Cover

1

Christoph

 

Eine Wand. Alles, woran er sich noch erinnern konnte, war eine dunkle, verrußte Wand. Dieses letzte Traumbild noch vor Augen, versuchte er sich zu orientieren. Wo war er? Ah ja, in seinem neu erworbenen Haus. Ein Geräusch hatte ihn aus seinem sonderbaren Traum gerissen. Die Wand gehörte zu dem alten Weinkeller seines Elternhauses, genau, jetzt erinnerte er sich wieder. Etwas Unheimliches hatte in seinem Traum da unten gelauert, ein nicht greifbares Grauen. Nun wusste er auch warum ihn so fröstelte, seine Decke lag auf dem Boden neben dem Bett. Schlaftrunken beugte er sich runter und zog sie wieder rauf, deckte sich zu, blieb aber aufrecht im Bett sitzen. Etwas beunruhigte ihn. Er hatte das Gefühl, nicht allein im Zimmer zu sein. Zwar kannte er dieses Gefühl nur zu gut seit Simon gestorben war, doch diesmal fühlte es sich anders an. Nicht beruhigend, sondern beängstigend. Trotzdem wandte er sich der anderen Bettseite zu und fragte in die Stille hinein: „Simon?“

Natürlich keine Antwort. Doch kurz darauf breitete sich wieder dieses bereits gewohnte, beruhigende Gefühl in ihm aus. Er glaubte nicht ans Paranormale, auch wenn er hauptberuflich darüber schrieb. Und er hatte in den letzten Monaten, dem letzten Jahr, oft das Gefühl gehabt, Simon sei noch auf irgendeine Art und Weise bei ihm, doch das war seine Art, mit dem plötzlichen Verlust seines geliebten Lebensgefährten umzugehen. Er war Atheist, zum Teufel! Weshalb fürchtete er sich in der Dunkelheit? Womöglich sollte ich mich auf Liebesromane verlegen, schoss es ihm durch den Kopf und brachte ihn zum Schmunzeln. Doch da war das Geräusch wieder. Es hörte sich an wie leise Schritte. Okay, es bestünde auch die Möglichkeit, dass eingebrochen worden war und jetzt jemand in seinem Haus herumschlich. So leise wie nur möglich stieg er aus dem Bett und schlich zur Tür, öffnete sie vorsichtig und spähte in die Küche, die an der gegenüberliegenden Seite des Ganges lag. Schnell knipste er das Licht an und sah sich um. Hier war niemand. Im Vorbeigehen schnappte er sich sein größtes Küchenmesser und zog den Vorhang, der den kleinen Abstellraum in der Küche vom restlichen Raum trennte, rasch beiseite. Nichts. Dafür ließ ihn ein plötzliches, lautes Geräusch herumfahren. Das Glas, das er am Vorabend neben die Spüle gestellt hatte, war heruntergefallen und in mehrere Teile zerbrochen. Gab es vielleicht eine zurückgelassene Hauskatze, von der er nichts wusste? Seufzend klaubte er die Teile zusammen, kehrte die Splitter auf und warf alles in den Mistkübel. Als er sich aufrichtete, spürte er etwas neben sich. Eine Art zarten Lufthauch, so als ob jemand rasch neben ihm vorbeigegangen wäre.

Doch ein Geist?

Wie als Antwort auf seinen Gedanken flackerte auf einmal die Glühbirne und es gab einen dumpfen Laut, der Esstisch rückte ein kleines Stück nach hinten. Verkrampft stand er mit seinem kleinen Besen und der Schaufel vor der Spüle und starrte den Tisch an. Eine knappe Minute lang blieb es ruhig, dann zog wieder ein Lufthauch an ihm vorbei. Er kniff sich in den Unterarm, was schmerzte. Wach war er anscheinend. Mit vor Angst steifen Gliedern stellte er die Kehr-Utensilien ins Eck und begab sich wieder ins Schlafzimmer, ließ die Tür aber diesmal offen und knipste das Licht an. An Schlaf war jetzt sowieso nicht mehr zu denken, er sah auf die Uhr. 2:43. Er holte seinen Laptop zu sich ins Bett und versuchte, zu schreiben. Wenn er schon wach war, konnte er das ja ausnutzen. Theoretisch. Praktisch war er mit seinen Sinnen im Rest des Hauses und achtete auf jedes noch so kleine Geräusch. Ungefähr eine Stunde saß er so da, dann entspannte er sich allmählich. Er schloss das Schreibprogramm und öffnete stattdessen einen Streamingdienst und sah sich eine Folge Star Trek – The Next Generation an, während er an Simon dachte. Sie hatten immer gemeinsam Star Trek geschaut, wenn es einem von ihnen nicht gut ging, sie gestritten und sich wieder versöhnt hatten – oder ihnen einfach langweilig gewesen war. Diese Serie war wie eine warme Umarmung, und einen Augenblick lang fühlte er sich auch tatsächlich umarmt. Er lächelte verträumt und lehnte sich zurück, schlief allmählich ein.

