„Wie meinst du das?“
„Er interessiert sich nicht sonderlich für seine Söhne. Weder für Dwight noch für mich. Die meiste Zeit geht er seinen Geschäften nach und versucht, Kontakte zu anderen Firmen zu schließen, um seinen Stand noch mehr zu festigen. Mit Frauen ist es bei ihm auch so ’ne Sache.“ Er hielt kurz inne und lachte kurz auf. „Er hält es nicht so mit Beziehungen. Ich glaube, die einzige, die er jemals hatte, die er vielleicht auch bis zu seinem Tod durchgezogen hätte, war die mit meiner Mum. Jetzt wechselt er sie wöchentlich. Keine dieser Beziehungen kann man ernst nehmen, obwohl er mit so einigen auch verheiratet war. Ein paar Monate später allerdings folgte dann auch wieder die Scheidung.“ Sein Blick wandte sich mir zu und er lächelte zögernd.
„Und warum hat er sich von deiner Mum getrennt?“ Ich wusste nicht, wie weit ich gehen durfte. Es war das erste Mal, dass er mir etwas aus seinem Leben, von seiner Familie erzählt hatte. Ich wusste nicht, wie bereit er war, mir mehr zu erzählen.
Ein Seufzer entfuhr seinen Lippen. „Sie ist tot. Gestorben, als ich fünf war.“
Ich schluckte und mein Herz setzte für einen Augenblick aus. „Das tut mir leid“, sah ich ihn leicht besorgt an.
Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Wieso? Du kannst doch nichts dafür.“ Ich lächelte zögernd. Ein Glück, war er nicht sauer. Dann wurde er wieder ernst. „Ich erzähle dir das mit meinem Vater nur, damit du dir nicht allzu große Hoffnungen machst. Er wird vermutlich keine Zeit haben, sich um dich zu kümmern, geschweige denn deinen Namen merken. Selbst mich wird er nicht groß beachten. Ein bisschen Vorführen, allen etwas vormachen, er sei stolz auf mich und dann wäre die Sache auch schon erledigt gewesen. Erwarte also keine ellenlange Gespräche mit ihm über meine Kindheit oder wie toll er es findet, dass ich endlich eine feste Beziehung habe.“
Feste Beziehung? Das klang so seltsam und dennoch breitete sich ein wohliges Gefühl in mir aus.
„Ach ja, Dwight wird heute Abend auch da sein.“ Sein Gesicht verhärtete sich. „Ich möchte, dass du ihm aus dem Weg gehst. Ich weiß nicht, ob ich die ganze Zeit bei dir bleiben kann, vor allem, wenn mein Vater mich zur Schau stellt. Sorge dafür, dass immer ein paar Menschen in deiner Nähe sind, dann kann er dir nichts anhaben. Und sprich ja nicht mir ihm. Gib ihm nicht das Gefühl, dass er deine Aufmerksamkeit hat.“
„Aber warum?“, fragte ich verwirrt.
„Du weißt genau, warum.“ Er packte mich an beiden Armen und drehte mich ihm zu. „Er darf dir nicht zu nahe kommen, verstanden?“
Verunsichert nickte ich. Seine Augen sprühten so viel Wut, dass ich das Bedürfnis hatte, ihn zu umarmen. Doch ich traute mich nicht. Ich konnte diese kleine Grenze zwischen ihm und mir nicht überschreiten. Ein kurzes Ping ertönte und die Fahrstuhltüren öffneten sich. Tristan nahm wieder meine Hand und führte mich aus dem Fahrstuhl.
Der Flur, auf dem wir standen, erstreckte sich zu beiden Seiten. Ein dunkelroter Teppich mit goldenen Verzierungen lag über dem Boden. Topfpflanzen waren mit genau dem gleichen Abstand an jeder Wand aufgestellt, dazwischen befanden sich marmorne Sitzbänke. Tristan ging nach links, genau auf die große Doppeltür am Ende des Flures zu. Hinter ihr konnte ich Stimmengewirr und Musik erkennen. Zwei Männer in schwarzen Anzügen standen jeweils rechts und links von ihr. Noch einmal sah er kurz zu mir herunter. Seine Augen spiegelten verschiedene Gefühle wieder, die ich nicht voneinander trennen konnte. Dann nickte er den Männern zu und gleichzeitig öffneten sie die beiden Türen und gaben den Blick auf ein mir bekanntes Szenario frei.

