Es war ein verdammt heißer Sommer. Alles begann damit, dass meine Kollegen in der Firma, in der ich damals seit knapp einem Jahr arbeitete, durch ein blödes Missverständnis dahinter kamen, dass ich schwul bin. Was für mich nicht weiter schlimm war, denn, hätte man mich direkt darauf angesprochen, hätte ich nicht gelogen, um zu es verheimlichen. Doch ich war bis dato noch nie darauf angesprochen worden und meine Einstellung hierzu war: ich muss es ihnen ja nicht auf die Nase binden, oder? Ist es wirklich wichtig, dass sie es wissen? Anscheinend war es aber wichtig, denn durch mein Outing in der Firma änderte sich mein gesamtes Leben. Komisch. Da glaubt man, ein selbstsicherer homosexueller Mensch und stolz darauf zu sein, und plötzlich – aus heiterem Himmel – fällt einem auf, dass man sich die meiste Zeit eigentlich versteckt hat. Nun also, ich änderte mein Verhalten, Gay Pride schlug sozusagen mit aller Wucht zu. Plötzlich war ich viel offener meiner Umwelt gegenüber, lächelte hier und dort einen Typen an, der mir gefiel – und bekam gar nicht so viele entsetzte Blicke zurückgeworfen, wie ich befürchtet hatte. Gegen Ende dieses unbarmherzigen Sommers krempelte noch etwas mein bereits umgekrempeltes Leben vollends um. Ich lernte einen Mann kennen. Nämlich den Mann. Sein Name war Claus, und wir kamen uns durch unsere Weltfremdheit näher. In der Schwulenkneipe, in der ich mich mit Vorliebe aufhielt, stand er auf einmal neben mir, wohl schon etwas länger, doch erst durch Phillips herausgekrähten News über den Terroranschlag in New York bemerkte ich ihn, da aus seinem Mund dasselbe wie aus meinem kam: „Anschlag?“
Hätte ich in dieser Woche gearbeitet, wäre ich wohl durch Kollegen informiert gewesen, doch ich hatte mir frei genommen gehabt. Und nichts steht mir ferner als die Tageszeitung zu lesen oder mir gar Nachrichten anzusehen. Ich wandte mich ihm zu und war von den Socken. Nicht, dass er so überdrüber gut ausgesehen hätte, einem anderen hätte er vielleicht gar nicht gefallen. Aber es waren seine Augen, dieser Blick, mit dem er mich ansah, der meine Knie weich werden ließ. Ein Blitzschlag fuhr durch meinen Körper. New York war mir mit einem Mal wieder so wurscht wie noch kurz zuvor, ich begann ein Gespräch mit ihm. Der Kerl faszinierte mich. Er stand so weit außerhalb der Gesellschaft, wie ich selbst gern gestanden wäre. Durch meinen Job jedoch wurde ich immer wieder in die Realität gedrückt. Claus arbeitete am Theater, als Dramaturg. Es dauerte an die drei Wochen, bis wir uns so nah kamen, wie ich ihm bereits am ersten Abend gern gekommen wäre. Er wirkte durchaus interessiert, doch irgendetwas schien ihn daran zu hindern, sich an mir zu vergreifen. Dasselbe Irgendetwas hielt auch mich zurück, genauso wie es mich gleichzeitig zu ihm hinzog.
Als wir das erste Mal miteinander in meinem Bett landeten, war mir zum Heulen zumute. Wir waren noch vollständig bekleidet gewesen und schmusten bloß miteinander, doch mir war, als würde er sich bereits in mir befinden. Nicht körperlich. Ich war von dieser Nähe so sehr überwältigt, so tief beeindruckt, dass ich direkt Angst davor bekam, wenn ich daran dachte, wie es erst sein müsste, wenn wir uns tatsächlich körperlich vereinigen würden. Ich hatte bereits mehrere Männer gehabt, auch verliebt war ich schon des öfteren gewesen, doch so stark hatte ich es bis dato noch nie empfunden. Ich geriet in Panik, weshalb ich ihn schließlich sanft von mir wegdrückte, mich aufsetzte und ihn – vermutlich entsetzt - ansah. Was mich in diesem Moment etwas beruhigte, war, dass er ähnlich zu empfinden schien. Er setzte sich auf meinen Schoß, nahm mich erneut in die Arme – und sah mich ebenfalls schweigend an.
„Wir können es natürlich auch beim Platonischen belassen“, kam es endlich neckisch aus seinem Mund. Ich kam mir vor wie ein Idiot. „Ich ... pff ... ich weiß nicht, was los ist“, erwiderte ich zaghaft, „Tut mir leid. Irgendetwas macht mir Angst.“
„Mir auch“, gab er zu. „Wie gesagt, wir können es auch lassen.“
„Das will ich aber auch nicht“, raunzte ich. Dadurch, dass wir miteinander redeten, entspannte sich die Situation etwas.
„Na dann ...“, begann er, grinsend, „... tun wir’s eben.“
Ich erlebte eine unvergessliche Nacht. Es war nicht so, dass wir hundert Stellungen ausprobiert oder die ganze Nacht durchgevögelt hätten. Wir machten es einmal miteinander, verloren dabei den Verstand – und lagen den Rest der Nacht wach nebeneinander. Die Intensität meiner Gefühle hatte etwas Gruseliges an sich. Auch ging mir die ganze Zeit ein Thema durch den Kopf, über das wir uns fast jedes Mal, wenn wir zusammengetroffen waren, unterhalten hatten. Über Mörder und Leichen an sich. Wir waren beide gleich fasziniert davon. Er wirkte auf mich wie ein Mann, den es kaum Überwindung kosten würde, jemandem das Licht auszublasen. Noch die Woche davor hatte er gewitzelt, mal einen hübschen Mann für mich zu ermorden, damit ich den Verwesungsvorgang dokumentieren könne. Damals hatte ich noch darüber gelacht, hier, in der Dunkelheit, neben ihm, stellte es mir beim Gedanken daran die Haare auf, doch durchaus nicht nur vor Furcht. Es hatte etwas Erregendes an sich. Irgendwann drückte er meine Hand und begann, leise: „Hast du auch das Gefühl, dass wir uns schon lange kennen?“
Ich nickte erst, bis mir bewusst wurde, dass er das in der Dunkelheit wohl nicht sehen könne und hauchte ein Ja. Dann erneutes Schweigen.
„Glaubst du an Reinkarnation?“
„Nein ... ja ... ich weiß nicht“, antwortete ich zögernd, „Ich würde gern daran glauben. Aber ich glaube eher, dass das Wunschdenken ist. Wer will denn schon, dass es einmal endet? Reinkarnation ist das schönste Argument gegen Todesangst.“
Claus lachte auf. „Da hast du Recht. Andererseits ... wie erklärst du dir das, was da zwischen uns ist, sonst?“
„Keine Ahnung. Allerdings will ich auch nicht alles wissen. Du?“
„Manchmal schon.“
Den Rest der Nacht ergingen wir uns in diversen Spekulationen, philosophierten am Sinn des Lebens herum und kamen auf keinen grünen Zweig. Zumindest eines wussten wir danach: Wir hatten uns hoffnungslos ineinander verliebt.
Schon ein paar Wochen später zog er bei mir ein. Unsere Beziehung war durchaus harmonisch, dennoch stand immer etwas zwischen uns, etwas, wohinter wir nicht kamen. Nicht von selbst. Der Tod seines Vaters sollte uns den Auftakt zur Klärung geben. Auch hatte ich in dieser Zeit einen Traum, den ich nicht mehr vergessen konnte. In diesem stieg ich einen Hang hinauf, der grün war wie die schottischen Highlands, und oben sah ich bereits von Weitem eine alte, verwitterte Holzhütte stehen, vor der ein älterer Mann saß, der verblüffende Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Ian Holm hatte. Er hatte langes, graues Haar und einen Vollbart, der ihm bis zur Brust reichte. Zunächst war er überrascht, mich zu sehen, nahm mich dann aber an der Hand und führte mich in der Gegend herum. Ich erblickte einen dichten Wald, saftig grüne Wiesen und einen Steilhang, von dessen Spitze aus der Alte mir die Aussicht zeigte. Nirgendwo waren Häuser, Straßen oder Menschen zu sehen. Alles Natur, alles friedlich. Ich fühlte mich so wohl wie schon lange nicht mehr und wollte nicht mehr weg von diesem Ort. Doch der alte Mann deutete mir unmissverständlich, wieder zu gehen (die ganze Zeit über sprach er kein Wort mit mir), was ich denn auch tat und in ein kleines Dörfchen zurückkehrte. Dort konnte ich Handwerker beobachten, die mittels uralter Technik Rohstoffe bearbeiteten – Blockhütten, soweit das Auge reichte - und die Leute trugen mittelalterliche Kleidung. Mein Zuhause bildete da keine Ausnahme. Todmüde von der langen Wanderung legte ich mich dort ins Bett und schlief schnell ein. Ein paar mal wiederholten sich die Ausflüge, wobei ich mitbekam, dass es den Einwohnern des kleinen Örtchens missfiel, dass ich den alten Mann besuchte. Sie sagten, er sei ein böser Zauberer und ich solle mich lieber von ihm fernhalten, der Mann stehe mit Waldgeistern im Bunde und so weiter. Dem zum Trotz oder besser gerade deshalb zog es mich wieder und wieder hin. Kurz bevor ich erwachte, sprach der Alte zu mir. Er sagte, dass er von mir beeindruckt sei, da ich mich der Dorfgemeinschaft widersetze und er mir deshalb sein Geheimnis verrate. Er führte mich erneut in den Wald, diesmal tiefer hinein – und der Wecker läutete. Ich fluchte und drückte auf den Knopf. Ärgerlich wankte ich ins Badezimmer und begann meine Metamorphose zum zivilisierten Menschen. Zu gern hätte ich gewusst, was der Alte mir zeigen wollte. Ein Elfenvölkchen? Waldgeister? Eine Pforte in ein Paralleluniversum? Ich würde es wohl nie erfahren.
Als die beiden Skinheads vor uns standen, hatte ich das Gefühl, unser letztes Stündlein habe geschlagen. Der Tag hatte so wunderbar begonnen, wir hatten gemeinsam gefrühstückt, geduscht, Sex gehabt, und uns nach einem späten Mittagessen aufgemacht, um im der Parkanlage des Praters spazieren zu gehen und dabei das Leben zu genießen. Wir gehören zwar nicht zu den Händchenhaltern, aber wenn’s uns überkommt, umarmen und küssen wir uns sehr wohl in der Öffentlichkeit, womit wir bis dato auch nie ärgeres als verkniffen-verächtliche Blicke provoziert gehabt hatten. Wie gesagt, bis dato. An diesem Tag aber hatten zwei Glatzköpfe beschlossen, die Welt ein bisschen unschwuler zu machen, indem sie sich plötzlich vor uns aufbauten, erst beleidigend und dann bedrohlich wurden. Claus ist kein Mensch, der sich einschüchtern lässt, ich sehr wohl. Hätte ich ihn nicht weggezogen, hätte er sich wahrscheinlich allein mit den beiden geprügelt, und ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht gut ausgegangen wäre. Jedenfalls zog ich ihn mit aller Kraft von den Arschlöchern weg, just als die erste Faust durch die Luft sauste – und ihr Ziel, Claus‘ Gesicht, damit verfehlte.
„Scheiße, renn!!“, zischte ich Claus zu, der – dem Himmel sei Dank – auf mich hörte und mit mir querwaldein lief, wo wir die beiden nach circa zwei, drei Minuten abgehängt hatten. Und hier beginnt die Geschichte erst, wirklich interessant zu werden.
Wir liefen, ich keuchte und japste, und gerade, als ich Claus‘ Arm ergriff, um ihm zu sagen, wir könnten jetzt stehen bleiben, da ich unsere Verfolger, die beide sicher zwanzig Kilo mehr als wir auf die Waage brachten, sowieso nicht mehr hören konnte, blendete mich grelles Licht, gleichzeitig war mir, als würde ich kurz das Bewusstsein verlieren. Ich umfasste Claus‘ Arm noch fester und torkelte schließlich mit ihm in eine Waldlichtung hinein. Doch nein! Es war gar keine Waldlichtung, der Wald war hier zu Ende, doch ich kannte diese Stelle überhaupt nicht. Als ich mich irritiert umsah, tippte mir Claus auf die Schulter und deutete hinter sich. Der Wald war hier auch nicht zu Ende, er war völlig verschwunden! Rund um uns herum erstreckte sich eine weite Grasfläche. Keine Spur von Bäumen.
