Cover

Titel

 

 

Paris Underground

Das kalte Herz

Band 2

 

 

 

Anja Stephan

 

 

 

Impressum

Copyright © 2022 Anja Stephan

Annagry, Donegal

IRELAND

 

Cover: Grit Richter, Art Skript Phantastik Design

Lektorat: Lisa Helmus

Korrektorat: Melanie Vogltanz, Lektorat Vogltanz

 

Illustrationen:

Ratte: Christina F. Srebalus

Gwen und Scott: Lisa Santrau

Vorlesen: Helene Boppert

Chibi Nour und Bernadette: SleepyShib (Fiverr)

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Content Notes

Diskriminierung (gegen Halbelfen), unerfüllter Kinderwunsch, körperliche Verletzungen, Narben, Blut, Kampf, Belästigung (Internet), Trolling (Internet); Tod: gewaltsamer Tod, Tod eines Kindes, Mord, Tod durch Verhungern (erwähnt), Tod durch Ertrinken (erwähnt), Tod durch Sturz (erwähnt), Tod durch Gift (erwähnt), Suizid (erwähnt); Geister, enge Räume, sexuelle Handlungen mit Konsens (explizit), freiwillige Sexarbeit, Missgunst in der Familie, psychische Erkrankungen (erwähnt), Massenpanik, Drogenkonsum (Gras, explizit), Gewalt gegen Tiere (explizit)

 

Akzeptanz verschiedener sexueller Orientierungen und Identitäten, wichtige non-binäre Nebenfigur, wichtige trans Nebenfigur, langjährige Freundschaften, vertrauensvolle und respektvolle Beziehungen, taktvoller Umgang mit Tod, Trauer und psychischen Störungen, Akzeptanz von körperlichen Behinderungen und Stigmata, positive Lebenseinstellungen, Abbau von Vorurteilen, verdammt guter Kakao

 

Die Listen erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Wenn den Lesenden weitere Inhalte auffallen, die genannt werden sollten, mögen sie mich (die Autorin) gern darauf aufmerksam machen.

 

Anmerkungen

Der Charakter Bernadette in diesem Buch ist nicht-binär. In Frankreich gibt es zur Ansprache mehrere Möglichkeiten, unter anderem das Pronomen iel, das in diesem Buch verwendet wird, eine Verschmelzung von il und elle. Es wird jedoch versichert, dass dies nicht den Lesefluss stört oder die Freude an der Geschichte hemmt. Nach eigener Erfahrung gewöhnt man sich sehr schnell daran.

 

Das Buch ist nach Möglichkeit in genderneutraler Sprache verfasst. Wenn den geneigten Lesenden hierbei ein Fehler auffällt, mögen sie bitte nicht zögern, mich (die Autorin) zu kontaktieren.

 

 

Text und Kontext

Scott betrachtete sich argwöhnisch im Spiegel und zog seine Fliege zurecht. Irgendwie wollte sie nicht so sitzen, wie er es sich vorgestellt hatte. Die Norne hatte gesagt, er solle zum Treffen der Gilde gehen und Gwendolyn mitnehmen. Warum das so bedeutend war, wusste er nicht. Aber wenn Verdandi das sagte, dann sollte er darauf hören.

Gwendolyn hatte ihn gewarnt. Ein offizieller Auftritt bedeutete Futter für die Presse. Er würde sein Gesicht am nächsten Tag in der Zeitung sehen. Direkt neben ihrem. Daran musste er sich gewöhnen. Für die Medien war offenbar alles interessant, was sie taten. Selbst ein Besuch auf dem Salon du livre.

Immerhin war sie fair genug gewesen, ihm zuvor ihre Kleiderauswahl zu zeigen, und hatte dabei großen Wert darauf gelegt, dass sie beide farblich zusammenpassten. Warum das wichtig war, hatte ihm dann Bernadette erklären müssen. Der Sinn erschloss sich ihm allerdings nicht. Aber offenbar kam es auf die Geste an. Ein geschlossenes Auftreten setzte ein Zeichen, zeigte, dass sie zusammengehörten, dass ihre Beziehung auf Konsens beruhte. Er brauchte nur einen Blick auf die Überschriften der Klatschblätter zu werfen, um zu wissen, dass ein solches Zeichen notwendig war. Die Gerüchteküche brodelte und es wurde schon spekuliert, ob im Falle einer Trennung wohl der nächste Weltkrieg ausbrechen würde. Ein gemeinsamer Auftritt mit eindeutiger Symbolhaftigkeit könnte dem entgegensteuern.

Weiterhin brauchte er sich nun keine Sorgen mehr darüber zu machen, ob ihr Aufzug angemessen war oder nicht. Dabei hatte er es schon vor sich gesehen: Gwendolyn von Cleve in einem gelben Minirock mit blaukarierten Strümpfen und einer grünen Bluse mit roten Punkten inmitten einer Schar Pinguine. Aber was sollte er daran schon ändern? Sie war eben so wie sie war. Ein Vorteil seines hohen Alters war, dass er sich über derart triviale Dinge einfach nicht mehr aufregte. Dass er kein Herz hatte, konnte natürlich auch ein nicht zu vernachlässigender Faktor sein.

Gwendolyn selbst war seit zwei Stunden in dem neuen Zimmer und hatte es nicht ein einziges Mal verlassen. Es war das erste Mal seit der Renovierung, dass sie es nutzte. Eingerichtet hatte sie es allerdings noch nicht. Das war bisher auch nicht notwendig gewesen. Dabei hatte er damit gerechnet, dass sie es mit allem möglichen Kram vollstellen würde. Kerzen oder ähnlichem.

Er hörte die Tür ihres Zimmers aufgehen und lugte neugierig um die Ecke. Gwendolyn trat in erstaunlich flachen Absatzschuhen in den Flur. Sie trug einen dunkelroten knielangen Rock und eine weiße Seidenbluse, darüber eine rosafarbene kurze Jacke aus Samt. Ihre Haare waren zu einem einfachen, sehr eleganten Knoten hochgesteckt, um den sie ein farblich passendes Band gebunden hatte. Scott öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Sie sah so seriös aus, dass es ihm beinahe unheimlich war.

»Nehmen Sie mich so mit?«, fragte sie und grinste frech.

Scott nickte. Sie drehte sich einmal im Kreis. Erleichtert atmete er auf. »Sie sehen toll aus.«

Sie strahlte. Das flaue Gefühl in seiner Magengegend war verschwunden. Als sie Scott mit der dunkelroten Fliege kämpfen sah, kicherte sie.

»Kommen Sie mal her«, sagte sie, fasste ihn an der Schulter und drehte ihn zu sich. Dann öffnete sie den Fliegenknoten.

»Sie können Fliegen binden. Natürlich können Sie Fliegen binden«, stellte Scott fest. Warum hatte er nicht früher daran gedacht?

»Ephraim trägt Fliegen. Raten Sie mal, wer ihm die jeden Morgen gebunden hat.« Sie lachte, während sie die Enden der Bänder übereinanderlegte.

Scott überlegte kurz. Er hatte Ephraim noch nie mit einer Krawatte gesehen.

Gwendolyn zupfte sanft an den Schleifen, dann richtete sie den Kragen. »Fertig«, sagte sie und sie drehten sich beide zum Spiegel.

»Wir sehen einwandfrei aus!« Sie klopfte ihm sanft auf den Arm.

Ja, sie sahen tatsächlich gut nebeneinander aus.

Sie fuhren mit dem Taxi zum Expo-Gelände. Mit jedem Meter, den sie näherkamen, wurde Scott nervöser. Wieso nur setzte er sich freiwillig diesem Stress aus, wo er doch diese Art von Veranstaltung verabscheute? Er dachte an die stechenden Blicke und missgünstigen Tuscheleien hinter seinem Rücken.

