Stockfinster, dachte der junge Mann bei sich. Stockfinster ist es!
Und versuchte sich zu bewegen. Grandios. Finster wie im tiefsten Loch und eng auch noch dazu. Wo bin ich eigentlich?
Er tastete um sich und ihm wäre vor Schrecken das Herz stehen geblieben, hätte es noch geklopft. Das hier war eindeutig ein Sarg, er lag in einem Sarg! Nachdem sich sein erster Schock gelegt hatte, horchte er in sich hinein. In der Tat. Kein vertrautes Klopfen in der Brust. Um sicher zu gehen, fasste er sich an die Stelle über dem Herzen. Nichts. Und im selben Augenblick stellte er fest, dass er auch nicht atmete, ja, nicht einmal den Drang zu Atmen verspürte. Cool, ich bin tot. Bin ich wirklich tot? Müsste ich nicht irgendwo sein?
Man hörte ja immer wieder von verschiedensten Nahtod-Erlebnissen, wo war sein dunkler Tunnel mit dem Licht am Ende? Weshalb war er noch in diesem verdammten Körper gefangen? Er trug einen Anzug. Teufel auch, er hatte in seinem ganzen Leben noch keinen Anzug getragen! Na ja, nicht freiwillig. Er tastete sich über die Krawatte. Sie würgte ihn zwar nicht, dennoch war sie ihm unangenehm. Weder war ihm kalt noch heiß, ihm war überhaupt nichts. Mit steifen Fingern löste er den Knoten. Wie war er überhaupt gestorben? Er hatte keine Ahnung. Und wie lange war er schon hier? War er bereits unter der Erde? Oder noch in der Aufbahrungshalle? Mit aller Kraft drückte er gegen den Deckel. Tatsächlich, er gab nach. Der junge Tote wand sich heraus und stellte fest, dass er recht wacklig auf den Beinen war, er hielt sich an seinem vermeintlich letzten Bett fest. Im selben Moment musste er an einen Vampirfilm denken und tastete über seine Zähne. Zwar waren seine Finger recht taub, doch soviel konnte er noch erfühlen: seine Eckzähne hatten sich weder verlängert noch zugespitzt. Beruhigt ließ er die Hände wieder sinken und sah sich um. Jawohl, das hier war eindeutig die Leichenhalle. Schloss man diese Bude eigentlich ab? Er versuchte, die Tür zu öffnen und resignierte. Scheiße, zu. Keine Chance, der trostlosen Stille dieses Ortes zu entkommen. Halbherzig latschte er die schätzungsweise 40 m² ab und stellte fest, dass die Halle tatsächlich nur diese eine beschissene Tür hatte. Wenigstens standen hier etliche Stühle und sonstiger Kram, übereinandergestapelt, herum, und über ein kleines Tischchen an der Wand war eine Decke geworfen worden. Er überlegte. Ja, dort könnte er sich verkriechen, und wenn die Tür irgendwann (er hoffte bald) geöffnet würde, würde er sich irgendwie hinausstehlen. Mit knirschenden Gelenken sank er auf die Knie und schlüpfte darunter, klappte sich zusammen wie eine Gartenliege und wartete. Die Dunkelheit wollte sich nicht verziehen und auch Schlaf stellte sich nicht ein, was er ziemlich langweilig fand. Keine Spur von Müdigkeit. Auch die Art und Weise, wie er dort kauerte, hätte ihm bei Lebzeiten, auch wenn er erst knackige 19 Jahre alt gewesen war, Schmerzen bereitet. Doch er spürte überhaupt nichts, fand es sogar ziemlich bequem so. Er stützte sein Kinn auf die Knie und stierte die dunkle Decke an.
Was zum Teufel mache ich hier eigentlich? Welchen Zweck hat das Ganze? Wenn ich tot bin, dann ... ja, meinetwegen, bin ich es eben. Aber warum bin ich da?? Das muss doch irgendeinen verfluchten Sinn haben?