 

Stimmen von den Nachbarn draußen weckten ihn. Er war mit dem Laptop auf dem Schoß eingeschlafen, der in der Nacht seitlich runtergerutscht war und nun auf der anderen Bettseite schief dalag und ihn fast vorwurfsvoll anzustarren schien mit seinem schwarzen Bildschirm. Christoph streckte sich ausgiebig und stand auf. Sein erster Weg führte ihn nicht aufs Klo, wo er eigentlich hin musste, sondern in die Küche. Ein Blick in den Mistkübel bestätigte ihm, dass das nächtliche Intermezzo tatsächlich stattgefunden hatte, was ihn alles andere als beruhigte. Nachdem er einen Moment lang unschlüssig dagestanden war, machte er auf dem Absatz kehrt und suchte das WC auf. Vielleicht hatte er ja doch geträumt und war schlafgewandelt? Das hatte er zwar seit seiner Kindheit nicht mehr getan, doch er war zumindest mal Schlafwandler gewesen. Der Tod Simons, der Umzug in dieses Haus - sein Leben hatte sich für ihn, den introvertierten Horror-Schriftsteller, zu sehr verändert. Grund genug, dass diese Sache nach über vierzig Jahren wieder auftauchen konnte. Er trauerte, war gestresst, befand sich in einer für ihn noch unbekannten Umgebung. Nach dem Frühstück würde er einen ausgedehnten Spaziergang durch die Ortschaft machen und sich genau ansehen, wo er da hingezogen war. Vielleicht kurze Gespräche mit den Nachbarn führen, was ihn zwar einige Überwindung kosten würde, doch er würde es tun.

 

Am Abend desselben Tages begab er sich etwas früher als sonst ins Bett und war zufrieden mit sich selbst. Er hatte alles getan was er sich vorgenommen hatte und fühlte sich besser. Die Nachbarn, die er angetroffen hatte, schienen in Ordnung zu sein. Als schwuler Mann, der in einer kleinen Ortschaft im Burgenland aufgewachsen war, hatte er in seiner Jugend schlechte Erfahrungen mit der Landbevölkerung gemacht. Um auszutesten, wie die Leute hier so tickten, hatte er keinen Hehl aus seiner Neigung gemacht und jedem, der nach seinem Familienstand gefragt hatte, erzählt, dass sein Lebensgefährte gestorben war und er deshalb einen Ortswechsel gebraucht hatte. Die Reaktionen waren durchwegs okay gewesen, auch wenn er nicht genau wusste ob das betretene Schweigen, das manchmal darauf gefolgt war, dem Mitgefühl ob seiner Trauer oder der Verstörtheit ob seiner Homosexualität geschuldet war. Jedenfalls hatte sich niemand angewidert abgewandt, das war schon mal positiv. Er schaltete das Fernsehgerät an und schlief kurz darauf ein.

 

Zwei Tage lang war nichts Außergewöhnliches vorgefallen, doch eines nachmittags hörte er Gepolter auf dem Dachboden. Wieder schnappte er sich ein Messer aus der Küche und stieg angespannt die Treppe hoch. Er öffnete die Tür und sah sich um, inspizierte jede Ecke da oben, traf aber niemanden an.

Hatte er Ratten? Aber die machten doch keinen solchen Radau?

Hier oben war es ungewöhnlich kalt. Es war März, draußen hatte es um die 15 Grad Celsius, doch hier drinnen fühlte es sich wesentlich kälter an. Er konnte seine Atemwolke sehen. Langsam steuerte er wieder auf den Raum in der Mitte zu. Dieser schien früher ein Schlafraum oder Gästezimmer gewesen zu sein, hier stand ein Bett und ein Kleiderschrank, ein Regal an der Wand. Auf der alten, unbezogenen Matratze des Bettes lag ein Brett. An der Wand unter dem Fenster lehnten ein paar andere, auch auf dem Boden lagen welche herum – und eins schwebte mitten in der Luft. Ungläubig starrte er es an. Ja, in der Tat. Es. Schwebte. Mitten. Im. Raum. Es hing an keinen Fäden oder Drähten (zu welchem Zwecke das auch immer gedient haben mochte). Dann ging alles zu schnell für ihn, um es sofort verarbeiten zu können. Das Brett fuhr auf ihn herab, doch bevor es ihn traf, wurde er von etwas Weichem niedergestoßen, das Brett fiel auf der Seite zu Boden, und in der Sekunde darauf hatte er ein Haarbüschel im Gesicht und spürte ein Gewicht auf seinem Becken. Die Haare waren brünett, relativ lang und lockig. Das war Simons Frisur. Simons Gesicht lugte dazwischen hervor. Er wirkte ängstlich, und seine Augen starrten ihn mindestens genauso überrascht an wie er ihn anstarren musste. Einige Augenblicke blieben sie so, Christoph auf dem Rücken - das Messer war ihm vor Schreck aus der Hand gefallen - Simon auf ihm sitzend, sich links und rechts von ihm abstützend. Dann sah sich Simon um, schien jemanden zu suchen. Offenbar fand er ihn nicht, denn nun wandte er sein Gesicht wieder Christoph zu. „Kannst du mich sehen?“ fragte er ihn leise und ungläubig.

Der nickte, des Sprechens noch nicht fähig.

„Und hören, anscheinend“, stellte Simon fest.

Wieder ein Nicken. Vorsichtig beugte sich Simon weiter runter, sodass sich ihre Nasen leicht berührten. Es war eine kalte Nasenspitze. Die Lippen, die danach zaghaft Christophs Lippen berührten, waren ebenso kalt. Der Körper, der sich anschließend voll auf ihn fallen ließ, fühlte sich nur allzu bekannt an. Die Wärme fehlte auch hier, doch es war eindeutig Simons zarte Statur. Christoph schloss seine Arme um ihn und drückte ihn fest an sich.