Nach einer halben Stunde Fahrt und einem horrenden Fahrpreis waren sie endlich angekommen. Die Antiquariatsmesse war dem Salon du livre angeschlossen und sie mussten sich durch mehrere Hallen drängeln, bis sie die Fläche der Antiquariate erreichten. Scott stolperte über Hunde, die zu klein waren, um sie zu entdecken. Über Rollkoffer, um die sich die Besitzenden nicht scherten. Über Kinder, die gegen seine Beine rannten. Und er rempelte beinahe ununterbrochen irgendjemanden an. Ein Gang war so voller Leute, die für eine Signierstunde anstanden, dass sie Mühe hatten, sich dazwischen hindurchzuzwängen. Und dann diese Geräuschkulisse! Aus Lautsprechern tönten Durchsagen, auf Bühnen wurden Interviews gegeben und Lesungen gehalten. Die Kinder kabbelten auf dem Flur, die Eltern schimpften. Als eine Frau neben ihm nach ihrem Hund schrie, begann sein Hörgerät zu fiepen. Kurzerhand schaltete er es aus. Er betätigte den Schalter erst wieder, als sie am Eingang zur Antiquariatsfläche standen.

Geschafft.

Ruhe.

Sie wurden durchleuchtet und mussten ihre Taschen ausleeren. Gwendolyn breitete unter Protest den Inhalt ihrer Handtasche aus und beförderte neben ihrem Portemonnaie Desinfektionstücher, einen Lippenstift, eine Puderdose, Pfefferspray, eine Tüte mit Haarnadeln, eine Probe Haarspray, ihr Smartphone, eine Visitenkartenbox, eine Handvoll Pfefferminzbonbons, einen glitzernden Kugelschreiber, ein Notizbuch, Binden und ein paar zerknüllte Kassenbons zutage. Wie zum Henker hatte das alles in ihre Handtasche gepasst? Die war doch so winzig. Erstaunt beobachtete er, wie sie alles wieder fein säuberlich in ihre Tasche steckte, nachdem sich der Wachmann davon überzeugt hatte, dass sie keinerlei Waffen oder Sprengstoffe mit sich führte. Vielleicht hatte sie ein System, das nur sie kannte? Nur die Kassenbons ließ sie draußen liegen. Ansonsten passte alles wieder in die Handtasche hinein.

Ein Kellner kam an ihnen vorbei, der auf seinem Tablett mehrere Gläser Orangensaft balancierte. Gwendolyn nahm sich zwei davon und reichte Scott eines davon. Das andere trank sie in einem Zug leer.

»Die Luft hier drin ist einfach zu trocken«, sagte sie.

Scott trank einen Schluck. Zu seiner Erleichterung war in diesen Gefilden der Buchmesse bedeutend weniger los als auf dem Rest des Geländes. Keine großen Taschen oder Rollkoffer, keine Hunde, keine Kinder, keine berühmten Autoren oder Autorinnen – die waren alle schon tot.

Er richtete sich streng nach dem Programmheft und lotste Gwendolyn zu einer Nische mit einer kleinen Bühne, auf der alle Veranstaltungen stattfinden sollten. Dort war ein Pult aufgebaut. Ohne zu murren, folgte sie ihm und sie setzten sich in eine der hinteren Reihen.

Auf der Bühne fand ein Vortrag statt, den er sich unbedingt ansehen wollte. Wenn er sich schon auf diese Veranstaltung quälte, sollte er die Gelegenheit wenigstens nutzen. Der Redner sprach zwar sehr trocken, enthüllte jedoch einige sehr interessante Funde, die sich Scott in seinem Notizbuch vermerkte. Er konzentrierte sich derart auf die Bühne und das Gesprochene, dass er erst gegen Ende des Vortrags bemerkte, wie still es neben ihm war. Und wie merkwürdig ihm das vorkam.

Gwendolyn war gegangen. Er erhob sich und hielt Ausschau nach ihren roten Haaren. Sie stand nur ein paar Meter entfernt am Stand eines Buchbinders und unterhielt sich mit ihm. Er erkannte Guillaume hinter dem Tisch. Guillaume war nicht nur ein exzellenter Buchbinder, sondern auch ein leidenschaftlicher Büchersammler. Scott bezog von ihm das Leder für die Bücher, die er selbst reparieren und einbinden konnte. Die schwierigen Fälle übergab er ihm ganz.

Gwendolyn nickte häufig und schien sehr interessiert, dabei strich sie mit den Fingerspitzen über einen Einband mit einer kunstvollen Prägung und vergoldeten Ornamenten. Scott zögerte, ging dann aber auf sie zu. Der Vortrag war sowieso vorbei und er würde nichts mehr verpassen.

»Mein Freund!«, begrüßte der Buchbinder Scott. »Ich hätte nie erwartet, Sie hier zu treffen.« Er reichte ihm die Hand.

»Monsieur Guillaume«, erwiderte Scott höflich. »Wie ich sehe, haben Sie sich mit meiner Begleiterin bereits bekannt gemacht.«

Der Mann grinste breit. »Oh, die Freude ist ganz auf meiner Seite.«

»Es tut mir leid, aber ich fand die Einbände hier wesentlich spannender als den Vortrag.«

»Ist schon in Ordnung.« Scott verstand, dass das Thema nur für Leute relevant war, die sich direkt damit auseinandersetzten. »Ich begrüße es sehr, dass Sie sich für antike Bücher interessieren.« Er reichte Gwendolyn eine Lupe. »Insbesondere diese Einbände sollten Sie genauer betrachten. Mein geschätzter Kollege ist außerordentlich begabt in seinem Fach.«

Gwendolyn beugte sich mit der Lupe vor ihrem Gesicht über den Einband und staunte. Scott wusste, was sie sah. Die Ornamente waren per Hand, nicht per Maschine eingeprägt und mit Blattgold versehen worden. Sie betrachtete filigrane Muster, bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, sauber und ohne Fehler ins Leder gestanzt.

»Außergewöhnlich«, flüsterte sie.

Guillaume lächelte. Scott warf ihm einen wissenden Blick zu. Natürlich. Sonst würde er nicht mit ihm zusammenarbeiten.

Sie blickte auf und wandte sich an Scott. »Ich kann mir diesen Einband sehr gut für mein Romeo und Julia vorstellen.«

Guillaume schnappte nach Luft. »Romeo und Julia

Scott nickte. »Es ist das gute Quarto.«

Guillaume fasste sich ans Herz. »Oh, das dürfen Sie mir auf keinen Fall anvertrauen, Monsieur! Das kriegen Sie nie wieder zurück!«

Gwendolyn lachte. »Ach was! Sie übertreiben!«

Doch Scott wusste, dass sein Kollege es durchaus ernst meinte. Die Seele eines derart leidenschaftlichen Büchersammlers kannte in manchen Dingen keine Moral.

»Wie viel wollen Sie dafür?«, fragte Guillaume.

Gwendolyn hob die Schultern. »Ich hatte eigentlich nicht vor, es zu verkaufen.«

»Tut sie auch nicht.« Scotts Stimme war schneidend.

Gwendolyn zog die Augenbrauen hoch. Sie öffnete den Mund, überlegte es sich dann jedoch anders und nickte bloß zustimmend.

Guillaume räusperte sich. »Schade.« Dann griff er neben sich und nahm ein dünnes Heft von einem Stapel. »Haben Sie bereits einen Blick in den Katalog für die Versteigerung geworfen?«, wandte er sich an Scott.