Plötzlich stutzte er. Wer war er eigentlich? Panisch stürzte er aus seinem Versteck, wobei er über seine eigenen Extremitäten stolperte und auf den Boden klatschte. Dumpf empfand er irgendetwas, keinen Schmerz, womöglich bloß das Gefühl des Aufpralls. Ächzend richtete er sich wieder auf und suchte an einer der vielen Glaswände, die die Umrisse der Leichenhalle bildeten, ein Spiegelbild zu erkennen und wurde schließlich fündig. Unhübsch fand er sich nicht, obwohl ... sein Kopf sah etwas derangiert aus ... ah ja, sein Kiefer! Er musste ihn sich beim Sturz ausgehebelt haben. Auch sein Gesicht fühlte sich unwirklich, irgendwie künstlich an; er entschloss, nicht weiter darüber nachzudenken und richtete mit ein, zwei Handgriffen und einem darauf folgenden irrsinnig lauten Knacken sein Kiefer wieder ein. Dennoch stimmte etwas noch nicht. Er legte den Kopf schief und sah genauer hin. Die Perücke war verrutscht. Eine Perücke? Zögernd zog er sie sich vom Kopf und glotzte etwas angewidert auf seinen kahlen Schädel, der so zusammengeflickt war, dass er eher an einen Globus erinnerte als an einen menschlichen Kopf. Er verzog den Mund und setzte den Haar-Dummy wieder auf, richtete es zurecht. Ja, so sah es besser aus. Was hatte ihm seinen hübschen Schädel dermaßen demoliert? War er ermordet worden? War er deshalb hier? Als eine Art Racheengel? Es klickte nichts, aber auch absolut gar nichts. Neugierig geworden, knöpfte er sein Hemd auf, nachdem er die bescheuerte Krawatte endgültig vom Hals gelöst und achtlos weggeworfen hatte und begutachtete seinen Oberkörper. Der spielte alle nur erdenklichen Farben. Quetschungen, vermutlich. Alte Quetschungen. Tote Quetschungen. Und in der Höhe des Nabels, rund um den Rumpf herum, zierte ihn eine hässliche Naht, so als sei er in der Mitte auseinandergegangen und wieder zusammengeflickt worden Nun gut, es reichte ihm, mehr wollte er nicht sehen. Umständlich knöpfte er alles wieder zu und schlenderte zurück zu seinem Versteck.
Nach geschätzt hundert Jahren wurde endlich die Scheiß-Tür geöffnet, er jubilierte innerlich. Verstohlen spechtelte er aus seinem Versteck heraus und beobachtete zwei Männer, die erschrocken den geöffneten Sarg bemerkten, auf das hinauf in Panik ausbrachen und wieder davon stoben. Hey, das war ja einfach. Vor Schreck hatten sie vergessen, die Tür hinter sich zu schließen, nun stand sie offen und lud ihn ein, ins grelle Tageslicht zu treten. Was er denn auch tat.
Von Weitem erblickte er eine ältliche Dame, die sich gerade anschickte, den leicht ansteigenden Hang hinauf zum Friedhof zu besteigen. Dazu musste sie an der Aufbahrungshalle vorbei, er wandte sich nach rechts und verbarg sich hinter dem niederen, von Büschen umgebenen Gemäuer. Also fröhlich in aller Helligkeit herumstaksen konnte er wohl nicht, wo er doch augenscheinlich tot war. Die kannten ihn da womöglich alle und würden wer weiß was für einen Tumult veranstalten, wenn sie ihn erblickten. Aber wo konnte er sich verbergen, bis es wieder dunkel und weniger Leute unterwegs waren? Fast im selben Moment erfasste sein Auge ein eingeschlagenes Fenster, direkt zu seinen Füßen. Er erinnerte sich dunkel. Als Kind war er oft daran vorbeigekommen, es war ein altes Häuschen, früher sicher irgendeinem Zweck dienend, doch nunmehr zerschlagen, verfallen und verlassen. Vorsichtig kletterte er in den Keller und plumpste auf den mit Unrat übersäten, aber ansonsten kahlen Betonboden. Der Ort mutete zwar noch trostloser als die Leichenhalle an, doch hier würde garantiert niemand überraschend auftauchen. Wieder klappte er sich zu einem kleinen Paket zusammen und entschloss sich, dort zu bleiben bis sich das Tageslicht langsam aber sicher wieder verflüchtigte. Himmel, war das öd, tot zu sein. Bis es soweit war, sprich, die Sonne verschwand und dem Mond Platz machte, ließ er seine Gedanken im