„Simon“, hauchte er schließlich. „Warst das die ganze Zeit du?“

„Nein“, antwortete der und sah ihm ernst in die Augen. „Da ist noch jemand. Er will dich aus dem Haus haben. Es ist seins. Sagt er.“

 

2

Simon

 

Er hatte ihn bereits erblickt, bevor er mit Christoph und der Maklerin das Haus betreten hatte. Der Mann war am Fenster gestanden und hatte grimmig herausgeschaut. Erst war Simon nicht klar gewesen, dass nur er ihn sehen konnte, doch als sie das Haus betraten und sich ihre Blicke trafen, verstand er. Sie standen im Vorraum, Christoph unterhielt sich mit der Maklerin, und beide ignorierten den etwas verwildert aussehenden Typen, der auf dem Treppenabsatz direkt neben ihnen stand. Als er, genau wie Simon, bemerkte, dass er gesehen wurde, gab er ein missmutiges Knurren von sich, drehte sich um und stieg die Stiegen zum Dachboden hinauf. Simon folgte ihm. Der Mann, der so um die sechzig sein musste, verschwand durch die Tür, er folgte ihm auf dem Fuße. Nach ein paar Schritten drehte er sich unvermittelt um und funkelte ihn an. „Verschwinde! Dieses Haus ist bereits besetzt!“

„Sorry, ich bin nur der Anhang. Christoph will es vielleicht kaufen.“

„Dann sag ihm, dass er das nicht tun soll“, knurrte der Typ.

„Das kann ich nicht.“

„Wieso nicht?“

„Er sieht mich nicht. Hört mich nicht.“

Da ihn der Griesgram daraufhin nur abschätzig ansah, fragte Simon: „Wie heißen Sie?“

„Geht dich nichts an. Wer ist dieser Christoph? Ich dachte, er wäre dein Vater. Ihr seht euch ähnlich.“

Das war nicht das erste Mal, dass jemand so etwas sagte. Ihnen selbst war es nicht aufgefallen, doch nachdem sie mehrmals darauf hingewiesen worden waren, hatten sie zugeben müssen, dass da was dran war. Simon sah tatsächlich ein wenig wie die jüngere Version von Christoph aus. Wenn dieser sehr, sehr früh Vater geworden wäre, wäre es sich auch ausgegangen. Zwischen ihnen war ein Altersunterschied von siebzehn Jahren.

„Er ist mein Partner“, antwortete Simon, um sich gleich darauf zu korrigieren: „War mein Partner.“

„Partner?“

„Partner im Sinne von Lebensgefährte.“

Nun sah er sich einem angeekelten Blick gegenüber. „Verschwindet!“ zischte der Mann, dann war er von einer Sekunde auf die andere weg. Selbst Simon konnte ihn nicht mehr sehen. Wie hatte er das gemacht?

Wieder unten, begab er sich zu Christoph und versuchte zum zigsten Male, sich bemerkbar zu machen, obwohl er wusste, dass es nichts bringen würde: „Kauf es nicht! Hier ist jemand!“

Nicht die geringste Reaktion. Noch einmal nahm er all seine Willenskraft zusammen und rief: „Geh! Bitte! Nimm es nicht!“

Doch Christoph sah sich mit der Maklerin jedes Zimmer, den Keller, den Garten an und schien - zu Simons Leidwesen – begeistert zu sein.

 

So begeistert, dass er es tatsächlich kaufte. Simon ahnte Schreckliches, als sie schließlich in das Haus zurückkehrten. Christoph hatte eine Umzugsfirma beauftragt, so war das einzige, das er zu tun hatte, die Umzugskartons auszuräumen und den Inhalt in den Kästen und Schränken zu verstauen. Das meiste davon ließ er allerdings noch in den Kartons, räumte nur das heraus, was ihm wichtig war. Simon hatte sich in der Zwischenzeit umgesehen, den alten, einsamen Wolf jedoch nirgendwo finden können.

Nachdem Christoph befunden hatte, mit dem Herumräumen fertig zu sein, war er in den Garten gegangen und hatte sich eine angeraucht. Simon fand, dass er fast wieder glücklich aussah. Er hätte es ihm sehr gewünscht, doch er wusste es besser. Der andere war vielleicht im Moment nicht sichtbar, aber er konnte ihn fühlen. Er hing bedrohlich im Haus hinter ihnen.

„Dieser Garten hätte dir gefallen“, sagte Christoph unvermittelt, Simon erschrak. Redete er mit ihm? Vermutlich, sonst war niemand da. Er lächelte. „Du hast recht. Obstbäume, genug Platz, um Gemüsebeete anzulegen … willst du jetzt auch anfangen zu gärtnern?“

Christoph seufzte und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. Er machte das immer wieder mal, beim ersten Mal hatte Simon gedacht, er würde ihn endlich wahrnehmen und tatsächlich mit ihm reden, doch das Gespräch verlief leider immer nur in eine Richtung. Inzwischen antwortete er trotzdem immer, auch wenn er wusste, dass Christoph es nicht hörte. Es gab ihm zumindest das Gefühl, mit ihm eine Konversation zu führen.