Scott schüttelte den Kopf. »Dazu hatte ich bisher noch keine Gelegenheit.«

Der Mann legte eine Hand auf seinen Arm. »Sehen Sie, ich habe von Ihrer Suche nach einem Buch über magische Gemälde oder Kunstwerke und sowas gehört.«

Eine Recherche gestaltete sich oft schwierig, wenn man sie allein durchführte. Deshalb gab es Netzwerke, die man nutzen konnte. Da brauchte es nicht lange, bis eine Nachricht Kreise gezogen hatte.

»Das ist korrekt«, erwiderte Scott sachlich und wies mit dem Kopf auf Gwendolyn. »Wir arbeiten gemeinsam an einem Projekt.«

Guillaume nickte eifrig. »Jaja, ich habe mir schon sowas gedacht.« Dann schlug er den Katalog auf. »Deshalb möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf dieses Exemplar hier lenken. Das könnte für Ihre Suche passend sein.« Er zeigte auf ein Buch mit dickem Ledereinband. arte magica, dem Titel nach perfekt.

Scott las sich die Daten durch und nickte. »Vielen Dank. Ich werde das bei der Auktion sicher berücksichtigen.«

Guillaume lächelte. »Gern geschehen. Viel Erfolg!«

Auf dem Weg zur Bühne mit dem Rednerpult, wo nun die Auktion stattfinden sollte, nahm Gwendolyn Scott den Katalog aus der Hand.

»So viel Geld für ein Buch!«, platzte es aus ihr heraus, als sie den Einstiegspreis sah.

»Bücher können sehr wertvoll sein.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Was glauben Sie denn, was Ihr Romeo und Julia wert ist, nachdem es ordentlich gebunden wurde?«

Gwendolyn hob die Schultern. »Keine Ahnung. Ein paar hundert vielleicht?«

Scott lachte. »Sie haben wirklich keine Ahnung.«

»Ich bin ja auch keine Antiquarin«, schnaubte sie.

Die Stühle waren bereits alle besetzt. Einige Leute standen und drängten sich um einen guten Platz.

Scotts favorisiertes Buch sollte erst zum Schluss vorgestellt werden. Er fand den Preis angemessen, allerdings hoffte er, dass das Buch nur wenige andere Interessenten finden würde. Wenn sich seine Suche herumgesprochen hatte, könnte der Preis schnell steigen. Er wartete und ließ zwei wertvolle Bücher an einen anderen Interessenten gehen, nur um sicherzustellen, genügend Luft nach oben zu haben, falls es später ausarten würde. Er musste dieses Buch haben.

»Meinen Sie, die Norne hat uns deshalb hierher geschickt?«, flüsterte Gwendolyn.

»Klingt nachvollziehbar.«

Dann begann es. Die Muskeln in seinen Schultern spannten sich an.

»Kommen wir nun zum nächsten Exemplar: arte magica«, verkündete der Auktionator. »Datiert auf 1460, aus der Druckerei Peter Schöffer[1]. Es umfasst einhundertzwanzig Seiten, teilweise handbemalt. Der Ledereinband ist unversehrt und bildet die Prägung der astrologischen Uhr der Cathédrale de Chartres ab.«

»Scheiße«, flüsterte sie.

»So würde ich es nicht ausdrücken.« Missbilligend rümpfte er die Nase. »Aber recht haben Sie.« Ja, das hatte sie. Scheiße. Deshalb zeigte das Bild also kein neues Motiv. Es war nicht das Hochzeitsfoto seines Vaters gewesen, sondern das Buch. Sie hatten sich geirrt, sich von ihrer Ungeduld verleiten lassen.

»Der Startpreis liegt bei 50.000 Euro«, sagte der Auktionator. Gwendolyn neben ihm zog scharf die Luft ein.

Scott hob den Zettel mit seiner Bieternummer. Vier weitere Personen taten es ihm gleich. Er warf einen Blick auf Guillaume. Der Buchbinder bot nicht mit, sondern warf aus sicherer Distanz einen verkniffenen Blick zu ihnen hinüber. Der Preis stieg schnell, so wie Scott befürchtet hatte. Gwendolyn hielt sich an seinem Jackett fest. Inzwischen ging es um 120.000 Euro.

»Das ist nicht gut«, flüsterte sie. »Ganz und gar nicht.«

Neben Scott war nur noch ein Bieter an dem Buch interessiert. Eine verbissene Person, die nicht aufgeben wollte. Der Mann saß weit vorn, war bereits aufgesprungen und rief seine Gebote voller Inbrunst in den Raum, als sähe er die Auktion als Sport. Scott blieb an seinem Platz stehen, hob einfach nur stumm den Zettel. Als er bei 200.000 Euro die Hand heben wollte, hielt Gwendolyn seinen Arm fest.

»Stopp«, sagte sie in einem Ton, der ihn innehalten ließ. Er sah ihr in die Augen. Irgendwas stimmte nicht.

»Was ist?«, flüsterte er.

»Das ist fake.«

»Bitte?«

»Der Typ. Den kenne ich. Wir hatten ihn vor Jahren mal engagiert, um den Preis von einem von Pollys Bildern in die Höhe zu treiben.« Sie sah Scott ernst an.

»Das ist ein engagierter Bieter?« Bisher hatte er gar nicht gewusst, dass es sowas überhaupt gab. Und wieso setzte Gwendolyn solche fragwürdigen Mittel ein? Und schämte sich nicht mal dafür?

Sie flüsterte in sein Ohr. »Da hat jemand von unserer Suche gehört und will das Beste für sich rausholen.«

»Möchten Sie weiterbieten, Monsieur McKenzie?«, dröhnte es von der Bühne her.

Scott wollte die Hand heben. »Und wenn schon.«

»Sie sind ein Ignoranzling!«, zischte sie und riss ihm den Zettel mit der Nummer aus der Hand. »Glück kann man nicht mit Geld kaufen. Es wird böse enden, wenn Sie ein Vermögen für dieses Buch ausgeben.«

Der Kerl im vorderen Bereich der Bühne lachte laut. »Was ist? Haben Sie einen Ehestreit?« Ein paar Leute kicherten.

»Arschloch«, flüsterte Gwendolyn.

Sie hatte recht. »Aber wir brauchen es.«

»Warten Sie es ab.« Ihr Griff um seine Hand wurde fester. »Ich wette, in ein paar Tagen wird das Buch auf andere Weise zu Ihnen kommen. Es gibt keine Zufälle.«

Das war möglich. Aber unsicher.

Deshalb war sie hier. Deshalb hatte sie ihn begleiten sollen. Sie hatte einen kühlen Kopf bewahrt, während er sich hatte hinreißen lassen. Er nickte ihr zu und gab dem Auktionator ein Zeichen, dass er aufhören sollte. Der andere Bieter wandte sich zu ihnen um und sah sie überrascht an. Das war wohl nicht so verlaufen, als er geplant hatte.

Der Auktionator schlug den Hammer auf das Pult. Die Anwesenden applaudierten. Dann löste sich die Versammlung nach und nach auf.

 

»Ich bin sehr stolz auf Sie, Scott«, sagte Gwendolyn, als sie vor dem Gebäude standen und auf ein freies Taxi warteten. Sanft tätschelte sie seinen Ärmel.

»Danke.« Gott, was hatte er sich dabei gedacht? Um ein Haar hätte er alles versaut.

»Aber sagen Sie mal, hätten Sie das wirklich gemacht? Ich meine, so viel Geld …«

»Natürlich.« Zugegeben, es wäre nicht das erste Mal gewesen. Vor ein paar Jahren war der Zuschlag für ein Buch aus Peter Schöffers Druckerei an ihn gegangen. 280.000 Euro. Das war bisher der höchste Betrag, den er investiert hatte. Und es hatte sich rentiert.

Gwendolyn sah ihn mit großen Augen an. »Sind Sie etwa reich?«

Scott verzog keine Miene. »Stinkreich.«

»Sie lügen mich an«, sagte Gwendolyn verblüfft.