Ich war wieder acht, als mich mein Vater zum allerersten Mal auf einer seiner Geschäftsfeiern mitgenommen hatte. Jeder hatte sich nach mir umgesehen und gelächelt, einige sprachen mich sogar an. Ich hatte mich verloren gefühlt in dieser Welt von Erwachsenen, die ich nicht kannte und die Hand meines Vaters noch fester umklammert.
Alles war wie damals. Die prachtvoll gekleideten Gäste, die sich angeregt unterhielten und in kleinen Grüppchen über den ganzen Raum verteilt waren. Der hohe Saal, der mit Säulen getragen wurde und sich weit erstreckte. Die Musik, die leise im Hintergrund spielte und die Stimmung auf einer bestimmten Ebene tragen sollte. Die Dekoration, die Einrichtung, selbst die Gesichter schienen die gleichen zu sein. Alles war wie damals, nur dass ich heute Tristans Hand und nicht die meines Vaters hielt.
Ein paar wandten ihre Gesichter uns zu, als die Türen geöffnet wurden und wir eintraten. Sie sahen zuerst Tristan an; offensichtlich kannten sie ihn, denn sie unterhielten sich kurz mit ihren Nachbarn, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Einige lächelten sogar. Dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit mir zu und ich sah, wie ihr Interesse verschwand. Mich störte das nicht. Im Mittelpunkt zu stehen war noch nie eine Fähigkeit von mir gewesen.
Die Türen wurden hinter uns geschlossen. In dem Moment trat ein korpulenter Mann zu uns, mit einem schwarzen Anzug, einem Schnurrbart und freundlichen Augen. Ich erkannte ihn sofort. „Guten Abend, Mr. Portland“, lächelte ich ihn an.
Mr. Portland war ein guter Bekannter meines Vaters. Ich hatte ihn schon oft auf einige Feiern getroffen und er war ein freundlicher, hilfsbereiter Mensch. Als ich noch klein war, hatte er sich immer ein wenig um mich gekümmert und mich unterhalten. Vermutlich war auch er von diesen geschäftlichen Feiern nicht sehr überzeugt.
„Ah, Miss Jacksen. Sie hier wiederzusehen. Das freut mich, das freut mich.“ Er lächelte freundlich und sofort fühlte ich mich nicht mehr ganz so verloren zwischen all diesen fremden Menschen. Immerhin einem konnte ich Gesellschaft leisten, wenn Tristan kurz verhindert war. „Wie geht es Ihrem Vater?“
„Sehr gut, danke der Nachfrage“, lächelte ich zurück.
Sein Strahlen wurde breiter. „Das ist schön. In letzter Zeit habe ich ja nicht viel von ihm gehört. Seine Feste waren immer noch am erträglichsten. Schließlich hatte er immer so eine reizende Begleitung.“ Er zwinkerte mir zu und ich lachte. Dann wandte er sich Tristan zu. „Ihnen auch einen guten Abend, Mr. Morran.“
„Schön, Sie wiederzusehen“, antwortete er formell.
„Das freut mich ebenfalls. Ich habe heute schon Ihren Vater getroffen. Leider ist er zu beschäftigt, um ein längeres Gespräch mit mir führen zu können. Wenn Sie ihn sehen, würde Sie dann bitte ein Danke für die Einladung und ein paar nette Grüße überbringen?“
„Selbstverständlich.“
„Wunderbar, wunderbar. Nun denn, ich möchte Sie nicht weiter aufhalten. Einen schönen Abend noch. Mrs. Jacksen?!“ Er nickte kurz, dann gesellte er sich wieder zu seiner Gruppe.
„Du kennst Mr. Portland?“ Tristan sah mich amüsiert an.
„Ja. Er ist ein ständiger Gast auf den Festen meines Vaters gewesen. Er hat sich immer um mich gekümmert, sich mit mir unterhalten, wenn es mir zu langweilig wurde.“
„Oh ja, das kenne ich“, lachte Tristan. Dann sah er mich mit einem verschmitzten Lächeln an. „Wollen wir tanzen?“
„Tanzen?“, fragte ich verwirrt und sah mich im Raum um. „Aber es gibt hier niemanden der tanzt.“
Er lachte erneut, dann zog er mich in eine Ecke, etwas abseits vom Geschehen. Leicht zog er mich an sich heran, legte eine Hand knapp über meine Hüfte und hielt mit der anderen mein rechte in seiner. Langsam begann er vor und zurück zu gehen und sich dabei zu drehen, während er mich führte. Sein Blick ruhte die ganze Zeit auf mir und mein Herz machte einen Hüpfer. Mein Gesicht glühte und ich lächelte zögernd. Noch nie hatte er mich so angesehen.
„Wirst du etwa rot?“, grinste er sein typisches Grinsen.
Ich wandte den Kopf ab und versuchte mich zu beruhigen. Musste er mich jetzt auch noch darauf ansprechen? Er neigte sich zu mir herab und flüsterte mir ins Ohr: „Ich hätte zu gerne Lust, jetzt schon von hier zu verschwinden. Ein paar Stockwerke höher gibt es Appartements.“