 

Es blieb ruhig bis kurz nach zwei Uhr morgens. Simon hatte sich wie immer neben Christoph gelegt und die Decke angestarrt. Zu Hause, in ihrer Wohnung, hatte er sich immer gelangweilt, wenn er schlief, doch hier war er bis aufs Äußerste gespannt und achtete auf jede Veränderung, weshalb er auch sofort die Gestalt bemerkte, die plötzlich in einer Ecke des Zimmers auftauchte. Simon setzte sich auf.

„Lass ihn in Ruhe“, knurrte er. Er erinnerte sich, dass der andere mit ihm auch sofort per Du gewesen war, also tat er es ihm gleich. Der Typ war zwar um einiges älter als er, aber er war schließlich auch kein Kind mehr. Und unter den Lebenden waren sie beide nicht mehr.

„Wenn du ihm nicht sagen kannst, dass er verschwinden soll, muss ich es auf meine Weise tun“, antwortete der bärtige Mann und näherte sich dem Bett.

„Was hast du vor?“

„Guter alter Spuk hilft immer“, antwortete er und ergriff einen Zipfel der Bettdecke.

Simon versuchte, sie zurückzuhalten, doch es war so wie immer – er griff durch sie hindurch, und so konnte sie von dem anderen mit Leichtigkeit weggezogen werden. Christoph stöhnte leise und drehte sich auf die andere Seite, wachte jedoch nicht gleich auf. Grimmig fixierte Simon seinen Widersacher mit den Augen.

„Warte nur ein bisschen, gleich ist er wach“, sagte der mit erhobenem Zeigefinger und richtete seinen Blick auf Christoph. Simon kletterte aus dem Bett, stellte sich neben ihn und berührte ihn zögerlich am Arm, da er wissen wollte, ob er zumindest mit ihm interagieren könne.

„Lass das!“ wurde er sofort angefahren, sodass er vor Schreck nicht gleich realisierte, dass er ihn auch tatsächlich spüren hatte können.

Da schlug Christoph die Augen auf. Einen Moment später richtete er sich auf, entdeckte die Decke auf dem Boden und holte sie wieder zurück, deckte sich halb zu, blieb aber sitzen und lauschte. Kurz darauf blickte er dorthin, wo Simon noch bis vor Kurzem gelegen war.

„Simon?“

Dieser erntete gerade zum zweiten Mal einen angewiderten Blick von seinem Daneben. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, kroch er wieder zu seinem Geliebten ins Bett und schloss seine Arme um ihn. Auch wenn er ihn weder hören noch sehen konnte, spüren konnte er ihn manchmal, das wusste er. Als Christoph lächelte, rümpfte die andere Gestalt die Nase und stapfte in Richtung Tür, durch die Tür. Christophs Lächeln gefror, Simon sah ihn verdutzt an. Hatte er das gehört? Jedenfalls erhob er sich nun und folgte allem Anschein nach der Gestalt. Mit dem Unterschied, dass er die Tür öffnen musste um durch sie hindurch zu gelangen. Simon folgte Christoph in die Küche. Der knipste das Licht an und schnappte sich ein Küchenmesser. Das wird dir nicht helfen, dachte Simon bei sich und fühlte sich gerade furchtbar hilflos. Der andere Kerl stand vor dem Esszimmertisch und beobachtete belustigt, wie Christoph zum Abstellraum schlich und den Vorhang zur Seite zog. Dann machte er einen Sprung in Richtung Spüle und beförderte das Trinkglas, das dort stand, mit einem Wisch auf den Boden, wo es zerschellte. Christoph fuhr herum, fing sich aber nach einer Schrecksekunde wieder, legte das Messer auf den Tisch, seufzte und begann, die Splitter aufzusammeln und zusammenzukehren. Als er alles in den Mistkübel warf, bemerkte Simon, dass der andere etwas vorhatte, er schien Christoph anspringen zu wollen, jedenfalls wollte er nicht warten, bis es geschah und eilte zur Stelle, warf sich gegen den Mann, wobei das Licht flackerte und der Tisch nach hinten rückte. Die grimmigen Augen seines Gegenübers sahen ihn auf einmal anerkennend an, er grinste hämisch und deutete nach oben in Richtung Glühbirne.

„Glückwunsch“, sagte er, „Das war jetzt nicht ich.“

Verblüfft ließ Simon wieder von ihm und drehte sich zu Christoph um. Der Arme war kreidebleich.

„Ich glaube, für heute haben wir ihm genug zugesetzt“, meinte der andere, Simon sah ihn strafend an. „Wir?“

Er grinste. „Ja, wir.“ – dann ging er rasch an Christoph vorbei und entschwand.

 

-

 

„… Es ist seins. Sagt er.“

„Er? Wer?“

Christoph, froh und überwältigt, seinen Simon wieder zu spüren, dämmerte nur sehr langsam, was der hier versuchte zu erklären.

„Er wollte mir seinen Namen nicht nennen. Soll ich von dir runter? Willst du sich aufsetzen?“

„Ich will den Rest meines Lebens hier liegen bleiben und dich auf mir spüren“, antwortete Christoph, mit Tränen in den Augen. Simon grinste sein breites Grinsen und sah liebevoll auf ihn herab. Endlich sah er ihn, redete er tatsächlich mit ihm. Wieder beugte er sich zu ihm runter und küsste ihn, diesmal heftiger. Es funktionierte, seine Lippen drückten sich an Christophs Lippen platt und er konnte sogar die piksenden Barthaare spüren.