Leerlauf und hoffte, ihm würde noch etwas einfallen, ähnlich dem kurzen Erinnerungsblitz hier, dieses ruinöse Haus betreffend. Und tatsächlich schwirrte irgendwann ein Name durch seine stillgelegten Gehirnwindungen. Sascha. Mal von einer weiblich klingenden Stimme ausgesprochen, dann von einer männlichen. Und dann wieder und wieder, aus verschiedensten Mündern kommend. Mal zärtlich-liebevoll, mal fordernd, mal zornig ... Sascha. War das sein Name? Wohl! Sascha! Natürlich, er war Sascha! Sascha Lehnherr. Bekloppter Name, dachte er bei sich, doch ungemein froh, es wieder zu wissen. Eine Ratte glubschte ihn neugierig an, kam näher und versuchte, an einem seiner Finger zu nagen. Schnell zog er seine Hand zurück und erschreckte sie damit so sehr, dass sie wie der Blitz wieder davon sauste. Ein merkwürdiger Drang hatte sich in ihm breitgemacht, als er das lebendige, warme, pulsierende Tierchen vor sich bemerkt hatte. Jawohl, er hatte es regelrecht pulsieren ... gefühlt. Sascha verfolgte es bis zu einem kleinen Loch in der Mauer und wartete dort, wie ein Kater auf das Mäuschen. Inzwischen waren ein paar Leute zur Leichenhalle zurückgekehrt und eine ungeheure Hektik machte sich da draußen breit. Stimmengewirr, Beschuldigungen, geraunte Entschuldigungen, bemüht sachliche Erklärungsversuche. Amüsiert lauschte Sascha, froh darüber, nun endlich unterhalten zu werden. Man zermarterte sich die Köpfe darüber, wie jemand unbemerkt die Leiche des armen verstorbenen Pflegesohns der Lehnherrs (ah ja, Pflegesohn! Stimmt, seine Eltern ...) wegschaffen hatte können, bloß seine Krawatte war aus unerfindlichen Gründen zurückgelassen worden (Hoppla). Während die Leute draußen noch herumdiskutierten, steckte die Ratte das Schnäuzchen aus ihrem Versteck und kam wieder hervor. Ohne recht zu wissen, was er da eigentlich tat, ergriff er sie flink und riss ihr den Kopf ab, trank gierig ihr warmes Blut und fühlte sich anschließend so richtig wohl, fast wieder lebendig. Als er das bemitleidenswerte Geschöpf wegwarf, stellte sich jedoch so etwas wie Trauer ein. Was hatte er da getan? In jüngeren Teenagerjahren hatte er doch selbst zwei Ratten gehabt, die er fürsorglich umhegt und gepflegt hatte. Und jetzt das? Abwesend leckte er das restliche Blut von seinen Lippen und drängte die Trauer wieder beiseite. Er brauchte sie eben. Der Teufel wusste warum, aber er hatte sie gebraucht wie ein Lebender einen Bissen Brot. Eindeutig.
Als die Dunkelheit sich über das Örtchen legte, kroch ein blasser junger Mann aus dem Keller der kleinen Ruine neben der Leichenhalle und reckte, streckte sich in die Höhe. Es krackste und knackste fürchterlich in ihm, jedoch, er gewöhnte sich bereits daran und setzte sich in Bewegung. Erst noch ungelenk, doch mit jedem Schritt besser unterwegs. Es zog ihn nach unten, den sanften Hügel hinab. Auf dem Weg musste er sich noch einmal verstecken, doch dann kam ihm niemand mehr entgegen; in den Häusern brannte Licht, aber sonst wirkte die Ortschaft fast wie ausgestorben. Vor dem Haus seiner Tante und deren Mann hielt er inne. Hier hatte er gewohnt. Schöne Erinnerungen schossen ihm durch den Kopf, er lächelte verträumt. Sascha kletterte über den niederen Zaun und stahl sich nach hinten, in den Garten. Hinter der großen Tanne hockte er sich hin und ließ Revue passieren, woran er sich erinnern konnte. Seine leiblichen Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, als er vier Jahre alt gewesen war und der Bruder seines Vaters hatte ihn aufgenommen, einerseits überglücklich, denn er und seine Frau konnten keine Kinder bekommen, obwohl sie sich nichts sehnlicher als das gewünscht hatten. Endlich hatten sie einen Sohn, den sie liebevoll aufziehen konnten. Er hatte seine Tante immer Tantchen genannt, während er zu seinem Onkel Papa sagte. Sascha hatte keine Ahnung mehr, weshalb, es war ihm