„Zwick mich bitte, das muss ein Traum sein“, murmelte ich und sah mir Claus genau an, in der Annahme, er würde sich jetzt gleich entweder auflösen oder in etwas Außergewöhnliches verwandeln. Doch nichts dergleichen geschah, er stand genauso hilflos in der Gegend herum wie ich selbst. Eine kühle Brise strich übers Land, und es fühlte sich ziemlich echt an. Was nun?
Nach geschätzt drei Stunden Fußmarsch gelangten wir endlich an eine Straße, eine Landstraße, die wir Richtung Osten aufwärts entlanggingen, da wir dort in der Ferne einen Lichtschein erkennen konnten. Natürlich rätselten wir während unserer Wanderung herum, wie wir hierher gelangt sein könnten, doch ergebnislos. Je mehr uns die Müdigkeit befiel (es musste ungefähr 22, 23 Uhr gewesen sein, eine Uhr hatten wir beide nicht bei uns) desto einerlei wurde es uns allerdings; was wir wollten, war bloß ein Flecken Zivilisation. Menschen, die wir fragen konnten. Der Schein trog nicht, nach einer Weile erspähten wir tatsächlich eine größere Ortschaft in der Ferne und beschleunigten unsere Schritte. Claus klopfte an die erstbeste Tür. Eine Frau öffnete, sah uns verdattert an, beantwortete nur knapp unsere Fragen von wegen wo wir hier seien (der Ort nannte sich Grenzdorf) und ob wir telefonieren dürften (nein), und verwies uns schließlich an die Adresse Hauptplatz 1, wo wir mehr erfahren würden. Es handelte sich hierbei um das Rathaus, welches recht imposant dreistöckig und jugendstil-artig in der Mitte einer kleinen Parkanlage aus der Erde ragte. Im unteren Geschoss brannte noch Licht. Claus versuchte zaghaft, die schwere Holztür mit dem hübsch verzierten Metallknauf aufzudrücken, und sie gab tatsächlich nach. Einen Augenblick später befanden wir uns in einer schwach beleuchteten Vorhalle, rechts von uns eine von zwei kleinen Öllampen beleuchtete Tür mir der Aufschrift Portier. Aufgeregt klopfte Claus an. Drinnen stöhnte jemand, schien sich schwerfällig von einem Sessel zu erheben und stapfte zur Tür. Uns öffnete ein ergrauter Mann zwischen fünfzig und sechzig und sah uns mindestens so erstaunt an wie die Dame vorhin, jedoch wesentlich freundlicher.
„Was führt zwei junge Burschen wie euch zu so später Stunde in unser Dorf?“, fragte er, „Ihr seid ja offensichtlich nicht von hier, ich kenne euch nicht ...“
„Wir würden gern wissen wo wir hier sind“, sprach Claus, der in diesem Moment der Gefasstere von uns beiden war. Ich selbst fühlte mich derart der Welt entrückt, dass es mir die Rede verschlagen hatte. Der Mann hob die Brauen, hielt kurz inne, wandte sich um und setzte sich an seinen Schreibtisch. „Ihr wisst es also nicht? Wisst ihr, wie ihr hergekommen seid?“
„Offen gesagt: nein“, antwortete ich, allmählich wieder des Sprechens mächtig, und beobachtete ihn verdutzt, wie er so gar nicht überrascht einen alten Akt herauskramte, ihn aufschlug und seine Hände darauf faltete, während er mit beruhigender Stimme, wie ein Arzt, der einem erklären muss, dass man an Krebs erkrankt sei, sprach: „Dann nehme ich an, ihr kommt vom alten Grenzfeld – eine große, weite Wiese nunmehr ... die Bauern bepflanzen den Boden dort schon lange nicht mehr, weil ... na ja, dazu später – habe ich Recht?“
„Äh – ja“, hörte ich mich sagen.
„Bitte, setzt euch. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas hier passiert – nur das erste Mal, dass zwei Leute gleichzeitig durchgekommen sind. Das ist schon bemerkenswert ...“, er machte sich Notizen und fuhr schließlich fort: „Nun, das ist auch der Grund, weshalb das Rathaus rund um die Uhr besetzt ist. Die Leute meinten zwar schon, es sei unnötig geworden, da sich jetzt seit gut sechzig Jahren niemand mehr zu uns verirrt hat, doch wie man sieht ...“, er lächelte, „... hat die alte Pforte nur geruht, sie hat sich nicht geschlossen. Ihr werdet sicherlich viele Fragen haben, und wenn ihr nicht zu ermüdet seid, beantworte ich sie euch gern.“
„Wo liegt dieses Grenzdorf?“, fragte Claus, „Doch noch in Österreich, oder? Sie sprechen ...“
Der Mann winkte ab. „Tut mir leid, dass ich Sie unterbreche, junger Mann, aber wir leben hier in einer Ihnen unbekannten Welt. Andere Länder, andere Namen, andere Sitten. Zwar kennen wir dieselben Gestirne, und auch unser Planet scheint sich genauso entwickelt zu haben wie der Eure, doch sehr viele Dinge sind anders. Es hat auch keinen Sinn, wenn Sie telefonieren, denn, obwohl wir von euch wissen, haben wir noch keinen Weg gefunden, zu euch Kontakt aufzunehmen. Der einzige Weg führt über die Pforte am Feld zu uns, jedoch nicht heraus. Es gibt eine zweite Pforte, im Süden, Thalonien, doch ob sie zu euch zurückführt, wissen wir nicht. Dazu kommt, dass beide Pforten nicht die ganze Zeit über offen sind ...“
„Ich glaube, ich muss mich hinlegen“, murmelte Claus plötzlich und erhob sich. Er war bleicher als sonst und sah todmüde aus.
„Ja, ja, verständlich. Ich zeige euch das Gästezimmer.“
Während er uns in den ersten Stock begleitete, redete der Mann weiter: „Es befindet sich zwar nur ein Bett darin, es ist allerdings schön breit und ihr seid recht schlank ... wie gesagt, zwei auf einmal sind noch nie durchgekommen ... wie habt ihr das eigentlich angestellt?“
„Ich habe ihn festgehalten ... wir sind vor jemandem davongelaufen ...“, antwortete ich geistesabwesend.
„Ach so! Festgehalten! Verstehe. Morgen müssen Sie mir alles genau erzählen, ja? Ich werde zwar erst gegen Mittag wiederkommen, die Frühschicht übernimmt Ignaz, aber so fertig, wie ihr beide ausseht, werdet ihr wohl sowieso länger schlafen ...“, er schloss die Tür auf. „Hier wären wir. Macht euch nicht zu viele Gedanken, morgen wird es schon wieder besser aussehen, ganz bestimmt.“
Dann drückte er mir den Schlüssel in die Hand und ließ uns allein.
Das Zimmer war schlicht eingerichtet und gemütlich. Ein Bett, ein Kasten, ein Tischchen und ein Stuhl befanden sich darin. Fix und fertig setzten wir uns auf die Bettkante und sahen einander an.
„Hast du eine Ahnung was da passiert ist?“, fragte Claus mich, ich schüttelte den Kopf. „Vielleicht ... wahrscheinlich ... sind wir in einer Parallelwelt gelandet“, antwortete ich dann doch, an meinen Traum denkend.
„Oder die Typen haben uns so schnell gekillt, dass wir gestorben sind ohne es bemerkt zu haben“, mutmaßte Claus, woraufhin ich lachen musste. Das war ein guter Gedanke.
„Reinkarnation habe ich mir allerdings anders vorgestellt“, wandte ich ein, „Ich dachte da eigentlich immer an Wiedergeburt, also als Baby.“
„Lass uns mal schlafen“, meinte Claus schließlich und begann, sich zu entkleiden. „Vielleicht sehen wir morgen tatsächlich klarer.“
Unter der Decke rückten wir zusammen und hielten uns so fest umklammert, als ob die Gefahr bestünde, dass irgendjemand käme, um uns auseinander zu reißen. Zum Glück hatten wir wenigstens uns. Nicht auszudenken, wie mir gewesen wäre, wenn ich allein hier gelandet wäre. Sobald wir einander kennen gelernt hatten, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, ohne Claus zu sein. Wie ich es vor ihm nur aushalten hatte können, welchen Sinn mein Leben ohne ihn eigentlich gehabt hätte. Wir passten perfekt zusammen, trotz dieser seltsamen Gefühle, die sich immer wieder einschlichen und uns Angst machten. Vielleicht gerade deshalb.
Der Frühstückstisch war bereits gedeckt, als wir am nächsten Morgen herunterwankten. Ein aufgeregter Enddreißiger wuselte herum, der uns heißen Tee und Kuchen brachte, höflich fragte, ob er sich zu uns setzen dürfe und uns während des Essens begeistert anstrahlte. Das musste Ignaz sein. Einen Ignaz hatte ich mir eigentlich anders vorgestellt – ich weiß nicht warum, aber beim Namen Ignaz hatte ich bis dato immer an jemanden wie Quasimodo gedacht. Der da war das genaue Gegenteil, der Typ sah echt gut aus. Claus merkte, dass ich ihn genauer betrachtete als ich mir Leute sonst ansehe und stieß mich in die Seite. Wie zumeist verständigten wir uns durch Blicke und Gesten, und nachdem wir beide lachten, fragte er uns: „Seid ihr verheiratet?“
Verblüfft blinzelten wir in seine Richtung.
„Ja oder nein? Ich denke schon, oder? Zumindest seid ihr ein Paar, das merkt man“, sprach er und wirkte dabei so ungespielt freundlich, dass uns beiden die Spucke wegblieb.
„Äh ... nein ... ja, wir sind ein Paar ... verheiratet nicht, wir dürfen ja nicht ... offiziell ...“, kam es bruchstückhaft aus meinem Mund, und jetzt war Ignaz der Erstaunte.
„Was heißt ihr dürft nicht? Warum? Wer hat es euch verboten?“
„Na ja, in unserer Heimat dürfen zwei Männer nicht heiraten ... in ein paar anderen Ländern schon, seit Kurzem, aber aus einem solchen kommen wir nicht.“
„Im Ernst?“, Ignaz schaute total verblüfft, „Und aus welchem Grund nicht?“
„Keine Ahnung, das hat sich eben so entwickelt ... irgendwann hieß es, Homosexualität sei etwas Böses, Perverses ... dann hat sich unser Ruf wieder gebessert, wir wurden mit Ach und Krach dann doch akzeptiert, doch Heirat ist nur den Paaren vorenthalten, die Kinder zeugen wollen – und da das so nicht funktioniert ...“, versuchte Claus zu erklären, „... dürfen wir eben nicht.“
Ignaz lachte sich krumm.
„Deiner Reaktion nach darf man bei euch“, stellte ich fest, Ignaz nickte und versuchte sich wieder einzukriegen, schnappte nach Luft.
„Also das ist ja wirklich ... kaum zu glauben. Vielleicht hat sich unsere gute alte Pforte gedacht: Oh diese armen Schweine, ich schick’ sie rüber, da geht’s ihnen besser“, und wiederum brach er in schallendes Gelächter aus.