„Du bist kalt“, flüsterte Christoph nach dem Kuss. „Aber ich kann dich spüren, du fühlst dich ansonsten genauso an wie … früher, als du noch gelebt hast. Wo bist du gewesen?“

„Ich war gar nicht weg“, antwortete Simon, mit Bedauern und Mitgefühl in der Stimme, „Ich war bei dir, die ganze Zeit. Von dem Augenblick an, als du mich gefunden hast – bis jetzt.“

„Okay, ich glaube, ich muss mich jetzt doch aufsetzen. Könntest du bitte …?“

Simon rollte sich von ihm runter und setzte sich im Schneidersitz neben ihm hin, wie er es immer getan hatte, egal wo. Christoph hatte ihn nur selten anders sitzen gesehen.

„Ich hoffe sehr, dass ich nicht durchdrehe und dich halluziniere. Andererseits … wäre es eine wunderbare Halluzination“, erklärte Christoph und streckte seine Hand aus, um Simon sanft über die Wange zu streicheln. Der lächelte.

„Ich bin keine Halluzination. Der andere übrigens auch nicht“, kam er aufs ursprüngliche Thema zurück. „Er will dich hier raushaben. Du sollst ausziehen oder er … ich befürchte, er könnte dir wehtun. Er wollte dich mit dem Brett da niederschlagen“, erklärte er und deutete hin. „Ich konnte es verhindern, genauso wie ich es verhindern konnte, dass er dich in der Nacht in der Küche anspringt. Es wäre besser, wenn du wieder ausziehen würdest.“

Christoph stöhnte. „Der Umzug war so mühsam. Können wir uns nicht arrangieren?“

Simon runzelte die Stirn. „Du willst dich mit einem griesgrämigen Hausgeist arrangieren?“

„Ich habe ja einen Vorteil: dich“, grinste er.

„Ich weiß aber nicht, wie lang ich als Ghost-Bodyguard nützlich bin. Ich bin selbst noch ganz überrascht, dass ich mich plötzlich materialisieren konnte. All die Monate habe ich es versucht. Habe versucht, mit dir zu sprechen, ich hab dich angeschrien, verdammt! Aber du hast mich nicht gehört. Und ich weiß nicht, wieso es jetzt klappt. Ich habe Angst, dass ich für dich wieder unsichtbar werden könnte. Genauso unerwartet, wie ich plötzlich sichtbar wurde.“

Christoph sah ihn einige Augenblicke lang an, blinzelte schließlich, wobei die Tränen runterkullerten, schniefte kurz und legte dann einen Arm um ihn, zog ihn zu sich, sodass der aus dem Schneidersitz in seine andere Lieblingsposition wechselte, mit den Beinen über Christophs Schoß.

„Aber ich hab dich gespürt, manchmal. Okay, ich habe mir danach gesagt, dass es ein Wunschdenken-Spüren war, ich war mir nicht sicher, ob du es tatsächlich warst. Aber wenn ich dich nicht halluziniere, dann warst du es, oder? Hast du mich nachts öfter mal umarmt?“

Simon nickte.

Auf einmal wurde Christoph rot. „Alter Schwede, du warst immer da? Du hast alles mitbekommen? Einen jeden Furz?“

Simon lachte auf. „Ja, aber wen man so jenseitig ist wie ich, stört einen das nicht. Ich hab nichts gerochen.“

Er drückte seine Nase in Christophs Halsbeuge und nahm einen tiefen Atemzug durch selbige. „Jetzt rieche ich dich erstaunlicherweise wieder.“

„Also nix mehr mit Furzen.“

Grinsen.

„Scheiße, wie hab ich dieses strahlende Grinsen vermisst“, hauchte Christoph, während er ihn anhimmelte.

„Wir müssen trotzdem was gegen den da tun“, erinnerte Simon ihn und deutete auf die Tür.

Christoph folgte seinem Finger und strengte seine Augen an. „Steht er dort?“

„Nein, momentan nicht. Er ist dorthinaus verschwunden. Er kann sich auch für mich unsichtbar machen, wenn er das will. Dann weiß ich nicht, wo er ist. Willst du wirklich nicht ausziehen?“

„Wenn es nicht sein muss, nein.“

„Und wenn er dich umbringt?“

„Kann er das?“

„Das weiß ich nicht. Er konnte jedenfalls Dinge tun, die ich nicht konnte.“

Probeweise zupfte Simon an Christophs Hemd. Er fühlte den Stoff zwischen seinen Fingern, der tat, was ein Stück Stoff so tat, wenn man es zwischen die Finger nahm. „Das konnte ich nicht“, flüsterte er, immer noch erstaunt darüber, dass das alles nun funktionierte.

„Könnte ich Sex mit dir haben?“, fragte Christoph nun unvermittelt.

Simon blickte ihn amüsiert an. „Ich habe keinen blassen Dunst.“

„Soll ich es versuchen?“

„Ich bin mir nicht sicher … der Typ hier hat was gegen Homos, fürchte ich. Er hat mich so angewidert angesehen, als ich es zur Sprache gebracht habe. Abgesehen davon … spüre ich nicht viel. Also kein Kribbeln in der Lendengegend“, erklärte er und zuckte entschuldigend die Achseln.

„Ach, macht nichts. Wir hatten so viel Sex in unseren elf Jahren, das reicht für den Rest meines Lebens“, erwiderte Christoph lächelnd.