»Was glauben Sie, womit ich handle? Vergilbtes Papier?«

»Na ja …«

»Ich habe einen ausgezeichneten Ruf, weil ich gut in dem bin, was ich tue. Das lasse ich mir entsprechend entlohnen. Und weil meine Kundschaft meine Arbeit zu schätzen weiß, ist sie auch bereit, diesen Preis dafür zu zahlen.« Er lächelte. »Sie wollten meine Preise ja nicht wissen.«

Sie schmunzelte. »Wollen Sie mir etwa jetzt noch eine Rechnung schreiben?«

Er grinste. »Nicht wirklich.«

Den Blick, mit dem sie ihn ansah, hatte er noch nie zuvor bei ihr gesehen. Er war prüfend und herausfordernd zugleich. Aber sie tat nichts. Sie sah ihn nur an.

Das Taxi kam und sie setzten sich auf den Rücksitz. Es war bereits dunkel. Sie redeten nicht. Beide sahen sie nach aus den Fenstern. Paris bei Nacht. Die Lichter der Stadt zogen an ihnen vorbei. Er konnte den beleuchteten Eiffelturm sehen und das Lichtermeer unter ihnen, als sie über eine Brücke fuhren. Die Reklame an den Geschäften strahlte in grellen Farben.

 

 

[1] Peter Schöffer (Petrus Schoiffer, um 1425 - 1503), einer der ersten Buchhändler und Verleger im Zeitalter des Buchdrucks

 

 

 

Die Welt ist nicht genug

»Interessant«, sagte Ephraim. »Meinst du, Verdandi hat sie dir mitgeschickt, weil sie dich vor zu hohen Kosten bewahren sollte?« Er klang skeptisch.

Scott stocherte lustlos in den Resten des Beilagensalats auf seinem Teller herum. Ihr Stammrestaurant hatte diesmal Wildreis mit Kichererbsen und Lachs auf dem Menü gehabt. Das Essen war gut, nur schien Ephraim als Gesprächspartner nicht mehr so attraktiv wie sonst. Wer sollte es Scott verdenken? Immerhin stellte sich nach und nach heraus, wie schlecht sein Freund mit Gwendolyn umgegangen war. Was er ihm anrechnen konnte, war, dass er sich offenbar seines Verhaltens bewusst war und daraus gelernt hatte. Und Ephraim war sein einziger Freund.

»Ich denke eher«, sagte Scott, »weil sie mich überhaupt von einem Kauf abgehalten hat. Immerhin kann Glück nicht gekauft werden.«

»Guter Punkt.« Ephraim zeigte mit der Gabel auf ihn. »Und wie wollt ihr jetzt an das Buch rankommen? Stehlen könnt ihr es nicht.«

Scott hob die Schultern und legte die Gabel auf den Teller. »Gwendolyn meint, es würde schon irgendwas passieren.« Die Messe war eine Woche her. Langsam sollte sich etwas tun.

Sein Freund verzog das Gesicht. »Also noch mehr Warten?«

Scott seufzte tief. »Sieht so aus.«

»Ich hatte gehofft, es würde nicht so lange dauern, dein Herz zu finden.«

»Wem sagst du das.«

»Madeleine hat übrigens gesagt, dass die Zeitung, die sie immer liest, so ein Frauending, sich positiv zu euren abgestimmten Outfits geäußert hat.«

»Ach, tatsächlich?« Nichts interessierte ihn weniger als das Urteil einer Klatsch-und-Tratsch-Zeitung über sein äußeres Erscheinungsbild. Die hatten in der letzten Woche sowieso nur ein einziges Thema gekannt: die Sichtungen von weiteren wolfsartigen Kreaturen im Gebiet des Schwarzen Zirkus‘. Und dabei waren sie sich nicht zu schade gewesen, wirre Verschwörungsmythen breitzutreten und Angst zu schüren. Dass überhaupt ein Artikel über seine dunkelrote Fliege zwischen den panikschürenden Berichten Platz gefunden hatte, war erstaunlich.

Sein Freund lächelte nachsichtig. »Du weißt, wie sie ist. Aber sie hat auch lobend erwähnt, dass dir eine Fliege gut steht.«

»Ernsthaft?« Scott lachte. »Ich fand es ein bisschen albern, aber ich wollte mir keine farblich passende Krawatte kaufen. Die Fliege hatte ich noch.«

Ephraim beugte sich über den Tisch. »Für die Zukunft gebe ich dir den Tipp: Es gehen auch farblich passende Einstecktücher, Westen, Hemden oder Halstücher. Manchmal sogar Socken, wenn es eine ganz grelle Farbe ist, die du so offen nicht zeigen willst, Pink oder Gelb oder so.«

Scott sah ihn skeptisch an. Was war so schlimm an Pink? Dann nickte er. »Gut zu wissen.«

»Ihr könntet doch mal zusammen zum Essen kommen. Madeleine würde sich freuen. Und ich mich natürlich auch.«

Scott sah auf. Oh oh. »Von mir aus gerne. Aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass Gwendolyn von dieser Idee nicht begeistert sein wird.« Niemals. Niemals würde sie mitkommen.

Ephraim nickte langsam.

»Wir werden darüber nachdenken. Wäre das in Ordnung für dich?«

Sein Freund hob die Hände. »Absolut.«

Die Bedienung kam an ihren Tisch und räumte das Geschirr ab. Ephraim bestellte sich noch einen Espresso, Scott ein Wasser.

»Wie läuft es mit dem Zimmer, das du renoviert hast?«, fragte Ephraim.

»Sie ist noch nicht eingezogen, wenn du das wissen willst.«

Sein Freund lächelte verlegen und kratzte sich am Hals. »Genau.«

»Es wird noch eine Weile dauern, bis wir ganz zusammenziehen. Vielleicht passiert es auch niemals, wer weiß das schon?« Aber mittlerweile hatte er sich an den Gedanken gewöhnt. Sie war sowieso ständig da. Kam vorbei ohne Anmeldung, steckte ihren Kopf ins Arbeitszimmer und grinste ihn an. Es machte ihm kaum noch was aus. Ganz im Gegenteil. Wenn sie einen Tag ausließ, machte er sich Sorgen, ob ihr etwas passiert war, oder ob es ihr schlecht ging.

Ephraim schwieg. Aber sein Gesicht sagte ihm, dass er wartete. Sie kannten sich schon zu lange, als dass Scott ihm etwas hätte vormachen können.

»Wie ist es, mit jemandem zusammenzuleben?«

Jetzt stutzte Ephraim doch. »Puh«, machte er, »da fragst du mich ja was.«

Ihm wurde der Espresso auf den Tisch gestellt und Scott erhielt sein Wasser.

»Am Anfang wird es schwierig werden. Man muss sich aneinander gewöhnen. Als ich mit Madeleine zusammengezogen bin, habe ich gedacht, ich würde wahnsinnig. Sie war so unordentlich, überall lag was von ihr rum.« Er nahm einen Schluck Espresso. »Und das Badezimmer erst. Es war vollgestellt mit ihren Sachen, von oben bis unten. Dabei hatte ich ihr schon einen neuen Spiegelschrank gekauft, so einen dreiteiligen, den man aufklappen kann.« Er seufzte. »Und dann der Flur. Ihre Schuhe. Einfach überall. Und die vermehren sich. Unkontrolliert.«

Scott lehnte sich an die Stuhllehne. Das klang absolut nach dem, was er zu erwarten hatte. Er hatte ihr Schlafzimmer noch nicht gesehen, aber er war sicher, dass dort all ihre Kleider und Schuhe wild verteilt herumlagen. Wenn sie keine Haushaltshilfe hätte, dann würde es so oder so ähnlich im ganzen Haus aussehen. Bestimmt. Wollte er sich das antun?