auch egal. Die beiden waren immer gut zu ihm gewesen, wahrscheinlich auch aus Pflichtbewusstsein seinen verstorbenen Eltern gegenüber. Wohlig-warme, angenehme Bilder kamen zurück. Ja, diese Leute hatte er geliebt. Und sie ihn. Jetzt waren sie bestimmt todtraurig, ihn verloren zu haben, sie taten ihm mit einem Mal so leid, dass er am liebsten aufgesprungen und zu ihnen reingegangen wäre, hielt sich aber im letzten Moment doch zurück. Die bedauernswerten Leute würde der Schlag treffen, wenn er plötzlich auftauchen würde, so, wie er inzwischen aussah. Wie war er aus dem Leben geschieden? Wieder und wieder zerbrach er sich den ohnehin bereits zerbrochenen Kopf darüber, doch es wollte ihm nicht einfallen. Einige Zeit später erhob er sich und setzte seinen Weg fort. Er bewegte sich in die Richtung, in die ihn seine Füße trugen, eine ungepflasterte Straße, an der Rückseite verschiedener Häuser, entlang, bis er an einen kleinen Froschteich kam. Versonnen beobachtete er die Bewohner des Teichs bei ihrem Konzert und auf einmal war ihm, als müsse er heulen. Er konnte nicht. Was machte ihn angesichts dieses Tümpels so ungeheuer traurig? Von weiter unten her hörte er einen Zug vorbeirauschen und plötzlich, mit aller Wucht, schoss ihm sein Tod ein. Die Erinnerung an seinen Tod. Vor den Zug hatte er sich geworfen, na klar! Aber weshalb, verdammt noch mal? Wie in Zeitlupe drehte er sich um und starrte hinunter, über die Weingärten hinweg, dorthin, wo das Gleis sein mochte. Schnurstracks bewegte er sich in diese Richtung und stand erst wieder still, als er die Stelle wiederfand, an der er sich entschlossen hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Ein Gefühl der Verzweiflung beschlich ihn, so stark, dass er niedersank und sich ins Gras krallen musste. Aber woher kam diese Verzweiflung? Was hatte ihn derartig..?
Ein Schrei entfuhr ihm, so gespenstisch unmenschlich klingend, dass ihn selbst schauderte. Er versuchte zu sprechen. Es gelang, doch seine Stimme kam ihm nicht bekannt vor. Sie hatte so etwas ... Seltsames, Andersartiges. Aber er konnte sprechen und das beruhigte ihn nun doch etwas. Langsam erhob er sich wieder und stakste zurück zum Froschteich, doch diesmal nicht direkt auf ihn zusteuernd, sondern auf das Haus nebenan. Hier lag der Grund für seine Verzweiflung, das spürte er in jeder Faser seines abgestorbenen Körpers. So nebenbei bewunderte er die Leute, die dafür zuständig gewesen waren, seine Körperteile wieder zusammenzuflicken und ihm ein halbwegs menschliches Antlitz wiederzugeben. Das schwere Holztor war zwar schwer zu öffnen, doch unverschlossen. Zögernd trat Sascha ein und war sich nicht mehr sicher, ob er wirklich erfahren wollte, was sich hier an Erinnerungen verbarg. Links von ihm befanden sich ein paar Hasenställe, in der Mitte ein Traktor, rechts ein Schweineverschlag. Draußen, das sah er nicht, doch er wusste es, ein Hühnerstall. Hier hatte er immer die Eier für sein Tantchen geholt. Eier, die ihm jemand in die Hand gedrückt hatte, jemand ... wiederkehrender Blutdurst unterbrach ihn in seinem Denken. Hase? Oder Huhn? Er entschied sich für einen nicht-gackernden Hasen. Während das frische Hoppelhasenblut seinen kalten Körper durchflutete, spürte er nebst wiederkehrenden körperlichen Empfindungen einen nichtkörperlichen Schmerz, der ihm ganz und gar nicht behagte. Der Besitzer dieser Tiere, dieser Gerätschaften, dieses gesamten Anwesens war der Auslöser dieses Schmerzes. Sascha hatte nun ein Bild des Mannes vor sich, doch noch keinen Namen für ihn. Unheimlich starke Gefühle brodelten in ihm auf, schöne wie unschöne, Liebe wie Schmerz. Sein Blick fiel auf eine Leiter, die nach oben führte, kurzentschlossen erklomm er sie und legte sich dort oben hin. Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen dachte er nach. Schöner Mann. Wie hieß er noch gleich..?