„Willst du … willst du keinen anderen?“

Christoph sah ihn streng an. „Wollte ich dich ursprünglich? Nein. Ich hätte super damit leben können, bis ans Ende meiner Tage ein einsamer, alter, mürrischer Griesgram zu sein. Ab und zu ein hübsches Ding in die Matratze rammeln, ja. Aber nichts Festes. Du hast dich reingeschmeichelt und bist geblieben. Bis du mir das Herz gebrochen hast.“

„Ja. Das tut mir leid. Das tut mir echt leid. Ich habe gesehen, wie du gelitten hast. Es war kaum auszuhalten. Aber ich wollte noch nicht sterben. Ich wollte das nicht. Es ist so plötzlich passiert …“

„Wie ist es eigentlich passiert? Man sagte mir, dass du eine Hirnblutung hattest. Aber wie hast du das erlebt?“

„Ich hatte von einem Moment zum nächsten irrsinnige Kopfschmerzen. Das war, als hätte jemand mit einem Messer in mein Hirn gestochen und noch ein paarmal umgedreht. Mir wurde kotzübel und ich wollte mich zum Klo schleppen. Danach gingen die Lichter aus. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass du verzweifelt versucht hast, mich wiederzubeleben. Die Rettungsleute. Als sie mich mitgenommen und für tot erklärt haben. Wie du im Krankenhaus gesessen bist, regungslos, bis sie dir jemanden geschickt haben, der sich um dich kümmert. Ich habe eine Weile gebraucht, um zu verstehen, was ich da sehe. Dann habe ich mich gewundert, dass ich das sehe. Und dann habe ich versucht, mit dir zu kommunizieren.“

Schon wieder liefen Christoph die Tränen über die Wangen. Es war jetzt schon etwas über ein Jahr her, dass er Simon verloren hatte, und es hatte sich schon etwas gelegt, er hatte schon an ihn denken können, ohne heulen zu müssen. Jetzt kam alles wieder hoch. Simon legte seine Arme um ihn und drückte ihn. Es war eine kühle Umarmung, aber sie tat gut.

 

 

3

Der Hausherr

 

Da sich der andere Verblichene den Rest des Tages nicht mehr blicken ließ, krochen sie schließlich miteinander unter die Decke, um einander dort verliebt anzublicken. Den ganzen Tag über hatten sie miteinander gesprochen, über die Zeit vor, während und nach Simons Tod, sie hatten viel gelacht, da vieles im Nachhinein nun urkomisch wirkte, allerdings auch viel geheult, da alte Wunden wieder aufrissen, doch im Großen und Ganzen war es ein wunderbarer, unvergesslicher Tag für sie beide gewesen. Christoph hatte sogar wieder mit großem Appetit gegessen, während Simon dabeigesessen war und ihn dabei mit Geschichten aus dem Jenseits unterhalten hatte. Wie zum Beispiel der, als Christophs bester – und einziger – Freund Gerald sich fast auf ihn draufgesetzt hatte, als er zu Besuch gewesen war. Christoph hatte sich weggegackert.

Die selige Zweisamkeit war ihnen allerdings nicht allzu lang gegönnt, denn schon bald erblickte Christoph eine Gestalt aus dem Augenwinkel am Fußende des Bettes. Es fuhr ihm eiskalt durch die Glieder, als er seinen Kopf dorthin drehte und er ihn immer noch sah. Er setzte sich auf. Simon folgte seinem Blick, runzelte die Stirn und setzte sich ebenfalls auf.

„Du siehst ihn jetzt auch, oder?“

Christoph nickte.

Die Gestalt verschränkte die Arme vor der Brust. „Kannst du mich auch hören?“, fragte er Christoph, der augenblicklich zusammenzuckte und nickte.

„Sehr gut. Also, jetzt, wo du dein verlorenes Gspusi wiederhast, kannst du ja wieder gehen. Nimm ihn mit, du hast ihn ja auch mitgebracht. Lass mich allein hier in meinem Haus. Ich will keine Mitbewohner. Schon gar keine Schwuchteln.“

„Wann bist du denn gestorben?“, fragte Christoph.

„2003. Wieso?“

„Und damals warst du so alt wie du jetzt aussiehst?“

„Was sollen diese blöden Fragen?“

„Naja, ich will nur nachvollziehen können, weshalb du so abgeneigt uns gegenüber bist. Aber Fakt ist, dass wir gar keinen Sex mehr haben können. Wir können nur kuscheln und schmusen, miteinander im Bett liegen und uns anhimmeln. Stell dir vor, eine junge Familie zieht hier ein und zwei, drei kleine Kinder laufen hier schreiend herum.“

Die Gestalt machte ein Gesicht, als hätte sie in eine besonders saure Zitrone gebissen.

„Die würde ich ebenso rausspuken. Wie alle anderen davor.“

„Aber wieso willst du allein in diesem Haus sein? Ist das nicht langweilig? Oder nein – langweilig vermutlich nicht. Wenn du seit 2003 alle, die hier wohnen wollten, in die Flucht geschlagen hast …“ - er wandte sich zwischendurch an Simon: „Erinnere mich bitte daran, der Maklerin einen saftigen Brief zu schreiben“ – „… dann hast du wohl alle Hände voll zu tun, den Poltergeist zu spielen.“

Simon verkniff sich ein Grinsen. Wenn Christoph etwas besonders gut konnte, dann war das, Leute so lang niederzureden, bis sie entweder verwirrt waren oder er sie auf seine Seite gezogen hatte. Meistens beides. So wie es aussah, machte er gerade dasselbe bei Mister Hausgeist. Der stöhnte ein langgezogenes Stöhnen.