»Habe ich dir Angst gemacht?«

»Ein wenig.« Untertreibung.

Ephraim lachte. »Keine Sorge. Gwendolyn ist nicht halb so schlimm, wie du denkst.«

Scott verzog skeptisch das Gesicht.

»Also, damals war sie jedenfalls ziemlich ordentlich. Kann sich natürlich auch geändert haben.«

Zugegeben, er würde wahrscheinlich eher in den Montmartre ziehen, als dass Gwendolyn noch Platz in seiner kleinen Hütte hätte. Dort hätte er auch eine Traumküche. Und Bernadette würde sich bestimmt auch über ein größeres Zimmer freuen. Gwendolyn hatte viele Räume in ihrem Haus. Er hatte noch nicht alle gesehen, aber er war sicher, dass sie alle schön eingerichtet waren, genauso wie sein Schlafzimmer. Gwendolyn war eine Person, die sich mit allem Mühe gab. Deshalb hatte er sich auch mit dem Gästezimmer so angestrengt.

»Gehst du heute noch zu ihr?«

Scott trank sein Glas leer. »Wir haben uns heute Abend verabredet, um Unterlagen zu prüfen, nichts Spannendes.« Aber er hatte begonnen, ihre Gegenwart zu schätzen. Sie hatte diese Neigung, tatkräftig mit anzupacken, sobald es etwas zu tun gab, auch wenn sie zunächst nicht diesen Eindruck machte. So wie sie sich bezüglich ihrer neu hinzugewonnenen Besitztümer vollkommen desinteressiert gezeigt hatte, dann aber schnell einen besseren Überblick erlangt hatte als er. »Ich muss zunächst noch zu einer Klientin. Sie hat die Bibliothek ihrer Tante geerbt und ich soll nun einen Katalog erstellen.« Er stand auf, nahm seinen Mantel vom Sitz und zog ihn über.

»Frag Gwendolyn einfach, ob sie Lust auf ein Essen mit uns hat. Ich schwöre, ich werde ganz brav sein.«

Scott lächelte. »Mach ich.« Es ging jedoch eher darum, ob Gwendolyn auch ganz brav bleiben konnte.

 

 

»Alexandre Dumas, Der Graf von Monte Christo, Erstausgabe, 1843«, diktierte Scott und stellte das Buch wieder zurück in das Regal. Bernadette saß im Schneidersitz auf dem dicken Teppich und tippte den Titel in die Datenbank.

Er fand es immer interessant, wie unterschiedlich der Literaturgeschmack seiner Kundschaft war. Kümmerte er sich um die Bibliothek eines Professoren-Ehepaares, waren darin hauptsächlich wissenschaftliche Bücher zu finden. In der letzten Bibliothek hatten sich vornehmlich Lexika und Nachschlagewerke befunden. In dieser hier klassische Literatur.

»Honoré de Balzac, Oberst Chabert, Erstausgabe, 1832«, gab er an Bernadette weiter. Iel hackte auf der Tastatur herum.

Er streckte die Hand nach dem nächsten Buch aus, zog daran und hörte ein Klacken. Scott hielt inne.

Bernadette hörte auf zu schreiben. »Was war das?«

Scott zog weiter an dem Buch und beförderte es aus dem Regal. Er gab es seinem Lehrling in die Hand. Iel war neben ihm aufgetaucht. Neugierig lugte Scott in den Spalt. Auch wenn er kaum etwas erkennen konnte, sah er doch, dass darin noch etwas war. Vorsichtig fasste er hinein. Mit den Fingerspitzen ertastete er etwas, das sich anfühlte wie ein Buch. Aber seine Hand war zu groß, um es herausziehen zu können. Er nahm ein Buch nach dem anderem aus dem Regal, bis die Lücke breit genug war, um genauer zu sehen, worum es sich handelte.

»Das ist ein Buch«, stellte Bernadette fest.

»Offensichtlich.« Er griff in die Lücke und zog es heraus. Es war in einer Halterung eingehakt, die ein weiteres Klacken von sich gab, als er es herauslöste.

»Oh Scheiße, Meister!«, rief Bernadette, als sie den Buchdeckel betrachteten. Die Prägung auf dem Ledereinband bildete die astrologische Uhr der Cathédrale de Chartres ab. Oh, Scheiße war in diesem Fall genau der richtige Ausdruck.

»Ist das nicht das Buch, was Sie unbedingt haben wollten, aber nicht bekommen haben?«

»Korrekt.«

Gwendolyn hatte recht gehabt. Das Buch war auf anderen Wegen zu ihnen gekommen. Es gab keine Zufälle. Er ging zum Schreibtisch und legte es auf die Tischplatte. Mit den Fingern wischte er über den Buchdeckel. Es war nicht einmal staubig. Vielleicht war es genau das Exemplar, das sie letzte Woche auf der Auktion gesehen hatten? Könnte aber auch eine Kopie sein? Er öffnete es.

Auf der ersten Innenseite war das Zeichen der Druckerei eingeprägt, dazu das Datum. Die Seiten, die Druckerschwärze und die Zeichnungen sahen dem angegebenen Alter entsprechend aus. Es könnte tatsächlich das richtige, das echte Buch sein.

»Packen Sie es ein?«

Entsetzt wandte er sich an seine Hilfskraft. »Das wäre Diebstahl. Und nicht nur äußerst unprofessionell, sondern auch noch gegen die Auflagen.« Glück kann nicht gestohlen werden.

Bernadette spielte nervös mit den Fingerspitzen. »Aber vielleicht weiß die Klientin nicht mal, dass es da ist. Immerhin ist es die Bibliothek ihrer Tante.«

Ganz recht. Die Tante, die erst vor zwei Tagen gestorben war, eine ganze Woche nach der Auktion. Es war sehr gut möglich, dass sie ihrer Nichte gar nicht von ihrem besonderen Besitz erzählt hatte.

»Wir können es nicht stehlen.« Scott blätterte behutsam eine Seite um. »Aber das müssen wir auch gar nicht.« Er zog sein Smartphone aus der Tasche und machte ein Foto, das er an Gwendolyn weiterschickte. »Wir werden einfach fragen, ob wir das Buch ausleihen und schätzen lassen sollen.«

»Ach, und Sie glauben, die lässt uns das einfach mitnehmen?«

»Warum nicht?«

Bernadette sah ihn skeptisch an.

Sein Smartphone summte. Gwendolyn hatte ihm zurückgeschrieben: »Fuck yeah!«

Er schmunzelte. Hatte er etwas anderes erwartet?

»Ich habe eine viel bessere Idee.« Bernadette schob ihn beiseite, wischte auf iels Smartphone herum und hielt es dann über die Seiten.

»Was soll das?«

»Ich habe eine neue Scanner-App. Die probiere ich jetzt aus.« Iel zeigte ihm das Display des Telefons. »Sehen Sie, sieht doch ganz gut aus.«

»Willst du etwa das gesamte Buch einscannen?« Das war vollkommen überflüssig. »Was, wenn wir nur zwei Seiten brauchen?«

Iel hob die Schultern. »Sie können es ja lesen, während ich die Katalogisierung vornehme. Dauert dann halt etwas länger, aber Sie können dann definitiv bestimmen, welche Seiten ich scannen soll.«

»Sehr gute Idee«, gab er zu. Und es wäre weitaus weniger verdächtig, als offen danach zu fragen.