Werner. Knapp zwei Jahre lang war Sascha sein heimlicher Geliebter gewesen. Obwohl Werner ihn schon kannte, seit er in die Windeln gemacht hatte, hatte es trotzdem irgendwann geklickt. Nämlich als Sascha sechzehn wurde. Er feierte in der örtlichen Disco ausgelassen seinen Geburtstag und Werner saß an der Bar und beobachtete ihn traurig. So jung! So unbeschwert! Und umschwärmt von Mädels in allen Formen und (Haar-)Farben. Auch Jungs waren in der Runde, doch sein Augenmerk lag auf den Mädels. Sobald eine davon Sascha zu nah kam, spürte Werner einen Stich in der Brust. Doch Sascha griff nicht zu, er soff und soff und soff – bis er letztendlich halb bewusstlos draußen auf den Stufen kauerte und von seinem Freund nicht mehr vom Fleck bewegt werden konnte. Werner bot sich an, Sascha nach Hause zu bringen, hievte ihn hoch und verfrachtete ihn in seinen Wagen. Der Kleine bekam von alldem nichts mit, schlief einfach weiter. Als er so neben ihm saß, sah er ihn sich noch einmal, genauer, an. Ja, dieser Sascha hatte sich gemausert. Früher ein blasses, schüchternes Kind, das sich jedes Mal hinter den Beinen seines Onkels versteckt hatte, wenn ein Fremder ins Haus gekommen war - nunmehr ein hübscher, großer Junge, der sicherlich eine Menge Verehrerinnen hatte. Widerwillig startete er seinen Wagen und brachte ihn nach Hause. Der Junge verwirrte ihn. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder, zwei und fünf Jahre alt, doch mit der Leidenschaft war es in seiner Ehe nicht weit her. Seine Frau war nicht unhübsch, im Gegenteil, hatte sie eine Menge von Männern zur Auswahl gehabt, bis sie sich endgültig für Werner entschieden hatte. Eine Fehlentscheidung, wie sich später herausstellen sollte, denn, so fesch er war, so langweilig war er im Bett. Fand sie. Er wusste es, doch es lag nicht an mangelnder sexueller Lust. Es lag daran, dass er immer schon etwas anderes gewollt hatte als eine Frau. Er musste sich jedes Mal dazu zwingen, seine ehelichen Pflichten zu erfüllen, in Gedanken nicht bei ihr im Bett sondern bei jungen Männern. Und in letzter Zeit oft, viel zu oft bei Sascha. Nachdem er ihn seinen Pflegeeltern übergeben hatte, fuhr er nach Hause, legte sich neben Sylvia und blieb noch lange wach.
Zufällig waren sie sich später dann einmal am Weg zum See hinunter über den Weg gelaufen, Sascha hatte ihn freudig begrüßt, ihn gefragt, weshalb er so ein Gesicht mache und war dann den gesamten Weg neben ihm hergegangen und hatte sich geduldig seine Klagen über seine Ehe angehört. Äußerst verständnisvoll, wie ihm schien. Welcher Sechzehnjährige hatte sonst ein Ohr für ehegeplagte Fast-Dreißiger? Kein einziger. Seine Liebe zu dem Jungen wuchs mehr und mehr, fast mit jedem Schritt, den er machte, mit jedem Wort, das aus seinem Mund kam. Kurz streifte Sascha während des Gehens an Werners Arm und diese kleine, fast unmerkliche Berührung nahm ihm fast den Atem. Dennoch passierte nichts Erwähnenswertes, bis Sascha siebzehn war.
Was Werner nicht wusste, war, dass auch er schon lange der Inhalt Saschas feuchter Träume gewesen war. Der jedoch traute sich nicht ran, weil Werner für ihn so etwas wie ein Halbgott war, ein stattlicher, gutaussehender, verheirateter Mann, dem er sich nicht nähern durfte. Sascha genoss die Angelausflüge mit seinem Onkel, wo auch fast immer Werner und noch ein anderer mit von der Partie waren. Die meiste Zeit hockte er dabei neben Werner und plauderte mit dem über Gott und die Welt, selig, neben und bei ihm sein zu können und noch glücklicher darüber, dass der sich offensichtlich auch sehr gern mit ihm unterhielt.