Verwundert blickte ich ihn an. Was wollte er denn mit den Appartements? Doch noch bevor ich ihn danach fragen konnte, wurden wir auch schon unterbrochen. Ein Mann in einem hellgrauen Anzug und schwarzer Krawatte gesellte sich zu uns. Sein Gesicht war ernst, er hatte einen schmalen Mund, etwas längere braune Haare und grüne Augen. Genau die gleichen wie Tristans. Das musste sein Vater sein.
Wir hielten inne und Tristan wandte sich mürrisch an ihn. „Was?“, fragte er genervt.
Meine Blicke wanderten von seinem Vater zu ihm und wieder zurück. Warum redete er so mit seinem Vater?
„Wo hast du gesteckt? Ich hab dich schon überall gesucht. Ach, auch egal… Ich möchte dich ein paar Geschäftspartnern vorstellen.“ Keinen einzigen Moment sah er mich an. Es war, als wäre ich Luft für ihn, als würde ich gar nicht existieren.
„Vorher würde ich dir gerne noch jemanden vorstellen“, begann Tristan, doch er wurde prompt unterbrochen.
„Ja ja, später vielleicht. Komm jetzt… alleine.“ Damit ging er und ließ Tristan und mich zurück.
Er stöhnte. „Ich hab’s dir ja gesagt“, sah er mich aufmunternd an. „Deswegen wollte ich dir nichts von meiner Familie erzählen. Es gibt nichts wirklich Erzählenswertes.“
Noch einmal wandte er sein Gesicht ab und sah zu seinem Vater, der sich wieder ein paar Männern in Anzügen zugewandt hatte. Dann grinste er mich an. „Mach nichts dummes, während ich weg bin.“ Ein flüchtiger, aber bestimmter Kuss auf die Stirn, schon war ich allein. Er lief zu seinem Vater und räusperte sich, als er hinter ihm stand. Schlagartig änderte sich die Miene. Tristan setzte ein Lächeln auf, obwohl ich in seinen Augen erkennen konnte, dass es nicht aufrichtig war. Und auch sein Vater hatte einen ganz anderen Ausdruck als vorhin. Er sah erfreut aus. Und stolz… stolz darüber, solch einen Sohn zu haben.
Verwirrt beobachtete ich die Szene weiter. Sein Vater war ganz anders, als Tristan ihn mir beschrieben hatte. Wie kam er nur darauf, dass er ihn nicht liebte? „Er spielt seine Rolle ziemlich gut, nicht wahr?“
Jemand trat von hinten an mich heran und ich drehte mich um. Dwight beobachtete das Szenario genau wie ich und grinste dabei. „Der perfekte Sohn. Der stolze Vater. Sie sind echt ein gutes Team.“ Er zwinkerte mir zu. „Da hast du dir aber jemand feinen geangelt.“
„Wie meinst du das?“ Unbehagen und Neugierde machte sich in mir breit. Unbehagen, weil Tristan gesagt hatte, ich solle mich von Dwight fern halten. Neugierde, weil ich seiner Aussage nicht ganz folgen konnte.
„Na siehst du es nicht? Er sagt dauernd, er könne Dad nicht leiden und verabscheue all das hier. Aber im Grunde sind sie sich doch ähnlich. Sie spielen den anderen etwas vor. Sie lassen ihre Abneigung füreinander niemanden sehen. Und mit Beziehungen haben sie es auch nicht so.“ Sein Grinsen wurde breiter.
Mit Beziehungen? Welche Art von Beziehungen meinte er? Dwight schien meinen fragenden Blick richtig interpretiert zu haben, denn er fügte hinzu: „Ich meine, ihre Beziehungen zu Frauen oder glaubst du Tristan ist nur in seiner komischen Gruppe an der Schule, weil er gut aussieht? Nein, garantiert nicht. Er hat vieles von unserem Vater geerbt. Das Aussehen, die Statur, der gleiche sture Charakter und, ja… und das Verhalten gegenüber Frauen.“
„Worauf willst du hinaus?“
Er legte einen Finger auf die Lippen und zwinkerte mir zu. „Nicht hier.“ Sein Blick wanderte über den Raum, dann grinste er und flüsterte mir zu: „Ich will das Bild, welches die beiden in der Öffentlichkeit haben, nicht kaputt machen. Mir ist es hier drin ein wenig zu warm. Draußen auf der Terrasse könnten wir uns viel besser unterhalten.“ Er drehte sich um und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Zögernd blickte ich zu Tristan. Er hatte seine ganze Konzentration auf die Gesprächspartner ihm gegenüber beschränkt. Vielleicht würde er es nicht merken, wenn ich kurz auf die Terrasse gehen würde. Wenn es nicht zu lange dauerte… Doch Zweifel kamen mir… Er hatte mich ausdrücklich vor Dwight gewarnt, mir gesagt, dass ich mich fern halten und immer darauf bedacht sein solle, dass jemand in meiner Nähe war, wenn er mit mir sprach. Doch, wenn ich ihm jetzt folgen würde, wären wir dann allein? Gab es noch andere, die auf der Terrasse waren?
Ich schüttelte leicht den Kopf. Dwight wollte doch nur mit mir reden. Er plante bestimmt nichts Schlimmes. Und so folgte ich ihm, ohne zu wissen, dass ich dadurch den Stein ins Rollen brachte.