Sein Smartphone vibrierte und zeigte eine weitere Nachricht von Gwendolyn, ein Foto von ihr, Leonard und … Yves, seinem Bruder. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und grinsten in die Kamera. Auf dem Tisch vor ihnen konnte er Teller und Schalen mit Sushi erkennen. Verdammt. Woher kannten sie sich? Gingen sie etwa in Yves´ Haus? Bei Gwendolyn konnte er sich das sogar vorstellen. Wahrscheinlich war sie auch Stammkundin bei Tessa im Dungeon. Deshalb hatte sie auch sofort gewusst, welches Geschäft sein Bruder betrieb, als er ihr den Vorschlag gemacht hatte, sie bekannt zu machen. Und er hatte es nicht begriffen.

Scott hob den Kopf und sah Bernadette an. Iel stand immer noch vor ihm und wartete. Er machte eine Bewegung mit dem Kopf. »Na los, husch husch.«

 

 

Gwendolyn spürte eine Hand auf ihrer Schulter und zuckte heftig zusammen. Als sie ihre Augen aufschlug, stand Scott neben ihr in ihrem privaten Arbeitszimmer.

»Sie haben geschlafen«, stellte er fest.

Ihre Augen brannten vor Trockenheit, sodass sie ein paarmal blinzeln musste, um klar sehen zu können. »Was Sie nicht sagen.« Seit Stunden war sie dabei, Unterlagen zu sortieren und sich einen Überblick zu verschaffen. Sie streckte ihren Rücken und straffte die Schultern. Irgendwo knackte es.

»Das klingt nicht gut.« Scott ging um den Schreibtisch herum und schob sich den Sessel zurecht, der davor stand. Dann setzte er sich. Kerzengerade. Überschlug die Beine und legte die Hände in den Schoß. Dafür, dass er ein Hörgerät trug, konnte er erstaunlich gut hören.

»Ich brauche eine Massage.« Sie legte eine Hand in den Nacken. Ihre Muskeln waren hart.

»Hmmm«, machte Scott. »Oder Yoga?«

Sie lachte. Als ob sie dafür auch noch Zeit hätte.

»Warum lachen Sie? Ich mache auch Yoga.«

Sie schmunzelte und versuchte, sich daran zu erinnern, welches Dokument sie als Letztes gelesen hatte. »Weiß ich.«

»Und im Gegensatz zu Ihnen habe ich keine Rückenschmerzen.«

Sie schob ein paar Papiere hin und her. Irgendwo hatte sie doch … Ah! »Hier.«

Scott nahm das Dokument entgegen und begann zu lesen.

»Ich habe eine Übersicht erstellt, das sollte uns weiterhelfen.« Der ganze Kram. Sie hatte schon gewusst, warum sie das lieber alles hatte verkaufen wollen, als sich darum zu kümmern. Sie rieb sich über das Gesicht. Anstatt jetzt auf dem Sofa zu lümmeln und eine Serie zu schauen, beschäftigte sie sich mit Aktien und Immobilien. Scott konnte ihr dabei keine Hilfe sein. Er kannte sich kein bisschen damit aus.

»Wir haben jetzt eine Villa in Rumänien?«

»Mit dazugehörigen 200 Hektar Land, bestehend aus 90 Prozent Wald. Wir könnten dort Urlaub machen, wenn Sie wollen.« War bestimmt superschön dort. Sie hatte sich in Wäldern schon immer wohlgefühlt.

Scott sah sie über den Papierrand hinweg an. »Und uns gehört das Land, auf dem sich ein Reservat für die indigene Bevölkerung befindet?« Sein Blick war vorwurfsvoll.

Sie hob den Finger, was ihn innehalten ließ. »Moment. Irgendwo habe ich dazu …« Sie ließ ihre ausgebreiteten Hände über die Dokumente schweben, die auf ihrem Schreibtisch lagen. »Da!« Blitzartig griff sie die erspähte Akte und reichte sie über den Schreibtisch. Das Genie beherrscht das Chaos. »Die Menschen, die dort leben, stellen wohl seit Jahren, ach Jahrzehnten, die Anfrage, das Land aufzukaufen, aber solange der Prozess in der Schwebe war, war das nicht möglich.«

Scott hatte die Akte geöffnet und tippte auf den Seiten herum. »Das Grundstück gehörte Ihrer Familie.«

Sie hob entschuldigend die Schultern.

»Und Ihr Bruder hat mir noch versichert, Sie wären keine Rassisten«, nuschelte er und überschlug nun das andere Bein, auf dem er dann die Akte ablegte, um sie zu lesen.

Gwendolyn legte den Kopf nach hinten und schloss die Augen. »Kapitalisten, Scott, Kapitalisten.«

»Kapitalismus und Diskriminierung gehen oft Hand in Hand.« Seine Stimme war schneidend. Kaum jemand wusste das besser als er. Sie hörte, wie er hin und her blätterte. »Hier steht, dass wir einen Pachtbetrag dafür erhalten, dass die Menschen da leben dürfen.«

»Korrekt.«

Er schwieg.

Sie hob erneut den Kopf und blinzelte. Sein Blick … »Sehen Sie mich doch nicht so an. ICH habe das Land weder gekauft noch die Verträge ausgehandelt. Ich war da noch nicht mal geboren!« Gwendolyn legte ihre Zeigefinger an die Nasenwurzel. Um diese Zeit politische Diskussionen zu führen, dafür hatte sie nun wirklich keine Nerven. Sie griff zur Seite und reichte Scott eine dünne Akte. »Ich habe aber bereits eine Lösung gefunden.«

Er beugte sich vor und nahm den Ordner an. Sie drehte ihm den Laptop zu, auf dem die Satellitenaufnahme eines Grundstücks zu sehen war, und beugte sich ebenfalls vor, um über den Rand des Laptops zu schauen. »Sehen Sie her.« Mit der Spitze eines Bleistifts fuhr sie die Grenzen eines Gebietes nach. »Das ist das Reservat. Und das hier«, sie umkreiste ein Stück Land daneben, »gehört uns auch.« Sie lehnte sich wieder zurück. »So, wie ich das verstanden habe«, sie zeigte mit dem Bleistift auf die Akte in seinen Händen, »ist das eigentlich mal ein ganzes Grundstück gewesen, aber weil man den Leuten nicht die Butter auf dem Brot gegönnt hat, hat man ihnen nur dieses kleine Stück zugestanden.« Für das sie auch noch Pacht zahlten.

»Und Ihre Lösung?«

»Liegt doch auf der Hand.«

Sein Lächeln machte sein Gesicht noch schöner, als es ohnehin schon war. Gwendolyn räusperte sich. »In Anbetracht unserer beider finanziellen Situationen«, begann sie und machte eine ausschweifende Geste mit dem Bleistift, »schlage ich eine Schenkung beider Gebiete an die Pachtenden vor.« Sie selbst wusste nicht mal, wie sie ihr eigenes Geld ausgeben konnte, und Scott war so reich, dass er ohne mit der Wimper zu zucken beinahe den Wert eines Einfamilienhauses für ein Buch ausgegeben hatte. Gut, ein Einfamilienhaus außerhalb von Paris. Irgendwo in der Provinz. Aber trotzdem. Was sollten sie mit noch mehr Geld? Und den Menschen stand das Gebiet zu. Es war fair.

»Einverstanden.« Er reichte ihr die beiden Akten über den Schreibtisch. Sie nahm diese an sich und legte sie gesondert auf einen Beistellwagen. Die ersten, die sie dort ablegte. Der erste Fall erledigt.

»Sie kennen sich ziemlich gut damit aus.«

Sie schmunzelte nachsichtig und wandte sich ihm wieder zu. »Ich bin damit groß geworden. Und ich habe selbst die eine oder andere Immobilie.«

»Ich habe keine.«

»Nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nie den Sinn darin gesehen, Immobilien zu kaufen. Außer vielleicht mein eigenes Geschäft.«

»Und Sie wollten sich allein hier durchwühlen?« Sie musste sich ein Lachen verkneifen.

