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Titel

 

 

 

 

Alice hinter der Mauer

 

Eine Novelle von Anja Stephan

 

 

 

 

 

 

Impressum

Copyright © 2019 Anja Stephan

c/o Papyrus Autoren-Club

R.O.M. Logicware GmbH

Pettenkoferstr. 16-18

10247 Berlin

 

Cover: Grit Richter, Art Skript Phantastik Design

unter der Verwendung folgender Bildmaterialien

Notre Dame: Photo by Barry Bibbs on Unsplash

Hase: Designed by Freepik

 

Lektorat: Melanie Schneider, Seitenreise

Lektorat und Korrektorat: Melanie Vogltanz

 

 

Alle Rechte vorbehalten.

 

ISBN: 978-3-750400139

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Ein goldener Nachmittag

 

Alice schulterte das Repetiergewehr und trat hinaus in die Sonne. Sie blinzelte. Bei 30° Grad im Schatten hinter der Mauer sitzen und durch ein Zielfernrohr starren – das würde ein harter Tag werden. Sie ging um die Ruine der Kathedrale herum und sah einen dunkelhäutigen, schlanken Mann auf ihrem Posten sitzen. Er hob die Hand.

„Salut, Fabrice!“

Sie begrüßten sich mit Handschlag und Alice ging in Position. Sie blickte auf eine Häuserfront, die sie im Auge behalten sollten.

„Wir haben lange nicht mehr zusammengearbeitet“, stellte Fabrice fest.

„Stimmt.“ Alice lächelte ihn an. „Ich habe dich schon richtig vermisst.“

Er lachte. Freundschaftlich klopfte er ihr auf die Schulter. „Entspann dich. Heute wird nicht viel passieren.“

Natürlich nicht. Seit zwei Monaten herrschte Waffenstillstand. So lange hatten die Anführer es noch nie ausgehalten. Diese Abkommen waren schon so häufig vorgekommen, dass sie sich beim letzten nicht einmal hatten freuen können. Nachdem sie das erste Mal die Waffen niedergelegt hatten, hatte es nur vierundzwanzig Stunden gedauert, bis sie wieder zum Kampf gerufen worden waren.

„Diesmal sieht es sogar ganz gut aus, findest du nicht?“ Alice suchte die Gegend mit dem Zielfernrohr ab. Aber alles war still.

„Das hoffe ich doch“, sagte der Mann neben ihr und schaute durch sein Fernglas. Fabrice war nach Ausbruch des Krieges geboren und Alice war noch so klein gewesen, dass sie sich nicht an die Zeit davor erinnern konnte. „Es wäre mal Zeit, dass wir Frieden kennenlernen.“

Alice stimmte zu. „Kannst du dich noch an die Geschichten deiner Eltern erinnern? Wie sie erzählt haben, dass sie über den Platz hier geschlendert sind, Eis gegessen und am Ufer der Seine gesessen haben, nur so zum Spaß?“

Fabrice seufzte tief. „Und wie sie getanzt haben, wie sie Wein in gemütlichen Restaurants getrunken haben, ohne Angst zu haben, erschossen zu werden.“

Alice lachte.

Sie saßen hier jeden Tag, sechs bis acht Stunden, bei Wind und Wetter. Und das seit knapp zwei Jahrzehnten. Es hatte schon andere Kriege gegeben, auch in Paris. Aber keiner hatte so lange gedauert. Das wusste sie aus Büchern, die sie in der Bibliothek gelesen hatte.

Der Krieg hatte als Revolution begonnen. Das französische Volk war schon immer sehr demonstrationsfreudig gewesen, da war es nachvollziehbar, dass sie sich irgendwann gegen die Regierung auflehnen würden: ungerechte Löhne, Diskriminierung von Frauen, Obdachlosigkeit, schlechte Gesundheitsversorgung, Naturkatastrophen. Demonstrationen folgten, weltweit. Die Mächtigen hatten zu lange auf dem Rücken der Menschen gewirtschaftet, um sich selbst zu bereichern. Die Situation eskalierte, als Schüsse auf friedliche Demonstranten abgefeuert wurden. Es folgten Attentate auf Politiker, brennende Autos, Streiks und Gewaltausbrüche. Nachdem Notre Dame zerstört war, zogen sich viele Menschen in den Untergrund zurück. Es bildeten sich Lager, Forts, die ihre Position gegen die Streitkräfte der Regierung verteidigten.

Und Alice saß an der Mauer, jeden Tag. Seit zehn Jahren.

Fabrice ließ das Fernglas sinken und setzte sich neben sie, mit dem Rücken an die Mauer gelehnt.

„He! Pass gefälligst auf!“

„Ach, Alice! Sei nicht so. Entspann dich mal.“

Sie verdrehte genervt die Augen. „Entspannen kannst du dich, wenn du tot bist.“

Fabrice lachte. Aber er richtete sich wieder auf und ging seiner Arbeit nach. „Hast du gehört? Lapin ist von seinem Erkundungsausflug wieder zurückgekommen.“

Ihre Hände schlossen sich fest um den Kolben ihres Gewehrs, der Finger am Abzug zuckte leicht. „Hmm“, machte sie. Mit dem Kaninchen hatte sie früher häufig Wache geschoben. Sie wusste, dass er auch in anderen Lagern tätig war, im Montmartre oder im Latin. Hier, auf der Cité, hatte er manchmal in der Küche gearbeitet. An die Nacht, in der er zu ihr gekommen war, konnte sie sich noch sehr gut erinnern.

„Ich frage mich, was er herausgefunden hat.“ Fabrice zog sich die Kappe zurecht, um seine Augen gegen die Sonne abzuschirmen.

Alice schnaufte abfällig. „Was soll er schon herausgefunden haben? Immerhin herrscht Waffenstillstand.“

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Fabrice ihr einen prüfenden Blick zuwarf, lächelte und sich dann wieder dem Fernglas widmete. Alice hielt ebenfalls nach verdächtigen Bewegungen Ausschau. Aber es war alles still.

„Ich habe dich neulich in der Bibliothek gesehen. Was hast du dort gesucht?“

Alice seufzte. Was war Fabrice doch für eine Labertasche. „Ich habe mir ein Buch ausgeliehen.“ Was sollte man denn auch anderes in einer Bibliothek tun?

„Oh, welches denn?“

„Nur einen Comic“, log Alice. Es war ein Bildband über Vincent van Gogh und seine Werke. Sie liebte die Art, wie er malte und zeichnete. Der Strich, die Farben. Die Bilder erschienen ihr so lebendig, dass sie das Gefühl hatte, mitten drin zu sein. Mitten drin in den Feldern, den Dörfern, den Cafés im Süden. Wenn irgendwann einmal der Frieden ausgerufen werden sollte, würde sie dorthin reisen. Aber davon mussten die anderen ja nichts wissen. Es ging niemanden etwas an, wovon sie träumte.

„Ich habe eine wundervolle Liebesgeschichte gelesen.“

Alice schmunzelte. Fabrice war ein hoffnungsloser Romantiker. Er hatte seine Frau geheiratet, als die beiden gerade sechzehn gewesen waren. Vor der Geburt seines ersten Kindes hatte er oft mit ihr zusammen Dienst geschoben. Seitdem hatten sich seine Einsätze reduziert. Er wollte mehr Zeit mit seinen Kindern verbringen, hatte er damals gesagt. Mittlerweile hatten die beiden sieben Kinder und Alice sah ihn nur noch selten, ein bis zwei Mal im Monat vielleicht.

„Es geht darum, dass drei Töchter eines verarmten Mannes bestmöglich heiraten sollen. Und dann gibt es da diesen Typen, den die eine überhaupt nicht leiden kann, aber irgendwie steht schon von Beginn an fest, dass die beiden für einander bestimmt sind. Es gibt so viele Missverständnisse und Intrigen, dass es zwischendrin richtig spannend wurde und ich ins Zweifeln kam, aber am Ende wurde dann doch alles gut.“

Sie runzelte die Stirn und sah ihn verwundert an. „Aber so geht es doch immer aus, bei all den Geschichten, die du liest.“

Fabrice strahlte. „Das ist ja gerade das Gute daran.“ Er wandte sich zu ihr um und stützte sich mit dem Ellenbogen auf der Mauer ab. „Weißt du, das hat mich ein bisschen an dich und das Kaninchen erinnert.“

Diesmal zuckte ihr Finger am Abzug eine Spur zu sehr. Im nächsten Moment schlug die Kugel mit einem lauten Knall in der gegenüberliegenden Hauswand ein. Fabrice zuckte neben ihr zusammen, schlug die Arme schützend über den Kopf und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.

Zögernd ließ sie das Gewehr sinken und atmete tief ein und wieder aus.

Aus dem Funkgerät an ihrer Jacke krächzte es: „Zentrale an Position fünf. Bitte kommen.“

Fabrice ließ die Arme sinken und blickte durch das Fernglas. Zögernd wandte er sich zu ihr. Er zog eine Augenbraue hoch, dann wies er mit dem Zeigefinger auf die Hauswand. Über seine Lippen kam kein Ton.

Das Funkgerät meldete sich erneut. „Position fünf. Bitte kommen!“

Alice breitete die Hände aus und verzog entschuldigend das Gesicht. Endlich griff Fabrice zum Funkgerät an seiner Jacke und führte es dicht an seinen Mund.

„Hier Position fünf.“

„Was ist da bei euch los? Habt ihr feindliche Bewegungen gesichtet?“

Alice sah Fabrice flehend an.

„Nein, alles in Ordnung. Alice hat … auf einen Hasen geschossen.“

Am anderen Ende war es kurz still. „Position fünf, bitte wiederholen. Alice hat auf einen Hasen geschossen?“

Fabrice schüttelte kaum merklich den Kopf. „Korrekt. Alles in Ordnung.“

Auf einen Hasen geschossen? Etwas Blöderes war

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.10.2019
ISBN: 978-3-7487-1919-9

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