Veränderungen

Es war kühl, als ich die Dachterrasse betrat. Der Wind wehte mir sanft über meinen Körper und eine leichte Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus. Dwight lehnte am Geländer und starrte in die Dunkelheit. Von unten konnte ich Straßengeräusche hören, vereinzelt drangen auch Stimmen an mein Ohr.
„Eine herrliche Nacht, nicht wahr?“ Er schien bemerkt zu haben, dass ich ihm gefolgt war, doch er sah mich nicht an. Sein Blick verweilte unverwandt am Himmel. Vorsichtig trat ich zu ihm heran.
Wie ich vermutet hatte, war der Ausblick über die Stadt herrlich. In einigen Fenstern brannte Licht, die Straßen glichen feinen leuchtenden Linien auf einem Stück Papier. Menschen konnte man um diese Uhrzeit gar nicht mehr erkennen.
„Du siehst heute besonders schön aus, JJ.“ Ich wandte mich ihm zu und er grinste. „Dein Flügel ist übrigens angekommen.“
„Mein Flügel?“ Dann fiel es mir wieder ein. Der Samstag, an dem Tristan krank wurde und Dwight ihn vertrat. Er hatte diesen Flügel gekauft, auf dem ich gespielt hatte.
Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Andere Erinnerungen erschienen in meinem Kopf, die ich mit aller Kraft zu verdrängen versuchte.
„Ich wollte mich für mein Verhalten damals entschuldigen.“ Er blickte über die Dächer der Stadt. „Ich weiß auch nicht, was da in mich gefahren war. Ich schäme mich dafür.“ Er vergrub sein Gesicht in seine Hände.
Ich sah ihn an und sofort ließen mich die Erinnerungen in Ruhe. Es war ein Fehler, dass versuchte er mir zu Verstehen zu geben. Und Menschen machten manchmal Fehler. Es kam nur darauf an, wie man damit umging.
„Schon gut“, lächelte ich.
„Nein, ist es nicht.“ Er vergrub immer noch sein Gesicht. „Ich habe dir etwas Schreckliches angetan, JJ. Das kann ich nicht wieder gut machen.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er schien das Geschehen im Auto ernsthaft zu bereuen. „Ich…“
„Kannst du mir verzeihen, JJ?“ Plötzlich nahm er meine Hände in seine und sah mich gequält an. „Bitte. Ich werde sonst meines Lebens nicht mehr froh.“
Ein freundliches Lächeln erfasste mein Gesicht. „Natürlich. Es ist doch nichts Schlimmes passiert.“
„Tristan wird mich jetzt für den Rest seines Lebens hassen. Und dabei will ich doch nur, dass wir wie Brüder sind. Die Vergangenheit hinter uns lassen. Alles vergessen und noch einmal von vorne anfangen.“
„Ich bin mir sicher, das möchte er auch.“
„Wirklich?“ Begeistert sah er mich an.
Ich nickte. „Ich denke schon. Ich weiß zwar nicht, was zwischen dir und Tristan vorgefallen ist, aber ich denke, dass, wenn man darüber redet und seine Fehler eingesteht, sich vieles ändern kann.“
Dwight hielt noch immer meine Hände. Einen Moment herrschte Stille, in der er mich fassungslos ansah. Dann grinste er. „Das ist schön zu hören. Weißt du, normalerweise bin ich nicht der sentimentale Typ, aber bei dir, JJ… du hast etwas an dir, was mich ganz und gar durcheinander bringt.“ Er ließ mich los und lehnte sich wieder an das Geländer.
Jetzt war der richtige Augenblick gekommen, ihn nach Tristan zu fragen. Was war in ihrer Familie passiert, dass sich ein Riss zwischen ihnen allen aufgetan hatte? Und was meinte er vorhin mit Beziehungen?
Ich wollte gerade etwas sagen, da unterbrach Dwight die Stille. „Sag, liebst du Tristan?“
Völlig überrumpelt von dieser Frage, sah ich ihn an. Was meinte er damit? Sein Blick wanderte mir zu und er sah mich ernst an. „Liebst du ihn?“
„Natürlich“, antwortete ich zögernd. „Genau, wie ich Cath liebe, und meine Eltern…“
Entsetzt blickte er mich an. Dann, ganz plötzlich, lachte er. Seine Hand griff nach dem Geländer und er legte seinen Kopf in den Nacken. Verwirrt sah ich ihn an. Hatte ich etwas Komisches gesagt?
Nach einiger Zeit, hatte er sich wieder beruhigt. „Jetzt verstehe ich, was Tristan an dir hat.“ Seine Augen ruhten auf den meinigen, doch er grinste immer noch. „Ich meinte, ob du ihn wirklich liebst. Liebst du ihn so, wie ein Mensch einen anderen Menschen nur lieben kann? Wie dein Vater deine Mutter liebt?“
„Oh“, erwiderte ich und die Röte schoss mir ins Gesicht.
Ich dachte über Dwights Frage nach. Liebte ich Tristan? Bei dem Gedanken begann mein Herz wieder wie wild zu schlagen. War das ein Anzeichen für Liebe? Was war Liebe überhaupt? Ich kannte ihn doch kaum, konnte ich da wirklich von Liebe reden?
„Ich weiß es nicht“, gab ich nach einigen Überlegungen zu. „Ich will mit ihm zusammen sein. Wenn ich ihn sehe, dann wird mir ganz warm um’s Herz und ich muss unwillkürlich lächeln. Des Öfteren schweifen meine Gedanken ab und ich erinnere mich an Situationen mit ihm. Und heute hat er sich bei meinen Eltern als mein Freund vorgestellt und irgendwie war ich ein wenig glücklich darüber. Ist das Liebe?“ Erwartungsvoll sah ich ihn an.
Dwights Ausdruck entglitt ihm für einen kurzen Augenblick. Überrascht sah er mich an. Dann, kurze Zeit später, grinste er wieder. „Tja, wer weiß.“