Nach Saschas siebzehntem Geburtstag jedoch ergab es sich, dass sie längere Zeit ungestört waren, an einem milden Herbsttag unten auf einem Steg saßen und die Zehen ins kalte Nass baumeln ließen. Werner war von zu Hause geflüchtet und Sascha schien ohnehin immerzu unterwegs zu sein, unruhig wuselte er ständig durch die Gegend oder radelte die nächstgelegenen Ortschaften ab, man konnte ihm oft begegnen, wenn man außer Haus ging. Was Werner sehr gelegen kam. Eigentlich hatte er vorgehabt, das Bürschchen hier draußen zu verführen, doch als sie nun nebeneinander saßen, in trauter Zweisamkeit, getraute er sich doch nicht. Zerstören wollte er diese innige Freundschaft zu dem Knaben nicht, dafür hatte er ihn zu gern. Nach einer Weile des Schweigens jedoch lehnte sich Sascha an seine Seite. Schmiegte sich regelrecht an ihn. Sofort hatte er einen Angenehmen in der Hose. Zwar legte Werner automatisch einen Arm um Sascha, doch gleichzeitig sagte er ihm, dass er das nicht machen solle. Sascha richtete sich wieder auf und sah ihn an. „Was soll ich nicht machen?“
„Mir so nahe kommen.“
Sascha lächelte. „Und warum nicht?“
Seufzend deutete Werner auf die Beule seiner Hose und schämte sich dabei in Grund und Boden. Sascha jedoch, dieser Teufel, fasste ihm zwischen die Beine, befühlte den Ständer peinlich genau und grinste dabei fast einen Kreis.
„Das war ich?“ fragte er stolz und kam dabei mit seinem Gesicht schrecklich nah an seins, so nah, dass er ihn küssen musste.
Das war der Beginn einer höllisch geilen, schönen, schrecklich anstrengenden Bindung, die beide ebenso genossen wie verfluchten. Ein ständiges Auf und Ab, gefangen zwischen verstecken und übereinander herfallen, verschweigen und auskosten. Sascha piesackte Werner mit ständigem Flehen um mehr, Drängen auf eine Scheidung, gleichzeitig wissend, dass er das niemals machen würde. Er war vielleicht anders als die anderen, doch auf seine Weise ebenso konservativ und sein kleiner Bauernhof und die Kinder waren ihm mindestens genauso wichtig wie seine Liebe zu Sascha stark war. Niemals wäre er dazu gestanden, da war ihm die Heimlichtuerei und die Gefahr einer Entdeckung noch lieber. Oder die Gefahr, dass Sascha irgendwann zusammenbrechen und sich bei jemandem ausheulen würde. Genau das passierte letztlich.
Nach einem kleinen Ausflug in die nähere Umgebung, Liebe in der Ruine eines alten Getreidespeichers, hatte Werner seinen Geliebten bereits kurz nach der Ortstafel ihrer beider Heimat aussteigen lassen, sich demütigst dafür entschuldigend, ihn so lieblos wieder abschieben zu müssen, doch es damit erklärend, es sich nicht leisten zu können, schon wieder mit ihm zusammen gesehen zu werden, wo sich die Leute so schon die Mäuler zerrissen. Sascha hatte Verständnis geheuchelt, war aber fürchterlich eingeschnappt und verletzt nach Hause gegangen, hatte sich vor den Fernseher gehockt und war dort sitzen geblieben, schweigend, auf nichts reagierend. Seine Tante redete auf ihn und anschließend auf ihren heimkehrenden Gatten ein, er solle doch bitte Sascha zum Reden bringen. Sie machte sich Sorgen. Es dauerte, doch er schaffte es. Nach knapp zwei Jahren Heimlichtuerei sprudelte endgültig alles aus ihm heraus, und am Ende hatte sein Onkel ein nervlich zerrüttetes Bündel Elend neben sich, das anscheinend nie wieder zu heulen und zittern aufhören wollte. Tantchen, die entsetzt dabeigestanden war und zugehört hatte, hatte sich neben Sascha gesetzt und versucht, ihn zu trösten, während ‚Papa’ sich ankleidete und wutentbrannt zu Werner gefahren war. Sie gingen miteinander in den Weinkeller, Saschas Onkel kippte erst zwei Achterl Wein und machte Werner anschließend zur Schnecke. Sascha hätte seinen Onkel nicht wiedererkannt: mit hochrotem Gesicht warf er Werner die schlimmsten Beschuldigungen an den Kopf (der schuldbewusst, mucksmäuschenstill gegenüber zu einem Hobbit zusammengeschrumpft war), er tobte regelrecht. Am Ende ihres Gesprächs, oder besser: Onkelchens Monolog, erhob der sich bebend und drohte Werner, sollte er ihn jemals wieder in der Nähe seines Neffen erwischen, würde er es nicht nur seiner Frau sondern der gesamten Ortschaft erzählen, wenn ihn nicht gar anzeigen. Er verließ einen verzweifelten Mann, doch längst nicht so verzweifelt wie Sascha es war. Der ging an diesem Tag früh zu Bett, am Morgen darauf ein wenig früher als sonst runter zum Bahnhof (er besuchte eine Schule in Wien), schwenkte auf halbem Weg roboterhaft nach rechts, runter zum Gleis, an eine Stelle, wo der Zug normalerweise noch nicht bremste, verbarg sich so gut es ging dort im Grünen und hopste, frei von jedem Gedanken, vor die Bahn.
Damit zwang er Werner postum zum Geständnis, denn nach dem Bekanntwerden von Saschas Tod war es dem unmöglich, die Fassade noch aufrecht zu halten, der Schock saß viel zu tief in den Gliedern. Er beichtete, seine Frau rastete nicht aus (sehr zu Werners Erstaunen, der damit gerechnet hatte), hatte sie doch bereits längere Zeit einen leisen Verdacht gehegt, hatte es sich jedoch nicht eingestehen wollen. Das, was ihm bereits so lange aufs Gemüt gedrückt hatte, war draußen, doch Werner fühlte sich schrecklich leer und war nah dran, seinem Sascha zu folgen. Die Stunden, Tage nach Saschas Tod verbrachte auch er wie ein Zombie, automatisch all seine Arbeiten durchführend, starr vor sich hinblickend. Er schwieg wie ein Grab, nicht einmal mehr mit seinen Tieren unterhielt er sich. Allein seine Kinder hielten ihn bei den (mehr oder weniger) Lebenden.
Am vierten Tage nach Saschas Dahinscheiden öffnete er das Tor zur Garage, die er teilweise zum Stall umfunktioniert hatte, schloss es hinter sich und ging daran, seine Schweine zu füttern, als ihn ein leises Geräusch aus seiner Lethargie riss. Er blickte hoch, sah nichts, machte weiter. Dann eine Stimme, so gespenstisch, dass sie ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Noch einmal sah er auf und ließ den Eimer Schweinefutter zu Boden krachen. „Hier oben“, hatte die Stimme gesagt und – in der Tat – da oben lugte Sascha (?!) zu ihm herunter, lächelte irgendwie künstlich und winkte ihm zu. Kehlig entfuhr ihm eine erschrockenes „Sascha?“, gleichzeitig verwandelten sich seine Knie in Pudding, er schwankte und musste sich festhalten.
„Ja“, bestätigte das Gesicht oben, „Warte, ich komm’ runter“, und schickte sich an, die Leiter runterzusteigen. Geistesabwesend beobachtete Werner die Gestalt, die da allmählich näher kam. Das war zweifelsohne Sascha. Zumindest trug sie den Anzug, den Sascha in seinem Sarg angehabt hatte. Die Gesichtszüge kamen Werner unnatürlich geglättet vor, doch Gruselgeschichten zufolge, die seinen Unfalltod betreffend die Runde gemacht hatten, hatte Sascha danach kein ganzes Gesicht mehr gehabt. Es war künstlich, doch ziemlich nah am Original. Respekt. Gute Arbeit.
Je näher Sascha, oder das was einmal Sascha gewesen war, kam, desto zittriger wurde Werner, das selbst zusammengenagelte Holztor zum Schweinestall schepperte bereits unter seiner Hand.
„Keine Angst“, flüsterte Sascha beruhigend. Das Flüstern klang besser, mehr nach Sascha. „Ich werde dir nichts tun. Ich will nur, dass du etwas für mich tust.“
Mittlerweile war er direkt vor Werner, streckte die Finger nach ihm aus und nahm Werners Hände in die seinen. Der, bereits dermaßen geschockt, dass er kein Wort mehr von sich geben konnte, bemerkte nur schaudernd die Kälte der toten Hände und stand steif da, in Erwartung seines Auftrags.
„Willst du etwas für mich tun?“
„Ich ... ich würde alles für dich tun“, hauchte Werner, ehrlich. Ja, mittlerweile würde er tatsächlich alles für seinen erkalteten Sascha tun; wenn er schon nicht vorher, zu seinen Lebzeiten, den Mut dazu gehabt hatte, nun war es der Fall. Nur noch, um sicher zu gehen, dass er da wirklich, leibhaftig, vor ihm stand, löste er sich aus Saschas Händen und fasste ihn an. Sein Gesicht, Oberkörper, die Arme, strich über seine Hüften hinunter. Ja, er war da. Keine Halluzination, kein Traum.
„Folge mir“, flüsterte Sascha, ging aber nicht davon. Wohin sollte er ihm folgen? Oh!
„Wie?“ fragte er mit zitternder Stimme.
„Das bleibt dir überlassen. Aber mach’ es gleich, bevor ich noch etwas reißen muss“, Sascha deutete beiläufig auf das achtlos hingeworfene, enthauptete Häschen, Werner schluckte.
„Was ... hast du ... da getan?“
„Frag mich nicht warum, aber ich brauche Blut, um halbwegs beweglich zu bleiben. Je länger ich hier bin, desto mehr verlangt es mich danach. Ich will niemandem weh tun. Wirklich nicht...“, endete er traurig und sah wieder hoch, Werner in die Augen.
„Also wie?“
Sascha zuckte die Achseln. „Erhäng dich am Dachbalken oder erschieß dich mit deinem Jagdgewehr. Oder warte auf den nächsten Zug. Egal. Tu es einfach.“
„Und wenn nicht?“
„Dann müsste ich es tun. Wäre aber enttäuscht von dir. Wenigstens dieses eine Mal könntest du mir beweisen, dass du mich liebst.“
„Natürlich“, antwortete Werner. Warum auch nicht? Hatte er doch in den letzten Stunden selbst an die hundert Male an die Möglichkeit gedacht und sogar sein Gewehr bereits schussfähig hergerichtet, bloß hatte ihn kurzfristig der Mut verlassen und er es unbenutzt wieder weggeräumt. Wortlos wandte er sich ab und holte es wieder aus dem Verschlag hervor, zeigte es Sascha, der beiläufig nickte und lud es erneut. Selbst wenn das hier ein Traum sein mochte, wenigstens erleichterte er ihm seinen Abgang. Kein Zwiespalt mehr, nur noch Todessehnsucht.
„Werde ich danach mit dir zusammen sein?“ wollte er noch wissen, Sascha lächelte sanft und nickte. „Ich werde dir auf dem Fuße folgen.“
„Okay.“
Werner setzte sich auf den kühlen Betonboden, platzierte das Schießeisen so vor sich, dass es direkt auf sein Gesicht zielte – und Sascha kam zu ihm. Setzte sich neben ihn und sah ihm dabei zu, wie er sich den Lauf in den Mund steckte und – abdrückte. Zufrieden begutachtete Sascha Werners Werk, versicherte sich, dass er tatsächlich tot war (obwohl die rot-gelbliche Suppe, die aus seinem Hinterkopf gesprudelt war, dies mehr als eindeutig bezeugte), legte sich neben ihn, verkreuzte die Arme vor der Brust und entschwand ebenfalls.
Für die Dorfleute war die Situation eindeutig. Der Reuige, wenn auch nur indirekte Verursacher von Saschas Tod hatte sich dessen Leiche geholt, um ihm nahe sein zu können, war vermutlich draufgekommen, dass ihm dessen starrer Leichnam nicht mehr dasselbe wie zuvor geben konnte und hatte sich daraufhin selbst weggeputzt. So einfach war das. Die Ortsgeschichte hatte eine makabre Story mehr und das Leben ging weiter.
Jänner 2004
Bildmaterialien: Zeichnung mit freundlicher Genehmigung von Rainer Zeger
Tag der Veröffentlichung: 26.10.2011
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