„Oh ja, sehr beeindruckend“, kommentierte Christoph, anerkennend nickend. „Ich wette, damit gruselst du die meisten. Aber im Ernst jetzt: Wäre es nicht wesentlich einfacher für dich, sich mit uns zu arrangieren? Ich mache keinerlei Radau, die Zeiten der mechanischen Schreibmaschine sind lang vorbei. Ich tippe meine Geschichten in meinen Laptop, bin froh, dass Simon bei mir ist – Schmusen muss drin sein – und außerdem gehe ich gern wandern, da bin ich mehrere Tage weg. Oder wenn ich eine Lesereise mache. Simon erzählte mir, dass er immer bei mir war, egal wohin ich gegangen bin, also scheint er an mich gebunden zu sein.“

Hier unterbrach er seinen Redeschwall kurz und sah sein Gegenüber prüfend an. Bevor Hausgeist etwas sagen konnte, setzte er fort: „Du hingegen scheinst an das Haus gebunden zu sein. Hast du es selbst gebaut? Hängst du deshalb so sehr dran? Ist deine Frau hier gestorben? Hattest du Kinder? Erinnerungen?“

„Hör auf“, knurrte Hausgeist. „Du nervst.“

„Nur jetzt, dann lasse ich dich in Ruhe, versprochen. Ich möchte nur sichergehen, dass es keine Alternative zum Wiederausziehen gibt, bevor ich aufgebe. Wenn es keine gibt - okay, ja, dann gehe ich. Aber denk drüber nach. Du wirst keine ruhigeren Untermieter bekommen als einen Schriftsteller und seinen toten Gefährten. Und wenn die dieses Haus hier niemals länger als ein paar Wochen oder Monate an den Mann, die Frau oder wenauchimmer bringen können“, hier pausierte er und sah ihm tief in die Augen, „Scheiße, dann bin ich mir sicher, dass sie es bald abreißen werden.“

Das traf ins Schwarze. Das zweite Mal, seit Simon ihm begegnet war, zeigte der Mann eine andere Regung als Missmut, ein Aufkommen von Panik. Das erste Mal war der kurze Anflug von Anerkennung in der Küche gewesen.

Nach der Schrecksekunde brummte er ein: „Lass mich darüber nachdenken“, dann – popp – war er verschwunden.

Christoph wandte sich an Simon: „Siehst du ihn noch?“

Der schüttelte den Kopf.

„War ich gut?“

Simon lachte aus vollem Halse. „Das hast du mich im Bett noch nie gefragt. Aber ja. Du warst super. Auf jeden Fall hast du deinen Standpunkt gut rübergebracht, er scheint es verstanden zu haben. Ich bin gespannt, wie er sich entscheiden wird.“

Christoph nickte. „Sollen wir versuchen zu schlafen oder meinst du, er kommt gleich wieder?“

„Schlaf nur, wenn du kannst. Ich schlafe nicht mehr. Ich wecke dich, sollte er in der Nacht nochmal auftauchen.“

„Du armer Spatz, du kannst nicht schlafen? Was machst du denn immer, wenn ich es tue?“

„Ich bin einfach neben dir gelegen und hab die Decke angestarrt. Hab den Geräuschen des Hauses gelauscht. Ich muss sagen, dass es hier, obwohl der Kerl anfänglich sehr beängstigend rübergekommen ist, besser ist. Hier hatte ich jede Nacht etwas zu tun. Ich war dein Wachhund.“

Er grinste Christoph an, der zurückgrinste.

„Ich habe den süßesten Wachhund der Weltgeschichte“, flüsterte er, während er ihm über die kalte Wange streichelte. „Ich hoffe, du bleibst in diesem Zustand. Das macht mich sehr glücklich.“

 

Christoph stand auf der Terrasse, schlürfte seinen Kaffee und blickte auf den verwilderten Garten hinab. Allmählich begann alles zu knospen, es war Mitte März und der Morgen an Schönheit kaum zu überbieten. Es war kühl, aber sonnig und Simon stand neben ihm, die Hände in den Taschen seiner Jogginghose. Christoph grinste.

„Achte darauf, was du anziehst, denn solltest du sterben, bleibt das dein Geister-Outfit für die Ewigkeit“, bemerkte er, Simon runzelte die Stirn und sah ihn an.

„Was?“

„Das hab ich mal wo gelesen. Und es stimmt, offenbar. Du trägst das, was du getragen hast, als du gestorben bist. Dieses Schlabbershirt und deine Jogginghose.“

An sich hinabblickend, stimmte Simon zu. „In der Tat. Könnte aber schlimmer sein. Ich frage mich, ob ich etwas anziehen könnte, wäre ich nackt gestorben.“

„Dir ist nicht kalt, oder?“, fragte Christoph und deutete auf Simons nackte Füße.

„Nein, überhaupt nicht.“

Christoph nippte am Kaffee. „Er lässt sich ganz schön Zeit, was? Ob er es mit Absicht rauszögert?“

„Kann sein“, antwortete Simon, achselzuckend.