 

Suchend sah er sich im Raum um. Nur einen kurzen Augenblick. Einen kurzen Augenblick hatte er sie aus den Augen gelassen. Es war nicht einmal eine halbe Stunde gewesen. Und jetzt war sie wie vom Erdboden verschluckt. Wo konnte sie nur sein?
„Entschuldigen Sie, Mr. Portland, aber haben Sie Miss Jacksen gesehen?“ Sein Blick wanderte weiter durch den Raum.
„Nein, tut mir leid. Ich habe nicht darauf geachtet.“ Verwundert blickte der kleine Mann ihn an.
„Schon gut. Ich danke Ihnen trotzdem.“
Wo konnte sie nur sein? Ein beunruhigender Gedanken beschlich ihn. War sie vielleicht mit Dwight…? Aber das konnte nicht sein. Er hatte sie ausdrücklich vor ihm gewarnt. JJ war nicht so naiv und würde… Und wenn doch...?
Seine linke Hand ballte sich zur Faust. Wenn er ihn in die Finger bekam. „Entschuldigen Sie bitte, Sir?“ Tristan wandte sich um.
Vor ihm stand ein Mann, in einem weißem Hemd und einer schwarzen Weste. Offensichtlich gehörte er zum Service, denn er hielt ein Tablett mit Champagner in der Hand. „Ich solle Ihnen ausrichten, dass eine junge Dame im 72. Stock auf Sie wartet.“ Eine junge Dame? Das musste JJ sein.
„Äh, danke“, sagte Tristan flüchtig und lief dann eilig zu den Fahrstühlen. Im 72. Stock… ab da begannen die Appartements. Ein Grinsen bereitete sich auf seinem Gesicht aus. Hatte JJ etwa den Wink verstanden? Doch irgendetwas beunruhigte ihn auch. Warum hatte sie dann nicht auf ihn gewartetß Sie konnte unmöglich wissen, was im 72. Stock war. Und außerdem war JJ nicht der Typ, der solche Andeutungen verstand, geschweige denn die Initiative ergriff und den ersten Schritt wagte.
Er schüttelte den Kopf und verdrängte die Gedanken. Irgendwer hatte es ihr gesagt. Und vielleicht fühlte sie sich nicht wohl und war deswegen schon einmal vorgegangen. Vermutlich hatte sie keine Ahnung, was er gemeint hatte. Ein Grinsen huschte auf sein Gesicht, bei dem Gedanken daran.
Im 72. Stock ankommend, sah er sich um. Wo konnte sie wohl sein? Auf dieser Etage gab es um die 20 Appartements. Ein erneuter, beunruhigender Gedanke.
>>Woher hatte sie die Schlüssel?<<, doch er verdrängte es sofort. Plötzlich nahm er eine Bewegung am Ende des Flures war. Etwas Schwarzes huschte um die Ecke.
„JJ?“, fragte Tristan und lief eilig darauf zu. Dann ging alles ganz schnell. Ein harter, aber gezielter Schlag auf den Hinterkopf und noch bevor er auf dem Boden aufschlug, hatte er schon das Bewusstsein verloren.

 

Seit einer halben Stunde suchte ich ihn jetzt schon. Dwight wurde plötzlich von jemandem zu sich gerufen und er verschwand von der Terrasse. Nach einiger Zeit hatte auch ich mich wieder zurück in den Saal begeben; draußen war es einfach zu kalt. Als ich mich umblickte, musste ich feststellen, dass Tristan nicht mehr bei seinem Vater war. Auch bei anderen Gruppierungen konnte ich ihn nicht entdecken. Wo war er nur? Hatte er vielleicht doch mitbekommen, wie ich mich mit Dwight unterhalten hatte? War er vielleicht so wütend gewesen, dass er einfach gegangen war, ohne ein Wort zu sagen? Aber das passte nicht zu ihm.
Mich umblickend lief ich durch den Saal. Ich fühlte mich irgendwie verloren. Niemanden kannte ich, sie alle waren mir vollkommen fremd.
„Miss. Jacksen, da sind Sie ja.“ Mr. Portland kam freudestrahlend auf mich zugelaufen, ein Glas mit einer bräunlich klaren Flüssigkeit in der Hand.
Ich lächelte ihm zu. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Nein, mir nicht. Aber Mr. Morran sucht Sie.“
„Mich?“, verwundert blickte ich ihn an.
Er nickte heftig und nahm einen Schluck aus seinem Glas. „Ja. Er hat mich gefragt, ob ich Sie gesehen habe, doch ich musste vernein.“
„Wann war das?“, fragte ich ihn.
Er zuckte mit den Schultern. „Vor einer halben Stunde ungefähr.“
„Wissen Sie, wo er hingegangen ist?“
„Ich weiß nicht“, antwortete er und nahm einen weiteren Schluck. „Ich glaube er ist in Richtung Ausgang zu den Fahrstühlen gelaufen. So genau habe ich darauf nicht geachtet. Wissen Sie, Mr. Williams hat mir da eine ganz interessante Theorie erklärt…"
Tristan war gegangen. Er war tatsächlich gegangen. Also hatte er Dwight und mich doch gesehen.
Mir wurde plötzlich übel. Ich wusste auch nicht so genau, warum es mich so schockierte. Doch ich hatte Angst, Tristan würde es wieder falsch verstehen und sauer sein; vielleicht sogar nie wieder mit mir reden. Wir hatten doch nur miteinander geredet. Er hatte sich doch für das, was letztens passiert war, entschuldigt. Und er wollte sich bei Tristan entschuldigen. Er hatte Dwight vollkommen falsch eingeschätzt. Und jetzt war alles vielleicht vorbei, nur weil ich nicht auf ihn gehört hatte. Vorbei… das Wort versetzte mir einen leichten Stich.
„Miss Jacksen, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder Mr. Portland zu. „Sie sehen so blass aus.“ Besorgt sah er mich an.
Ich lächelte zaghaft. „Ja, mir geht es gut, danke der Nachfrage. Ich werde mich auf den Nachhauseweg machen; es ist schon spät.“
„Es war schön, Sie wiedergesehen zu haben“, grinste er jetzt breit. „Grüßen Sie Ihren Vater von mir.“
„Das werde ich machen. Auf Wiedersehen, Mr. Portland.“ Und mit diesen Worten verschwand ich aus dem Saal.
Ich wollte nur noch weg. Weg von diesem Ort, an dem ich so fremd war… wo ich nicht hingehörte. Der ganze Tag war so verwirrend gewesen. Erst das tolle Geschenk, das sich jetzt an mir irgendwie falsch anfühlte. Dann der Besuch von meinen Eltern, gefolgt von den verschiedenen Situationen hier auf der Feier. Ich wollte nur noch weg. Am Besten in mein Bett fallen und alles einfach vergessen. Morgen war Sonntag, da konnte ich ausschlafen. Ich würd erst aufstehen, wenn diese Müdigkeit verschwand; vorher nicht.
Der Fahrstuhl öffnete seine Türen und als ich gerade eintreten wollte, erblickte ich Dwight darin. „JJ“, strahlte er jetzt plötzlich. „Da bist du ja. Ich wollte dich gerade suchen gehen.“
„Mich?“, verwundert sah ich ihn an. Zur Antwort nickte Dwight nur und zog mich in den Fahrstuhl. Dann drückte er auf den Knopf mit der Zahl 72.
„Wo willst du hin?“, fragte ich ihn leicht verwirrt.
„Zu Tristan. Er hat dich die ganze Zeit gesucht und ist dann hoch zu den Appartements gefahren. Er hat mich gebeten, dich zu holen. Du hattest Recht, man muss nur miteinander reden.“
„Miteinander reden? Wie meinst du das?“
„Ich habe mit Tristan gesprochen. Über die Sache damals und all das andere. Es tat gut. Es war irgendwie befreiend.“ Während der ganzen Fahrt über, lächelte er mich an. „Zwar kann man unsere Beziehung jetzt nicht als die beste bezeichnen, aber wir wollen es versuchen. Als Brüder.“
Ein Lächeln trat auf meine Lippen. Sie hatten sich vertragen. Dwight und Tristan hatten ihren Streit beiseitegelegt. „Das freut mich.“
„Ja, nicht wahr? Und als Dankeschön wollte ich dich suchen und zu ihm bringen. Er wartet schon sehnlichst.“ Sein Grinsen wurde breiter, doch irgendetwas in seinen Augen machte mich stutzig. Sie waren kalt, fast so, als würde das Strahlen seines Gesichtes sie nicht erreichen. Doch mit Sicherheit bildete ich mir das nur ein.
Die Fahrstuhltüren öffneten sich erneut und wir stiegen aus. „Hier entlang, JJ.“ Vorsichtig nahm er mich bei der Hand und führte mich durch den Gang, um einen Ecke herum und einen weiteren Gang entlang. Am Ende angekommen hielt Dwight plötzlich vor einer Tür rechts von uns inne und holte ein Schlüssel aus seiner Tasche. „Er wird sich freuen dich zu sehen. da bin ich mir sicher.“
Die Tür öffnete sich nach innen. Hinter ihr war vollkommene Dunkelheit. Nur ein paar Gegenstände konnte ich erkennen, die durch das einfallende Licht vom Flur angestrahlt wurden.
„Nach dir“, grinste Dwight und sah mich an. Schon wieder dieser Ausdruck in seinen Augen. Unsicher machte ich einen Schritt in das Zimmer. Ich konnte überhaupt nichts erkennen, vermutlich waren die Vorhänge noch zusätzlich zugezogen worden. Dwight schloss hinter mir die Tür und ich zuckte zusammen.
„Bist du dir sicher, dass Tristan hier ist?“, fragte ich mit einem Hauch von Angst in der Stimme.
Irgendetwas war in diesem Zimmer. Ich konnte nicht genau sagen, was es war. Doch ich wollte es eigentlich auch gar nicht wissen.
„Oh ja, das bin ich“, antwortete Dwight. Er machte das Licht an und ein Anblick bot sich mir, der mir alle Luft aus der Lunge nahm.

Es war wie ein Schlag auf die Brust. Bekanntlich sagt man, dass kurz bevor man stirbt das ganze Leben an einem vorbeilief. Wie ein Film, den man zurückgespult hatte und dann vorn vorne abspielte.
Ich sah, wie ich zum allerersten Mal Tristan direkt in die Augen blickte, als er von den Mädchen umringt wurde.
Ich hörte seine Stimme, wie er meinen Namen rief, als er mich damals am Pool rettete.
Ich spürte seine Berührungen, wie ein Windhauch, der über meinen Körper streifte; unzählige Male.
Und ich sah sein Grinsen; sein typisches Grinsen.
Wie in Trance stand ich da und ließ die Erinnerungen Revue passieren. Und dann hatte mich die Wirklichkeit wieder. Die schreckliche Wirklichkeit, die all diese Erinnerungen zunichtemachte; mit einem Schlag.
Dwight hatte Recht, Tristan war in diesem Zimmer. Doch so hatte ich es mir nicht vorgestellt.
Halb kniete er, halb hing er. Sein rechter Arm war an einer Vorrichtung ungefähr einen Meter über dem Boden angekettet. Der andere Arm hing schlaff herunter, wie auch sein Kopf, der regungslos auf seiner Brust verharrte.
Der Anblick schnürte mir die Kehle zu und im nu war ich bei ihm. Entsetzt nahm ich seinen Kopf in meine Hände und hob ihn hoch. Seine Augen waren geschlossen, Schweiß lief ihm von der Stirn herab. Sein Atem ging schwach, doch ich konnte das Keuchen genau hören. „Tristan?“, fragte ich beängstigt und erschrocken zugleich. „Tristan, kannst du mich hören? Ich bin es, JJ. Dwight, du musst schnell einen Krankenwagen rufen!“
Doch dieser rührte sich nicht. Regungslos stand er an der Tür. Zumindest glaubte ich das, denn meine Aufmerksamkeit galt Tristan. Vorsichtig strich ich ihm über das Gesicht; er glühte.
„Dwight, was…?“ Verwirrt blickte ich mich um und musste feststellen, dass er grinste.
„Hast du es immer noch nicht mitbekommen, kleine JJ?“ Er trat ein paar Schritte auf mich zu. Erschrocken blickte ich ihn an. Was war hier los? Warum half er Tristan nicht. Ihm ging es doch offensichtlich nicht gut. Und warum war er an die Wand gekettet?
„Tja“, ein verschmitztes Lächeln. Dann beugte er sich zu mir herunter. „Er war schon immer derjenige, der nie genug bekam“, höhnte er.
„Was meinst du damit?“
Mit einem Fuß, stieß er sanft gegen etwas, was neben mir auf dem Boden lag. Mit einem kurzen Blick, erkannte ich, was es war – Spritzen. Ich schluckte, unfähig mich zu bewegen, als plötzlich pure Angst mich ergriff. „Hätte er sich nicht so gewehrt, wäre es alles ganz anders geworden. Aber er wollte es halt nicht anders. Immer muss er den großen Macker raushängen. Aber letztendlich konnte auch er nicht widerstehen.“ Sein Grinsen wurde breiter; hämischer.
„Was hast du getan?“, keuchte ich.
Er lachte. „Nichts, was er nicht auch gewollt hätte. Schließlich war er doch hier hoch gekommen, um nach dir zu suchen. Wie ein notgeiler Hund kam er her, in Gedanken schon bei den dreckigen Sachen, die er mit dir anstellen wollte. Irgendwie musste ich ihn doch beruhigen, ihm etwas im Gegenzug geben, um seinen Durst nach dir zu stillen, seinen Rausch zu befriedigen.“
„Du hast ihm Drogen gespritzt?“ Ich wandte mich wieder Tristan zu. Sein Kopf hing schlaff in meinen Händen, seine Augen waren immer noch geschlossen. Ich unterdrückte den Drang, meinen Tränen freien Lauf zu lassen. „Wie konntest du nur?“, flüsterte ich.
„Wie konntest du nur?“, äffte Dwight mich nach. Dann lachte er. „Wie ich nur konnte? Ganz einfach, ich hab die Spritze genommen und sie ihm in den Arm gesteckt. Normalerweise sind die meisten Menschen schon danach k.o., aber nicht Tristan, nein, nein… Er musste ja wieder den Obercoolen spielen. Tja… aber das hat letzten Endes auch nichts gebracht. Die zweite Spritze gab ihm dann den Rest.“
Ich schluckte. Wieso? Wieso musste es nur so weit kommen? Hatte er vorhin nicht noch gesagt, dass er alles wieder in Ordnung bringen wollte? Hatte er nicht gesagt, dass es ihm leid tat, was er getan hatte? War das alles etwa gelogen?
„Weißt du, JJ… du kannst ihm helfen.“ Er lehnte sich an die Wand rechts von mir und blickte zu mir. Mit schmerzverzerrtem Gesicht sah ich ihn an. „Oh ja, du kannst ihm helfen.“
„Wie?“, flüsterte ich. Nichts sehnlicher wollte ich. Nichts sehnlicher wollte ich, dass er aus diesem Zimmer herauskam und in ärztliche Behandlung gebracht wurde.
„Indem du das machst, was ich von dir verlange.“ Sein Grinsen wurde breiter. Er war am Ziel seines Planes angekommen, das sah ich in seinen Augen.
„Was?“ Meine Stimme brach, sie war kaum mehr als ein Flüstern.
„Ich will, dass du dich von ihm trennst und zu mir kommst.“ Entsetzt sah ich ihn an. „Oh ja. Du hast mich richtig verstanden. Ich will, dass du ihn verlässt. Dass du ihm sagst, dass du ihn nicht liebst, ihn nie geliebt hast und dass ich der einzig wahre Mann in deinem Leben bin; was weiß ich. Lass dir was einfallen. Jedenfalls… trenn dich von ihm.“
„Warum?“
„Weil ich dich haben will.“ Ich verstand das alles nicht. Nur wegen mir? Er hatte das alles nur wegen mir gemacht? Doch warum? Warum musste er dafür seinen eigenen Bruder soweit verletzen? Was wollte er von mir? Was hatte ich für eine Rolle, dass er seinen Bruder fast das Leben nahm?
„Tik Tak, Tik Tak... Die Zeit läuft. Wenn du dich nicht beeilst, ist es vielleicht zu spät. Noch kannst du ihn retten. Noch ist die Droge nicht weit genug in seinen Körper vorgedrungen. Noch wäre es ganz einfach ihn hier rauszubringen und in das nächste Krankenhaus transportieren lassen und er würde keinen bleibenden Schaden davon tragen. Ein bisschen Reha-Klinik, vielleicht sogar Entzug, aber bei seiner Sturheit wird das vermutlich eh schneller gehen, als normalerweise.“
Ich blickte in Tristans Gesicht. Die Erinnerungen von vorhin traten wieder in mein Gedächtnis. Sein Lächeln… seine Worte… die Zeit im Musikzimmer… unser erstes Date im Riesenrad… seine Versprechen, immer für mich da zu sein.
„Tik Tak, Tik Tak…“, machte Dwight im Hintergrund.
Ich schloss die Augen und verdrängte diese Erinnerungen. Nie wieder würde ich daran denken. Nie wieder würde ich sie in mein Gedächtnis lassen. Mit einem leisen Klicken sperrte ich sie in ein Kästchen im hintersten Teil meiner Selbst ein, dass ich nie wieder öffnen würde.
Ich hatte mich verändert. Das hatte Cath gesagt, sehr verändert sogar. Ob das gut war oder nicht, das war nicht von Belang. Tatsache war, ich musste mich ein weiteres Mal verändern. Und das vielleicht für immer.
„Ich mach’s“, sagte ich.

Nachwort

Hallo liebe Leserinnen und vlt sogar auch Leser,

ich weiß, vermutlich hasst ihr mich jetzt dafür, dass genau an dieser Stelle Schluss ist und es tut mir auch wirklich leid! :)
Die Geschichte hier war meine allererste, die ich jemals geschrieben habe. Man kann sogar soweit gehen und sagen, dass das die Geschichte ist, mir der alles angefangen hat. Das merkt man zum Teil auch an meinem noch kindlich naiven Schreibstil, den ich vor allem am Anfang der Geschichte an den Tag gelegt habe. ;)

Das Problem ist, dass diese Geschichte schon bestimmt seit gut 3 Jahren oder so auf Eis bei mir liegt. Und sich mein Schreibstil seitdem sehr verändert hat. Es würde nicht mehr passen, wenn ich hier plötzlich weiter schreiben würde und die Geschichte überarbeiten mag ich auch nicht, weil an diesem kindlichen Charme so viele Erinnerungen dran hängen. ^^

Nach langen Überlegungen habe ich mich aber letzten Endes doch dazu entschieden, diese Geschichte zu einem Ende zu bringen. Was man anfängt, muss man schließlich auch beenden! ;)
Die Fortsetzung werde ich aber auf Anraten einiger Leser in einem zweiten Buch veröffentlichen, so würde der mittlerweile "erwachsen gewordene" Schreibstil meinerseits auch wieder passen. ^^

Allerdings muss ich euch leider mitteilen, dass es mit der Fortsetzung noch eine Zeit dauern wird! :/
Vorranging möchte ich mich meinen beiden aktuellsten Bücherprojekten widmen, dass sind unter anderem der zweite Teil meiner Twilight-Fanfiktion, Beloved, Unloved and Forgotten, sowie meine Nicht-Twilight-Nicht-Fantasie-Geschichte Hitten Love.
Vielleicht kann ich euch in der Zwischenzeit mit einen von denen begeistert! ;)

Ansonsten werde ich mich natürlich bei euch melden, sobald es mit einer Fortsetzung/einem zweiten Teil voran geht! :)

Bis dahin alles alles Gute und viele liebe Grüße!
eure Fruchtalarm =)

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.01.2010

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