„Ich weiß aber auch gar nicht, ob ich es wollen würde, selbst wenn wir dürften“, erklärte ich, „Ich meine ... man kann ja auch so zusammenleben. Man sollte nur dieselben Rechte haben wie ein verheiratetes Paar.“
„Nicht mal das habt ihr?“, fragte Ignaz, allmählich verebbte sein Lachkrampf, „Wie grausam. Wirklich. Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit?“
„Habt ihr Religionen?“, fragte Claus plötzlich unvermittelt, Ignaz runzelte die Stirn, erhob sich, holte ein altes Buch aus einem anscheinend noch älteren Kasten, blätterte darin und murmelte dabei: „Re-li-gion, ja, nein, haben wir, doch nicht so wie ihr ...“, er blätterte weiter, „Wir nennen es nicht ... hm, wie soll ich euch das erklären? Hmhm ... also es hat keinen Namen, in den Schulen wird es ‚Geisteskunde’ genannt, im Allgemeinen aber ... ha!“
Jetzt hatte er gefunden was er suchte und las vor: „...ihr Buddhismus ist mit unseren Lehren vergleichbar. Doch zelebrieren sie dies als Mönche in Klöstern ... qua qua ...“, er sah auf. „Wisst ihr was? Ich gebe euch dieses Buch zum Lesen. Verschiedene Leute haben darin aufgeschrieben, was ihnen an Unterschieden und Gemeinsamkeiten aufgefallen ist. Dieses hier beginnt mit dem Anfang des 5. Jahrtausends, wenn ihr wollt, könnt ihr auch die anderen haben, die sind aber teilweise sehr unleserlich.“ Er streckte es uns hin und Claus riss es sogleich an sich.
Wir zogen uns mit der Lektüre zurück und sogen fasziniert von der ersten Seite an alles in uns auf. Claus und ich schienen in einer Art Wunderland gestrandet zu sein. Nahezu alles, was uns ‚drüben’ schon immer gestört hatte, kannten die Leute hier nicht oder nicht mehr. Viele Andeutungen auf frühere Zeiten ließen vermuten, dass sie mit diversen Dingen aufgeräumt hatten. Die folgenden Tage verbrachten wir ausschließlich mit Gesprächen, Lesen, Essen, Trinken, Schlafen. Uns schwirrte der Kopf. Landkarten zufolge befanden wir uns in „Mittelland“, dann gab es „Nordland“, „Ostland“, „Südland“ und „Westland“. Logo und verständlich. Diese wiederum waren in ein paar kleinere Länder unterteilt, doch längst nicht so zerstückelt wie in unserer Welt. Es gab in jedem Groß-Land drei bis höchstens vier Unter-Länder. Der Clou war: Alle Länder kannten nur einen einzigen Staatsmann, der aber nicht regierte, sondern so etwas wie ein Koordinator war. Einer, der die Massen zusammenhielt. Ihre Weltstaatsform lag irgendwo zwischen Kommunismus und Anarchie. Wenn das der gute alte Lenin gewusst hätte! Hier hatte sich eine Weltrevolution durchgesetzt! Vor rund 500 Jahren! Genau hier! Nur ein Schlupfloch im Wald entfernt!
Das andere Erwähnenswerte war, dass sie keine Autos hatten. Zwar wurde so ein Vehikel mal produziert, aber wegen „Lärm, Gestank und ungesunden Abgasen“ sofort wieder abgeschafft. An Land ritt man wie in früheren Tagen auf Pferden. Flugzeuge allerdings hatten sie. Die wurden mit Wasserstoff betrieben und schwirrten ständig über unseren Köpfen dahin.
Die Luft! Die Luft hier war das Beste überhaupt. Anfangs hätte ich stundenlang einfach nur draußen stehen können um zu atmen. Hier roch es fast immer so wie vergleichsweise in unserer Welt nach Regen. Man lebte hier mit der Natur und nicht gegen sie. Es gab auch nur eine einzige Großstadt – die Welthauptstadt Nausk. In unserer Welt wäre die Stadt in England gelegen, irgendwo nahe Londons. Witzigerweise sprachen sie dieselben Sprachen, in den ungefähr selben Regionen.
Nach vier Wochen entschieden wir uns, nach Thalonien zu reisen, zu dieser anderen Pforte. Niemand wusste, ob sie uns zurückführen würde, fest stand nur, dass dort nie jemand reingekommen war, nur raus. Aber wohin diese Leute tatsächlich gegangen waren, stand in den Sternen. Hiesige Kundschafter, die hindurchgegangen waren und sich aufnotiert hatten, wo ungefähr sich die Pforte drüben befindet, um wieder zurückzukommen, waren nie wieder aufgetaucht. Mut machte uns das zwar nicht, aber wir waren uns nicht einmal sicher ob wir überhaupt zurück wollten. Neugier war es vor allem, die uns in den Süden trieb.
Wir stiegen in so ein Fluggerät und waren fasziniert. Es summte wie ein Bienchen und sah knackig aus, ein wenig erinnerte mich die äußere Form an eine Concorde. Claus saß die gesamte halbe Stunde, die der Flug dauerte, schweigend neben mir und hielt meine Hand. Dieser Ort tat ihm außergewöhnlich gut. Lebte ich früher mit einem blassen, wortkargen Wesen zusammen, das mich zwar oft gerade durch seinen grotesk-schwarzen Humor zum Lachen bringen konnte, so lachte dieser Claus hier selbst. Oftmals am Tag! Und es sprudelte nur so aus ihm heraus, alles, was ihm gerade einfiel, knallte er mir vor den Latz. Unverdaut. Und ich liebte es. Auch ich fühlte mich losgelöster von allem was mich bisher eingeengt hatte, doch ich war meines Erachtens auch vorher nicht sonderlich verbissen gewesen. Claus fiel auf alle Fälle umgekehrt an mir nichts Besonderes auf.
Ignaz hatte uns einen Pass ausgestellt, zu dem man wohl etwas weiter ausholen muss. In dieser Welt gab es kein Geld. Jeder, der arbeitete, egal wie oder was, erhielt so einen Pass (ein kleines schwarzes Büchlein). Darin war aufgemerkt, was diese Person tut und ob sie es noch tut – es wurde monatlich abgestempelt – bei Arbeitern und Angestellten vom Chefbüro, bei Selbständigen war das Rathaus zuständig. Claus und ich bekamen einen Sonderpass, der dunkelrot war, und darin stand: „Durchreisende vom Parallelplaneten Erde“. Wir machten uns fast in die Hosen vor Lachen, als wir das lasen, aber auch Ignaz amüsierte sich königlich beim Ausstellen. So ein Sonderpass war Premiere für ihn. Nämlichen Pass wies man vor und erhielt sämtliche Dienstleistungen, Nahrungsmittel und was man sonst so alles braucht – kostenlos. Ich war überwältigt. Als alter Sympathisant des Kommunismus war mir so etwas schon immer vorgeschwebt, konnte mir aber in meiner Welt niemals vorstellen, wie das funktionieren hätte können. Hier funktionierte es. Doch es schienen auch alle zu arbeiten. Ein jeder das, was er eben am Besten kann. Arbeiten, die keiner freiwillig machen wollte wie Müll, Kanal, Kläranlage wurden speziell schmackhaft gemacht mit diversen Sonderstellungen: größere Häuser, die besseren Pferde, unbegrenzte Flugreisen (diese nämlich waren beschränkt – auf zweimal im Jahr). Und so fand sich auch für jene Drecksarbeit immer wieder jemand. Es war herrlich. Müllmänner und Kanalarbeiter wohnten in prächtigeren Häusern als zum Beispiel Schauspieler. Und das, ohne damit Neid zu provozieren. Niemand beneidete sie um ihre Arbeit, ergo auch nicht um ihre Sonderstellungen.
Wir stiegen in einem gemütlichen Gasthaus ab, dessen Besitzer ein schwules Ehepaar war, das uns mit freudigem Überschwang empfing, uns einem jeden Gast vorstellte - ob der nun interessiert war uns kennen zu lernen oder nicht – und uns mit allerlei leckeren Speisen voll stopfte. Man organisierte für uns eine Kutsche nach Rando, wo sich besagte andere Pforte befand. Sie sollte uns am darauffolgenden Tag gegen 9 Uhr Morgens abholen. Um die hinaufgefutterten Kalorien wieder abzubauen, machten wir einen ausgedehnten Spaziergang durch den Ort., der sich Nienta nannte, setzten uns an ein Flussufer und besprachen erneut unser weiteres Vorgehen. Wären wir geblieben, hätten wir sicherlich bald angemessene Stellungen gefunden – ich hätte mir vorstellen können, in einem Rathaus zu arbeiten oder mir endlich meinen Jugendtraum zu erfüllen und irgendwas mit Leichen zu machen. Totengräber, Leichenwäscher, egal was. Nein, ich war nicht nekrophil. Mich hatte nur immer schon fasziniert wie sich so ein Körper verändert, nachdem alles Leben aus ihm gewichen ist. Im Fasching war ich auch immer irgendetwas Unlebendiges gewesen. Zombie, Vampir, Unfalltoter ... Hauptsache bleich und blutig. Und Claus hätte garantiert auch hier am Theater arbeiten können. Schließlich einigten wir uns darauf, uns dort inspirieren zu lassen. Entweder es zieht uns durch – oder wenn nicht, dann hätten wir die Biege gemacht.
Die Kutschenfahrt war richtig romantisch. Die herbstbunte Landschaft zog an uns vorüber – und an mir gleichzeitig mein bisheriges Leben. Die einzigen Dinge, die ich wirklich schmerzlich vermisst hätte, hätte ich nicht mehr zurück gekonnt, wären meine Freunde gewesen. Und meine Schwester. Ja, auch meine Eltern. Aber nichts Materielles meiner Welt wäre mir derartig wichtig gewesen, dass ich es unbedingt wieder haben hätte wollen. Claus band noch weniger an seine Herkunftswelt. Was hatte er schon? Keine Eltern mehr, keine Geschwister, kaum Freunde. Und eine Umwelt, die ihn nicht verstand. Hier gab es – bisher – nur uns beide, und das genoss er offensichtlich in vollen Zügen.
Wir hielten an, der Kutscher öffnete uns und erklärte den Hinweg. Als ich in die Richtung, in die der Mann deutete, blickte, verschlug es mir die Sprache. Das war genau dieselbe Stelle, an der ich in meinem Traum den Weg zu dem alten Mann begonnen hatte. Es passte alles zusammen. Ein jeder Baum, ein jedes Gebüsch. Vollkommen identisch. Während wir uns auf den Weg machten, erzählte ich Claus davon, der daraufhin stehen blieb und mich stirnrunzelnd ansah.
„Ist das dein Ernst?“, fragte er.
„Ja, absolut! Ich bin mir hundertprozentig sicher!“
Und um es ihm zu beweisen, nahm ich ihn an der Hand und beschleunigte den Schritt. Ich kannte den Weg wie meine Westentasche, war ich in meinem Traum ja einige Male hier entlang gegangen. Jedes mal, wenn ich mich an etwas Markantes erinnerte, sagte ich es Claus vorher, um ihn danach zu verblüffen. Schön langsam glaubte er mir.
„Sebastian ... Traum hin oder her ... bist du dir deswegen sicher, dass die Pforte tatsächlich zurückführt? Willst du zurück?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich, „Ich will auf alle Fälle diesen alten Mann sehen. Vielleicht spricht er ja mit uns ...“
Claus blieb abrupt stehen, als wir an die Waldlichtung kamen. Es sah genauso aus wie ich es ihm beschrieben hatte. Da war diese Hütte. Ich hielt darauf zu und Claus folgte mir zögernd. Ich klopfte an die Tür. Schritte. Der alte Mann öffnete, lächelte und deutete uns, hereinzukommen. Wir setzten uns an seinen alten Holztisch und harrten der Dinge. Der Alte sprach langsam und bedächtig.
„Ich habe euch erwartet. Ihr wollt nun wissen, ob euch diese Pforte zurückbringen wird?“
„Würde“, verbesserte ihn Claus.
Der alte Mann lächelte milde und nickte. „Ja, würde. Sie würde euch nicht zurückbringen.“
„Nicht?“, fragte ich verdutzt und bemerkte, wie Claus neben mir aufatmete.