Er hob die Schultern. »Ich dachte, so schwer kann das doch nicht sein.«

Jetzt lachte sie doch. »Gut, dass ich da bin.«

Er lächelte und nahm sich erneut die Zusammenfassung ihrer neuen Besitztümer vor. »Was wäre ich nur ohne Sie?«

»Wahrscheinlich Single.« Dann würde er sich mit sowas gar nicht erst auseinandersetzen müssen. Und es war ja noch nicht vorbei. Was er wohl sagte, wenn er die Bekleidungsfabrik in Bangladesch fand?

Sorgfältig strich er zwei Posten auf der Liste weg. Er hob den Kopf und grinste sie an. »In der Tat.«

Sie seufzte. »Nun, weiter im Text. Arbeiten wir einfach der Reihe nach ab oder wollen Sie …?«

»Wir haben eine Bekleidungsfabrik in Bangladesch?«

»… bestimmte Punkte zuerst behandeln?« Sie ließ den Kopf hängen. Na gut. Dann hätten sie die schwierigen Fälle wenigstens gleich hinter sich gebracht. Das war durchaus positiv zu sehen.

»Also ehrlich.« Scott klang empört. »Ihre Familie …«

Dabei war diese Fabrik nicht mal die einzige. Es gab noch eine in Indien sowie zwei in China. Die hatte sie bereits abgearbeitet und in einer Akte zusammengefasst. Sie zog die Akte aus der Mitte des Stapels heraus und reichte sie ihm. Dann wartete sie geduldig, bis er sich die Daten angesehen hatte, und auf seinen Ausbruch. Das würde ihm nicht gefallen.

»Das ist Ausbeutung!«, rief er. »Haben Sie sich mal angesehen, was für einen Hungerlohn die Arbeitenden dort bekommen, speziell die Näherinnen? Das ist unfassbar.«

Sie nickte. »Ja, habe ich mir angesehen.« Sie sprach ruhig und legte die Handflächen aneinander.

»Haben Sie auch dafür eine Lösung?« Diesmal war sein Blick unsicher.

»Natürlich.«

»Und?«

Ganz vorsichtig jetzt. »Wir behalten sie.«

»Was?« Beinahe wäre er aufgesprungen.

Meine Güte, was hatte der heute? Zu viel Herzenswärme genascht, oder was?

»Erklären Sie mir das.«

Sie nickte zustimmend. »Gern.« Dann räusperte sie sich. »Sie haben sich die Löhne angesehen und empfinden das als Ausbeutung.«

»Natürlich. Ein Jahresgehalt von fünfzig Euro für ein Nähmädchen, das ist doch das Allerletzte!«

»Ja, das ist hierzulande wenig. Nur ist das schon ein ziemlich guter Lohn in diesen Ländern. Andere Fabriken zahlen nur die Hälfte.«

Sein Mund öffnete sich, wollte sich aber nicht wieder schließen.

»Sehen Sie«, sie sprach langsam, »unsere Fabriken haben grundsätzlich einen ziemlich guten Ruf. Wir zahlen vergleichsweise sehr hohe Löhne, das Gebäude ist nicht schimmelig oder einsturzgefährdet, die Mitarbeitenden werden respektvoll behandelt. Wir haben kostenlose medizinische Behandlung und Kinderbetreuung, damit die Frauen auch nach der Geburt weiterarbeiten können. Es gibt ganze Familien, die bei uns angestellt sind. Jedes neue Schuljahr erhalten die Familien Schulgeld für ihre Kinder und es gibt sogar eine Kleiderkammer, wo sie gebrauchte Sachen günstig kaufen können.«

Doch das konnte ihn nicht überzeugen. »Wir machen mehrere Millionen mit den Fabriken. Auf dem Rücken der Menschen, die auf uns angewiesen sind. Das geht nicht.«

Sie atmete tief durch. »Sie können nicht einfach europäische Standards in Süd-Ost-Asien implementieren.« Das war schwer zu verstehen. Auch sie hatte es schmerzlich lernen müssen.

»Hier steht, dass wir sogar Minderjährige beschäftigen.«

»Dort darf man schon früher arbeiten als hier.«

Gwendolyn rieb sich über das Gesicht. Das war zu viel für diesen Abend. Bestimmt war ihre Wimperntusche jetzt verschmiert. Egal. »Bisher standen die Fabriken unter der Verwaltung meines Onkels, der«, sie seufzte, »übrigens auch die anderen Fabriken meiner Familie betreut.«

»Natürlich.« Scott schnaubte abfällig.

»Es sind faire Bedingungen dort, Scott. Ja, ich weiß, es klingt erst mal grauenvoll. Stellen Sie sich vor, die Menschen arbeiten 80 Stunden die Woche.« Scott holte tief Luft, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Und wissen Sie, warum die das machen? Weil sie das Geld brauchen. Die Leute sind extrem arm. Die Familien haben da im Schnitt zehn bis fünfzehn Kinder, leben in kleinen Hütten und sind auf jeden Cent angewiesen.«

»Ja, und wir beuten sie aus. Da mache ich nicht mit.«

Jetzt reichte es. Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass Scott zusammenzuckte. »Ach ja, was glauben Sie, wer diese Fabriken kauft? Meine Familie darf sie jedenfalls nicht wieder zurücknehmen.«

Er hob die Schultern. »Irgendein anderer Kapitalist?«

»Ganz genau!«, rief sie und drückte sich aus dem Stuhl. »Und was glauben Sie, was der macht? Der halbiert den Lohn, kümmert sich ´nen Dreck um das Gebäude, die Betriebsärztinnen und die Kinderpfleger werden gestrichen. Und dann geht´s den Menschen erst so richtig beschissen! Dann haben sie nämlich nicht mal eine Krankenversorgung oder eine seriöse Kinderbetreuung. Und wenn jemand krank wird, weil überall Schimmel im Gebäude klebt, und nicht mehr arbeiten kann, dann verhungert eben die ganze Familie. Finden Sie das besser?«

Scott saß stocksteif auf dem Sessel.

»Verstehen Sie das? Wir haben einen guten Ruf bei der Bevölkerung und einen hohen Zulauf an Arbeitswilligen, eben weil uns die Leute dort nicht am Arsch vorbeigehen.«

Scott holte erneut tief Luft. »Das ist Greenwashing, Gwendolyn.«

»Ist es nicht. Es ist Politik.« Sie seufzte. »Greenwashing wäre es, wenn wir die Gewinne dafür einsetzen würden, auf unser Dach eine Solaranlage zu bauen, während wir von den Menschen vor Ort verlangen, für sauberes Wasser zu bezahlen.« Genau so ein Fall hatte neulich in der Zeitung gestanden.

Er sagte nichts.

Sie setzte sich wieder. Tief durchatmen. »Ja, natürlich haben wir Vorteile und Gewinne aufbauend auf den Bedingungen vor Ort.«

»Das sind immense Gewinne.«

»Ich weiß.«

Er blätterte in der Akte umher.

»Aber wir nutzen die Gewinne, um das Leben der Menschen zu verbessern. Nicht ausschließlich, um uns zu bereichern.«

»Wir könnten mehr tun.«

Sie zeigte auf die Akte in seiner Hand. »Das können wir gerne tun. Erstellen Sie mir ein Konzept.«

Seine Familie war nicht besser. Die hatten glatt ihre Landwirtschaftsbetriebe in Irland und Schottland abgebaut und dann welche in Polen eröffnet, weil es dort billiger war. Mal sehen, was er dazu sagte.