„Komm mit“, forderte Christoph ihn auf, ging ihm voraus ins Schlafzimmer, zum Kleiderkasten, holte frische Unterwäsche, Socken, eine Hose, ein Hemd, ein Gilet und ein Sakko raus. „Zieh dich aus und das hier an.“

Einen Moment zögerte Simon, doch dann tat er, wie Christoph ihm geheißen hatte. Sie hatten eine ähnliche Statur, beide waren sie lang und dürr, weshalb Christoph ihm oft seine Outfits geliehen hatte, vor allem, wenn er eine Lesung hielt. Er liebte Second Hand Anzüge aus den Siebzigern, die ihm auch exzellent standen. Simon machte darin ebenfalls eine gute Figur, obwohl er diese Sachen ohne Christophs Zutun nie getragen hätte.

Dabei war es mal bei einer Lesung zu einer witzigen Verwechslung gekommen. Auf einmal hatte ihn jemand leicht am Arm berührt und gemeint, es wäre an der Zeit, anzufangen. Als er ihn daraufhin verdutzt angesehen und der Besitzer des Buchladens seinen Fehler bemerkt hatte, war Christoph in schallendes Gelächter ausgebrochen. Es hatte ihn köstlich amüsiert, dass sein damals 23-jähriger Geliebter für ihn, damals 40, gehalten worden war. Das hatte ihm geschmeichelt, obwohl ihm bewusst war, dass er eher älter als jünger wirkte.

Simon stellte sich vor den Spiegel und sah sich an. Dann grinste er. „Kannst du dich erinnern, als dieser Buchhändler …“

„Ja“, antwortete Christoph grinsend. „Das war köstlich. Du hättest dein Gesicht sehen sollen, Süßer. Du hast es zustande gebracht, außer verdutzt noch gleichzeitig schockiert, entrüstet, geehrt und beschämt auszusehen.“

„Nun, also, das beantwortet offenbar meine Frage, ob ich etwas anziehen könnte, sollte ich nackt über den Jordan gegangen sein.“

„Ich frage mich, ob dich auch andere sehen können.“

„Wahrscheinlich nicht“, kam die Antwort von hinter ihnen. Sie zuckten zusammen und drehten sich um. Da war er wieder.

„Guten Morgen“, begrüßte Christoph ihn, sich selbst wundernd, wie gelassen er das alles hinnehmen konnte. Ab einem gewissen Punkt, wenn das Zwiegespräch mit einem Verstorbenen bereits zur Normalität wurde, konnte einen offenbar so schnell nichts mehr aus der Ruhe bringen. „Hast du eine Antwort für mich?“, schob er seine Frage nach.

„Ja. Du – ihr – könnt bleiben. Ich will nicht, dass mein Haus abgerissen wird. Das wäre das Schlimmste überhaupt.“

Christoph atmete hörbar erleichtert ein und aus.

„Übrigens ist das mit der Kleidung so eine Sache. Ich habe die alte Hofer mal fast zu Tode erschreckt, als ich mir einen Mantel übergeworfen hatte, den ich bei meinem Ableben nicht anhatte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nur diesen im Vorbeigehen gesehen hat, nicht mich. Ich habe noch nie eine neunzig Jahre alte Frau mit Gehhilfe so schnell am Haus vorbeeilen sehen. Habe ich die Sachen an, die ich immer anhabe, sieht mich niemand.“

„Gut zu wissen, danke“, sagte Simon.

„Folgende Regel gilt aber“, erklärte Rauschebart, „Ihr kommt nicht nach oben. Ich bewohne das Dachgeschoss, ihr bleibt unten.“

„Damit kann ich leben“, meinte Christoph und blickte Simon an, der ebenfalls zustimmend nickte.

„Und bitte, stirb nicht im Haus“, ergänzte er, an Christoph gewandt. „Falls möglich, tu es draußen. Ich kann eine Weile mit euch leben, aber ich will euch nicht bis in alle Ewigkeit hier herumhängen haben.“

Christoph grinste breit. „Falls möglich, werde ich das tun.“

„Dürfen wir jetzt erfahren, wie du heißt?“, fragte Simon, „Ich meine, jetzt, wo wir eine Wohngemeinschaft sind?“

Der Mann trat vor, wirkte etwas unsicher und nervös, streckte dann aber die Hand in Simons Richtung aus, drückte die seine und stellte sich als Hans vor. Anschließend drückte er Christophs Hand.

„Dann ist es besiegelt“, sprach Christoph, in bedeutungsschwangerem Ton. „Sehr schön. Ein Horror-Autor in Wohngemeinschaft mit zwei Verblichenen. Gibt es was Besseres? Äh – Hans? Möchtest du, dass ich deine Geschichte erzähle? Hast du eine interessante Geschichte zu erzählen? Ich wette, die hast du.“

Der nickte. „Habe ich. Du würdest darüber schreiben? Ehrlich?“

„Ja. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, dafür, dass du mich hier leben lässt. Mit Simon an meiner Seite. Ich möchte dir etwas zurückgeben.“

Erstaunt sahen sie in Hans’ Richtung, als, zum ersten Mal seit 2003, ein strahlendes Lächeln in dessen Gesicht erblühte.

Impressum

Texte: Birgit Muskovich
Cover: Bild von LoggaWiggler auf Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 11.03.2023

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meinem Bruder. Ich wünschte, er würde bei mir rumspuken.

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