„Nein, dieses Tor ist nicht für euch bestimmt. Es ist ein anderes, das auf euch wartet.“
„Wie bitte?“ Nun war Claus der Verdutzte, er sah den alten Mann mit seinen durchdringenden dunklen Augen an als ob er ihn beißen wollte. Der lachte leise in seinen Bart hinein und erklärte: „Sieh mich nicht so an, Claus. Ihr müsst nicht zurück. Doch ihr müsst einen vorbestimmten Weg gehen. Das ist dringend notwendig. Ihr beide“, er pausierte kurz, „... habt ihr euch jemals gewundert, weshalb ihr euch von Anfang an so prächtig verstanden habt? Warum ihr vom Beginn eurer Beziehung an wortlos kommunizieren konntet? Weshalb sich eure Interessen so nahtlos ineinander fügen?“
Keiner von uns sagte ein Wort, doch die Antwort stand klar und deutlich im Raum. Ja. Natürlich. Wir passten zusammen wie zwei Puzzleteile, Uhrwerkrädchen, Stecker und Dose. Das war uns schon klar. Auch ohne Antwort nickte der alte Mann nun.
„Ihr seid ein wundervolles Beispiel für Liebe, Schmerz und Tod. Schon lange. Doch irgendwann wird es zuviel, es muss aufhören. Deshalb seid ihr hier, und deshalb führe ich euch zur anderen Pforte. Sie bringt euch dort hin wo ihr hingehört, wenn ihr bereit seid.“
„Ich verstehe kein Wort“, murmelte Claus, zu mir blickend. Seine Augen allerdings verrieten, dass er zumindest eine Ahnung hatte, genauso wie ich.
„Oh, ihr werdet noch verstehen, ganz sicher“, brummte der Alte und erhob sich. „Folgt mir.“
Am Weg fragte Claus ihn, woher er das alles wisse und wie er aus meinem Traum hierher gelangt sei. Er antwortete, dass nicht er aus meinem Traum sondern ich zu ihm gekommen war. Die erste Frage ignorierte er und Claus bohrte nicht mehr nach. Den Rest des Weges folgten wir ihm schweigend. Der Wald war hier so dicht, dass man das Gefühl hatte, es dämmere schon wieder. Vor einer alten Buche blieb der Alte stehen und wandte sich um.
„Ich zeige euch etwas. Keine Bange, es wird euch nichts geschehen“, dann machte er eine Handbewegung und vor unseren Augen verschwamm erst mal alles.
Ab hier übernehme ich die Erzählung. Ich habe keinen Namen, aber das tut auch nichts zur Sache. Ich führte sie in ihrer Vergangenheit zurück, so weit, bis sie sich dort befanden, wo für die beiden alles begann.
Im 14. Jahrhundert liefen sie einander das erste Mal über den Weg. Claus war ein einsiedlerischer Bauer gewesen, von den Einwohnern des anliegenden Dorfes als komischer Kauz verschrien. Sebastian ein junger Bursche aus dem Nachbarort, der Arbeit suchte und schließlich bei ihm landete. Claus stellte ihn als Stallburschen ein, obwohl er niemanden gesucht hatte, da er bis dato der Meinung gewesen war, am Besten allein zurechtzukommen. Doch Sebastian gefiel ihm, seine grünen Strahleaugen und sein freundliches Gesicht machten ihn weich – und zugänglich. Es dauerte nicht allzu lang, bis sie in ihren ersten Gewissenskonflikt gerieten. Nachdem sie eines Abends spät vom Markt zurückgekehrt waren, angeheitert vom Wein, den sie nach erfolgreichem Verkauf von fünf Hühnern zur Feier des Tages in sich hineingekippt hatten, lagen sie erst nebeneinander ausgestreckt auf Claus’ Schlafstätte, unterhielten sich, kicherten wie kleine Jungs, balgten herum. Dabei streifte Sebastian mit seiner Hand an Claus’ Schritt, der mit sofortiger Wirkung darauf reagierte. Sein Genosse in der Hose mit einer Erektion, er selbst mit einer Ohrfeige. Sebastian schlug reflexartig zurück, entschuldigte sich dann aber sogleich – für das zuvor und das danach – und verzog sich in seine Stube. Er sowie Claus konnten in dieser Nacht nicht schlafen, lagen stundenlang wach und konnten nicht so recht einordnen, was da geschehen war. Tags darauf vertrugen sie sich wieder, doch das Geschehen stand belastend im Raum. Sebastian ging erst seiner Arbeit nach, dann zog er sich zurück und schnitzte an seinem begonnenen Vogel weiter. Auf einmal schwang die Tür auf, Claus betrat seine Stube. Vor lauter Schrecken schnitt er sich in die Hand, tief genug, um daraufhin ordentlich zu bluten. Er fluchte und suchte etwas, womit er sich verbinden konnte, da ergriff ihn Claus am Handgelenk, ging mit ihm hinaus zum Brunnen, wusch die Wunde und verband sie anschließend mit einem Streifen von seinem Hemd. Nachdem er damit fertig war, überwand sich Claus und küsste ihn zaghaft auf die Wange, doch ehe Sebastian darauf reagieren konnte, wandte sich Claus schamhaft ab und ging zurück in die Hütte, Sebastian folgte ihm und redete ihn drinnen darauf an. Claus reagierte wütend und warf ihm an den Kopf, dass er mit dem Teufel im Bunde stünde und wohl nur deshalb hier aufgetaucht sei, um ihn in Versuchung zu führen. Gekränkt erwiderte Sebastian, dass er dasselbe von ihm behaupten könne, auch er fühle sich verführt. Da kam Claus erneut näher, bebend, doch noch während Sebastian aufgrund des Ausdrucks in Claus’ Augen Todesängste durchlitt, riss der ihn an sich und küsste ihn leidenschaftlich. Sebastian winselte dabei wie ein kleiner Köter, es gefiel ihm genauso wie er sich dagegen wehren wollte. Beide landeten unsanft auf dem Boden, Claus riss Sebastian die Kleider vom Leib und vergewaltigte ihn, ließ nach vollbrachter Tat von ihm und wandte sich ab. Sebastian, überwältigt und verletzt, griff sich den nächststehenden gusseisernen Kerzenständer und zog denselben Claus von hinten über den Schädel, der daraufhin blutend zusammenbrach. Verzweifelt, mit Tränen im Gesicht und absolut ratlos blieb Sebastian stehen wo er war, ließ die Tatwaffe fallen und sah ihm tatenlos beim Sterben zu.
Ich ließ es hier enden, da danach nichts mehr geschah, was sie zu interessieren gehabt hätte. Ich schickte sie weiter ins darauf folgende Leben. Hier waren sie beide Landstreicher, Gesetzlose, und somit hatten sie weder die üblichen Moralvorstellungen dieser Zeit noch sonst welche Skrupel, was ihrer Bindung erst mal zugute kam. Sie freundeten sich an, kamen einander näher, so nah, dass sie auch nichts Schlimmes mehr dabei empfanden, wenn sie einander berührten, so wie sich Männer ansonsten nicht berührten. Sie trieben es nicht oft miteinander, doch wenn, dann wie die Tiere. Am Tag, als das Unvermeidliche geschah, lagen sie mit vier anderen Landstreichern in einem Straßengraben vor einer Stadt, Sebastian mit dem Kopf auf Claus’ Schoß, der über dessen dreckiges, verfilztes Haar streichelte. Die anderen waren es gewohnt, die beiden so miteinander zu sehen, es störte sie nicht. Jemand ritt heran und vertrieb sie, murrend erhoben sie sich und machten sich aus dem Staub. Auf dem Weg überfielen sie ein Ehepaar, rissen Geld und Schmuck an sich, liefen davon und verschanzten sich in einem nahegelegenen Wald. Dort gab es heftigen Streit um das Diebesgut, sie prügelten sich, Blut floss, Zähne gingen verloren. Schließlich machte sich Claus mit der gesamten Beute davon und Sebastian folgte ihm. Sie gelangten an einen See. An dessen Ufernähe, doch noch im schützenden Schatten der Bäume, ließ Claus sich fallen und lachte wie ein Gestörter. Er zeigte Sebastian die Geldstücke und die Halskette, kicherte irre, steckte es wieder in seine Taschen und sah ihn dann herausfordernd an. Um die Hälfte davon zu bekommen, meinte er, müsse er ihm sexuell zu Diensten sein, was Sebastian nichts ausmachte, im Gegenteil. Er tat was Claus wollte, erhielt im Anschluss daran aber trotzdem nichts. Claus meinte, es habe Sebastian gefallen, deshalb sei es kein wirklicher Dienst gewesen. Sebastian fluchte und schlug auf ihn ein, doch Claus lachte ihn aus. In der Nacht schliefen sie nebeneinander in einem kleinen Verschlag aus Zweigen im Wald, Sebastian erwachte kurz nach Mitternacht und klaute dem schlafenden Claus nahezu alles, was sich in dessen Taschen befand. Als Sebastian sich umwandte, um abzuhauen, spürte er auf einmal einen fürchterlichen Schmerz im Rücken – Claus hatte gar nicht so tief geschlafen wie es den Anschein gehabt hatte und ihm daraufhin hinterhältig ein Messer hineingerammt. Sebastian strauchelte, stürzte zu Boden und wurde nun seinerseits beraubt. Er flehte um Gnade und für einen kurzen Augenblick überlegte Claus sogar, ihm das Leben zu schenken, die Wunde am Rücken wäre nicht so schlimm gewesen, hätte sie jemand verarztet, hätte Sebastian es überstehen können. Doch das Blut an seinem Messer und Sebastians Unterlegenheit weckten in ihm Mordlust, er beugte sich über ihn, küsste ihn ein letztes Mal auf den Mund – und versetzte ihm gleichzeitig den Todesstoß. Den Ausdruck in Sebastians Augen in diesem Moment vergaß er den Rest seines relativ kurzen Lebens nicht mehr.
Ein paar Zeitalter überspringend, in dem sie einander nicht begegneten und somit auch nichts anstellten, führte ich sie in ein englisches Städtchen, Ende des 19. Jahrhunderts. Sebastian war hier ein junger Lord gewesen, aus angesehener Familie stammend, in teure Kleidung gehüllt, sauber und adrett. Claus ein verheirateter Mann, ebenfalls obere Schicht, jedoch recht leidenschafts- und glücklos. Bis ihm Sebastian über den Weg lief und er auf der Stelle von sämtlichen Socken war. Er versuchte zaghaft, sich ihm zu nähern, und sein Herz schlug Purzelbäume vor Glück, als er merkte, dass Sebastian alles andere als abgeneigt war. So oft wie nur möglich trafen sie sich bei einem alten, verwaisten Bootshaus, um ihrer Liebe dort mit Nachdruck Ausdruck zu verleihen. Doch mit der Zeit wurde Sebastian ungemütlich, drängte und verlangte mehr, obwohl er selbst sehr genau wusste, dass ihre Liebe keine Zukunft hatte und das, was er verlangte, unmöglich war. Vorübergehend ließ sich Claus von ihm dazu überreden, sich öfter zu treffen, was jedoch auffällig wurde und nicht nur seine Frau argwöhnisch machte. Er verabredete sich ein letztes Mal mit ihm, zu später Stunde am Friedhofstor, kam um eine Stunde zu spät dort an, da seine Gattin gerade in dieser Nacht Probleme gehabt hatte, einzuschlafen und er sich somit nicht rechtzeitig auf den Weg machen hatte können. Sein Geliebter stand immer noch an der verabredeten Stelle, bereits triefend nass vom Nieselregen, war ihm deswegen aber nicht böse, überglücklich fiel er ihm in die Arme. Claus plagte ein sagenhaft schlechtes Gewissen, war er doch mit dem festen Entschluss hier aufgetaucht, einen Schlussstrich zu ziehen.
„Meine Frau verdächtigt mich schon, eine Geliebte zu haben“, raunte er Sebastian zerknirscht zu, doch der lachte leise vor sich hin.
„Da brauchst du sie ja nicht anzulügen“, erwiderte er dann.
„Es wird immer problematischer für mich. Ich denke, es ist besser, wenn wir uns in Zukunft nicht mehr sehen ...“
„Das kommt gar nicht in Frage“, protestierte Sebastian, sie waren ein Stück in den Friedhof hineingeschlendert und befanden sich mittlerweile zwischen den Gräbern, „Wir lieben uns doch! Lieber würde ich sterben als ...“, endete er verzweifelt und mit Tränen kämpfend. Claus blieb abrupt stehen und hielt Sebastian fest.
„Ich schwöre, mir fällt es ebenfalls nicht leicht! Doch Cathy ist ... sie spioniert mir nach! Was, wenn sie uns erwischt? Dann geht es uns beiden sehr, sehr schlecht, und das weißt du genauso gut wie ich! Denk an Oscar Wilde!“
„Wilde war eben unvorsichtig“, erwiderte Sebastian patzig.
„Wir sind auch nicht gerade vorsichtig“, entgegnete Claus und setzte sich an den Rand eines Grabes, Sebastian ließ sich neben ihm nieder, sah ihn vorwurfsvoll an. „Ich möchte nicht, dass es endet.“
„Ich auch nicht, glaub mir ...“
Sebastian rückte näher ran und küsste ihn, Claus erwiderte es, doch ein paar Augenblicke später hatte er seine Hände um Sebastians Hals gelegt - wie von selbst waren sie dorthin gelangt – und drückte zu. Nach Luft ringend wehrte sich Sebastian, doch nicht halb so heftig wie er sich tatsächlich hätte wehren können. Claus’ Entschluss war gefallen, Sebastian starb.
Ich fühlte, dass Sebastian damit nicht mehr zurechtkam und holte sie zurück in den Wald. Der Arme taumelte und fiel zu Boden, Claus war sogleich zur Stelle und entschuldigte sich hundertfach bei ihm. Es war in der Tat ein rührendes Bild. Wie sehr die beiden einander brauchten, und doch immer wieder die Nerven verloren und sich gegenseitig das Leben schwer machten, beziehungsweise mit Gewalt beendeten. Auch ihr jetziges Leben hätte in einer Tragödie geendet, wenn ich nicht eingegriffen hätte. Normalerweise mische ich mich nicht ein, doch ich konnte dem, so geduldig ich auch bin, nicht mehr zusehen. Außerdem brauchte ich die beiden. Zusammen.
„Ich nehme an, ihr wisst in der Zwischenzeit worum es geht?“, fragte ich sie, Sebastian nickte, er saß immer noch am Boden und hielt sich den Hals.
„Aber wozu soll das gut sein? Ändern wir uns deshalb?“, fragte Claus mich vorwurfsvoll.
„Das wäre wünschenswert“, erwiderte ich ernst.
„Es steht zwei zu eins“, warf Sebastian ein.
„Ich bin beruhigt, dass ihr es so gefasst aufnehmt, wirklich, doch auf die leichte Schulter nehmen solltet ihr es nicht“, gemahnte ich sie, „Ihr habt etwas Großes vor euch, und um das durchzustehen, was euch noch bevorsteht, solltet ihr einander ... nun ja ... am Leben lassen.“
Einmal noch schickte ich die beiden zurück – ins Jahr 1961, ihrem letzten gemeinsam gelebten Leben. Schweden. Wo sie eine heimliche Lebensgemeinschaft führten. Nach außen hin eine Studenten-Wohngemeinschaft und innerhalb ihrer vier Wände ein fast schon passables Eheleben. Sie kamen wunderbar miteinander aus, ergänzten sich gegenseitig, ja, sie machten mich richtiggehend glücklich – vorübergehend. Denn es kam wie es kommen musste: ihre Studentenzeit endete, sie mussten sich trennen. Zumindest war das Claus’ Meinung. Sebastian hatte romantische Vorstellungen von einem weiterhin gemeinsamen Leben – heimlich, doch geregelt. Doch nichts von dem was er ihm vorschlug konnte Claus überzeugen. Dieser nahm einen Assistentenjob an der Uni Stockholm an, Sebastian war noch sehr unentschlossen, etwas labil und außerdem geschockt ob Claus’ plötzlichen Gesinnungswandels. Er wäre bereits soweit gewesen, hatte sich mit ihrer Situation abgefunden und wollte keinesfalls ohne Claus weitermachen, konnte sich ein Leben ohne ihn einfach nicht mehr vorstellen. Dass der ihre Beziehung so eiskalt abbrechen konnte, kränkte Sebastian maßlos. Tagelang schlurfte er ziellos in der Gegend umher und konnte sich weder für eine berufliche Laufbahn noch für ein biederes Ottonormalverbraucherleben entschließen. Schließlich hatte er sich doch bereits entschieden gehabt. Nur Claus (hier Gustav, ich werde ab jetzt ihre tatsächlichen damaligen Namen verwenden) spielte nicht mit und wollte ihm davonlaufen. Er vermied es, mit Sebastian (hier Sven) zusammenzutreffen und hatte dem nicht einmal seine neue Telefonnummer bekannt gegeben. Aus den Augen, aus dem Sinn. Nicht aber aus Svens. Je länger der ihn nicht sah, desto heftiger kreisten seine Gedanken um ihn, desto wütender wurde er, desto leidenschaftlicher erging er sich in perversesten sexuellen und mörderischen Phantasien. Durch einen ehemaligen Studienkollegen bekam Sven nach einigen grausamen Wochen des Leidens schließlich doch noch Gustavs Nummer heraus und rief ohne zu zögern an. Er brauchte an die zwanzig Anläufe, denn immer wieder legte der auf sobald er hörte, dass es Sven war. Eine Zeit lang ging Gustav überhaupt nicht mehr ans Telefon, doch irgendwann erwischte Sven ihn doch wieder – und er legte nicht auf. Sie verabredeten sich zu einem Strandspaziergang, auf den Sven regelrecht hinfieberte. Nicht bildlich gesprochen sondern tatsächlich. Seine Temperatur stieg im Laufe des Tages auf fast 38 Grad, sank aber wieder, je näher die Stunde der Verabredung rückte. Er wurde mit einem Mal wieder vollkommen ruhig, obwohl in seinem Kopf die wildesten Dinge kreisten. Ein grober Mordplan nahm allmählich Gestalt an. Doch noch herrschte trotz allem der Gedanke vor, Gustav zu einem weiteren Zusammenleben überreden zu können.
Sie schlenderten nebeneinander her und unterhielten sich zunächst über Belangloses, bis Sven versuchte, deutlicher zu werden. Da wurde auch Gustav deutlicher und machte ihm klar, dass er nicht mehr interessiert sei, er allein weiterleben oder sich gar eine Frau zulegen wolle, um Kinder in die Welt zu setzen. Sven schluckte einen Tobsuchtsanfall hinunter, konnte Tränen allerdings nicht unterdrücken. Es waren bittere Tränen des Zorns, doch ließ er Gustav in dem Glauben, dass er abgrundtief traurig sei und nur noch ein einziges mal eine Nacht mit ihm verbringen wolle. Sven jubilierte zuinnerst, als Gustav sich damit einverstanden erklärte und ihm in sein neues Zuhause folgte. Natürlich hatte Sven nicht vor, ihn wieder gehen zu lassen. Noch während Gustav sich von seinem vorangegangenen Orgasmus zu erholen versuchte, schnappte Sven sich dessen beide Arme, um sie blitzschnell mit unter dem Bett bereitgelegtem breitem, festem Klebeband zusammenzukleben. Bevor Gustav überhaupt merkte wie ihm geschah, machte Sven dasselbe mit seinen Fußgelenken und drehte ihn herum. Sein Geliebter lag nun nackt, nass von Schweiß und Sperma, keuchend vor ihm und fragte ihn atemlos was das solle.
„Du bleibst hier“, antwortete Sven kühl.
„Sven, mach keinen Scheiß, ich kann nicht bleiben“, keuchte Gustav und versuchte immer noch, sich zu fangen. Sven hatte seine Sache wahrlich gut gemacht.
„Du bleibst.“
„Ich kann nicht.“
„Warum nicht? Du warst schon immer der Gesetztere von uns beiden. Der Vernünftige. Wieso kannst du jetzt nicht so vernünftig sein und bei mir bleiben? Wir lieben uns doch!“
„Das ist keine Liebe, Sven, das ist ... ach Gott, das ist Besessenheit. Eine Sucht. Leidenschaft, ja, aber keine Liebe. Was willst du? Bis ans Ende unseres Lebens ficken?“
„Du spinnst“, erwiderte Sven gereizt, „Sieh dir andere Liebespaare an! Die vögeln genauso wie wir. Und lieben einander. Schließt das eine das andere aus? Weißt du, wie du dich anhörst?“
„Aber wir sind Männer, verdammt!“
„Na und? Karsten und Björn ziehen es auch durch! Was hindert dich daran, mit mir zu leben, was?“
„Ich würde mit dir nicht weiterkommen. Und die würden mich von der Uni werfen, wenn rauskommt, dass ich mit einem Mann zusammenlebe.“
„Scheiß drauf!“, brüllte Sven plötzlich, so laut, dass er selbst erschrak, „Ich liebe dich!“
„Ich dich ja auch“, versuchte Gustav einzulenken, doch blöderweise fügte er folgendes hinzu: „... irgendwie ...“
„Irgendwie?“ Nun platzte Sven der Kragen endgültig und er schlug ihm ins Gesicht. „Irgendwie, ja? Wir haben fünf Jahre zusammengelebt! Fünf Jahre! Wir haben miteinander gelernt, sind toll mit unserem Studium vorangekommen, da habe ich dich nicht gestört? Wieso glaubst du, dass es jetzt auf einmal so wäre?“
“Ich weiß nicht ... verdammt, Sven, ich will einfach nicht mehr. Mach mich los. Du bist so schrecklich anstrengend.“
„Ich bin anstrengend? Du bist ein Waschlappen! Solang etwas lässig nebenher geht und locker vertuscht werden kann, ist es okay für dich. Sobald man aber Courage zeigen muss, bist du eine Wolke. Immer schön unauffällig mit dem Strom schwimmen. Nur ja nicht aus dem Rahmen fallen. Meine Güte, am Anfang habe ich gerade das an dir so liebenswert gefunden. Ich dachte, dass es für jemanden wie dich eine immense Überwindung kosten muss, sich einzugestehen, schwul zu sein.“
„Hat es ja gekostet! Kostet es immer noch! Aber ich will nicht mehr. Ich will nicht mehr! Mach mich endlich los! Meine Hände drücken auf den Rücken ...“, jammerte Gustav, doch Sven drehte ihn nur in Seitenlage, so dass er bequemer liegen konnte, und wickelte ihm stattdessen noch mehr Klebeband um die Gelenke.
„Was hast du vor? Willst du mich ab jetzt gefangen halten?“
„Nein“, antwortete Sven, „Ich kann dich nicht ständig bewachen.“
„Was dann?“
Jetzt erst begann Gustav, sich ängstlich anzuhören. Seine wundervollen braunen Augen sahen Sven verzweifelt und flehend an, was den jedoch nur insofern beeindruckte, dass er sich nun noch mächtiger fühlte.
„Du ...“, begann Sven und grinste, „... bleibst einfach da.“
Er fasste unter die Matratze und zog sein schönstes, größtes, schärfstes Messer hervor. Die Klinge glänzte im fahlen Mondlicht verführerisch und Gustav schrie auf. Verzweifelt versuchte er sich von den Fesseln zu lösen, doch es gelang ihm nicht. Er wurde richtig hektisch. Wohl das erste Mal in diesem Leben.
„Keine Panik“, schnurrte Sven sanft, während er die Klinge andeutungsweise über Gustavs Oberkörper gleiten ließ, was den sofort erstarren ließ, „Sieh es so: Eigentlich befreie ich dich jetzt ...“
„Mach keinen Blödsinn!“, rief Gustav in panischer Angst, „Willst du für den Rest deines Lebens dein Dasein im Gefängnis fristen? So gestört kannst du doch nicht sein. Du weißt genau was passiert, wenn du mich umbringst ...“
„Muss nicht sein“, flüsterte Sven, die Klinge immer noch einen halben Millimeter über Gustavs Bauch, doch nun machte der eine plötzliche Bewegung und Sven verletzte ihn unbeabsichtigt. Sven sah dunkles Blut fließen und Gustav begann um Hilfe zu rufen, weswegen Sven kurzerhand noch einmal zum Klebeband griff und ihn damit zum Schweigen brachte. Er blickte Gustav kühl in die verzweifelten Augen und erklärte ihm noch einmal, dass er ihn liebe, gleichzeitig setzte er das Messer an und bohrte die Klinge langsam in Gustavs Fleisch. Je tiefer sie drang, desto mehr erregte es Sven. Sie drang ein, aus, noch einmal ein ... Sven machte es langsam und genüsslich. Gustav wand sich, winselte, heulte und erstickte dabei fast an seinem eigenen Rotz. Dieses elende Bild war schließlich der Auslöser für den Todesstoß. Noch einmal küsste Sven ihn – erst auf das Klebeband über dem Mund, dann auf beide Augen, verabschiedete sich von ihm und rammte ihm das Messer direkt ins Herz. Das Lichtchen hinter Gustavs Augen ging nach einem letzten, kurzen Aufflackern ganz unspektakulär aus. So einfach war das also. Sven sah an sich herab und erblickte nicht nur wahnsinnig viel Blut sondern auch jede Menge frisches Sperma. Sein eigenes. Das Messer fiel an der Seite des Bettes herab und er schmiegte sich an Gustavs glitschigen, reglosen Körper.
Nun, hier ließ ich es diesmal nicht enden, denn was in Folge geschah, wollte ich Sebastian noch wissen lassen und Claus in Erinnerung rufen.
Sven hatte die restliche Nacht auf ihm geschlafen und klebte am Morgen förmlich an dessen kaltem Körper. Fassungslos angesichts seiner eigenen Tat löste er sich von Gustavs Leiche. Blut klebte ihm überall am Körper, von den Haaren bis hinunter zu den Zehen, und er wollte es nicht einmal wegwaschen. Schließlich war es Gustavs Blut, und so hatte er noch etwas von ihm an sich. Allmählich begann Sven zu trauern, denn langsam wurde ihm klar, dass er Gustav getötet hatte und ab jetzt nie wieder mit ihm zusammen sein konnte. Und er musste seine Überreste entfernen. Zuerst wollte er ihn einfach im Bett liegen lassen oder auf die Couch legen, sozusagen mit seiner toten Hülle weiterleben, doch so weit war er wieder klar im Kopf, um zu erkennen, dass das nicht möglich sein würde. Wo sollte er ihn denn hinräumen, wenn Besuch auftauchte? Wie den Geruch erklären, der sich wohl oder übel einstellen würde? Gustav musste weg. Schließlich war Sven nicht Norman Bates, mit einem riesigen Haus, wo eine Leiche in ihrem Schlafzimmer gemütlich und unbemerkt vor sich hin verwesen konnte.
Nachdem er als Gustav seinen letzten Atemzug verröchelt hatte, schickte ich Claus in seine Kindheit. Er erwachte schweißgebadet als Achtjähriger in seinem Bett. Jetzt erinnerte er sich. Schon als er vier, fünf Jahre alt gewesen war, hatten ihn diese Träume heimgesucht. Jemand in Mönchskutte kam immer wieder darin vor und er fühlte sich von dieser Person gleichzeitig abgestoßen wie angezogen. Er sah nie sein ganzes Gesicht, nur die Nasenspitze und den Mund. Einen schön geschwungenen Mund und ein hübsches Kinn, das ein kleines Grübchen zierte. Das kam ihm bekannt vor, er wusste aber nicht, wo er es zuordnen sollte. Er glaubte zwar nicht, dass ihm diese Person etwas antun wollte, dennoch fühlte er sich bedrängt, bedroht und versuchte immer wieder davonzulaufen, doch dieser Mönch erwischte ihn jedes Mal, hielt ihn um die Mitte gefasst und ließ ihn nicht mehr los bis er aufwachte. Dann diese seltsamen erotischen Träume ... und dieser Albtraum, aus dem er immer schreiend erwachte. Er war ein verstörter, stiller Junge gewesen und war deswegen nicht nur einmal von seiner Lehrerin zum Schulpsychologen geschickt worden. Sein Vater bemühte sich sehr um ihn, noch mehr, nachdem Claus’ überforderte, depressive Mutter sich aus dem elften Stock ihres Wohnhauses gestürzt hatte. In seinem zwölften Lebensjahr hörten sie mit einem Schlag auf. Ein letztes Mal erschien ihm dieser Mönch, schlug die Kapuze zurück, entblößte damit endlich sein Gesicht und murmelte etwas in einer fremden Sprache. Es war eine Entschuldigung, dessen war sich Claus sicher, obwohl er die Sprache nicht verstand. Im Traum streckte er die Hand nach dieser Person aus, bereit zu vergeben, wenn ihm auch nicht bewusst gewesen war, was er vergeben sollte. Kurz bevor er den Mönch berühren konnte, löste der sich auf. Von da an gab es keine mysteriösen Träume mehr und er erholte sich allmählich, wurde besser in der Schule und auch etwas zugänglicher. Doch im Hinterstübchen blieb es haften. Manchmal erinnerte er sich auch als Erwachsener noch daran und ihn überkam ein kalter Schauer.
Während ich ihn weiterwandern ließ, wurde Claus im Nachhinein alles klar. Er war nie ein großer Aufreißer gewesen. Als Schüler uninteressiert an jeglichem Geschlecht. Selbst als er (mit Michel, dem von Mutter Natur nicht gerade mit Schönheit ausgestatteten jungen Mann) zu den beiden letzten männlichen Jungfrauen seiner Maturaklasse gehörte, fühlte er sich noch nicht bemüßigt, etwas daran zu ändern. Ein Außenseiter war er immer schon gewesen, auch wenn er zu den Bestaussehenden der Schule zählte. Ein drahtiger Kerl, interessantes Gesicht, groß – eigentlich ein Mädchenschwarm, bloß seine Art sich zu geben passte nicht so recht ins Bild. Lieber zog er sich mit Michel oder allein in irgendein Eck zurück und beobachtete das Geschäker und Gezanke seiner Klassenkameraden mit Unverständnis. Wenn sich sein kleiner Freund mal regte, brachte er ihn selbst wieder zum Schweigen, wobei er in seiner Phantasie in seine Kindheitsträume eintauchte. Das reichte ihm für lange Zeit. Erst als er 25 war, lief ihm ein Kerl über den Weg, der ihm den Kopf verdrehte, doch mehr als rein sexuelle Befriedigung, diesmal eben zu zweit, war das auch nicht gewesen.
Von da an hatte er mehrere Affären gehabt, jedoch nichts wirklich Aufregendes. Bis zum Zusammentreffen mit Sebastian, kurz nach seinem neununddreißigsten Geburtstag. Ihm war noch sehr gut in Erinnerung, wie es ihn aus irgendeinem Grund immer wieder in dieses Lokal gezogen hatte. Er hatte seine Anwesenheit gespürt, wenn er ihn auch nicht gleich gefunden hatte. Als er dann schließlich neben ihm gestanden war, hatte er so etwas wie einen elektrischen Schlag gespürt. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als Sebastians Hinterkopf und seine für einen Mann fast zu zierliche Statur von hinten zu Gesicht bekommen hatte, zog er ihn magnetisch an. Es war ihm unmöglich gewesen, diesem jungen Mann von der Seite zu weichen. Eine halbe Stunde oder länger war er neben Sebastian gestanden und hatte dessen Stimme gelauscht, einer angenehm ruhigen, sanften Stimme, die von seinen Eindrücken des Films The Blairwitch Project erzählte. Dann näherte sich dieses witzige tuntige Männchen, scheuchte alle auf mit seinen News aus New York, und wie aus einem Mund kam ihre gleichzeitige Frage: „Attentat?“
Eine Sekunde später wandte ihm Sebastian sein Gesicht zu, strahlte ihm mit seinen graugrünen Scheinwerfern direkt in die Augen und aus dem leichten elektrischen Schlag wurde ein 1.000.000 Volt-Blitzschlag. Ihm blieb regelrecht die Luft weg, dennoch bemühte er sich, sich nichts anmerken zu lassen und stieg betont lässig in das Gespräch ein, das Sebastian begann. Er konnte nicht umhin, sich mit ihm für das darauffolgende Wochenende zu verabreden, dann noch einmal ... und schließlich: die alles entscheidende Nacht in Sebastians Wohnung. Genau das war es gewesen. Mit keinem anderen zuvor hatte er dieses umwerfende Gefühl von totaler Einigkeit und gegenseitigem Verständnis erlebt. Das war kein ordinärer Sex gewesen, das war fleischgewordene Liebe. Er wusste, diesen Mann würde er niemals mehr gehen lassen. Sebastian gehörte schlicht und einfach zu ihm. Nun wusste er auch weshalb. Es war so klar, dass er kaum verstehen konnte, warum er nicht von selbst draufgekommen war. Warum er sich nicht ganz einfach zurückerinnern hatte können, als Sebastian seinen Weg kreuzte. Irgendwie war es ja vorhanden gewesen, aber eben nicht greifbar. Töten und getötet werden, darum ging es also in dieser Beziehung. Zumindest bisher. Würden sie es diesmal schaffen? Er nahm an, ja. Schließlich hatten sie keine Probleme mehr miteinander, also weshalb sollte einer von ihnen den anderen ums Eck bringen? Aber wenn dem so war, weshalb hatte dieser mysteriöse alte Mann auf sie gewartet? Und weshalb mussten sie beide auf einmal ‚eine große Sache’ bewältigen?
Mit diesen Fragen ließ ich ihn sich eine Zeit lang herumschlagen. Auch Sebastian schickte ich später an den Ort, an dem sich Claus nun befand, ohne dass er es noch mitbekommen hatte. Claus stand vor einer alten Stadtmauer, grübelnd, bis er Schritte auf sich zukommen hörte.
Sven hielt nichts mehr in seiner Heimat, nachdem er im Schweiße seines Angesichts Gustavs Leiche losgeworden war, indem er sie zersägt, luftdicht verpackt und mit dem Auto eines Freundes in diversen Mülltonnen Stockholms (weit weg von seinem Zuhause) entsorgt hatte. Er machte sich aus dem Staub, noch bevor jemand bemerkte, dass es Gustav nicht mehr gab, und tauchte in einem Kloster unter. Natürlich fragte man ihn, was ihn, einen gutaussehenden Kerl im knackig-frischesten Alter, in ein Kloster treibe, doch man akzeptierte Svens kryptische Antwort, dass er einen großen Verlust erlitten habe und sein altes Leben nicht mehr weiterleben könne. Das schlechte Gewissen, das anfangs noch an ihm nagte, weil er diese gottesfürchtigen Menschen zwar nicht direkt angelogen, aber immerhin, über seine wahren Beweggründe im Dunkeln gelassen hatte, verflüchtigte sich sofort angesichts der Verhältnisse, die ihn dort erwarteten. Klar, er hätte sich stellen und ins Gefängnis gehen können, doch aus irgendeinem Grund war er doch lieber an diesem Ort als an jenem. Sven dachte jede Nacht an Gustav, spielte tagsüber seine Rolle des geläuterten, gläubigen Mönchs und wurde nach der Probezeit wärmstens in den exklusiven Kreis aufgenommen. Mit der Zeit fühlte er sich sogar richtig wohl in den schlichten Gemäuern. Und verfeinerte seine neu erworbene Kunst (die ihm übrigens nicht dort gelehrt wurde, vielmehr entstand sie von ganz allein in einsamen Stunden des Meditierens) im Gedanken fliegen lassen. Was genau er da tat, war ihm nicht direkt bewusst, er nannte es eben so. Gedanken fliegen lassen. Sven wusste instinktiv, dass Gustav irgendwo da draußen war und versuchte einfach, Kontakt aufzunehmen. Nach einiger Zeit fand er ihn tatsächlich, wobei er ihn nicht physisch vor sich sah, vielmehr spürte er seine Anwesenheit. Doch jedes Mal, wenn er ihn endlich zu fassen bekam, entwischte er ihm. An die zwölf Jahre hielt Sven es aus, dann wurde es ihm zu trostlos. Er entschloss, einen Schlussstrich zu ziehen. Weder wollte er zurück in die große weite Welt noch wollte er hier bleiben. Er wollte schlicht und einfach überhaupt nicht mehr und erhängte sich in seiner Zelle.
Ohne eine Ahnung zu haben wie er da hin gelangt war, ging Sebastian danach an einer Stadtmauer entlang und sah Claus in der Ferne stehen. Ratlos, wie ihm schien. Voll Freude bemerkte er, wieder Sebastian zu sein und lief auf ihn zu. Claus schloss ihn in die Arme und ließ ihn lang nicht mehr los, erst viel später sahen sie sich um. Kalter Wind pfiff ihnen um die Ohren. Wo zum Teufel waren sie? Gemeinsam suchten sie einen Eingang in der alten Mauer und wurden schließlich auch fündig. Ein riesiges, ja furchteinflößendes schwarzes Eisentor tat sich vor ihnen auf, sie gingen hindurch. Sleepy Hollow-Stimmung überkam sie. In einiger Entfernung erblickten sie ein altes Schloss, das einzig beleuchtete Gebäude in dieser offensichtlich verlassenen Gegend, entschlossen hielten sie darauf zu.
Das Schloss war noch intakt, schön ausgeleuchtet mit riesigen Kronleuchtern, die Wände strotzten nur so vor Verzierungen, und an der Seite führte eine imposante, leicht geschwungene Holztreppe hinauf in die oberen Stockwerke. Aus den hinteren Gemächern machten sich beschuhte Füße auf den Weg zu ihnen. Klapp-klapp-klapp. Wie Brad und Janet aus der Rocky Horror Picture Show standen sie händchenhaltend da und harrten der Person, die wohl oder übel gleich erscheinen würde. Sebastian wäre nicht erstaunt gewesen, wäre Riff Raff auf sie zugekommen, aber ein fast normal aussehender alter Butler, bleich, hager, doch noch recht lebendig aussehend, tauchte langsam im Türbogen auf.
„Seid gegrüßt. Man erwartet euch bereits.“
Himmel, wer in diesen Welten aller auf sie wartete! Wer waren sie denn schon? Zwei unwichtige kleine Persönchen, Reisende in einer äußerst seltsamen Geschichte, fürwahr, doch eigentlich überhaupt nichts Besonderes. Der alte Pinguin führte sie in einen riesigen Empfangssaal, in dem sich ein paar Leutchen aufhielten. Männer wie Frauen, schwarz gekleidet, sozusagen im Gothic-Look, bleichgesichtig, dunkel umrandete Augen, wobei Sebastian sich bei einigen allerdings nicht sicher war ob das jetzt tatsächlich Schminke war oder doch Natura. Man begrüßte sie freundlich und deutete ihnen, Platz zu nehmen.
„Darf ich mich vorstellen“, der Älteste des Häufchens trat auf die beiden zu und reichte ihnen die Hand. Sie war warm. Sebastian hätte auch eine eisig kalte nicht mehr gewundert, ihn wunderte mittlerweile überhaupt nichts mehr.
„Mein Name ist Nashim. Ich habe die Ehre, euch hier in meinen bescheidenen Hallen aufnehmen zu dürfen, bis ihr ...“, er grinste schelmisch, „... soweit seid.“
„Wofür?“ fragte Claus sofort.
„Ich glaube nicht, dass ihr lang bleiben werdet“, ignorierte Nashim Claus’ Frage, „... aber eine gewisse Zeit solltet ihr euch doch hier aufhalten. Wir sind so etwas wie ... aber nein, das findet ihr schon selbst heraus“, sprach er weiter, „Ich tippe auf zwei, drei Wochen. Dann sollte es sich herausgestellt haben.“
„Was, um Himmels Willen?“ fragte Claus nun, etwas gereizter, „Könnte irgend jemand bitte Klartext reden?“
Nashim grinste erheitert, gab ihm aber immer noch keine Antwort.
„Esst erst mal einen Happen und dann legt euch hin. Ihr hattet eine aufregende Reise. Ruht euch aus.“
Es war, wie ihnen Nashim vorausgesagt hatte. Nach nur zwei Tagen des Herumschlenderns in dieser Welt waren sie dahintergekommen, wo sie sich befanden. Der Ort hier war die Verwirklichung ihrer beider Träume. Jeder Tag begann mit einem herrlichen Sonnenaufgang, nur um die gelbe Kugel kurze Zeit danach wieder hinter einer dicken Wolkendecke zu verbergen. Niemals brannte sie schonungslos auf die blasse Bevölkerung hernieder, niemals wurde es so warm, um den Pullover gegen ein T-Shirt austauschen zu müssen, es wurde aber auch nie so kalt, um sich eine Jacke überziehen zu müssen. Optimal temperiert. Die Leute waren freundlich, obschon sie allesamt aussahen, als seien sie aus einem Misfits- oder Nine Inch Nails-Video entsprungen. Wilde, wirre Kerle, dazupassende Frauen, androgyne Gestalten, bei denen sie sich auch nach stundenlangem Hinsehen und Abschätzen noch nicht sicher waren, welchem Geschlecht diese Wesen nun angehören mochten. Sie waren begeistert. Nach einiger Zeit kristallisierte sich der Grund ihrer Anwesenheit heraus. Sie wurden auf die Probe gestellt. Immer wieder tauchte eine Gestalt in ihrer Nähe auf, jedes Mal gerade dann, wenn der jeweils andere an einem stillen Örtchen oder mit jemand anders in ein Gespräch vertieft war, und zischte ihnen etwas zu. Mal waren es Erinnerungen – an die Morde – mit überdeutlichen Hinweisen, der andere müsse dafür büßen – oder lässig dahingesagte Möglichkeiten, wie man jemanden auf einfache Weise unter die Erde bringen könne. Sie ignorierten es so gut es ging, bis sie eines Tages mit ziemlicher Heftigkeit darauf gestoßen wurden.
Eine Gestalt, wahnwitzig aussehend mit ihren überlangen, dunkelgrünen Dreadlocks, dem irren Blick, den wirr zusammengestoppelten Klamotten – ein zarter, durchsichtiger Schal, locker um den dünnen Hals gewunden, das in groben Fetzen herunterhängende Shirt, der lange, verstaubte Ledermantel und die Army-Hose; dazu, passend zur Farbe ihrer Dreads, dunkelgrüne Doc Martens – hielt Claus auf dem Gang zur Toilette auf, ließ ihn weder vorbei noch zurück und redete dabei auf ihn ein: „Du musst es bald machen! Sebastian muss bezahlen. Wenn du ihn verschonst, tut es ein anderer. Willst du ihn unter den Händen eines anderen sterben sehen? Ha?! Willst du das?“
„Wieso muss er sterben? Was soll das Ganze?“ fragte Claus verwirrt, „Ich habe ihn ja auch umgebracht. Wieso soll gerade er hier und jetzt dafür bezahlen? Wir sind quitt. Und ich liebe ihn. Er ist der einzige Mensch auf dieser und in was weiß ich welchen Welten, den ich wirklich liebe.“
„Das weiß ich“, raunte die Gestalt, „Aber gerade deshalb musst du es tun“, sie tippte dabei mit ihrem langen, dünnen Finger auf Claus’ Brustbein, „Ihr seid nicht quitt. Du hast ihn immer kurzerhand und ohne jegliches Tamtam ins Jenseits geschickt. Er dich nicht. Er hat dich gequält, dich Blut schwitzen lassen und hat sich daran auch noch aufgegeilt. Ja, ja, ja!“ – das sang sie jetzt fast – „An deinen Qualen hat er sich aufgegeilt. Hatte ´nen Mords-Orgasmus, als er dich killte, wusstest du das eigentlich? Nein. Du wusstest es nicht. Jetzt weißt du’s. Zahl’s ihm heim. Dreh den Spieß um! Lass ihn spüren, wie es ist, hilflos daliegen zu müssen, während ...“
Nun schallte es. Claus hatte dem Persönchen die Hand ins Gesicht geklatscht, entnervt.
„Es ist mir egal!“ brüllte er nun, „Es ist vorbei! Ich mache das nicht!“
„Okay! Wie du willst. Dann wird es eben Jack tun. Jack kann das. Er ist sehr gut darin.“
„Welcher Jack?“
„Och, du hast ihn sicher schon gesehen. Er ist groß, muskulös, läuft meistens mit nacktem Oberkörper und ´ner Lederjacke herum. Enge Lederhosen und klobige Stiefel.“
Claus lachte lauthals auf, so sah hier fast jeder Dritte aus.
„Er ist nie ungeschminkt“, setzte die grüne Gestalt fort, „Das Übliche. Weißes Make-up, dunkel umrandete Augen ... schwarze Haare, schulterlang, und hängt seltsamerweise immer in der Nähe deines Geliebten herum ...“
Jetzt klingelte es. Das grüne Etwas hatte Recht, so ein Kerl war ihm tatsächlich schon des öfteren aufgefallen. Leise Eifersucht beschlich ihn jedes Mal, wenn er sah, dass er sich mit Sebastian unterhielt und aus irgendeinem Grund immer gerade dann schnell weg musste, wenn er sich näherte.
„Du hast ihn, nicht wahr?“ grinste die Gestalt, „Ja, das ist Jack. Hat sich schon an deinen Süßen rangemacht.“
„Sebastian ist nie länger als eine halbe Stunde von mir getrennt gewesen, seit wir hier sind“, entgegnete Claus wütend und Grün hob abwehrend die Hände.
„Ich habe ja nicht gesagt, dass etwas passiert ist. Er macht nur auf sich aufmerksam, das ist alles. Wenn dein Entschluss fest steht, geht er aber aufs Ganze. Und glaube mir, er springt liebend gern für dich ein. Sebastian gefällt ihm. Er steht auf solch zarte Männer ... und Blond ist hier selten ... und ... Tötung ersetzt Sex“
Claus knirschte. „Niemand vergeht sich an Sebastian!“
„So gefällst du mir schon besser“, frohlockte Grün, „Nimm jetzt deine Wut und ein Schlachtermesser und rette Sebastian. Rette ihn vor Jack!“
„Einen Scheiß werde ich tun! Eher schlachte ich diesen verdammten Jack!“
„Das ist vergebliche Liebesmüh’. Jack lebt nicht in diesem Sinne. Du kannst ihm nichts anhaben, er ist nur Akteur hier. Wie wir alle.“
Claus schwieg grimmig.
„Du machst es also nicht?“
„Nein.“
„Na gut. In den nächsten Stunden wird euer Schicksal besiegelt sein. Macht das Beste draus.“
Und weg war sie/er/es. Eines stand nun zumindest fest: er würde Sebastian die nächste Zeit nicht aus den Augen lassen.
Zur selben Zeit sprach Jack mit Sebastian. Kurz nachdem Claus sich aufgemacht hatte, um sich auf der einzigen und viel zu abgelegenen Toilette zu erleichtern, redete er ihn von der Seite an. Sebastian, von Natur aus etwas schreckhaft, zuckte zusammen.
„Da geht er hin, dein Claus“, begann er, „Hast du schon darüber nachgedacht? Wirst du es ihm heimzahlen?“
„Da brauche ich überhaupt nicht darüber nachzudenken“, knirschte Sebastian. „Was soll ich ihm denn heimzahlen? Wir haben uns beide das Leben schwergemacht. Er trägt keine größere Schuld daran als ich selbst.“
„Mein lieber Sebastian, siehst du das denn nicht?“, stichelte Jack, „Er hat sich noch nie um dich bemüht. Immer warst du derjenige, der eine richtige Beziehung angestrebt hat – und jedes Mal hat er dir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Bist du dir sicher, dass er dich liebt? So richtig? So wie du ihn? Ich an deiner Stelle wäre es nicht.“
„Er ist doch eine Beziehung mit mir eingegangen“, entgegnete Sebastian, „Wir haben harmonisch zusammengelebt, bis es uns aus unserer Welt katapultiert hat.“
„Und warum hat es euch da hinauskatapultiert?“, fragte Jack, grinsend, „Na? Noch nicht draufgekommen? Gut, dann erzähle ich dir jetzt etwas: wärt ihr nicht in dieser Parallelwelt gelandet, wäre euer Leben, natürlich, weitergegangen. Aber Claus wäre mit der Zeit seltsam geworden. Du weißt ja sicherlich noch, seine kranken Phantasien, die er mit dir geteilt hat. Du hast sie immer äußerst aufregend und angenehm gänsehauterregend gefunden. Aber auf die Dauer wäre es nicht bei den Phantasien geblieben, er hätte begonnen, es an dir auszuleben. Schön langsam, anfangs mit harmlosen Spielereien, bei denen unwesentliche Mengen Blut geflossen wären. Doch seine Gier nach deinem Blut wäre unbändig geworden. Dein Leben hätte damit geendet, dass er sich eines Tages nicht mehr zusammengerissen und dir die Kehle durchgeschnitten hätte. Nur, um sich an deinem Lebenssaft satt zu trinken und dich sterben zu sehen. Was sagst du dazu?“
Sebastian war es nun etwas übel geworden. Das Blöde an der Sache war, dass er diesem Jack glaubte. Er wusste haargenau, dass er die Wahrheit sagte, er spürte es förmlich. Obwohl Sebastian die Antwort darauf bereits kannte, fragte er: „Wieso wäre ich bei ihm geblieben, wenn es sich schon vorher abgezeichnet hätte?“
„Na warum wohl?“, ätzte Jack, „Weil du ihn ja liebst. Du hättest es geschehen lassen, weil du ihm so sehr verfallen bist, dass es dir letztendlich egal ist, was mit dir passiert. Du stirbst gern durch seine Hand, nicht wahr? Aber ist er es wert? Ist er es wirklich wert? Wo er doch nie, aber wirklich nie irgendetwas auf sich genommen hat, um dich verdient zu haben?“
„Und was soll ich jetzt tun? Wieso erzählst du mir das alles?“
„Mach’ Schluss damit. Beende diese Beziehung. Finde das Wesen, das tatsächlich zu dir passt. Eines, das dich wahrhaftig verdient hat.“
Mit diesen Worten verabschiedete sich Jack, er war so schnell wieder verschwunden, wie er erschienen war und ließ einen verwirrten Sebastian zurück.
Erst, als sie zu Bett gingen, begann Sebastian, darüber zu reden. Weder hatte Claus ihm von seinem Gespräch mit diesem Wesen erzählt, noch er selbst von seiner Unterredung mit Jack. Zwar hatten sie beide den Eindruck gemacht, dass sie etwas beschäftigte, doch zu sehr beschäftigten sie sich mit ihren eigenen Gedanken, um den anderen auf dessen Wortkargheit anzusprechen. Als sie nebeneinander im Bett lagen, begann Sebastian: „Weißt du, ich habe nachgedacht ... wir sind hier, um uns über einander ins Klare zu kommen, nicht wahr?“
„Mhm ...“, brummte Claus, geistesabwesend.
„Wieso können wir nicht miteinander leben?“
„Können wir das wirklich nicht?“, fragte Claus, „Es steht doch nichts mehr zwischen uns, oder?“
„Doch. Deshalb sind wir ja hier. Hast du schon mal darüber nachgedacht, was passiert wäre, wenn wir in unserer Welt geblieben wären?“
„Ja ... aber ich weiß nicht, weshalb ich dich oder du mich umbringen hättest sollen. Weißt du es?“
„Ja.“
Claus hob die Brauen und wälzte sich auf die Seite, um ihm in die Augen sehen zu können. „Ja?“
Sebastian nickte. „Du hättest mich aus reinem Spaß an der Freud’ umgebracht.“
„Woher weißt du das?“
„Das ist doch egal. Ich weiß es einfach. Es wurde mir gesagt und habe gefühlt, dass es die Wahrheit ist.“
„Gut. Wenn du dir sicher bist, dann wird es wohl so sein. Ich vertraue deinem Gefühl. Schließlich bist du es ... der wohl schon immer wusste, dass wir zusammengehören.“
Hier stutzte Sebastian erst mal. Das wiederum passte so gar nicht zu dem, was Jack ihm eingetrichtert hatte. „Und du?“, fragte er neugierig.
„Ich denke, ich ... hm ... ich wollte es wohl nicht wahrhaben. Früher stimmte es einfach nicht mit meiner Weltanschauung überein ... aber jetzt ... jetzt ist es doch in Ordnung ... ich hätte dich aus reiner Mordlust gekillt? Wie?“, interessierte es ihn nun doch zu brennend.
„Rate mal“, forderte Sebastian ihn auf, er war gespannt, ob Claus eine Ahnung hätte, wie er es angestellt haben mochte.
„Warte ... ich bin mittlerweile so weit entfernt von unserem alten Leben, dass ich schon gar nicht mehr weiß, wie ich drauf war ...“, begann Claus und überlegte. „Ich denke, ich hätte es blutig gemacht. Ja ... ich war ziemlich versessen auf Blut. Es hat mich sogar erregt, wenn ich mein eigenes fließen hab’ sehen ... wahrscheinlich hätte ich dich erstochen. Mit vielen Messerstichen ... oder dich überhaupt aufgeschlitzt ... vielleicht die Kehle ...“
Sebastian nickte bedächtig – und, ob er wollte oder nicht – es erregte ihn.
„Kehle aufgeschlitzt?“
„Ja“, bestätigte Sebastian.
„Ja, kann ich mir lebhaft vorstellen. Aber es passiert nicht, wir sind hier – und mir ist hier so einiges klar geworden. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dir etwas anzutun. Du? Ich meine ... könntest du mich noch umbringen?“
„Also, sicher bin ich mir nicht“, gab Sebastian zu, worauf Claus ihn etwas erstaunt anblickte. „Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob du mich liebst.“
„Spinnst du?“, Claus fuhr hoch, „Wieso zweifelst du jetzt plötzlich daran?“
„Weil du es mir nie bewiesen hast. Denk doch mal zurück: du hast mich brutal vergewaltigt, als wir uns das erste Mal näher kamen. Auf das hinauf hab’ ich dich abgemurkst. Beim zweiten Mal ... kam mein Tod aufgrund sehr niederer Beweggründe ... dann hast du dich mit mir eingelassen, aber als es brenzlig wurde, hast du mich beseitigt. Und zuletzt wolltest du dich auch aus dem Staub machen.“
„Zuletzt ist noch“, wandte Claus ein, „Ich bin noch da. Du hast aber auch nur eine einzige Entschuldigung, nämlich für deinen ersten Anschlag auf mich. Ich habe dich gröber verletzt und du hast mich im Affekt umgebracht. Der letzte Mord an mir hat dir ja auch außerordentliches Vergnügen bereitet. Oder liege ich da falsch?“
„Das bestreite ich ja gar nicht!“, regte Sebastian sich auf, „Worauf ich hinauswill, ist folgendes: Ich hätte mich damit abgefunden. Ich wäre bis zum bitteren Ende mit dir zusammengeblieben, jedes Mal! Okay, du hast ja schon gesagt, dass dir das klar geworden ist. Löblich. Aber wann hast du jemals daran gedacht?“
„Hier.“
„Du meinst, seit wir hier sind?“
„Seit wir uns hier wieder begegnet sind, ja. Ich war so überglücklich, dich wieder bei mir zu haben, dass ich mir in dem Moment geschworen habe, nie mehr von deiner Seite zu weichen.“
„Und mich nicht mehr aus dem Weg zu räumen, sollte es ungemütlich werden ...“
„Das auch.“
„Ich kann mir ein Leben ohne dich überhaupt nicht vorstellen“, sinnierte Sebastian, „Unmöglich. Es scheint, als gäbe es gar keine andere Person ...“
„Ich empfinde genauso. Wir gehören zusammen. Das ist es wohl, was uns dieser alte Mann begreiflich machen wollte ... trotzdem weiß ich noch nicht, was wir hier sollen. Es scheint, als würde hier etwas zu Ende gehen. Aber was?“
„... oder beginnen“, erwiderte Sebastian. Und, als ob dies Jacks Stichwort gewesen wäre, erschien der justament in diesem Augenblick neben ihrem Bett. Beide fuhren erschrocken hoch.
„Jack!“, rief Sebastian, „Wie bist du hier reingekommen?“
Dieser grinste nur, seine Hände ruhten am Stiel einer riesigen Axt. Claus schnappte sich Sebastian und eilte mit ihm zur Tür, die jedoch von außen verschlossen war. Er hatte bereits begriffen, weshalb Jack hier war, nur Sebastian stand noch etwas daneben. Zwar hatte auch er die Axt gesehen, doch dass Jack sie dazu benutzen könnte, um jemanden damit umzubringen, wollte noch nicht so recht in seinen Kopf. „Aua!“, rief er, „Lass mich los!“, und versuchte, sich aus Claus’ Umklammerung zu lösen. Der aber dachte keine Sekunde daran, ihn loszulassen, drehte sich nur um - und nun standen sie beide mit dem Rücken zur verschlossenen Tür.
„Ich weiß, dass deine Entscheidung gefallen ist, Claus“, sprach Jack nun in ruhigem Tonfall, „Geh zur Seite, ich werde mich um deinen Liebsten kümmern.“
„Einen Scheiß werde ich“, zischte Claus und stellte sich schützend vor Sebastian, dem allmählich dämmerte, worum es ging.
„Du brauchst nicht zu sterben“, raunte Jack Claus zu, während er sich näherte, die schwere Axt in beiden Händen haltend, so, als wäre sie ein unheimlich kostbarer Gegenstand, ein heiliges Werkzeug. „Sebastian ist jetzt dran.“
So gefasst, wie man es mit Todesangst im Nacken nur sein kann, flüsterte Sebastian Claus von hinten zu: „Tu was er sagt. Wenn ich jetzt dran bin, dann okay. Es ist okay ...“
„Es ist nicht okay“, zischte Claus zurück, „Wieso solltest du jetzt sterben müssen? Das ist unlogisch.“
„Was auf der Welt ist schon logisch?“, wandte Sebastian ein, doch sicher war er sich tatsächlich nicht mehr. Jack kam langsam näher.
„Du willst also, dass dein Kopf mitrollt, sehe ich das richtig?“, fragte er Claus, der erwiderte: „Wenn seiner unbedingt rollen muss, dann ja. Entweder wir beide oder keiner von uns.“
„Gut“, meinte Jack, die Axt hebend, „Wie du willst. Geht mich ja nichts an.“
Ohne zu zögern holte er weit aus, kurz darauf pfiff die Klinge der Axt durch die Luft und enthauptete beide auf einmal.
Dann war es dunkel, doch ich fühlte, dass ich nicht allein war. Claus war bei mir, obwohl ich ihn nicht sehen konnte. „Wo sind wir?“, fragte - oder besser: dachte ich, gleich danach kam es von Claus: „Gute Frage ...“ – „Was sind wir jetzt?“ – „Woher soll ich das wissen?“ – „Es zieht uns wohin, merkst du das auch?“ – „Ja.“
Der alte Mann erwartete uns mit einem unheimlich entspannten Lächeln im Gesicht. Wir befanden uns in einem Niemandsland, weder Himmel noch Erde, weder hier noch dort.
„Gratuliere, ihr habt es endlich geschafft!“, frohlockte er, „Ihr seid beide angekommen. Claus, du hast deine Sache gut gemacht, wir sind stolz auf dich.“
Jetzt bemerkten wir, dass der alte Mann nicht allein hier war, viele andere Personen waren anwesend, allesamt genauso freudig lächelnd.
„Wie schön, euch eine Freude damit machen zu können, gestorben zu sein“, bemerkte Claus, doch ungewöhnlicherweise überhaupt nicht sarkastisch klingend. Jetzt erst fiel mir auf, dass die Stimmen allesamt nicht klangen – zumindest nicht so, wie ich gewohnt war, sie klingen zu hören. Sie waren einfach da.
„Ihr könnt euch jetzt aufmachen, die Welt zu verändern. Viel Glück dabei. Wir hoffen alle auf euch.“
Und mit einemmal war uns klar, was zu tun ist.
„Ein Bauch in Moskau wartet auf euch“, erklärte der alte Mann, und nun waren wir doch wieder verwirrt.
„Einer?“
„Ja, einer. Ihr werdet Geschwister sein. Zwillinge. Das vereinfacht die Sache etwas.“
Der Alte zwinkerte uns zu. „Und jetzt geht, ihr werdet erwartet ...“
Texte: Zeichnung mit freundlicher Genehmigung von Rainer Zeger
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2011
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