Er sah sie ernst an. »Das heißt, wir sind schon die grauen unter den schwarzen Schafen?«

Sie nickte langsam. »Wir können dort gern einmal hinfliegen und die Fabriken vor Ort besuchen, wenn Sie möchten.«

Scott nickte. Er klappte die Akte zu und reichte sie ihr. »Würde ich sehr gern.«

Gwendolyn nahm den Ordner und legte ihn auf den Beistellwagen neben sich. »Machen wir das Beste draus, Scott.« Aber als sie sich umwandte, sah er zerknirscht aus. Sie wies auf die Papiere auf ihrem Schreibtisch. »Wollen Sie weitermachen?«

»Ich könnte eine Pause gebrauchen.« Dann sah er sie besorgt an. »Und Sie auch.«

Gwendolyn legte ihre Hand flach auf den Schreibtisch. »Ich«, sagte sie nachdrücklich und stand auf, »habe genug für heute.« Sie streckte sich und fühlte es erneut in ihrem Nacken knacken. Sogar Scott hatte es gehört, trotz schlechtem Hörvermögen. Er verzog skeptisch das Gesicht. Sie hob den Zeigefinger. »Kein Yoga! Vergessen Sie´s!«

Scott schmunzelte und senkte den Blick, während er sich erhob.

»Wie wäre es mit einem Tee, bevor Sie nach Hause gehen? Dann können Sie mir auch gleich alles über das Buch erzählen, das Sie gefunden haben.«

»Gern.«

Sie öffnete die Tür und trat in den Flur.

Was zum?

Neben dem Treppengeländer stand ein Koffer, so ein Hartschalending, riesengroß und schwarz. Sie warf Scott einen Blick über die Schulter zu und zeigte gleichzeitig auf den Koffer. »Ihrer?«

Er ging an ihr vorbei. »Ich habe gedacht, wo ich schon mal hierher komme, könnte ich gleich mein Gästezimmer mit dem Notwendigsten ausstatten.« Scott griff nach dem Koffer.

Im Prinzip kein falscher Gedanke. Welchen Zweck hatten Gästezimmer für Notfälle, wenn sie nicht mit den grundlegenden Dingen ausgestattet waren? »Das Notwendigste?« Sie stellte sich neben ihn. »Sieht eher aus, als hätten Sie da Ihren gesamten Kleiderschrank drin!«

Er lächelte. »Keine Sorge, ich ziehe hier nicht ein.«

Wenn der einzog, würde sie ausziehen! »Versprechen Sie nichts, was Sie nicht halten können.« Sie musterte den Koffer. Verdächtig. Nachdem das Zimmer in seinem Haus bereits seit einigen Wochen fertig war, schlichen sie umeinander herum. Endlich hatte jemand den ersten Schritt getan. Aber zu ihrer Überraschung war es nicht sie selbst gewesen.

Scott lachte. Er hob den Koffer hoch und steuerte die Treppe in den ersten Stock an. Gwendolyn verschränkte die Arme vor der Brust.

»Brauchen Sie etwas?«

»Nicht notwendig, danke.«

Sie sah ihm nach. Erst als er oben angekommen war, wandte sie sich ab und begab sich in die Küche, um das Wasser aufzusetzen. Einen Schritt nach dem anderen gingen sie aufeinander zu. Wie lange würde es wohl dauern, bis sie sich gegenseitig auf die Füße traten? Sie schmunzelte. Oder sich knutschend in den Armen lagen.

 

 

Gwendolyn legte den Bettbezug auf dem Bett ab, auf dem Scott seine Kleidung sortiert hatte. Das Bettzeug war mit einem knallbunten Muster bedruckt, Flamingos und Palmen. Gerade zog er ein Hemd auf einen Bügel, strich es glatt und hängte es in den Schrank. Prüfend blickte Gwendolyn auf seine Kleidung und den offenen Koffer, der auf dem Boden lag. Dann nickte sie und verließ den Raum wieder.

Scott musste kichern. Hatte sie tatsächlich erwartet, er hätte seinen halben Kleiderschrank mitgebracht? Es waren nur grundlegende Kleidungsstücke. Hemden, Hosen, Wäsche und ein paar Dinge, die er im Badezimmer brauchte. Er griff nach einem anderen Hemd und zog es straff über einen Bügel.

Gwendolyn kam erneut ins Zimmer. Auf dem Arm trug sie einen Stapel knallgelber Handtücher, die sie direkt ins Badezimmer legte. Sie nickte ihm erneut zu und verließ dann den Raum.

Ein wenig später kam sie herein und brachte eine Lampe für den Schreibtisch. Dann kam sie, um eine Topfblume neben die Tischlampe zu stellen. Dann schob sie ein Gerät ins Zimmer, mit dem man Kleidung aufdampfen konnte.

»Danke, ich denke, ich brauche nichts mehr«, rief er aus dem Badezimmer, wo er gerade seine Utensilien verteilte. Sie trat an die Badezimmertür.

»Übertreibe ich es wieder?«

Er lächelte nachsichtig. »Nur ein bisschen.« Ein Aufdampfgerät? Ernsthaft? Er hätte ihr doch den ersten Schritt überlassen sollen, dann wäre sie jetzt nicht so nervös.

Sie schmunzelte und sah verlegen zu Boden. Dann hob sie erneut den Kopf. »Das Wasser ist fertig. Welchen Tee wollen Sie?«

»Haben Sie Earl Grey?«

»Na klar.« Sie wandte sich um und ging.

Scott war gerade dabei, das Bett zu beziehen, als sie mit einem Tablett mit Teetassen im Zimmer stand. Sie stellte es auf dem Schreibtisch ab und zeigte auf das Bett. »Soll ich Ihnen dabei …«

»Unterstehen Sie sich!« Sie hatte schon genug getan. Immerhin hatte er sie schlafend vorgefunden. Und zwar so tief und fest, dass sie nicht einmal bemerkt hatte, dass er ins Zimmer gekommen war. Wahrscheinlich hätte er ihren Safe knacken können, ohne dass sie es bemerkt hätte.

Gwendolyn setzte sich auf den Stuhl neben dem Schreibtisch und überschlug die Beine. Pink. Ihre Beine waren heute pink, der Rock lila und der Pulli apfelgrün. Es stand ihr. Mittlerweile konnte er sie ansehen, ohne dass ihm die Augen tränten.

Er zog den Bezug über das Kopfkissen und platzierte es am Kopfende des Bettes.

»Erzählen Sie mir, wie das Buch zu Ihnen gekommen ist?«

Scott nahm den Bezug für das Bett und faltete ihn auseinander. »Ich habe es in der Bibliothek einer Klientin entdeckt, die ich gerade katalogisiere. Es war versteckt. Reiner Zufall, dass ich es gefunden habe.«

Sie lächelte. »Perfekt.«

Scott ließ seine Hände im Überzug verschwinden und griff sich beide Ecken. »Allerdings habe ich noch nicht herausgefunden, ob es uns wirklich hilft.« Er beugte sich zum Bett und griff die Ecken der Bettdecke. »In dem Kapitel, das ich gerade lese, geht es um Vasen und andere Gefäße.« Scott schüttelte das Bettzeug, damit sich der Bezug über die Decke legte.

»Es gibt alles Mögliche an verzauberter Kunst. Ab und an erstelle ich Gutachten für die Administration.« Sie griff nach ihrer Tasse und pustete hinein. »Ich hatte sogar mal einen verzauberten Kamm am Wickel.«

Scott sortierte das Bett im Bezug und knöpfte ihn am unteren Ende zu. »Das Buch ist in Althochdeutsch geschrieben.«

Sie verzog das Gesicht. »Althochdeutsch? Wo lernt man denn sowas?«

»In Kursen.« Er hatte mehrere davon belegt, um die Bücher zu verstehen, die er bearbeitete.

»Ich kann besser Altgriechisch.«

Er legte die Decke auf das Bett und faltete sie am oberen Ende einmal um. »Dann haben sich die Nachhilfestunden ja

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 24.02.2022
ISBN: 978-3-7554-0845-1

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /