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1


Obwohl er sich sagte, dass es nicht stimmte, wurde Stetter das Gefühl nicht los, als Versager heimzukehren.
Der Zug rollte langsamer. Stetter spähte aus dem Fenster, erkannte die Hochhäuser, die Stadtsilhouette … Zuffenhausen war längst vorüber. Sie fuhren in den Bahnhof ein, kein Zweifel.
Er stand auf, holte seinen Koffer aus der Gepäckablage. Ein kleiner Koffer, das musste erst einmal genügen. Es war angenehm, mit wenig Gepäck zu reisen, aber trotzdem: Nach all den Jahren so dazustehen, mit nichts als einem Koffer … Ein beschissenes Gefühl.
Er war allein im Abteil, der Zug fuhr weitgehend leer. Die Bahn beklage zurückgehende Fahrgastzahlen, hatte er neulich gelesen, vor allem im süddeutschen Raum. Na ja. Alles ließ nach, wenn man es genau betrachtete.
Dann stand er vor der Wagentür, bereit zum Aussteigen. Der ICE schlich nur noch, glitt dahin wie über rohe Eier. Eine ältere Frau gesellte sich zu Stetter, grimmig, mit zerzauster Frisur. Sie sah aus wie eine fanatische Wanderin, mit ihrem knallgrünen Rucksack auf dem Rücken, eine seltsam grelle Farbe für jemanden, der um die sechzig sein mochte.
Stetter beugte sich hinunter, spähte wieder raus. Sechzig. In knapp zehn Jahren würde er auch sechzig sein. Daran durfte er gar nicht denken: dass sein Leben schon in die Zielgerade einbog. Sein Leben, und was hatte er erreicht? Wie gesagt: Nicht dran denken.
Der Zug kam zum Stehen, seltsam weit draußen, vor irgendwelchen Holzplanken. Stetter hörte weiter vorne Türen aufgehen. »Sie müssen auf den grünen Knopf drücken«, keifte die Alte. »Wir sind da.«
Stetter drückte den grünen Knopf, die Tür öffnete sich mit dem üblichen Keuchen, Zischen und Scharren. Tatsächlich, da lag ein Bahnsteig zu seinen Füßen, aus Holz gezimmert. Was war denn nun los? Er stieg aus, folgte den anderen, sah sich um.
Es war schon dunkel, spät, und es nieselte leicht. Die behelfsmäßigen Bahnsteige – an den anderen Gleisen auch; man hatte den ganzen Bahnhof nach hier draußen verlagert – waren sogar überdacht, mit Holzbalken und Plastikplatten.
Er folgte dem Strom der wenigen Fahrgäste, die hier ausgestiegen waren, über die knarrenden Holzbohlen, feucht vom Regen, man rutschte hier und da. Die Lichter der Stadt füllten den diesigen Nachthimmel, der dunkel und schwer auf Stuttgart lag.
Da war er also wieder. Heimgekehrt nach zwei Jahrzehnten in der Fremde, und was hatte er nun davon? Ein gebrochenes Herz und eine verwundete Seele. Und einen beschissenen Job, der auf ihn wartete und über den er noch froh sein musste, weil das nicht mehr so leicht war mit den Jobs, wenn man mal ein gewisses Alter erreicht hatte.
Die hölzernen Bahnsteige vereinigten sich zu einer großen, nicht mehr überdachten Plattform, von der aus zwei Stege weitergingen zur Bahnhofshalle. Was um alles in der Welt war hier los? Endlich dämmerte es Stetter: Natürlich. Stuttgart 21. Die Bauarbeiten für den gigantomanischen Tiefbahnhof von Stuttgart hatten begonnen.
Erschüttert sah er, dass man schon im Begriff war, die Seitenflügel des alten Bahnhofsgebäudes abzureißen. Der nördliche Flügel fehlte bereits, und dahinter … War da nicht auch so ein schönes altes Haus gewesen, entlang der Heilbronner Straße? Weg, alles weg. Das Alte wurde entsorgt, gnadenlos. Und nun gähnte ein gigantisches Loch im Boden, ein regelrechter Höllenschlund, ein Abgrund von Menschenhand, wie ihn Stetter noch nie gesehen hatte. Es ging hinab, hinab, hinab …
Stetter blieb stehen, genau wie die meisten der Ankommenden, und schaute hinunter. Da unten wurde noch gearbeitet, im Licht einiger Scheinwerfer, die den dunklen Grund der unfassbaren Grube nur unzureichend ausleuchteten. Man sah winzig erscheinende Menschen in gelben und signalroten Jacken umherwuseln, sich über Gestänge und Verschalungen beugen, mit Maschinen hantieren, und bei all dem strahlten sie Hektik aus, so, als wären sie mit dem Zeitplan im Verzug.
Was für eine Kulisse! Stetter hob den Kopf hob den Blick, versuchte zu erfassen, was aus seiner Heimatstadt geworden war. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, zu träumen, in einem Albtraum gefangen zu sein, aus dem er gleich erwachen würde, im Bett neben Klara, und alles, alles, alles würde nur ein böser Traum gewesen sein …
Doch das geschah nicht. Stattdessen rempelte ihn jemand an und knurrte in breitestem Schwäbisch: »Seh’n Sie net, dass Sie hier alles blockieret?«

*


Ein Marmeladenglas, ohne Etikett, das eine Tasse voll einer wasserklaren Flüssigkeit enthielt. Eine Hand überprüfte den festen Sitz des Schraubverschlusses, packte das Glas und schüttelte es kräftig. Die Flüssigkeit – ölig, schlierig – bildete ein paar Bläschen Schaum, als das Glas wieder auf dem Tisch abgestellt wurde.
Eine Spritze wurde mit der Flüssigkeit aus dem Marmeladenglas aufgezogen, langsam, bedächtig.
Einen Moment Innehalten. Dann holte eine Hand eine Weinflasche herbei und hielt sie fest, während die andere Hand die Kanüle vorsichtig von oben durch die Verschlussfolie und den Korken bohrte. Sobald die Nadel durchgestochen war, wurde der Inhalt langsam in das Innere der Flasche gespritzt, gegen einen fühlbaren Widerstand, wie es schien.
Anschließend wurde die Spritze beiseitegelegt, und die beiden Hände taten etwas, was man mit Weinflaschen nicht tut: Sie kippten sie mehrfach hin und her und schüttelten sie, ehe sie sie wieder zurückstellten.
Die Prozedur wiederholte sich mit der nächsten Flasche. Und der nächsten. Erst nach der fünften Flasche wurde der Deckel wieder auf das Glas gesetzt und zugeschraubt.
Es war noch ein Rest Flüssigkeit darin.

*


Lampert erwartete ihn in der Bahnhofshalle wie versprochen. »Karlheinz«, sagte Stetter und drückte dem vierschrötigen Mann gerührt die Hand. »Schön, dass du mich abholst.«
Lampert winkte ruppig ab. »Mann, ist doch Ehrensache unter alten Freunden, oder?« Er nickte grimmig in die Richtung, aus der Stetter gekommen war. »Was sagst du dazu, hmm?«
Stetter hob die Achseln. »Gruselig, ein bisschen. Obwohl, als sie in Berlin das Regierungsviertel umgebaut haben, da war auch einiges los …«
»Eine Schande ist das«, brach es aus Lampert heraus. »Eine Schande und eine verfluchte Geldverschwendung.« Er wollte nach Stetters Koffer greifen, was der abwehrte.
»Komm, so alt bin ich nun auch wieder nicht.«
»Auch gut.« Er nestelte einen dicken Schlüsselbund hervor, immer noch der alte Schlüsselsammler. »Ich hab den Wagen in der Lautenschlagerstraße stehen. Die Parkplätze hier am Bahnhof sind ja jetzt alle kassiert. Was das für ein Verkehrschaos verursacht, allein die Leute, die jetzt hier einen Parkplatz suchen – du solltest die Kollegen von der Verkehrspolizei mal hören! Und wenn man bedenkt, dass das noch zehn Jahre so gehen soll …«
Stetter fühlte sich auf einmal müde. »Ja.«
Lampert warf ihm einen Blick zu, verstand, immer noch, genau wie früher, als sie sich auch immer ohne ein Wort verstanden hatten. »Wie war deine Fahrt?«
Wie war seine Fahrt gewesen? »Okay«, sagte Stetter.
»Willst du noch was essen gehen oder gleich in dein Hotel?« Sie setzten sich in Bewegung. »Susanne ist ziemlich unglücklich, dass du dich nicht bei uns einquartiert hast, weißt du? Das wäre doch auch gegangen.«
Stetter seufzte. »Du weißt doch, wie das ist mit den Gästen und den Fischen. Ich werde wahrscheinlich länger als drei Tage brauchen, bis ich was gefunden habe. Und dann müssen ja erst die Möbel und so angeliefert werden.«
»Trotzdem.«
Stetter erinnerte sich noch gut, wie beengt sein alter Partner und dessen Familie in ihrer kleinen Vierzimmerwohnung in Heslach lebten. Und die Kinder waren ja noch nicht aus dem Haus; Felix, der Älteste, musste inzwischen sechzehn sein und die Kleine zwölf. Zwölf, du meine Güte! Das letzte Mal hatte er sie als Kindergartenkind gesehen. Bevor sich das Drama mit Klara zugespitzt und er nichts mehr mitbekommen hatte vom Rest der Welt …
»Du musst auf jeden Fall am Sonntag zum Essen kommen«, befahl Karlheinz. Sie hatten die Fußgängerampel an der Klettstraße erreicht, warteten auf Grün.
»Trotz Ostern?«
»Susanne besteht darauf.«
»Na, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig.«
»Seh ich auch so.«

*


Hände, die sich auf Bäuche legten, an Hälse griffen, sich verkrampften in hilflosen Bewegungen. Augen, die aufgerissen wurden. Münder, die sich öffneten zu stummen Schreien.
Körper, die von Stühlen sanken. Körper, die zu Boden fielen. Körper, die zuckten und sich wanden.
Keuchende Laute, die irgendwann verstummten.
Herzen, die zu schlagen aufhörten.

*


Stuttgart war immer noch keine Stadt, in der abends das Leben pulste, war es nie gewesen (»Hier klappt man abends um acht die Bürgersteige hoch« hatte es früher geheißen, und das stimmte wohl immer noch), aber trotzdem war genug los, dass sie erst mal im Stau standen.
»Wann fängst du an?«, fragte Lampert. »Am Ersten?«
»Ja,« sagte Stetter. »Noch zwei Wochen Galgenfrist.« Er rieb sich die Rückseite der Hand. »Ich hab morgen den ersten Termin mit einem Makler. Am Ostersamstag. Auch ein bisschen ungewöhnlich, aber okay. Vielleicht klappt es ja schnell mit der neuen Wohnung.«
Lampert ließ den Wagen wieder ein Stück rollen, bremste kurz vor dem Heck des Wagens vor ihnen, als hätte er ihm einen Schubs geben wollen und es sich erst im letzten Moment anders überlegt. »Wohnungen soll’s grad viele geben, hab ich gehört. Bloß kommt man mit unsereins Dienstbezügen nicht weit. Wenn wir nicht unseren Vermieter hätten, dem’s nicht ums Geld geht, wäre an Urlaub im Süden gar nicht zu denken.«
»Das war in Berlin auch nicht besser. Obwohl da die Mieten niedriger sind. Aber wir waren zu zweit, zwei Verdiener …« Er hielt inne. Er hatte sich doch vorgenommen, nicht mehr so viel an Berlin zu denken.
Lampert nickte. Stetter sah die Knöchel seiner Hände weiß werden, die das Lenkrad umklammerten. Lampert war stark, ein durchtrainierter, muskulöser Mann. »Mann, ja. Tut mir echt leid, das mit Klara … Ehrlich, ich begreif’s nicht. Ich begreif nicht, wie jemand –» Er hielt inne. »Das Schlimme daran ist, dass ich mich trotzdem freue, dass du wieder da bist. Verstehst du das?«
Stetter holte wie gegen einen Widerstand Luft. »Geht mir auch so. Wie in alten Zeiten, sag ich mir. Die alten Zeiten waren doch die besten.«
*
Ein Raum, groß, holzgetäfelt. Ein gedeckter Tisch, Stühle unordentlich darum herum. Am Boden dunkle Körper, eingehüllt von Dunkelheit.
Stille.

2


Am nächsten Morgen brauchte Stetter ein paar Augenblicke, bis ihm wieder einfiel, wo er war. Dann wälzte er sich herum, schlug die Decke beiseite und stemmte sich in sitzende Position.
Er hätte Lamperts Angebot doch annehmen sollen. Das Hotel war wirklich nicht das Gelbe vom Ei. Preisgünstig war es, okay, aber die Einrichtung war deprimierend in ihrer pseudo-modernen Verspieltheit. Laut war es, und es stank nach billigem Desinfektionsmittel, so, als würden sie hier nicht saugen und putzen, sondern nur jeden Tag Sagrotan drübersprühen. Das Bad ließ sich nicht heizen, was sich trotz der Osterzeit unangenehm bemerkbar machte, und alles in allem befürchtete er auch für das Frühstück das Schlimmste.
Eine Katzenwäsche, eine Schnellankleide und drei Treppen später – der Aufzug war winzig, kleiner als eine Telefonzelle, und darüber hinaus von den Zimmermädchen mit Beschlag belegt – stellte sich heraus, dass seine Befürchtungen hinsichtlich des Frühstücks nicht übertrieben gewesen waren.
Der Frühstücksraum war klein und eng und dunkel und voller Leute, die in irgendwelchen osteuropäischen Sprachen lautstark durcheinanderredeten. Stetter fand mit Mühe einen Platz an einem Tisch, auf dessen restlichen Plätzen benutztes Geschirr mit Essensresten stand, das niemand abräumte, und das Buffet gab nicht mehr viel her; von Nachfüllen hielt man hier wohl nichts.
Ein paar Tage zumindest hätte er ja bei Karlheinz und Susanne bleiben können. Da hätte es wenigstens Brezeln zum Frühstück gegeben. Und guten Kaffee, nicht diese dünne Brühe hier, für die bestimmt ein Unternehmensberater die Bohnenmenge kalkuliert hatte.
Zu allem Überfluss lief ein Fernseher in einer Ecke. Stetter hasste es, wenn Fernseher liefen, ohne dass jemand hinsah; wenn man einfach nur berieselt wurde. Zum Glück saß er so, dass er nicht auf den Bildschirm sah, aber zu überhören war das Ding leider nicht, trotz all der Polen und Tschechen und Slowenen.
Und was kam? Nichts. Belangloses. Eine nicht endenwollende Sendung, in der über das aktuelle Wetter in Baden-Württemberg geredet wurde und darüber, ob in der Woche nach Ostern das schöne Wetter (welches schöne Wetter?

) nachlassen und es womöglich zu einer ausgedehnten Regenperiode, womöglich zu Stürmen kommen mochte.
Irgendwann – die Wetterfee und der Wetterfrosch diskutierten immer noch über Sturmtiefs und Sturmhochs über Europa und die Windgeschwindigkeiten auf dem Feldberg – ließ es Stetter gut sein, ließ seinen Teller mit dem, worauf er keinen Appetit mehr hatte, ebenfalls stehen und ging. Zeit für den Maklertermin.
Er nahm die Straßenbahn, studierte unterwegs den Linienplan, ob sich an den Nummern und den Strecken etwas verändert hatte. Einiges, aber nichts, was ihn betraf. Gut. Wenigstens kannte er sich noch ein bisschen aus. Das war es, was er gewollt hatte: Irgendwohin zurückzukommen, wo er sich auskannte. Wo er sich vielleicht irgendwann sogar wieder zu Hause fühlen würde.
Die Wohnung, die er sich ansehen würde, lag in Ostheim, und als Stetter dort aus dem Bus stieg, rührte es ihn, wie vertraut noch alles aussah. Hier hatten die Häuslesbauer nicht so gewütet wie im Stadtzentrum, wo er fast nichts mehr wiedererkannte. Hier standen noch immer die Häuserblocks und verwachsenen Zäune, an die er sich aus seiner Kindheit erinnerte, selbst manche der Geschäfte von damals waren noch da, einige sogar weitgehend unverändert. Ein Mysterium, fand Stetter und machte sich hochgestimmt auf den Weg zu der angegebenen Adresse, nicht wenig stolz, dass er noch imstande war, sich hier ohne Stadtplan zu orientieren.
Der Makler erwartete ihn schon, ein Mann um die vierzig, mit dunklen Locken und breitem Lächeln, das für Stetters Geschmack etwas zu aufgesetzt und künstlich wirkte, genauso wie sein ganzes aufgedreht-wortschwalliges Benehmen, aber vermutlich war das bei Immobilienmaklern eine Berufskrankheit. Die Wohnung jedenfalls sah gut aus. Drei Zimmer, Küche, Bad, und das alles Baujahr 1977, das hieß, keine Achtzigerjahre-Bausünde, kein Stahl-und-Glas-Wahnsinn, sondern noch gute, alte Wertarbeit.
»Ans Fernwärmenetz angeschlossen«, wiederholte der Makler, was er vorhin schon erklärt hatte. »Das hat sich, was die Heizkosten betrifft, als unschlagbar preiswert herausgestellt. Ich kann Ihnen die Abrechnungen zeigen, wenn Sie wollen; damit fahren Sie wirklich günstiger als mit irgendwas anderem.«
»Hmm«, machte Stetter und trat auf den vorderen Balkon hinaus, der fast über die ganze Breite der Wohnung ging. Gut, das war jetzt nicht die stille Seitenstraße, die ihm noch besser gefallen hätte, sondern eine der Durchgangsstraßen, aber zumindest nicht die Wagenburgstraße, auf der der Verkehr unablässig tobte; die hörte man hier nicht einmal. Und was machte es, wenn tagsüber ein paar Autos durchfuhren; da war er ja ohnehin nicht da.
Der Makler lächelte nervös. »Die Balkonbrüstung soll im Lauf des Sommers neu gestrichen werden«, erklärte er. »Das hat die Eigentümerversammlung beschlossen. Aber da brauchen Sie sich um nichts zu kümmern, und die veranschlagten Kosten sind im Rahmen.«
Stetter kam wieder herein, sah sich in dem Raum um, der das Wohnzimmer werden würde, versuchte es im Geiste einzurichten. Das würde alles passen. Sogar das seltsame Regal, das er seit seiner Schulzeit mit sich herumschleppte. Es würde an die kleine Wand neben der Tür passen. Man hätte glauben können, die Wohnung sei dafür gemacht worden.
»Ich würde mir das gern noch über die Ostertage überlegen«, erklärte Stetter. »Drüber schlafen, Sie verstehen?«
»Ja, natürlich«, sagte der Makler hastig, beugte sich vor und wies auf die Unterlagen, die er Stetter ausgehändigt hatte. »Da, unter dieser Telefonnummer erreichen Sie mich jederzeit, sobald Sie sich entschlossen haben.«
Eine Mobilnummer. Das ließ Stetter an sein eigenes Handy denken und daran, dass er es heute noch nicht eingeschaltet hatte. Er holte es heraus, und tatsächlich, da waren auch schon zwei Mitteilungen auf seiner Mailbox.
Alle beide von Lampert.
»Einen Moment bitte«, sagte er zu dem Makler, der bereitwillig nickte und einen Schritt zurücktrat, während Stetter die erste Nachricht abhörte.
»Ich bin’s, Karlheinz«, hörte er die aufgeregte Stimme Lamperts. »Ich weiß, du hast Besseres zu tun, aber ich soll dich vom Chef fragen, ob du eventuell heute schon einspringen könntest in einem aktuellen Fall. Und ich wäre ehrlich gesagt auch froh, weil, also … Wir haben den größten Mordfall, den Stuttgart seit ich weiß nicht wie vielen Jahren erlebt hat.«

3


»Am Bopser«, hatte Lampert gesagt. Stetter nahm ein Taxi in der Hoffnung, dass er die Spesen ersetzt bekommen würde, aber als er ankam, schien die Spurensicherung ihren Job schon erledigt zu haben, jedenfalls fuhr gerade der Leichenwagen ab.
Es war ein Gemeindehaus neben einer evangelischen Kirche. Stetter musste am rot-weißen Absperrband warten, weil der Polizist, der es bewachte, von nichts wusste. Erst als Lampert herauskam und Zeichen gab, ließ er Stetter passieren.
So ganz zu Hause war er also noch nicht.
»Siebzehn Tote«, stieß Lampert hervor. »Die Kollegen vom Kriminaldauerdienst sind mit den Nerven fertig, das kann ich dir sagen.« Sein Unterkiefer mahlte. »Ich weiß nicht, was du inzwischen von Berlin her gewöhnt bist, aber für Stuttgarter Verhältnisse ist das ein Massaker. Wir haben nach wie vor normalerweise nur zwischen zwanzig und dreißig Morde pro Jahr, und jetzt an Karfreitag schon so was …«
»Du machst dir aber nicht ernsthaft Sorgen um die Statistik, oder?«, fragte Stetter und sah sich um, während sie durch den Eingangsbereich gingen. Alles war mit Holz verkleidet, schön gearbeitet, alt, bestimmt fünfziger Jahre. Als man noch mit Liebe gebaut hatte und nicht aus Geldgier, erst recht nicht bei einem Kirchengebäude.
Wobei … Wer wusste schon, wie die damals gedacht hatten? Geldgier war so alt wie das Geld selbst. Vielleicht war es seinerzeit einfach nur weniger hektisch zugegangen als heutzutage.
»Nein, natürlich nicht«, meinte Lampert, als sie den Saal betraten. »Um die Statistik soll sich die Politik kümmern. Aber ein Massenmord in einem Gotteshaus …«
Sie blieben stehen. Der Saal war groß – wenn man sich nicht um die hohen Fenster hätte sorgen müssen, hätte man ein Handballspiel darin abhalten können –, holzgetäfelt, mit einem großen, in Intarsienarbeit eingelegten Kreuz an der Stirnseite. Davor stand ein Tisch, gedeckt, und auf dem Boden darum herum waren noch die Umrisslinien zu sehen, die man um die Toten gezogen hatte, wie es Vorschrift war.
»Siebzehn Leute, allem Anschein nach vergiftet«, erläuterte Lampert. »Wir dachten erst, achtzehn, aber einer liegt nur im Koma, der kommt vielleicht durch. Die von der Spurensicherung sagen, das Gift war im Wein.«
»Was für ein Gift?«
»Da müssen wir aufs Labor warten.«
»Okay. Und die Toten, was sind das für Leute?«
»Mitglieder eines Bibelkreises, der sich hier jede Woche zweimal trifft. Zwei Überlebende – einer, der zum Kreis gehört, aber gestern nicht da war, und noch einer, der zugleich so etwas wie der Hausmeister hier ist. Er hat eine kleine Wohnung nebenan.«
»Hast du schon mit ihm gesprochen?«
»Von ihm weiß ich das mit dem Bibelkreis. Die haben sich offenbar gestern zu einer Art, na, nicht Gottesdienst, aber jedenfalls wegen Karfreitag getroffen, um, wie hat er gesagt? Um des Opfergangs Christi zu gedenken, der für unsere Sünden gestorben ist, und so weiter.«
»Und dann sind sie selber auch gleich gestorben«, nickte Stetter und umrundete den Tatort mit der gebotenen Vorsicht. Die Halter mit den Nummern standen noch da, zwei Männer in weißen Overalls waren damit beschäftigt, nach Fingerabdrücken zu suchen, und nickten ihm nur kurz zu. Auf dem Tisch standen zwei unberührte Weinflaschen, Körbe mit Brot, Teller, auf denen noch gebrochenes Brot lag, Weingläser mit Resten von Wein.
»Es könnte auch Selbstmord sein«, fuhr Stetter fort. Er sah Lampert an. »Oder?«
Der hob die Schultern. »Ist unser Job, das rauszufinden, fürchte ich.«
Stetter fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, überlegte. »Dieser Hausmeister … Gehört der auch zu dem Bibelkreis?«
»Ja.«
»Hmm.« Eigentlich, fand Stetter, war dies ein idyllischer Ort. Mit all dem hellen Holz, das im Licht der gerade hinter den Wolken hervorbrechenden Sonne honigfarben leuchtete, herrschte in diesem Saal eine eigentümliche Ruhe und Tiefe.
Bizarr, dass hier bis vorhin noch Tote herumgelegen haben sollten.
»Und warum hat er überlebt?«
Lampert zog schniefend die Nase hoch. »Er sagt, er hat nichts von dem Wein getrunken, nur die anderen.«
»Was ihn verdächtig macht, oder?«
»Klar. Ich hab ihm gesagt, er soll in seiner Wohnung auf uns warten. Ich wollte, dass du dabei bist.« Lampert zerdrückte ein Lächeln, tippte mit dem Zeigefinger kurz an seine Nase. »Du weißt schon …«
Stetter nickte. Ja, das schmeichelte ihm ein bisschen. Man sagte ihm nach, dass er eine Nase habe für solche Dinge. Eine innere Stimme, einen kleinen Mann im Ohr, der ihm einflüsterte, in welche Richtung man gehen musste, um den Täter zu finden.
Er selber fand das übertrieben. Gut, er hatte ein paar Erfolge gehabt, die sich als Ausgangsmaterial für einen Fernseh-Tatort gut gemacht hätten, aber er hatte sich mindestens genauso oft – ach was, drei-, viermal so oft – grässlich geirrt. Eigentlich hatte er selber das Gefühl, sich ständig zu irren und die Täter – so es denn ein Problem war, sie ausfindig zu machen; in der Hälfte aller Mordfälle war der Täter der Lebenspartner des Toten – nur durch einen dummen Zufall zu finden.
»Und der andere Überlebende?«
»Ist der Pfarrer.«
»Der Pfarrer?«
»Na, jedenfalls der Kerl, der die Bibelgruppe gegründet und ins Leben gerufen hat. Er war diese Woche wegen einer Operation im Krankenhaus. Ich hab das schon nachgeprüft, er wird heute entlassen.«
»Welches Krankenhaus?«
»Eins weit weg. Im Schwarzwald.«
Stetter hob die Augenbrauen. »Gibt’s in Stuttgart keine Krankenhäuser mehr?«
»Er hat mir am Telefon gesagt, es sei wegen persönlicher Beziehungen, die er dorthin habe. Ein Schulfreund, von dem er sich operieren lassen wollte.«
Stetter sah grübelnd ins Leere. »Das müssen wir natürlich auch nachprüfen. Ein bisschen wirkt das schon, als wolle jemand für ein bombensicheres Alibi sorgen.« Er sah Lampert an. »Und heute kommt er zurück?«
»Heute Abend irgendwann.«
»Dann reden wir morgen mit ihm. Jetzt will ich mir erst mal diesen Hausmeister vornehmen.«
Ein Hausmeister. Das hieß, jemand, der alle Schlüssel hatte, der wusste, wer kam und ging …

4


Der Mann hieß Peter Stein, war 46 Jahre alt und hatte sah schlecht aus: Sein Gesicht war bleich und teigig, seine Haare dünn, und ihm fehlten etliche Zähne. Man sah ihm an, dass er ein bewegtes Leben hinter sich hatte, und auch, dass sich die Bewegungen dieses Lebens eher im unteren Bereich der Gesellschaft vollzogen haben mussten.
Er saß in der kleinen Wohnküche seiner Wohnung, die sich in einem Anbau des Gemeindehauses befand, der von außen nach kaum mehr als einer Garage oder einem Geräteschuppen aussah. Er rauchte eine Zigarette, während ihm unablässig Tränen über seine Wangen rannen. Das schien er gar nicht zu bemerken; auch nicht, dass sein Hemd schon große, nasse Flecken davon hatte.
»Herr Stein?«, sagte Lampert.
Der Mann nickte, wies auf die anderen Stühle an seinem Tisch. »Bitte«, hauchte er kaum hörbar.
Nachdem das mit den Personalien noch mal geklärt war – Lampert schrieb wie üblich alles mit –, faltete Stetter seine Hände und überlegte, ob jetzt schon der Moment für die entscheidende Frage war oder nicht, und kam zu dem Schluss, warum nicht?
»Herr Stein«, sagte er also, »warum haben Sie nichts von dem Wein getrunken?«
Stein drückte die Zigarette in dem Konservendeckel aus, den er als Aschenbecher benutzte. »Weil ich Alkoholiker bin. Ein Tropfen Alkohol kann genügen, um mich wieder rückfällig werden zu lassen.«
Stetter musterte ihn überrascht, wobei er sich nicht ganz sicher war, was ihn eigentlich überraschte: die Erklärung selbst oder die Offenheit, mit der der Mann sie vorbrachte. Stetter hatte in seinem Berufsleben mehr Alkoholiker kennengelernt, als ihm lieb war, aber dass das jemand in den ersten fünf Minuten eines ersten Gesprächs zugab, passierte ihm heute zum ersten Mal.
»Gut«, sagte er schließlich. »Sie sind beziehungsweise waren selber Mitglied des Bibelkreises?«
Stein nickte. Er hatte einen dürren, faltigen Hals, und das karierte Hemd, das er trug, war ihm zu groß. »Seit zwei Jahren.«
»Und wie lange haben Sie diese Hausmeisterstelle hier?«
»Auch zwei Jahre. Das ist gleichzeitig passiert.«
»Was meinen Sie mit ‘passiert’? Was genau ist geschehen?«
»Meine Bekehrung und dass ich die Stelle gekriegt habe.«
»Ah.« Seine Bekehrung. Also so war das. Stetter wechselte einen Blick mit Lampert, der ihn nur ausdruckslos ansah. Das war also auch für ihn neu.
»Herr Stein«, fuhr Stetter fort, »Sie haben das zwar meinem Kollegen schon erzählt, aber ich würde trotzdem noch einmal gerne aus Ihrem Mund hören, wie das alles hier vor sich gegangen ist. Sie haben heute morgen die Polizei benachrichtigt?«
»Ja. Gegen sieben Uhr.«
»Heißt das, Sie waren gestern Abend nicht bei der Feier?«
»Doch. Ich war dabei.«
»Aber …« Das brachte Stetter jetzt nicht zusammen. Die Leute waren in dem Saal gestorben. Das wäre Stein zweifellos nicht entgangen. Also musste den Saal irgendwann davor verlassen haben.
»Erzählen Sie mir, was passiert ist.«
Stein griff nach seiner Zigarettenschachtel, fingerte eine Zigarette heraus, steckte sie wieder zurück.
»Wir haben uns gestern Abend getroffen, um achtzehn Uhr, um des Opfergangs Jesu Christi, unseres Herrn, zu gedenken. Wir haben gebetet und die Bibel gelesen, die Geschichte der Kreuzigung, und uns in unserem Glauben bestärkt.« Er legte die Hände zusammen. »Das machen wir an Karfreitag immer. Wir wachen die ganze Nacht hindurch, bis zum Anbruch des Tages.«
»Verstehe.« Stetter dachte an den karg gedeckten Tisch. »Aber Sie fasten nicht dabei.«
»Nein.« Stein lächelte schief. »Wissen Sie, viele unserer Brüder und Schwestern waren nicht mehr jung; für sie wäre die Nacht ohne etwas zu essen zu lang geworden. Es geht nicht darum, sich zu geißeln, wie Herr von Lausing immer sagt, es geht um den Glauben. Nur der Glaube ist es, der uns rettet.«
»Herr von Lausing ist der Geistliche«, erklärte Lampert.
Stetter nickte. Ihm fiel auf, dass es in dieser Wohnung seltsam roch. Ungeputzt, ungelüftet. Und irgendwie chemisch. So, als verfolge dieser Hausmeister, was seine eigene Wohnung anbelangte, dieselbe Strategie wie Stetters Hotel. »Und weiter? Was geschah dann?«
»So gegen zehn Uhr abends«, erzählte Stein, während seine Hände an der Wachstischdecke auf dem Tisch herumfingerten, »wurden die ersten Gläser von dem Wein ausgeschenkt, und alle haben getrunken. Das ist ein Bestandteil unserer Feier: das Blut Christi zu trinken.« Seine Hände sanken herab. »Kurz darauf waren alle tot.«
Stetter sah Lampert überrascht an, der offenbar das auch nicht gewusst hatte. »Um zehn Uhr abends schon?«
»Ja.«
»Und wieso haben Sie nicht gleich Hilfe geholt?«
Der Mann auf der anderen Seite des kleinen Tisches hob schief die Schultern. »Ich habe für ihre Seelen gebetet. Es waren alles so gute Menschen. Engel. Heilige fast. Ich bin bei ihnen geblieben und habe für sie gebetet.«
»Die ganze Nacht?«, rief Lampert aus, dessen Hals vor verdächtig anschwoll, wie immer, wenn er im Begriff stand, wütend zu werden.
Stein nickte. »Bis zum Anbruch des Tages. Dann habe ich angerufen.«
»Das war unverantwortlich«, fauchte Lampert. »Einer von Ihren Brüdern war noch nicht tot, als wir gekommen sind, nur im Koma! Verstehen Sie, was das heißt?«
Peter Steins Blick ging ins Leere, ein ungeheurer Schmerz tauchte darin auf. »Ich konnte nicht«, flüsterte er.
»Aber wenn Sie gleich Hilfe geholt hätten, hätte man vielleicht noch mehr retten können!«, rief Lampert.
Stetter legte ihm die Hand auf den Arm, um ihm zu signalisieren, es gut sein zu lassen.
»Meine Brüder und Schwestern waren gläubige Menschen«, sagte Stein leise und eigentlich nicht an sie gerichtet, sondern eher, als wolle er sich selber beruhigen. »Sie sind jetzt bei Gott. Es gibt keinen Grund, traurig zu sein.« Er versuchte ein Lächeln, doch es wurde nur eine verzerrte, leidvolle Grimasse. »Es ist alles gut. Sie sind gerettet. Fragen Sie Herrn von Lausing, er wird Ihnen das bestätigen.«
Seine Stimme brach.

5


Auf dem Weg zurück in die Stadt musste Stetter über den alten Mann nachdenken. Er hatte einmal gelesen, dass Menschen, die als einzige große Unglücke überlebten, sich manchmal den Toten gegenüber schuldig fühlten, und er fragte sich, ob bei Peter Stein gerade auch so etwas in der Art passierte.
Auf dem Pragsattel war die Hölle los; obwohl da alles anders aussah als früher, umgebaut und modernisiert worden war, waren die Straßen verstopft wie eh und je, mit Lastwagen vor allem.
Und dann sah Stetter den alten Bau wieder, in dem er angefangen hatte. Damals, als ganz kleiner Kriminalkommissaranwärter, und gleich Assistent des alten Beauregard, des legendären! Der lebte auch nicht mehr, war nach all den gefährlichen Einsätzen, die er hingelegt hatte, friedlich im Bett gestorben, beneidenswert sanft entschlafen, wie man erzählte. Na gut. Aber das alte Gemäuer in der Hahnemannstraße stand immer noch, und es wieder zu betreten, durch den Diensteingang wie früher, das weckte Erinnerungen …
»Wir haben übrigens eine neue Pathologin«, erzählte Lampert. »Dr. Beil. Passender Name, finden alle. Eine schräge Frau, kann ich dir sagen. Sieht ziemlich gut aus, aber ansonsten …«
»Ich werde nie begreifen, was Frauen dazu bringt, diesen Beruf zu ergreifen«, meinte Stetter kopfschüttelnd.
»Wird man Frauen überhaupt je begreifen?«, entgegnete Lampert und stieß die Flügeltüren zum Trakt der kriminalistischen Labors auf. »Jedenfalls, du bist gewarnt.«
Ihre Schritte hallten im Gang, wie damals, und es herrschte auch noch der gleiche Geruch, ein Geruch, wie er nur forensischen Abteilungen eigen zu sein schien. Forensik No 5 nannte man das Parfüm wohl.
Eine dunkelgrüne Tür, an der »Beil, Dr. N.« stand und »Dezernat 1.1«. Lampert stieß sie auf, streckte den Kopf rein. »Niemand da. Sie wird wohl in der Pathologie unten sein …«
»Ist sie nicht«, kam eine scharfe, spöttische Stimme von hinten. »Sie war nur einen Kaffee holen.«
Die beiden Männer fuhren herum, und Stetter sah sich unvermittelt einer Frau gegenüber, die aussah wie ein Engel im Laborkittel: Lange, blonde Haare, die weit den Rücken hinab reichten (was machte sie mit denen, wenn sie Leichen sezierte?), schlank, ein ebenmäßiges, sanftes Gesicht, aus dem ihn große graue Augen ansahen, nein, spöttisch musterten. »Sie kenne ich noch nicht«, stellte sie fest. Ihre Hände umschlossen eine Kaffeetasse.
»Stetter«, brachte er mühsam heraus. »Werner Stetter. Oberkommissar. Das heißt, im Moment noch nicht, ich fange erst nächsten Monat wieder hier an, offiziell jedenfalls, weil ich bis jetzt in Berlin war, aber ich bin an dem Fall …« Er unterbrach sich. »Rede ich dummes Zeug?«
Sie lachte, ein perlendes, kühles, unnahbares Lachen. »Ich verstehe jedenfalls, dass Sie einer von den Guten sind.« Sie nahm die Rechte von der Tasse und streckte sie ihm hin. »Nadja, für Kollegen.«
»Werner«, erwiderte Stetter und ergriff ihre Hand. Sie fühlte sich fest und klar an, wie eine Hand eben, der man ein Skalpell anvertrauen konnte.
»Ich nehme an«, sagte sie und ging an den beiden vorbei in ihr Büro, »Sie kommen wegen der Morde im Martin-Luther-Heim?«
»Genau«, sagte Stetter und kam nicht umhin zu bemerken, dass ihr Laborkittel eng genug war, dass sich ein entzückendes Hinterteil erahnen ließ.
»Obduziert habe ich bis jetzt erst eines der Opfer, eine junge Frau«, sagte die Pathologin, während sie ihre Tasse abstellte und begann, in den Unterlagen auf ihrem höchst chaotisch aussehenden Schreibtisch zu wühlen. »Hier sieht’s immer schrecklich aus, bitte nicht dran stören. Ich hab’s nicht so mit Papier. Was nicht blutet, interessiert mich nicht«, meinte sie und lachte wieder mit diesem spöttischen Klang, der Stetter einen gruseligen Schauer über den Rücken laufen ließ.
Ein Todesengel, dachte er. Wieso wird so eine Frau Pathologin, verbringt den ganzen Tag damit, in kalten Kellerräumen Menschen auseinander zu schneiden, die auf unnatürliche Weise ums Leben gekommen sind?
»Hier«, sagte sie und hielt eine Mappe hoch wie eine Trophäe. Es war eine jener gewöhnlichen Amtsmappen aus hellbraunem Manilakarton mit einem Raster auf der Vorderseite, in dem man den jeweiligen Adressaten der darin enthaltenen Unterlagen einträgt. »Also, sehen wir mal …« Sie blätterten die wenigen Blätter darin durch. »Der Rotwein – übrigens ein guter Bordeaux, kein Württemberger; schade drum – enthielt ein Gemisch aus drei Giften, die ich auch im Körper der ersten Toten gefunden habe; das deckt sich also schon mal. Bei dem ersten Gift handelt es sich um Diazepam, ein starkes Beruhigungsmittel, das auch als Schlafmittel Verwendung findet. Gift Nummer zwei ist Chloroquin, ein Malariamittel, das in Überdosis sehr gefährlich ist. Und bei Gift Nummer drei handelt es sich um Ethylenglykol.«
»Drei Gifte?«, wunderte sich Lampert. »Wieso das denn?«
»Da wollte jemand auf Nummer sicher gehen«, mutmaßte Stetter. »So wie wenn einer mit einem Strick um den Hals im zehnten Stock aufs Fensterbrett steigt und sich dann einen Kopfschuss gibt. Damit’s ganz bestimmt klappt.«
Dr. Nadja Beil musterte ihn aus ihren verwirrend kühlen, grauen Augen. Verwirrend deshalb, weil ein eigenartiges Gespinst feinster Fältchen diese Augen umrahmte und eine Fülle von widersprüchlichen Signalen zugleich zu vermitteln schien: Interesse, Belustigung, Spott, Widerspruch. Ganz jung war sie nicht mehr, Mitte dreißig, schätzte Stetter. Aber anscheinend hielt einen die in Pathologieräumen herrschende Untertemperatur frisch und jung.
»Nicht ganz«, meinte sie. »Das eigentlich tödliche Gift war Nummer 2, das Malariamittel. Die anderen Mittel haben dessen Wirkung gewissermaßen nur umrahmt.«
»Kann man das so sagen, dass es ein normaler Kommissar versteht?«, wollte Stetter wissen.
»Chloroquin wird über die Verdauungsschleimhaut rasch aufgenommen, verteilt sich schnell im gesamten Gewebe und führt bei Überdosierung innerhalb von ein bis zwei Stunden zum Tod, und zwar entweder durch myokardiale Effekte, also Lähmung der Herzmuskeln, oder durch Anoxie, also Ersticken durch Fehlen von Sauerstoff. Das sind beides körperlich sehr unangenehme Todesarten, aber die übrigen Wirkstoffe lindern diese Symptome. Das Diazepam wirkt angstlösend, krampfvorbeugend und muskelentspannend und wird in der vorliegenden Dosierung vermutlich einfach eine rasche, tiefe Bewusstlosigkeit ausgelöst haben, noch verstärkt durch Wechselwirkung mit dem Alkohol. Und das Glykol schließlich … Nun, das ist auch giftig, aber hier ist es vermutlich dazu gedacht gewesen, den unangenehm bitteren Geschmack des Chloroquins zu überdecken. Glykol schmeckt süß und betont die Süße eines Weins, wie wir seit dem gleichnamigen Skandal in Österreich alle wissen. So konnte das eigentliche Gift seine Wirkung tun, während die Betreffende schmerzlos und entspannt eingeschlafen sind, um nicht mehr aufzuwachen.« Sie schlug die Mappe zu. »Das hat sich jemand klug ausgedacht, der offenbar wollte, dass seine Opfer einen sanften, schmerzlosen, aber sicheren Tod finden.«

*


»’Nadja, für Kollegen’», wiederholte Lampert, während sie wieder über den Parkplatz gingen. »Ich glaub’s ja nicht …«
»Also, ich fand sie ganz nett«, meinte Stetter grinsend. »Schade, dass sie Pathologin ist.« Pathologen hatten seiner Erfahrung nach alle einen an der Waffel. Kein normaler Mensch wurde Pathologe.
»Sollen wir noch irgendwohin?«, fragte Lampert, als sie einstiegen. »Ein Bier trinken oder so was?«
Stetter war sich auf einmal unschlüssig, was er wollte. Im Augenblick gab es in dem Fall nichts mehr für ihn zu tun; die Ermittlungen hinsichtlich der Identität der Opfer liefen schon und waren ohnehin Kleinarbeit fürs Fußvolk. Die Polizeischüler und jungen Kriminalmeister mussten schließlich auch was zu tun haben. Eigentlich hatte er vorgehabt, heute noch in die Stadt zu gehen, dies und das einkaufen, aber dafür war es inzwischen zu spät.
»Nee, lass mal«, sagte er. »Du gehst jetzt heim zu deiner Familie, damit die auch mal was von dir haben. Haben sie wenig genug, und das wird durch diesen Fall bestimmt nicht besser.«
»Und was machst du?«
»Ich geh erst mal unter die Dusche, und dann vielleicht noch ins Kino. Abschalten auf jeden Fall.«
Lampert ließ den Wagen an. »Du hörst dich schon an wie einer von diesen ewig grantigen Fernsehkommissaren. Schimanski und Kollegen; Typ einsamer Wolf. Wir könnten doch noch ins Alte Rad, wie früher, oder …«
»Karlheinz«, unterbrach ihn Stetter, »deine Kinder werden schneller groß, als du denkst. Dann gehen sie aus dem Haus und das war’s dann. Ich komm schon zurecht. Und ich will nicht dran schuld sein, wenn eine der wenigen guten Polizistenehen, die ich kenne, leidet, okay?« Er seufzte. »Ich bin ja morgen bei euch. Und morgen früh sind wir schon wieder zusammen auf Achse. Irgendwann reicht’s doch, oder?«
»Okay«, meinte Lampert. »Bring ich dich halt zu deinem Hotel und überlass dich deinem Schicksal.«
»Genau. Aber ras nicht wieder so kriminell, wenn’s geht.«

6


Eberhard von Lausing bewohnte eine der Villen unterhalb der Weinsteige, der Straße nach Degerloch, mit einem atemberaubenden Blick über den Talkessel Stuttgarts – eine der ganz raren Lagen, wie Stetter wusste. Ein Mann mit Geld offenbar, wie man es von jemandem, der den Willen Gottes kannte, vermutlich auch erwarten durfte.
Der Mann, der ihnen die Tür öffnete, war eine rundliche, gemütliche Erscheinung mit Doppelkinn, schütterem altblondem Haar und einer dünnrandigen Brille. Sein Blick hatte etwas Welpenhaftes an sich.
»Kommen Sie, kommen Sie«, sagte er und gab ihnen mit einem tiefen Seufzer den Weg frei. »Was für eine schreckliche Tat! Alle meine Schäfchen dahinzuraffen, wie furchtbar. Wer tut so etwas? Haben Sie schon einen Anhaltspunkt, meine Herren? Hier entlang, bitte, ins Wohnzimmer. Meine Frau hat uns Kaffee und Gebäck hingestellt…«
»Keine Ostereier?«, fragte Lampert, der sich nichts aus Schokolade oder überhaupt Süßem machte.
»Nein«, verwahrte sich von Lausing. »Für solche heidnischen Bräuche müssen Sie woanders hingehen.«
»Haben Sie etwas gegen heidnische Bräuche?«, hakte Stetter sofort nach.
»Das wäre eine abendfüllende Erörterung, fürchte ich.« Von Lausing humpelte noch ein wenig, vermutlich eine Nachwirkung der Operation, die er hinter sich hatte. Sie hatten über die Kriminalpolizei Alpirsbach nachfragen lassen; von Lausing war allem Anschein nach tatsächlich die Woche über dort im Krankenhaus gewesen, in einer Privatklinik, die auch tatsächlich einem ehemaligen Schulkameraden von ihm gehörte, einem Dr. Franz Brauneisen. Der hatte ihn den Unterlagen zufolge an der Leiste operiert – eine Lappalie, die normalerweise keinen derartig langen Aufenthalt in der Klinik nötig gemacht hätte, zumal es auch nicht zu Komplikationen gekommen war.
»Und gibt es eine Kurzform davon?«
»Sagen wir so«, meinte von Lausing, während er sich mühsam in seinen Ledersessel sinken ließ, »ich habe nichts dagegen, Schokolade in Eiform zu gießen und zu verschenken. Warum nicht. Aber das Problem ist, dass ein solches Ritual etwas symbolisiert, ja, dass es geradezu überhaupt nicht denkbar, gar nicht durchführbar wäre ohne das Symbolisierte im Hintergrund, und das ist in diesem Fall eben der vorchristliche Fruchtbarkeitskult, aus dem dieser Brauch stammt. Es ist also unchristlich und deswegen nichts, mit dem Christen sich abgeben sollten.«
Stetter nahm auf von Lausings Geste hin Platz auf dem Sofa. Eine Thermoskanne stand auf dem Couchtisch, daneben eine Schale mit offenbar selbst gebackenen Keksen.
»Ich denke, wir werden mit den Keksen auskommen«, meinte er. »Wir sind ja hier wegen etwas anderem, das man nicht tun sollte, nämlich Menschen vom Leben zum Tode zu befördern.
»Genau.« Eberhard von Lausing nickte heftig. »Das ist sogar eine Sünde.«
Von Lausing war offenbar einer von denen, die es geschafft hatten, das ganze Leben mit all seinen Unwägbarkeiten, Schattierungen und Zwischentönen fein säuberlich in Schubladen einzusortieren, sodass alles jederzeit aufgeräumt, übersichtlich und griffbereit vor ihnen lag.
Also ungefähr das Gegenteil von dem, was ich diesbezüglich drauf habe, dachte Stetter und fragte: »Haben Sie einen Verdacht, was hinter dieser Tat stecken könnte? Eine Erklärung?«
Der Mann schüttelte den Kopf in äußerster Entschiedenheit. »Es muss auf jeden Fall ein sehr verderbter Mensch gewesen sein, jemand, der am Tag des Jüngsten Gerichts schwer bereuen wird, was er vorgestern getan hat. Die Mitglieder meines Bibelkreises waren alles fromme, gläubige Menschen, die niemandem etwas zuleide getan haben.«
»Wie gut kennen Sie … kannten Sie diese Menschen?«
»Gut. So gut, wie man Menschen nur kennen kann.«
»Wissen Sie, ob jemand … nun ja, Feinde hatte? Oder Probleme, die zu einer solchen Tat hätten führen können?«
»Nein. Kein Einziger.«
»Sind Sie sicher?«
Von Lausing reckte das Kinn. »Ich war der Vertraute dieser Menschen. Sie haben mit mir über ihre Schwierigkeiten gesprochen, ihre Anfechtungen, ihre Probleme … Sie haben mit mir gemeinsam um ihren Glauben gerungen. Da lernt man sich kennen, das kann ich Ihnen versichern.«
»Dann können Sie uns sicher eine Namensliste zur Verfügung stellen?«, fragte Stetter.
Der Mann stutzte, fing sich aber sofort wieder.
»Ja, natürlich. Ich habe schon eine vorbereitet.« Er griff nach einer Mappe, die auf dem Tischchen neben ihm lag, und zog ein Blatt Papier mit Namen und Adressen heraus. »Hier. Das sind die Mitglieder meiner Bibelgruppe. Oder waren es, genauer gesagt.«
»Danke.« Stetter nahm das Blatt entgegen und reichte es an Lampert weiter, der es sorgsam faltete und in seinem Notizbuch verstaute. Es mochte interessant werden, diese Liste nachher mit jener Namensliste zu vergleichen, die die Kollegen inzwischen selber zusammengestellt hatten.
»Was ich mich frage …«, begann Stetter.
»Ja?« Eberhard von Lausing faltete erwartungsvoll die Hände im Schoß. Er war genauso geschmackvoll gekleidet, wie die Wohnung ausgestattet war: in einen grünen Cordanzug mit Einstecktuch und farblich passendem, etwas dunklerem Hemd und einer Krawatte mit einem floralen Muster. Es konnte nur so sein, dass hier die gestaltende Hand einer Frau am Werk war, von der man allerdings weder etwas hörte noch sah.
»Was ist – oder war – der Sinn Ihrer Bibelgruppe? Reicht es nicht, in die Kirche zu gehen, wenn man zu Gott beten will?«
»Der Sinn war, gemeinsam die Bibel zu lesen«, erwiderte von Lausing wie aus der Pistole geschossen. »Gemeinsam das Wort Gottes zu ergründen suchen und auf diese Weise seinen Glauben zu vertiefen und zu festigen, ihn unverwundbar zu machen gegen alle Anfechtungen, mit denen die Welt gegen ihn anstürmt. Das ist der Sinn. Beten dagegen … beten können Sie überall, dazu müssen Sie nicht in eine Kirche gehen.«
»Aber es hilft, oder?«
»Nein. Beten heißt, mit Gott zu sprechen. Da hilft Ihnen eine Kirche nichts.«
»Das klingt, als hätten Sie etwas gegen die Kirche.«
»Ich habe nichts gegen die Kirche an sich. Die Kirche bewahrt das Wort Gottes über die Zeitläufte hinweg. Aber ich habe durchaus etwas dagegen, sinnlose Rituale aufzuführen und so zu tun, als glaube man, während man in Wirklichkeit den weltlichen Dingen verhaftet bleibt. In dem Fall wäre es besser, man ließe es bleiben, denn dann lügt man wenigstens nicht noch zu allem hin.« Seine Stimme war schneidend geworden. Man konnte ihn sich gut als Prediger vorstellen, der die Sünden der Menschen mit harten Worten geißelte, sodass Kirchgänger schuldbewusst zusammenzuckten und beschlossen, sich in Zukunft zusammenzureißen und bessere Menschen zu sein.
Stetter nahm einen Keks. »Darf ich fragen, was Sie von Beruf sind?«
»Nichts. Ich habe Theologie studiert, promoviert und habilitiert, aber ich übe keinen Beruf aus.« Er verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln. »Ein gnädiges Schicksal wollte es, dass mir ein reiches Erbe zufiel, sodass ich niemals zu einem Broterwerb gezwungen war. Der soziale Anstand gebot mir, auch niemandem einen Arbeitsplatz wegzunehmen, der auf ihn angewiesen war.«
»Und wie ist dann Ihre Stellung in Bezug auf die Kirche? Ich meine, Sie benutzen das Gemeindehaus der Martin-Luther-Gemeinde in Stuttgart, Sie leiten dort eine Bibelgruppe …«
»Alles auf freiwilliger Basis. Wir entrichten einen Obolus an die Gemeinde für die Benutzung des Saals zweimal die Woche, und ich erlaube mir, diesen Obolus jeweils aus eigener Tasche um einen nennenswerten Betrag aufzustocken.«
»Ihr Bibelkreis ist also quasi unabhängig?«
»Wenn Sie so wollen, ja.«
»Wissen Sie«, sagte Stetter und lehnte sich zurück, »ich frage mich, ob Ihr Bibelkreis so etwas wie eine Sekte war.«
»Unsinn.« Diesen Vorwurf hörte er offensichtlich nicht zum ersten Mal. »Wir waren einfach nur ein paar Menschen, die gemeinsam das Wort Gottes erforschten. Darüber hinaus war nichts; jeder hat sein ganz normales Leben weitergelebt.«
Draußen bellte ein Hund, und ein quietschendes Geräusch durchschnitt die Stille, das Stetter als von einem automatischen Garagentor stammend identifizierte.
»Mein Nachbar«, erklärte von Lausing. »Fährt seinen Porsche spazieren. Ein dem Materiellen verhafteter Mensch, der einem leidtun kann.«
Stetter gedachte nicht, sich ablenken zu lassen. Er hatte das Gefühl, einer wichtigen Sache auf der Spur zu sein. »Was«, fragte er, »war der Grundgedanke? Was haben Sie gelehrt?«
»Ich habe nichts gelehrt. Gott uns etwas gelehrt.«
»Und was hat Gott Sie gelehrt?«
»Jesus sagt, wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben. Das ist der Grundgedanke, wenn Sie so wollen. Das klingt einfach, ist aber überaus schwer zu begreifen, wenn man es wirklich zutiefst verstehen will. An Gott zu glauben, an Jesus, den Erlöser, zu glauben – was bedeutet das? Und wieso kommt es nur darauf an? Denn so ist es. Wer glaubt, der hat das ewige Leben.«
»Die Mitglieder Ihres Bibelkreises hatten ein sehr kurzes Leben«, sagte Stetter. »Meine Aufgabe ist es, herauszufinden, wer es abgekürzt hat.«
»Nun, das müssen Sie natürlich tun«, sagte von Lausing gönnerhaft. »Aber es sind nicht meine Schäflein, um die ich mich sorge. Die sind bei Gott, ihnen kann nichts mehr geschehen. Der Täter – er ist es, um den man sich sorgen muss. Jemand, der einer solch abscheulichen Tat fähig ist, der imstande ist, das Leben so vieler Unschuldiger zu nehmen, der bedarf der Fürsorge, soll er nicht verloren gehen.«
Das, fand Stetter, war jetzt starker Tobak. Der redete ja noch schlimmer daher als die Psychofritzen, die immer alle Täter verstehen wollten und glaubten, dann sei alles gut.
»Ich sorge mich eher um seine eventuellen nächsten Opfer«, sagte Stetter. »Und ich will ihn deswegen hinter Schloss und Riegel wissen. Alles andere geht mich nichts an.«
Eberhard von Lausing sah ihn an, nickte voll tiefsten Verständnisses, faltete die Hände und fragte sanft: »Glauben Sie an Gott, Herr Kommissar?«
»An welchen?«, fragte Stetter.
»An Jesus Christus, der uns alle erlöst hat.«
»Nein.«
»Dann«, sagte von Lausing bedauernd, »sind Sie verloren. Egal, was Sie tun, egal, was für ein guter Mensch zu sein Sie sich bemühen – Sie werden nicht in den Himmel kommen nach Ihrem Tod und Sie werden nicht das ewige Leben haben.«
»Finden Sie das nicht ein bisschen hart? Ist eine solche Gnadenlosigkeit nicht Gottes unwürdig?«
Von Lausing schüttelte fassungslos den Kopf. »Aber im Gegenteil – sehen Sie denn nicht, was für eine Gnade hier wirkt? Es genügt, dass Sie glauben! Mehr ist nicht nötig. Sie brauchen nichts zu tun, nichts zu vollbringen; kein besonderes Talent, keine Stärke ist nötig, gar nichts – noch der Elendeste, Ärmste kann gerettet werden, wenn er nur glaubt, einfach nur daran glaubt, dass Jesus ihn schon gerettet hat! Das ist doch wahrhaft wunderbar!«
Stetter musste an Klara denken und wie sie sich abgemüht, ja geradezu zerfleischt hatte, ein guter, edler, gerechter Mensch zu sein, und ein Schmerz durchzuckte ihn, der ihn, so stand zu fürchten, für den Rest seines Lebens nicht mehr verlassen würde. »Wenn man aber nun Probleme damit hat, zu glauben? Weil: Das kann man ja nicht einfach beschließen. Man kann so tun als ob, aber ob man etwas glaubt oder nicht, das hängt doch wesentlich davon ab, ob einem etwas glaubwürdig erscheint oder nicht. Dafür kann man doch nichts. Und man kann auch nichts dagegen tun.«
»Na doch. Sie können in einen Bibelkreis gehen und das Wort Gottes ergründen. Das können Sie beschließen.«
»Und wenn einem auch der zu diesem Entschluss nötige Glaube fehlt?«
»Wenn Sie glauben, sind Sie gerettet, wenn Sie nicht glauben, sind Sie verloren. So einfach ist das. Das ist doch nicht schwer zu begreifen«, wunderte sich von Lausing.
Stetter wechselte einen Blick mit Lampert und sah, dass sie beide dasselbe dachten: Das reicht erst mal. Dicke. Nichts wie raus hier!


7


»Das ist ja vielleicht ein Vogel, Mann, Mann«, ächzte Lampert, als sie wieder im Wagen saßen. »Mit seinem Erlösungsgequatsche, also wirklich …« Er warf Stetter einen raschen Blick zu. »Meinst du, das ist so ein Fall von Sektenpsychose? Sozusagen das Jonestown von Stuttgart? Hieß doch so, damals, diese Sekte irgendwo im Urwald, wo sich alle umgebracht haben, oder?«
»Ja«, nickte Stetter. »Ich glaube, die hieß so.« Er seufzte. »Ich weiß nicht, was ich von dem Kerl halten soll. Lebt da wie die Made im Speck, will aber allen anderen erzählen, wo’s langgeht im Leben.« Er sah aus dem Fenster, beobachtete die Zahnradbahn, die sich gerade den Berg nach Degerloch hinaufquälte. »Auf der anderen Seite sage ich mir, dass es Menschen gibt, denen so eine Weltsicht gut tun kann. Klara zum Beispiel. Der hätte ein paar Gramm von seiner Medizin nicht geschadet.« Er lachte bitter auf. »Ich fürchte bloß, sie hätte genauso große Probleme damit gehabt, zu glauben, wie ich.«
»Mann, Werner«, meinte Lampert unbehaglich. »Du musst aufhören, dir Vorwürfe zu machen. Du konntest nichts dafür. Das ist zur Abwechslung mal was, was ich felsenfest glaube.«
Stetter sah den alten Freund dankbar an. Auch er war alt geworden. Früher hatte er noch in der Polizeimannschaft Fußball gespielt, war der Torjäger gewesen in den Duellen mit den Mannschaften anderer Bezirke oder in den traditionellen Spielen gegen Sträflingsmannschaften. Dafür war er mit bald 47 inzwischen zu alt, aber VfB-Fan war er immer noch.
»Halt mal da vorne irgendwo«, sagte Stetter. »Und lass uns gleich die Listen vergleichen.«
Seine heimliche Hoffnung war, dass auf einer der beiden Listen ein Namen fehlte und dass das ein Hinweis auf Motiv oder Täter oder beides lieferte. Ein falscher Toter, einer zu viel, einer zu wenig … Irgendeinen Anhaltspunkt brauchten sie schließlich!
Lampert hielt vor einem Garagentor am Straßenrand, und sie verglichen die beiden Listen.
Sie waren identisch. Sie waren sogar beide alphabetisch geordnet. Der einzige wesentliche Unterschied bestand darin, dass von Lausings Liste zusätzliche Adressen von Eltern, Geschwistern oder anderen Angehörigen enthielt, die es zu verständigen galt.
Das würde hilfreich sein. Wenn auch nicht unbedingt für die Aufklärung des Falls.
»Was hört man eigentlich von dem jungen Mann, der im Koma liegt?«, fiel Stetter ein.
Lampert zuckte mit den Achseln. »Die Ärzte sind zuversichtlich. Aber es wird noch dauern.«
»Hmm«, machte Stetter unzufrieden.
Ein junges Pärchen ging vorbei, beide in bunten Strickpullovern und Arm in Arm, und beide warfen ihnen böse Blicke zu, offensichtlich wegen ihres laufenden Motors. Umweltverschmutzer!, sagte der Blick.
Das war auch so etwas, an dem Klara verzweifelt war: Dass man nicht leben konnte, ohne die Umwelt zu verschmutzen. Man konnte es mehr oder weniger schlimm treiben, aber bereits die bloße Existenz eines Menschen stellte, so hatte sie es einmal ausgedrückt, eine Umweltverschmutzung dar, eine Belastung der natürlichen Ressourcen des Planeten. Aus diesem Zwiespalt hatte sie irgendwann keinen Ausweg mehr gefunden.
Aber Lampert hatte recht. Es brachte nichts, wenn er sich Vorwürfe machte.
Es galt, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Das Hier und Jetzt zählte. Dieser Fall. Stetter ging die Liste durch und merkte, dass sein Blick immer wieder auf einem Namen hängen blieb.
»Wir sollten allmählich weiter«, meinte Lampert. »Susanne wartet mit dem Essen. Und sie freut sich schon drauf, dich mal wieder zu sehen.«
»Warte mal.« Stetter tippte auf das Papier. »Hier, diese Türkin. Gülan Gulkian. 28 Jahre alt. Das ist schon mal auffallend, weil die meisten Türken Muslime sind, und Muslime, die zu einer anderen Religion konvertieren, werden ,wie wir ja mittlerweile zur Genüge wissen ,nicht selten mit dem Tod bedroht.« Er hielt ihm die Liste hin. »Und dann steht hier auf von Lausings Liste der Name und die Adresse eines Ex-Ehemanns. Mit anderen Worten, diese Gulkian war geschieden und ist vermutlich konvertiert. Also – ich weiß ja nicht, wie es hier in Stuttgart zugeht, aber zumindest in Berlin wären das sogar zwei mögliche Motive für einen Mord.«
»Scheiße«, murmelte Lampert. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Irgend so ein durchgeknallter Islamist. Ich seh schon die Schlagzeilen. Und den Innenminister, wie er wieder vor Terrorgefahren warnt …«
»Trotzdem«, beharrte Stetter. »Lass uns bei diesem Ex-Ehemann anfangen.« Er faltete die Liste zusammen. »Aber nicht mehr heute. Komm, das Osteressen wartet!«

8


Das Lamm, das Susanne zubereitet hatte, hatte duftete einem schon von der Wohnungstür entgegen.
»Na, endlich«, meinte sie, als sie kamen, und umarmte Stetter wie eh und je.
Es war, als sei keine Zeit vergangen. Sie saßen um den alten Tisch im Wohnzimmer, alles war schön gedeckt, voller heidnischer Symbole wie Eier und Osterhasen und Palmkätzchenzweige, in lustigen, bunten Farben.
Nur, dass jemand die Kinder groß gehext hatte.
Felix, der Ältere, war zu einem schlaksigen, maulfaulen Burschen herangewachsen, der Stetter artig die Hand gab und wirkte, als hätte er den Tag lieber vor einem Computer mit einem Ballerspiel verbracht. Theresa war hübsch geworden und herrlich schüchtern, weil sie ihn nicht mehr kannte. Erst, als er ihr ein paar Geschichten von früher erzählte, taute sie ein bisschen auf, und zumindest tat sie so, als würde sie sich an ihn erinnern. Er hätte den beiden gerne was mitgebracht, aber auch das hatte der Täter, der siebzehn Menschen in einem kirchlichen Gemeindehaus umgebracht hatte, vereitelt: Das hatte für gestern auf dem Plan gestanden – Geschenke besorgen!
Beim Essen fragte ihn Susanne alles noch einmal, was ihn Lampert schon gefragt hatte – wie es weiterginge, ob er nun in Stuttgart bleiben würde und so fort –, und er erzählte den beiden von der Wohnung, die er sich gestern angeschaut hatte und wie gut sie ihm gefiel. Dass er vielleicht auf Anhieb den Treffer gelandet hatte.
»Wo denn?«, fragte Susanne, und er sagte es ihr.
»Oh«, machte sie und warf ihrem Mann einen Hilfe suchenden Blick zu.
»Hab ich was Falsches gesagt?«, fragte Stetter.
»Du musst aufpassen«, sagte Lampert. »Hab ich vergessen, dir zu sagen. Es werden grade ziemlich viele Wohnungen angeboten, die man nur an Wochenenden besichtigen kann.«
»Wieso? Was heißt das?«
»Dass du dir die Gegend unbedingt noch an einem Werktag anschauen solltest, ehe du was entscheidest. Wie da der Verkehr ist.«
»Wegen der Bauarbeiten am Bahnhof«, erklärte Susanne. »Seit die angefangen haben, fahren täglich über dreitausend Laster zusätzlich aus Stuttgart raus und wieder rein. Damit der Verkehr nicht ganz zusammenbricht, folgt ein Teil von denen besonderen Routen, die teilweise auch durch Wohngebiete gehen. Einfach, weil kein Platz mehr auf den anderen Straßen ist. Und die Leute, die an diesen Routen wohnen, drehen schier durch.«
»Der Witz ist, dass das noch jahrelang so weitergehen wird«, sagte Lampert. »Jetzt schachten sie die beiden großen Gruben am Bahnhof aus. Das heißt, Millionen Tonnen Erdreich müssen auf Laster verladen und abtransportiert werden – logisch, im Stadtzentrum ist ja kein Platz dafür. Dann werden die unterirdischen Anlagen gebaut, und wenn die fertig sind, muss das alles zum größten Teil wieder mit Erdreich aufgefüllt werden. Dafür werden die Laster nochmal fahren, nur diesmal voll, wenn sie in die Stadt reinfahren, und leer, wenn sie wieder rausfahren. Und wer weiß, ob es bei zehn Jahren Bauzeit bleibt!«
»Also verkaufen jetzt Leute entlang dieser Strecken, die es nicht mehr aushalten«, sagte Susanne. »Und die Makler zeigen diese Wohnungen vorzugsweise an Sonntagen, damit man nichts von dem Verkehr unter der Woche merkt.«
»Na, aber abends wird es doch irgendwann ruhiger werden, oder?«, fragte Stetter. »Ich meine, ich bin den Tag über sowieso nicht zu Hause, das würde mir nicht so viel ausmachen …«
»Aber du hast auch mal Urlaub, oder Schichtdienst … Und ja, es hört abends auf – ab ein Uhr nachts.«
Stetter riss die Augen auf. »Ab ein Uhr nachts?«
»Die sind im Verzug, jetzt schon. Ich meine, komm, die bauen die halbe Stadt um! Und das ist alles schwierigster Baugrund – da laufen unterirdische Bäche, da liegen Mineralwasserquellen… Und durch den ganzen Krempel wollen die den längsten Eisenbahntunnel der Welt bauen! Ich meine, es wär ja ein Wunder, wenn da alles glattginge. Nein, die fahren Spätschichten bis zum Anschlag.«
Stetter kaute nachdenklich auf einem Stück Lammfleisch. »Das ist ja ein ziemliches Ding mit diesem Stuttgart 21, oder?«
»Das kannst du aber singen«, meinte Lampert.
»Stuttgart wird dafür mal der modernste Bahnhof Europas«, warf Felix ein. »Und angeschlossen an die Hochgeschwindigkeitsstrecke von Paris nach Budapest.«
»Sagen sie. Tatsächlich ist das Stuttgart jetzt schon, einfach, weil es auf dem Weg liegt«, meinte Lampert. »Sie bauen eine Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Ulm, da ist man dann in einer halben Stunde dort. Allerdings wäre man das auch mit einem Kopfbahnhof.«
Stetter nickte. »Ich fand das ganze Projekt von Anfang an seltsam«, meinte er. »Schon, als ich das erste Mal davon gehört habe. Ich meine, es ist doch so: Jede wichtige Stadt in Deutschland hat einen Kopfbahnhof. München. Frankfurt. Leipzig. Dresden. Und so weiter. Oder Paris – die haben nur Kopfbahnhöfe, und davon gleich sechs Stück! Ich habe nie verstanden, wieso Stuttgart, das doch seit jeher einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber den anderen deutschen Hauptstädten pflegt, das eine Olympiade ausrichten wollte und was weiß ich – dass ausgerechnet dieses Stuttgart sich selber degradiert, indem es den Kopfbahnhof, den es glücklicherweise schon hat, einfach aufgibt! Und auch noch Milliarden dafür ausgibt. Das wollte mir noch nie in den Kopf. Ich habe immer gedacht, das sei ein Hirnfurz und es kommt nie so weit. Gut, heutzutage werden keine Kopfbahnhöfe mehr gebaut; es muss ja immer schnell gehen. Aber wenn man schon einen hat … Und jetzt haben die tatsächlich damit angefangen.«
»Ja. Und jetzt ist es unaufhaltsam. Jetzt muss man durch.«

9


Der geschiedene Ehemann der Türkin, ein Mann namens Hassan Gulkian, war bereit, sie am Ostermontag zu empfangen. »Da habe ich mehr Zeit als sonst«, meinte er am Telefon. Er sprach eine interessante Mischung aus Deutsch, Schwäbisch und türkischem Dialekt, den Stetter aus Berlin, das auch als die Hauptstadt der Türken außerhalb der Türkei galt, so nicht kannte.
Gulkian empfing sie in einem dreistöckigen, unscheinbaren Haus im Stuttgarter Süden, das vom Keller bis zum Dach von Angehörigen der Familie Gulkian bewohnt wurde – Eltern, eine Großmutter, Neffen, Brüder und ihre Familien und so weiter. Von dem Moment an, in dem sich die Tür öffnete, tauchten Stetter und Lampert ein in eine lebhafte Kakofonie aus Kindergeschrei, türkischer Musik, Essensdüften und plappernden Fernsehapparaten, die via Satellit türkisches Fernsehen in die gute Stube brachten.
Gulkian war ein dynamisch wirkender, jung aussehender Mann; allenfalls der leichte Rückgang seines Haaransatzes verriet, dass er schon auf die vierzig zuging. Er stellte ihnen zahllose Leute vor, unter anderem seine Eltern (seine Mutter musterte die Polizisten mit grimmigem Gesichtsausdruck, so, als wolle sie sagen, »ihr kriegt meinen Sohn nicht!«), den Mann der Schwägerin seines Bruders (oder so ähnlich) und viele mehr, dann zogen sie sich zusammen mit Gulkian, seinem Vater und einem großen, handgearbeitet wirkenden Tablett aus Messing, auf dem Gläser mit süßem Tee und Teller mit noch süßerem Konfekt standen, in Gulkians Arbeitszimmer zurück.
Das war eine wilde Mischung aus türkischem Plüsch und abendländischer Hightech: mehrere Computer, Flachbildschirme und ein Designerschreibtisch auf der einen Seite, ein ausladendes weiches Sofa mit Troddeln und bunten Kissen, niedrige Tische und jede Menge Teppiche auf der anderen.
»Das mit Gülan tut mir sehr leid«, erklärte Gulkian, und Stetter las echten Schmerz im Blick des Türken. »Sie war eine gute Frau, lustig, schön … Schade, dass wir nicht zusammengepasst haben. Sie hätte jemanden gebraucht, der sich mehr um sie kümmert. Ich bin immer in Geschäften unterwegs, das ist nicht gut für die Ehe.«
Sein Vater sagte etwas auf Türkisch, in barschem Ton, worauf Gulkian ihm die Hand auf den Arm legte und beruhigend auf ihn einsprach. »Es war nicht ihre Schuld. Frauen sind nicht immer an allem schuld, Vater.« Er verdrehte leicht die Augen, aber so, dass sein Vater es nicht sah, nur die beiden Polizisten.
»Was sind das für Geschäfte, die Sie betreiben, wenn ich fragen darf?«, begann Stetter.
»Meine Familie betreibt schon lange einige Imbissbuden in der Innenstadt. Die gehen gut, aber es ist immer etwas zu tun – Geräte reparieren, Schlägereien schlichten, Leute einstellen und so weiter. Außerdem haben wir ein Restaurant im Westen. Ich selber allerdings und mein Vater handeln mit Immobilien, das ist sozusagen die cash cow

der Familie.«
»Immobilien?«, wiederholte Stetter. Einen Moment lang hatte er die verrückte Idee, dass sich es sich womöglich auf diesem Wege ergeben mochte, dass er zu seiner idealen Wohnung fand.
»Industriegelände«, sagte der Vater, der ein wesentlich türkischeres Deutsch sprach als sein Sohn. »Wir schauen uns an, wie Firmen sich entwickeln und überlegen, wann sie … ähm, sich expandieren wollen, weil ihr Gelände zu klein. Sie verstehen? Wir kaufen rechtzeitig Grundstück daneben billig und wenn so weit, wir verkaufen es teuer an diese Firma.«
Der junge Gulkian grinste. »Das ist eine Art Geschäft, das man hier in der Stadt nur als Türke betreiben kann. In jeder Firma arbeiten Türken, und bei denen muss man sich umhören, was so vor sich geht. Nur so erfahren Sie die entscheidenden Dinge. Wie voll die Lager sind, wie hoch der Durchsatz ist, was für Umbaupläne bestehen und so weiter.«
»Verstehe«, meinte Stetter.
»Raffiniert«, gab Lampert zu. »Tja, dann bleib ich wohl lieber Polizist.«
»Beste Geschäft wir haben gemacht mit Bahnhof«, fuhr der Vater würdevoll fort. »Damals, als der Plan aufgekommen ist … als jemand ihn sich ausgedacht hat, und alle haben gesagt, so ein Unsinn, das kommt nie …« Er tippte sich an die mit Anzug und Krawatte bekleidete Brust. »Ich habe gewusst, das kommt. Ich habe Grundstücke gekauft, rechtzeitig, billig. Und dann, als sie meine Grundstücke gebraucht haben – gutes Geschäft. Nicht die großen Flächen! Die konnte man nicht kaufen. Wäre außerdem gefährlich gewesen, war Gefahr, dass man enteignet wird. Aber ich habe mir überlegt, wie die das bauen werden. Wo sie Maschinen aufstellen müssen und so weiter. Da habe ich gekauft. Klug. Man muss das klug anpacken. Sonst geht es nicht. Das kann nicht jeder.«
Stetter nickte. Einen Moment lang war etwas wie Neid in ihm aufgestiegen, Neid auf das leichte, schnelle Geld, aber so leicht und so schnell schien das auch wieder nicht zu gehen; man musste sich schon mit Leib und Seele hineinhängen, so wie es dieser alte Türke wohl getan hatte, und das war etwas, von dem Stetter wusste, dass er dazu ohnehin nie bereit gewesen wäre. Also bestand auch kein Grund zu Neid mehr. Er war Polizist: Das war das, woran er sein Herz gehängt hatte, wo er mit Leib und Seele dabei war. Irgendwie war es erleichternd, sich das ab und zu klarzumachen.
»Ich würde gerne noch mal auf Ihre geschiedene Frau zurückkommen«, sagte Stetter. »Wie lange waren Sie verheiratet?«
»Vier Jahre etwa«, erwiderte Gulkian. »Wobei wir das letzte Jahr getrennt gelebt hatten. »
»Haben Sie seither wieder geheiratet?«
»Nein. Ich …« Seine Stimme senkte sich. »Ich bin da noch nicht richtig drüber weg, fürchte ich. Ich vergrabe mich gerade in die Arbeit, wenn Sie verstehen.«
»Wie sehen Sie Ihre Scheidung? Als Problem?«
»Wie meinen Sie das?«
Stetter seufzte. »Ich habe die letzten achtzehn Jahre in Berlin gearbeitet. Da habe ich Fälle erlebt, in denen der Versuch einer Frau, sich von ihrem Mann zu trennen, mit ihrer Ermordung geendet hat. Mehr als einmal.«
Gulkian nickte und seufzte ebenfalls. »Ja, das …« Er schüttelte den Kopf. »Das sind Hinterwäldler, die noch so ticken. Aus Anatolien. Bauern. Dumme Leute. Wir stammen aus Istanbul, verstehen Sie? Dort war schon zu Zeiten meines Vaters eine Scheidung eine Sache, die halt passiert. Erst recht heute. Ich meine, die modernen Zeiten sind einfach schwierig, oder? Da passiert so etwas. Und nun ist es eben mir passiert.«
»Könnte es jemand anderen geben, für den das ein Mordmotiv wäre? Einen Verwandten Ihrer Ex-Frau?«
»Was? Nein. Ich habe ab und zu noch mit Gülans Familie Kontakt. Ich meine, gut, die waren nicht gerade begeistert von unserer Hochzeit, genauso wenig wie meine Eltern, weil ich Moslem bin und Gülan Christin …«
»Sie war Christin?«, entfuhr es Lampert.
»Ja«, sagte Gulkian. »Ihre Familie stammt aus Armenien. Dort sind viele orthodoxe Christen.« Er hob die Schultern. »Ich bin aber kein guter Moslem. Ich esse Schweinefleisch, trinke Alkohol und bete nie … Na ja. Keine Zeit. Die Geschäfte.«
Stetter musterte die beiden. War es möglich, dass sie ihm was vorspielten? Die Antwort: Ja, das war möglich. Er hatte so etwas erlebt. Türkische Familien hielten in einer Weise zusammen, wie man das als Deutscher praktisch nicht kannte; waren imstande, sich wie eine Wagenburg gegen die als feindlich empfundene Außenwelt einzuigeln und mit allen Mitteln zu kämpfen, auch mit dem der dreisten Lüge.
Er räusperte sich. »Ich muss Sie das trotzdem fragen, Herr Gulkian«, fuhr er fort. »Wo waren Sie am Karfreitagabend?«
Gulkian hob die Augenbrauen, lächelte wehmütig. »Ich fürchte, ich habe ein wasserdichtes Alibi, wie Sie das wohl nennen. Oder nennt man das nur im Fernsehen so?«
»Nein, wir benutzen den Begriff auch«, sagte Stetter. »Und was ist das für ein wasserdichtes Alibi?«
»Mein Vater und ich waren beim Oberbürgermeister zu Gast.«

10


Das Alibi war tatsächlich wasserdicht. Sie fragten beim Oberbürgermeister nach, und der bestätigte, dass er am Abend des Karfreitags mehrere wichtige Stuttgarter Unternehmer »mit Migrationshintergrund«, wie er sich ausdrückte, zu einem Abendessen empfangen hatte. »Dafür eignet sich der Karfreitag gut, weil Moslems und Asiaten und so weiter den nicht feiern«, erklärte er Stetter am Telefon. Und der Empfang habe bis etwa halb zwölf Uhr gedauert.
»Das ist tatsächlich ziemlich hieb- und stichfest«, meinte Lampert.
Sie saßen in Lamperts Büro und hatten begonnen, die Pinnwand mit den relevanten Informationen zu bestücken – Fotos des Schauplatzes, Namenslisten und so weiter.
»Ich weiß nicht«, meinte Stetter grübelnd. »Der Vorteil, wenn man Gift verwendet, ist ja eben, dass man nicht am Tatort sein muss, wenn es geschieht. Man muss nur irgendwann das Gift an die richtige Stelle bringen.«
Er streckte sich, dehnte den Nacken, der verspannt war von dem schlechten Hotelbett.
»Aber trotzdem scheint mir das doch eher eine nicht so heiße Spur zu sein. Da ticken die Leute hier in Stuttgart offenbar tatsächlich anders als in Berlin. Dieser Gulkian hat mir eher ausgesehen wie jemand, der, wenn er jemanden umbringen wollte, ihn erschießen – oder erschießen lassen – würde. Gift, und dazu so einen raffinierten Cocktail, das ist … Nein, das passt nicht.« Er legte die Hände vor dem Mund zusammen, atmete geräuschvoll zwischen ihnen hindurch und starrte die Wand mit den Informationen an. »Und wenn wir doch von einem Selbstmord ausgehen? Wenn jemand aus dieser Runde beschlossen hat, sich umzubringen und die anderen mitzunehmen, aus welchem Grund auch immer? Das würde vielleicht diesen Cocktail erklären. Den sanften Tod, wie Dr. Beil gesagt hat.«
»Hauptverdächtig wäre dann die Person, die den Wein besorgt hat.«
»Genau. Bloß wissen wir nicht, wer das war, oder?«
»Stein sagte, eine der Frauen.« Lampert konsultierte die Liste. »Davon haben wir acht.«
»Und was sind das für Frauen?«
Lampert las vor. »Also, da ist eine Maike Dürr, 27 Jahre, Kassiererin bei ALDI. Dort gibt es diesen Wein allerdings nicht.«
»Also wenig wahrscheinlich.«
»Eine Tanja Kiedewitz, 19 Jahre, Krankenschwesternschülerin. Die hätte theoretisch Zugang zu Drogen und Arzneimitteln gehabt, wenn sie’s schlau angestellt hat.«
»Die merken wir uns mal vor.«
»Eine Sabine Löss, 51 Jahre, Abteilungsleiterin in einem Kaufhaus in Sindelfingen.«
»Hmm.«
»Eine Petra Wagenradt, 45 Jahre, Sachbearbeiterin bei einer Versicherung.«
»Schwer vorstellbar.«
»Denk ich auch. Dann eine Helga Wang, 61 Jahre, als Beruf steht hier ‘Künstlerin’.«
»Alles nicht so prickelnd verdächtig.«
»Und schließlich eine Claudia Wandel, 35 Jahre, Hausfrau, und eine Ilse Schmalschwert, 67 Jahre, Rentnerin.« Lampert legte die Liste beiseite. »Das sieht nach viel Arbeit aus.«
»Trotzdem«, beharrte Stetter und rieb sich die Wange. »Das ist die Spur. Um diesen Giftcocktail zu brauen, muss jemand gebildet genug sein, um zu verstehen, was und wie man das mischen muss, und er muss Zugang zu den entsprechenden Medikamenten gehabt haben. Also müssen wir herausfinden, wer dafür infrage kommt. Dieser Stein soll sein Hirn noch mal anstrengen …«
Das Telefon auf dem Schreibtisch läutete. Lampert nahm ab, lauschte, verzog das Gesicht.
»Das Krankenhaus«, sagte er, als er wieder auflegte. »Der Junge, der im Koma gelegen hat, ist jetzt auch gestorben.«

11


Stetter ging nicht gern in Krankenhäuser. Er war noch nie gern in Krankenhäuser gegangen, und nach den letzten Jahren, nach allem, was er mitgemacht hatte in dem verzweifelten Versuch, Klara zu retten, erst recht nicht mehr. Der typische Geruch nach Desinfektionsmitteln, Krankheiten und menschlichen Ausdünstungen, der ihnen entgegenschlug, als sich die gläserne Schiebetür des Robert-Bosch-Krankenhauses vor ihnen öffnete, durchfuhr ihn wie ein Schlag.
»Mach du das, bitte«, murmelte er Lampert zu, und wie früher verstand ihn sein Partner ohne ein weiteres Wort. Ging zur Pforte, zeigte seinen Ausweis vor, der Mann hinter der Glasscheibe griff zum Telefon, und gleich darauf kam ein etwas dicklicher Oberarzt mit wehendem Kittel an, um sie zu führen. OA Dr. med. Becker

stand auf dem Namensschild an seiner Brusttasche.
»Wir dachten ehrlich, wir kriegen ihn durch«, meinte er, als sie im Aufzug standen. Es ging abwärts. »Ich hätte was darauf gewettet. Aber so ist das eben. Man weiß es nie wirklich.«
»Niemand macht Ihnen einen Vorwurf«, sagte Stetter.
Unten im Kellerbereich war es erstaunlicherweise besser zu ertragen. Es war kalt, natürlich, und grau und düster, weil man es sich erspart hatte, die Wände zu streichen. Aber es stank nicht mehr so.
Der Arzt öffnete eine Tür am Ende eines Ganges. »Nicht wirklich schön, aber wir arbeiten daran. Nächstes Jahr sollen wir ein offizielles Totenzimmer bekommen«, erklärte er und schüttelte den Kopf. »Allerdings muss ich dazu ehrlicherweise sagen, dass man das schon seit Jahren hört. Irgendwie traut sich niemand richtig ran an das Thema.«
»Na ja«, meinte Stetter. »Das ist nicht so ungewöhnlich.«
Der junge Mann lag allein in dem Raum, in den noch einmal drei Betten hineingepasst hätten. Die Wände waren weiß gestrichen, es gab ein paar Stühle und zwei Kleiderhaken; das war alles. Kein Kreuz, kein sonstiger Schmuck. Wirklich nicht besonders schön, dachte Stetter. Und so stirbt man dann. Das haben wir als Gesellschaft, als Kultur, als Zivilisation wahrhaft nicht gut hingekriegt.
Der tote Junge lag da, das Gesicht nicht abgedeckt, fast so, als schliefe er. Aber man spürte sofort, dass er tot war, dass da nur ein Körper lag ohne jedes Leben. Stetter kannte das: Einen Raum zu betreten, der sich »leer« anfühlte, und darin Leichen vorzufinden. Eigentlich war es dieses Missverhältnis zwischen dem, was die Augen sahen, und dem, was man körperlich spürte, das wesentlich zu dem Schrecken einer solchen Entdeckung beitrug.
»Wir decken die Gesichter ab, während wir sie herunter transportieren«, erklärte der Arzt. »Hier unten decken wir sie aber wieder auf. Es sei denn, die Familie wünscht es nicht.«
Stetter trat an das Bett, sah auf den jungen Mann hinunter, der hatte sterben müssen, weil er in einem Bibelkreis hatte herausfinden wollen, wie er richtig leben sollte. Sein Name war Holger Scheible, er war 23 Jahre alt geworden, und auf der Liste von Lausings war als Beruf »Student« angegeben, was in seltsamen Widerspruch zu seiner grobschlächtigen Erscheinung stand. Er hatte große, schwielige Hände, breite Schultern, muskulöse Arme und ein kantiges, irgendwie unebenes Gesicht. Alles in allem sah er eher aus wie ein junger Bauarbeiter mit einer Neigung zu Kneipenschlägereien als wie ein Student.
»Wer war vor seinem Tod zuletzt bei ihm?«, fragte Stetter.
Der Arzt stutzte. »Also, das müsste … Hmm. Seine Eltern waren ständig da, mit kurzen Unterbrechungen, und ansonsten …«
»Ist er bewacht worden?«
»Wir hatten ihn in einem abgeschlossenen Trakt untergebracht. Normalerweise sind da Bestrahlungspatienten, aber gerade haben wir keine, wegen Ostern und so … Wir haben ein Zugangsbuch, jedenfalls. Da kann man nicht ohne Weiteres rein. Ich werde das nachprüfen lassen«, versprach der Arzt.
»Danke«, sagte Stetter.
»Du, Werner«, meinte Lampert mit einem Blick auf die Uhr. »Ich fürchte, ich sollte dann mal …«
Stetter lächelte. »Wer spielt? Der VfB?«
»Na, nicht gerade am Ostermontag. Nein, ein paar Kumpels aus der alten Mannschaft treffen sich heute. Das war schon ewig ausgemacht und, na ja, ich meine, im Augenblick … Es sind alle tot, das werden sie sicher auch bleiben …«
»Geh ruhig.« Stetter griff sich einen der Plastikstühle. Immerhin, die waren grau und nicht knallorange wie sonst überall im Krankenhaus. »Ich werde noch eine Weile hier sitzen bleiben und Wache halten. Vielleicht flüstert mir sein Geist ja einen hilfreichen Tipp zu.«
»Ehrlich? Soll ich dich nicht lieber mitnehmen in die Stadt runter?« Lampert war das personifizierte schlechte Gewissen.
»Ich nehm mir ein Taxi. Kein Problem, wirklich. Viel Spaß.« Er sah den Arzt an. »Oder ist es aus Ihrer Sicht ein Problem, wenn ich noch etwas hier bleibe?«
»Nein«, meinte der mit einem Kopfschütteln, das an ein epileptisches Zucken denken ließ. »Nein, absolut nicht. Dafür ist der Raum ja eigentlich gedacht. Auch wenn er, offen gesagt, selten dafür genutzt wird.«

12


Stetter schreckte hoch, als die Tür aufging, und begriff, dass er eingeschlafen sein musste. Er zog fröstelnd die Schultern nach vorn, sah sich um, auf das Bett mit dem toten, stillen Jungen darin, auf die kahlen Wände …
Es war die Pathologin. Dr. Beil. Nadja. Sie stand in der offenen Tür, musterte ihn mit einem teils spöttischen, teils verwunderten Ausdruck auf dem Gesicht. »Na so was«, sagte sie schließlich. »Wenn das nicht der neue Kollege ist …« Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde skeptisch. »Das war doch nicht etwa jemand, den Sie kannten?«
»Wie?« Stetter war immer noch dabei, sich wieder zu fangen, sah zu dem jungen Mann hin, schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, ich … Nein. Es ist nicht deswegen. Ich sitze nur hier, weil …« Er hob die Schultern. »Ich weiß auch nicht. Mir war danach. Es war so viel los die letzten Tage, und ich bin gerade erst angekommen …«
»Ah.« Sie schloss die Tür hinter sich, kam näher. Sie trug Schuhe mit harten Sohlen, die harte, scharfe Schrittgeräusche machten. Und sie trug keinen Laborkittel mehr, dafür einen weißen Mantel, der so ähnlich aussah, aber aus glänzendem Kunstleder war.
Der Todesengel, gekommen, sein nächstes Opfer heimzuholen.
»Ja, viel los war allerdings«, sagte sie. »Bestimmt das arbeitsamste Ostern meines Lebens.«
»Haben Sie irgendwas Neues herausgefunden?«, fragte Stetter. Er stand jetzt auch auf, bewegte die Schultern, um die Kälte zu vertreiben, die sich darin eingenistet hatte.
»Diverse Wehwehchen bei diversen Leuten«, sagte sie. »Ein Prostatakarzinom bei dem alten Mann, dessen Name mir gerade nicht einfällt … Höhl, genau, Heinrich Höhl. Aber nicht groß, nicht gravierend, wahrscheinlich noch gar nicht entdeckt – dazu müsste man seinen Hausarzt befragen –, und jedenfalls nichts Ungewöhnliches bei einem Mann von 79 Jahren. Ansonsten nichts, was mich jetzt auf Anhieb alarmieren würde. Keine Giftspuren an Fingerspitzen, keine Einstiche oder dergleichen.«
»Verstehe«, sagte Stetter. Da standen sie nun, am Bett des toten jungen Studenten, der aussah wie ein Bauarbeiter, und Stille breitete sich wieder aus, als hätten sie sie mit ihrem Wortwechsel nur kurz verdrängt und als kehre sie nun zurück wie eine Brandungswoge.
»Haben Sie eine Vorstellung, was hinter dem allen stecken könnte?«, fragte Stetter schließlich.
Sie schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass …« Sie verstummte, biss sich auf die Lippen. »Ach, das ist Unsinn.«
»Was?«, hakte Stetter nach. »Was ist Unsinn?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nichts. Nicht wichtig. Nur ein Gefühl, ein komisches.«
»Manchmal sind Gefühle Wegweiser. Vor allem komische. Solche, die zu nichts passen. Wäre nicht das erste Mal, bestimmt nicht.«
Sie musterte ihn überrascht. »Sie kennen das?«
Stetter sah beiseite, musste an Klara denken, an früher. »Besser, als mir lieb ist.«
»Ich habe manchmal das Gefühl«, sagte sie schließlich, behutsam, so, als traue sie der Sache noch nicht und rechne damit, gleich ausgelacht zu werden, »wobei das weniger ist als ein Gefühl, eher so etwas wie … hmm … wie wenn irgendwo ein Fenster offensteht, durch das ein kalter Hauch hereinkommt und einen zum Frösteln bringt, ohne dass man weiß, wieso. Kennen Sie das? Da ist nur dieser Hauch, man weiß nicht, woher er kommt und wie lange er schon da ist; alles, was man weiß, ist, dass einen fröstelt. Und so geht es mir, lachen Sie nicht, mit diesem Bauprojekt. Dem Bahnhof. Seit die diese Grube da unten gegraben haben – bis zum Mittelpunkt der Erde, hat man das Gefühl, wenn man am Zaun steht –, seither spinnen die Leute hier in der Stadt. Seither passieren hier Dinge, die früher nicht passiert sind.«
Stetter konnte nicht verhindern, dass ihm ein Schauder über den Rücken lief bei ihren Worten, aber er sagte sich, dass das bestimmt nur von der Kälte hier unten kam. »Was für Dinge?«
»Morde, wie ich sie in den Jahren davor nicht erlebt habe. Dass jemand sein Opfer regelrecht ausweidet, zum Beispiel. Davon liest man immer nur in schlechten Romanen, aber vorigen Monat hat das tatsächlich einer gemacht. Hat seine Freundin vom Schritt bis zur Kehle aufgeschlitzt und ihre Eingeweide herausgezogen. Anschließend hat er sich selber umgebracht, auf ganz ähnliche Weise. Bloß ist er nicht weiter als bis zu seinem Brustbein gekommen, dann war er verblutet.«
Stetter verzog das Gesicht. »Weiß man, warum?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Schaurig«, gab Stetter zu. »Aber solche Dinge passieren.«
»Es sind nicht nur Morde.« Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Neulich habe ich gesehen, wie ein Junge in einer Straßenbahn einer alten Oma ein Bein stellt. Ich meine, geht’s noch? Stellt sein Bein raus und sieht ungerührt zu, wie eine achtzigjährige Frau auf die Nase fällt. Ich bin natürlich dazwischen, aber ich konnte sie nicht mehr auffangen; sie hat sich alles Mögliche gebrochen. Ich konnte mir nur den Jungen schnappen und an den nächsten Polizisten übergeben, aber der Junge war erst zehn Jahre alt, was will man da machen?«
»Hmm«, sagte Stetter. Ein kalter Hauch. Er dachte zurück an den Karfreitagabend und an seine Ankunft am Bahnhof. An den Moment, als er im Regen auf die bunten Ameisen am Grund der Baugrube hinabgeschaut hatte.
Er wusste nicht mehr, was für ein Gefühl er dabei gehabt hatte. Er war zu sehr mit sich selber beschäftigt gewesen.
Es kam ihm ganz unglaublich vor, dass das erst drei Tage her war.
»Ein Höllenschlund, meinen Sie?«, sagte er leise. »Als hätte man einen Dämon befreit?«
»So ähnlich.« Sie lachte auf. »Wobei mir natürlich klar ist, dass das Unsinn ist …«
»Wissen Sie, was ich daran bemerkenswert finde?«, meinte Stetter. »Nicht diese Idee an sich. Das geht mir manchmal auch so, dass ich denke, jetzt ist es passiert, jetzt hat Gott der Welt endgültig den Rücken gekehrt und die Menschen sich selbst überlassen, und nun werden sie sich alle gegenseitig an die Gurgel gehen, bis niemand mehr übrig ist … Dabei glaube ich nicht mal an Gott, das ist das Verrückte. Es ist nur dieses Bild; das muss irgendwie älter sein als wir. Nein, was mich wundert, ist …« Er zögerte, warf ihr einen raschen Seitenblick zu. »Bitte seien Sie mir nicht böse. Mich wundert, dass Sie so etwas empfinden. Die meisten Pathologen, die ich kenne, sind ziemlich abgestumpfte Kerle, und ich dachte immer, das muss man auch sein mit diesem Beruf. Dass man sich eine Art seelischen Panzer zulegen muss, so wie Polizisten das ja generell tun. Aber wenn man den ganzen Tag lang Leichen aufschnibbelt, ist das noch mal was anderes, glaube ich.«
Ihre perfekten Augenbrauen hoben sich einen ausdrucksvollen Millimeter weit. »Das ist die Herausforderung dieses Berufs«, meinte sie leise, und wie immer nicht ohne einen spöttischen Unterton. »Man kann daran abstumpfen, oder man kann daran wachsen. So sehe ich das jedenfalls. Und ich bemühe mich, daran zu wachsen. Ja, klar, man schneidet jeden Tag tote Leute auf. Das ist erst mal grauenerregend. Aber ob Sie’s glauben oder nicht, man kann an einen Punkt kommen, an dem sich die eigenen Vorstellungen davon, was grauenerregend ist, verändern. Man hört auf, das Innere eines Körpers grauenerregend zu finden, oder eklig, oder abstoßend … Man begreift, dass das im Gegenteil ganz normal ist. Das ist das Leben, verstehen Sie? Wir alle sind so gemacht, jeder Einzelne. Das ist das, was ich den meisten voraushabe. Die meisten Menschen denken von sich nur als von der Erscheinung, die sie im Spiegel sehen. Sie denken, sie sind ihre Haut. Aber natürlich sind wir nicht nur unsere Haut. Wir sind alles – auch die Eingeweide, die Blutbahnen, die Nerven, die diversen Flüssigkeiten in uns.«
Stetter musterte sie nachdenklich. »Ist das nicht im Grunde eine Definition von Abgebrühtheit?«
Sie schüttelte den Kopf, heftig, dass ihre Haare einen Moment um sie herum wehten wie eine Gloriole. »Im Gegenteil.« Sie legte ihm den Finger auf die Brust. »Wenn ich Sie ansehe, dann sehe ich nicht nur Ihr Gesicht, ich weiß auch – oder sagen wir, ich habe eine fachliche fundierte und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zutreffende Vorstellung davon –, wie Ihr Schädelknochen darunter aussieht, wie die Muskeln Ihres Gesichts verlaufen und so weiter. Ich sehe Sie und sehe zugleich Ihre Knochen, Ihre Muskulatur, Ihre Blutbahnen, Ihre Verdauungs- und Geschlechtsorgane, Ihr Herz und Ihre Lungen … und daran ist nichts grauenerregend, denn all das sind Sie; Sie ziehen es nur vor, nicht daran zu denken und es sich nicht auszumalen. Ich dagegen tue das. Auch bei mir selbst, und ich stelle mir vor, dass ich deswegen mit mir so umgehe wie ein Automechaniker mit seinem eigenen Wagen, den er bis in die kleinste Schraube und das letzte Ventil hinein kennt, weil er jedes Teil schon einmal in der Hand gehabt hat. Man hat weniger Angst, wenn man sich der Realität stellt. Und die Realität sieht nun mal so aus, dass man all das ist. Und wir sterben alle einmal, daran führt kein Weg vorbei. Auch ich. Und das zu begreifen, im wahrsten Sinn des Wortes« – sie hob ihre Hand, machte eine Bewegung, die in Stetter unvermittelt eine Vorstellung davon wachrief, wie es aussehen mochte, wenn sie mit dieser Hand ein Skalpell führte, Fettschichten beiseite klappte oder Muskelstränge freilegte – »dann hilft einem das, zu leben. Weil man viel besser zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden lernt, zwischen Hirnfurz und Wirklichkeit. Und ich sage Ihnen eins: Die meisten Menschen sind bis zum Hals voller Hirnfürze, aber über die Wirklichkeit wissen sie nichts. Gar nichts.«
Sie hielt inne, sah ihn an. »Sie sehen müde aus«, meinte sie. Sie deutete auf den Toten. »Ich bin eigentlich gekommen, um ihn mir kurz anzuschauen. Dauert keine fünf Minuten und eilt auch nicht. Wollen wir danach vielleicht noch was trinken gehen?«
Stetter dehnte die Schultern. »Kennen Sie etwa eine Kneipe, die am Ostermontag offen hat?«
»Ich habe eine gut bestückte Bar bei mir zu Hause. Die hat im Zweifelsfall immer offen.«
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
»Weil Sie denken, aha, also so wird die mit ihrem Beruf fertig: Sie säuft?« Sie schüttelte grinsend den Kopf. »Keine Sorge. Dazu habe ich zu viele Säuferlebern gesehen in meinem Leben. Ich kann mich beherrschen.«
»Nein, ich …« Stetter rang um Worte.
»Oder Sie fürchten sich, zu einer Frau nach Hause zu gehen, die eine genauere Vorstellung vom Aussehen und vom Aufbau Ihres Geschlechtsorgans hat als Sie selbst«, diagnostizierte sie. »Schon gut. Passiert mir ständig.«
Er sah sie an, musste plötzlich laut auflachen. »Sie sind schon so eine Type«, entfuhr ihm.
Sie musste auch lachen. »Ja, nicht wahr? Also, wie sieht’s aus?«
»Ein andermal. Ich bin wirklich müde«, sagte Stetter. »Aber wenn Sie mich vielleicht bei meinem Hotel absetzen würden, das wäre großartig.«

13


Am Dienstagmorgen kam es Stetter vor, als sei die Stadt über Ostern stillgelegt gewesen und irgendwann früh an diesem Morgen wieder eingeschaltet worden. In seinem Zimmer dröhnte es, als er aufwachte, eine gute Stunde, bevor der Wecker gegangen wäre. Obwohl er das Fenster schloss und es danach einigermaßen erträglich war, konnte er nicht mehr einschlafen und stand schließlich einfach auf. Immerhin bekam er auf diese Weise ein ordentliches Frühstück ab.
Wie ihm Lampert und seine Frau geraten hatten, fuhr er auf dem Weg zum Büro noch einmal an der Wohnung vorbei, die er sich am Samstag angeschaut hatte.
Schon als er aus dem Bus stieg, war alles anders. Baulaster donnerten vorbei, und so etwas wie Staub schien in der Luft zu liegen, sich auf Atemwege, Augenschleimhäute und Zunge zu legen. Das konnte täuschen, sagte sich Stetter, sicher meldete sich nur sein alter Heuschnupfen zurück; es war schließlich die Zeit dafür. In Berlin hatte der ihn fast in Ruhe gelassen, dort gab es andere Pollen und davon nicht so viele … Woher auch, wenn man mitten im Asphaltdschungel lebte?
Aber die Lastwagen …
Es waren wirklich viele. Und wie das ging! ZADANG, ZADANG, ZADANG. GURUMM. WROOMM. ZÄNG!
Die Laster fuhren zu schnell, und die Straße war dafür nicht gemacht, schien sich bereits zu verformen, wie das Asphalt unter zu großer Belastung manchmal tat, vor allem bei älteren Straßen. Parkverbotsschilder standen entlang der Straße, damit die Lastwagen freie Fahrt hatten. Wo parkten all die Leute dann jetzt? Einen Parkplatz zu finden, das war hier doch schon in seiner Kindheit immer das große Problem gewesen.
Das war auch heute ein Problem, das ihn betraf, erkannte er. Er würde sich wieder einen Wagen zulegen müssen, war darauf angewiesen. Und zu der Wohnung gehörte keine Tiefgarage oder dergleichen.
Dann stand er vor dem Haus und erkannte, dass es sowieso nicht gehen würde. Der Lärm war die Hölle, hier ganz besonders, weil das Haus kurz vor einer Ampel lag und auch noch an einer Stelle, an der die Straße leicht anstieg, sodass die Laster mit jaulenden Bremsen halten und mit aufheulenden Motoren wieder anfahren mussten. Kein Wunder, dass die Vorbesitzer die Wohnung verkauften.
Er sah zu dem Balkon hinauf, auf dem er gestanden hatte und der diesen Sommer neu gestrichen werden sollte: weil er schon ganz braun und gelb vom Staub war, den die Laster hierher mitbrachten. Aus einem Fenster der Wohnung darunter musterte ihn eine verhärmt aussehende Frau mit einem Blick, der trockenes Zeitungspapier hätte in Flammen setzen können. Wahrscheinlich war sie mit ihren Nerven am Ende.
Er sah auf die Uhr. Zeit, weiterzufahren; er hatte einen Termin bei seinem neuen Vorgesetzten.
Der Bus fuhr auch noch einmal an der Wohnung vorbei. Schade. Die hätte ihm ansonsten gepasst wie ein Handschuh einer Hand.

14


Zuerst schaute er in Lamperts Büro vorbei. Der war schon da, schichtete Ordner um und rief, als er ihn bemerkte: »Hey! Morgen! Komm, pack grad mal mit an.«
Der Ablagetisch, erfuhr Stetter, würde für die nächsten zwei Wochen, solange sein künftiges Büro nebenan noch belegt war, sein Arbeitsplatz sein. Es ging nicht anders. Wie früher war alles viel zu klein und mit Hütern des Gesetzes geradezu vollgepfercht.
Also packte Stetter mit an. Gemeinsam zerrten sie das alte Möbel in eine Position, an der man einen Stuhl davor stellen konnte. Auf dem Linoleum blieben schwarze Striche zurück, über die sich Lampert mit einem Radiergummi hermachte. »Die Putzfrau verflucht mich sonst«, meinte er. »Und die ist Rumänin; wer weiß, was die für Flüche kennt!«
»Ich muss los«, sagte Stetter. »Hab einen Termin bei unserem Chef.«
»Beim Unwohl?« Lampert grinste. »Wahrscheinlich wird er sich darüber auslassen, wie froh er ist, dass du jetzt schon einspringst, und ganz sicher wird er dir sagen, dass allesultradringend ist.«
»So was in der Art. Schätze ich auch.«
»Ich hab nachher einen Termin mit den Eltern des Jungen, der gestern gestorben ist, den Scheibles. Kommst du mit?«
»Kommt drauf an. Wenn ich halt rechtzeitig fertig bin.«
»Ich meine, wird nicht so weltbewegend sein, das Gespräch, aber mir wär’s trotzdem lieber. Du weißt schon.« Er tippte sich an die Nase.
Stetter nickte. Na ja. Bis jetzt hatte die Spürnase, die man ihm nachsagte, noch nichts geholfen. Aber vier Augen sahen mehr als zwei, das stimmte auf jeden Fall.
Kriminaloberrat Udo Unsohl hatte das große Büro ganz am Ende des Ganges, mit einer grandiosen Sicht über die Weinhänge hinter dem Amt. Man musste eine Sekretärin passieren, die einen mit bärbeißigen Blicken bedachte, wenn man ihren Chef zu behelligen gedachte. Aber Stetters Termin stand in ihren Unterlagen, also musste sie ihn hineinlassen.
»Herr Stetter!«, rief Unsohl aus, sprang auf und kam hinter seinem Schreibtisch hervor, weil er es sich sichtlich nicht nehmen lassen wollte, ihm stehend und ausgiebig die Hand zu schütteln.
Dann komplimentierte er ihn auf einen der schmalen Sessel in seiner Besprechungsecke. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich über die glückliche Fügung des Schicksals bin, dass Sie schon in Stuttgart sind und Kommissar Lampert zur Seite stehen können. Glück im Unglück, könnte man sagen«, erklärte Unsohl. Er hatte eine spiegelblanke Glatze und war für einen Kriminalbeamten ungewöhnlich businesslike gekleidet, was ihn wie den Karrieristen wirken ließ, der er wohl auch war. »Dieser Vorfall hat uns alle sehr erschüttert, das kann man sicher so sagen. Ich weiß nicht, was Sie aus der Bundeshauptstadt gewöhnt sind, aber für Stuttgarter Verhältnisse ist das ein ganz außerordentliches Verbrechen, wie es zum Glück nur selten, ja seltenst

geschieht, und ich hoffe sehr, dass das auch die Ausnahme bleibt.«
Stetter nickte brav; er fühlte sich unbehaglich, weil alles einen falschen Ton hatte. Aber das war ihm mit Vorgesetzten noch nie anders gegangen, insofern war es vertrautes Terrain.
Bloß, dass Unsohl wenigstens zehn Jahre jünger war als er. Sein erster Vorgesetzter, der jünger war.
Was wohl nichts anderes hieß, als dass er sich damit abfinden musste, am Ende seiner Laufbahn angelangt zu sein.
»Ich werde mich ab und zu kurz ausklinken müssen«, erklärte Stetter. »Eigentlich bin ich nach Stuttgart gekommen, um erst einmal eine Wohnung zu suchen und den Umzug zu arrangieren …«
»Ja, ja, natürlich«, meinte Unsohl unter heftigen, abwehrenden Handbewegungen. »Das regeln wir alles im freien Fall, auch was Ihre Bezüge für die zwei zusätzlichen Wochen und so weiter anbelangt, da werden wir mit maximaler Kulanz arbeiten … Der Fall Martin-Luther-Heim hat absolute Priorität. Ich kriege jeden Tag Anrufe vom Oberbürgermeister, vom Innenminister des Landes – von den Journalisten ganz zu schweigen. Ich weiß nicht, ob Sie die heutige Schlagzeile der BILD-Zeitung schon gesehen haben …?«
»Ich bemühe mich bei Ermittlungen, die Presse dazu so weit wie möglich zu ignorieren«, erklärte Stetter, als Unsohl aufspringen wollte, weil er die Zeitung auf seinem Schreibtisch liegen hatte. »Ich bilde mir ein, dass ich auf diese Weise unvoreingenommener denken kann.«
Unsohl, der mitten in der Bewegung innegehalten hatte, sank zurück auf seinen Sessel. In seinem Gesicht arbeitete es. »Verstehe. Ja, gut. Das klingt sinnvoll. Ich muss mich damit natürlich auseinandersetzen, aber machen Sie das ruhig, wie Sie denken. Hauptsache, Sie finden den Täter bald. Möglichst, ehe er noch einmal zuschlägt. Das wäre fatal.«
»Wir werden tun, was wir können«, erwiderte Stetter. Was man als Untergebener eben so sagte in solchen Gesprächen.
»Gut, gut. Und wenn Sie irgendwas brauchen, zusätzliche Ressourcen, Manpower, was auch immer, zögern Sie nicht, sich an mich zu wenden«, sagte Unsohl. Was man als Vorgesetzter eben so sagte in solchen Gesprächen. »Die Sache ist wirklich ultradringend.«

15


»Ultradringend«, wiederholte Stetter, während sie sich mit dem Wagen durch das Gewühl am Pragsattel quälten. »Ich frage mich, wie man das noch steigern will, wenn’s mal richtig eilig wird.«
»Wahrscheinlich megahyperdringend

oder sowas«, meinte Lampert.
Die Scheibles wohnten auf dem Killesberg. Beste Lage, teuerste Gegend; so exklusiv, dass sich dort überhaupt nur einkaufen konnte, wer familiäre oder sonstige Beziehungen hatte. Eine schöne, alte Villa hinter schönen, alten Bäumen, gewaltigen Büschen und modernster Sicherheitstechnik. Stetter sah Alarmanlagen an den Zäunen, Videokameras und Bewegungsmelder. Irgendwo bellte ein ziemlich ungemütlich klingender Hund, ein Boxer oder gar ein Rottweiler, wie es sich für Stetter anhörte. Man durfte vermutlich froh sein, wenn man den Plattenweg passiert und unversehrt im Haus angelangt war.
Frau Scheible hatte rote Augen, vom Weinen vermutlich, und im Gesicht ihres Gatten waren die Unterkiefermuskeln in ständiger Bewegung, was für seine Zähne nichts Gutes erwarten ließ.
»Rechtsanwalt«, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen, als Stetter ihn nach seinem Beruf fragte. »Ich entstamme einer Familie von Rechtsanwälten, ein Jurastudium ist sozusagen Familientradition. Zumindest gewesen, mein Sohn war ja eher den schönen Künsten zugetan. Und ich bin nicht der Mensch, der seine Kinder in ein vorgefertigtes Raster steckt; wir haben ihn in seinen Bestrebungen stets voll unterstützt.« Er spreizte die Hände, verknotete sie wieder in einer Geste der Hilflosigkeit. »Umsonst, wie es sich nun herausgestellt hat.«
»Holgers Traum war immer, an der Kunstakademie aufgenommen zu werden«, erzählte seine Mutter mit leiser Stimme. Sie machte eine kleine, müde Geste in ungefähr die Richtung, in der die Akademie lag, gleich bei der Weißenhofsiedlung, keine fünfhundert Meter Luftlinie entfernt. »Seine Leidenschaft galt der Bildhauerei. Leider hat er die Aufnahmeprüfung nie bestanden. Er hat sich zwar immer wieder beworben, jedes Jahr, seit er mit dem Abitur fertig war, aber die Kriterien sind sehr streng …«
»Extrem streng«, fügte ihr Mann ein. »Selbst Michelangelo hätte da zu kämpfen gehabt, sag ich Ihnen.«
»Holger hat an einer privaten Kunstschule drüben in Sillenbuch studiert, um sich vorzubereiten.« Frau Scheible schluckte. »Letztes Jahr war er an der Akademie zumindest in der engeren Auswahl, und einer der Professoren meinte, das nächste Mal würde er es bestimmt schaffen.« Sie schniefte. »Aber dazu wird es jetzt nicht mehr kommen …«
»Das Studium an dieser privaten Schule ist natürlich nicht ganz billig, versteht sich«, fügte ihr Mann hinzu, wieder mit heftig zuckenden Muskeln entlang der Kinnleiste. Er wirkt selber ein bisschen wie ein Rottweiler, dachte Stetter. »Die bereiten einen da auf die Aufnahmeprüfung vor, und offenbar nicht ohne Erfolge, aber man muss sich schon fragen, was aus jemandem wird, der begabt ist, aber das notwendige Geld nicht aufbringen kann. So jemand hat heutzutage doch keine Chance mehr. Ich fürchte, dass uns als Kulturnation nicht wenige Talente verloren gehen, einfach, weil es an Geld mangelt. Beziehungsweise, weil der Staat es für die falschen Dinge ausgibt.«
»Was hat Ihren Sohn in diesen Bibelkreis geführt?«, fragte Stetter, um das Gespräch in ermittlungstechnisch ergiebigere Bahnen zu lenken.
»Das habe ich auch nie so ganz begriffen«, erklärte der Vater. »Ich meine, man kann schon sagen, dass wir eine einigermaßen religiöse Familie sind; wir gehen sonntags öfter in die Kirche, als es der Durchschnitt tut, aber so etwas … Ich habe mir gesagt, dass das zum Selbstfindungsprozess dazugehört. Die Auseinandersetzung mit den letzten Fragen, nicht wahr? Zu meiner Zeit hat man das auch getan, anders vielleicht, aber doch, es gab da eine Phase, in der mich erinnere, öfter in die Kirche gegangen zu sein. Um meine Konfirmation herum war der Glaube – Gott, Jesus und so weiter –, doch, das war schon ein Thema … »
»Eine seiner Lehrerinnen an der Kunstschule war ebenfalls in diesem Bibelkreis«, erklärte Frau Scheible. »Sie hat ihn darauf aufmerksam gemacht und ihn eingeladen, sie zu begleiten. Eine Frau Wang. Das ist ein chinesischer Name, aber sie war nur einmal mit einem Chinesen verheiratet, deswegen. Sie stammt ursprünglich aus München, soweit ich weiß.«
Ihr Mann sah sie erstaunt von der Seite an. »Davon weiß ich ja gar nichts«, sagte er.
Seine Frau hob blümchenhaft die Schultern. »Das hat mir Holger mal erzählt. Du warst nicht da.«
»Ja, hatte er denn was mit dieser Frau?«, bohrte er weiter.
»Ach was, nein«, erwiderte sie tadelnd. »Frau Wang war schon, was weiß ich, über sechzig. So wie Holger erzählt hat, muss sie die ganze Welt bereist haben, China, Afrika, Südamerika … Sie war Künstlerin, Malerin. Auch wenn sie nie den großen Durchbruch gehabt hat, ihre Werke hatten durchaus etwas Eigenes an sich.«
»Hast du je welche gesehen?«, wollte er wissen.
»Ja, natürlich. Ich war einmal mit Holger auf einer ihrer Vernissagen im Haus des Bundes Bildender Künstlerinnen.«
»Und wieso habe ich davon nichts mitgekriegt?«
»Du warst gerade nicht da«, beschied ihn seine Frau und fuhr, an Stetter und Lampert gewandt, fort: »Dieses Haus liegt an der Uhlandshöhe, oben am Eugensplatz. Ein sehr schönes altes Gebäude, und dort arbeiten nur Künstlerinnen.«
Stetter stellte noch die üblichen Fragen – nach möglichen Feinden, denkbaren Anlässen für einen Selbstmord, nach Bekannten des Sohnes und so weiter –, aber wie er es im Grunde nicht anders erwartet hatte, erbrachte das nichts, was irgendwie hilfreich wirkte. Holger Scheible war ein ganz normaler Junge gewesen, der ein guter Steinmetz geworden wäre, aber Künstler hatte werden wollen; eine Geschichte, die sich in zahllosen Variationen überall wiederholte. Eltern, die nicht allzu viel wussten von dem Leben, das ihr einziger Sohn geführt hatte. Und ein Vater, der sich vor allem darum zu grämen schien, dass der Familienname mit ihm aussterben würde.
Was Stetter geflissentlich ignorierte bis zu dem Moment, in dem Scheible wie nebenbei sagte: »Der Stadt kann das nur recht sein.«
»Der Stadt Stuttgart?«, fragte Stetter verwundert und, ja, irgendwie hellhörig geworden. »Wieso? Was hat die damit zu tun?«
»Das ist bares Geld für die«, meinte Vater Scheible.
»Wenn Ihr Sohn stirbt?«
»Wenn die Familie ausstirbt, das meine ich«, versetzte der Jurist in einem Ton, als verstünde sich das von selbst und als müsse man ein Hornochse sein, um die Zusammenhänge nicht auf Anhieb zu begreifen.
Stetter machte es nichts aus, als Hornochse zu gelten. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »aber ich fürchte, ich begreife die Zusammenhänge nicht.«
»Das ist doch auch nicht mehr wichtig«, warf Frau Scheible ein. »Das ist alles ewig her, Heinz. Lass gut sein.«
»Nein, lass ich nicht«, beharrte ihr Mann, dessen Unterkiefermuskeln wieder schwer beschäftigt waren. »Die Sache ist die, Herr Kommissar: Meine Familie, also ich, bin der letzte Nachfahre jener Familie Scheible, die damals, als die Eisenbahn aufkam und der Stuttgarter Hauptbahnhof gebaut wurde, zusammen mit vielen anderen enteignet worden ist. Das heißt, mit mir stirbt wieder eine Familie aus, die Ansprüche aus dieser Zeit hat. Viele Familien gibt es schon nicht mehr, andere sind im Krieg vertrieben worden, ausgewandert und so weiter, aber ein paar von denen, die noch übrig sind, darunter ich, prozessieren deswegen gegen die Stadt und die Bahn.«
»Was für Enteignungen?«, fragte Stetter verwundert, der davon noch nie gehört hatte.
Scheible beugte sich vor, nun offensichtlich ganz in seinem Element. »Da müssen Sie zurückdenken. Stuttgart gibt es ja schon lange, wesentlich länger als die Eisenbahn. Nachdem die erfunden war, ist irgendwann beschlossen worden, den Bahnhof zu bauen, und auch, ihn mitten in die Stadt zu bauen. Dazu müssen Sie logischerweise die Schienen bis ins Zentrum legen, und das wiederum heißt, dass Sie den dafür nötigen Grund und Boden brauchen. Das hat man damals der Einfachheit halber – es war ja noch das Kaiserreich; da herrschten andere Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Bürgern und Obrigkeit als heute – mit einem Enteignungsgesetz gemacht. Ein Planer hat die für die Gleise, das Stellwerk und so weiter benötigten Flächen auf einem Katasterplan eingezeichnet, und die Besitzer der zugehörigen Grundstücke, Häuser und Lagerhallen sind dann auf dieser Grundlage enteignet worden. Das sah so aus, dass man einen bestimmten Geldbetrag bekommen hat, der dem Wert der Grundstücke nicht annähernd entsprochen hat – Großstadt, Zentrumslage, Sie verstehen? Das war auch damals schon wertvoll, von den Gebäuden darauf ganz zu schweigen –, und damit ging das Grundeigentum an die Reichsbahn über.«
»Verstehe«, sagte Stetter, der sich noch nie im Leben den Kopf darüber zerbrochen hatte, wie der Stuttgarter Hauptbahnhof an den Platz gelangt war, an dem er stand: Seinem Gefühl nach war dieses kolossale Bauwerk schon immer da gewesen, und der Rest der Stadt sah aus, als habe er sich darum herum angeordnet wie die mittelalterlichen Dörfer um die Burgen ihrer Ritter und Schutzherren.
»Aber wenn das mit der Enteignung ein Gesetz war, dann werden Sie mit einer Klage wenig ausrichten«, warf Lampert ein. »Man würde damals geltendes Recht zugrunde legen, und wenn es danach in Ordnung war … Ich meine, schauen Sie sich die Aufarbeitung der DDR-Geschichte an. Da wimmelt es von derartigen Fällen, dass etwas nach damaligem DDR-Recht richtig war: Die werden auch nicht nach heutigem Bundesrecht beurteilt. Recht gilt nicht rückwirkend, schon seit den Römern nicht mehr.«
Stetter grinste. Da hatte Lampert ausnahmsweise mal gut aufgepasst im Unterricht an der Polizeischule. Er selber erinnerte sich nur vage daran, dass sie das durchgenommen hatten; ihm selber war nur noch der Satz in dubio pro reo

in Erinnerung, der heute lautete »Im Zweifel für den Angeklagten« – und der immer noch galt!
Scheible nickte geflissentlich und mit so etwas wie einem überheblichen Schmunzeln. Kein Wunder, schließlich war er studierter Jurist; da war das Letzte, was er brauchte, eine Belehrung über römisches Recht durch einen Kriminalbeamten des gehobenen Dienstes. Als Lampert fertig war, meinte er: »Richtig. Im Grundsatz. Aber der Punkt, an dem wir ansetzen, ist eine Klausel eben des damaligen Enteignungsgesetzes. Weil man damals ja noch nicht wissen konnte, ob Eisenbahnen eine Sache mit Zukunft waren, hat man eine Klausel aufgenommen, die – wahrscheinlich, um die Akzeptanz des Gesetzes zu erhöhen – sinngemäß lautet, dass die enteigneten Grundflächen nur für Zwecke der Eisenbahn verwendet werden durften. Für den Fall, dass die Notwendigkeit, mit der die Enteignung begründet war – die Errichtung eines Bahnhofes in der Stadt – entfiel, war festgelegt, dass die Grundstücke an die ursprünglichen Eigentümer oder deren Erben zurückgeben werden sollten.«
Er hob die Hände, als wäre er beim Schlussplädoyer. »Und nun schauen Sie sich das Grundkonzept von Stuttgart 21 an. Was hat man sich damals überlegt? Man hat sich überlegt, den Bahnhof unter die Erde zu verlegen und die Baukosten dafür aus dem Verkauf der dadurch frei werdenden Gleisflächen zu finanzieren, vor allem im Bereich direkt am Bahnhof, im Rangierbereich, beim Stellwerk und so fort. Unter Zugrundelegung der damaligen Grundstückspreise im Zentrum von ein paar Tausend Mark pro Quadratmeter hätte sich, so die Überlegung, das ganze Milliardenprojekt null auf null selber finanziert. Ein anderes Thema ist, dass man sich die Baukosten natürlich erst mal hübsch zurechtgeschwindelt hat, um die Sache ins Rollen zu bringen; inzwischen erwartet ja niemand mehr auch nur im Traum, dass das so funktionieren wird. Wahrscheinlich wird der Bau nicht mal in dem inzwischen zugegebenen Rahmen von zehn Milliarden Euro bleiben. Aber dessen ungeachtet berücksichtigt dieser ganze Ansatz nicht, dass die frei werdenden Gleisflächen der Bahn nicht mehr gehören, sobald sie sie nicht mehr braucht! Das Enteignungsgesetz von 1888 zugunsten der Reichsbahn, deren Rechtsnachfolger die heutige Deutsche Bahn ist, definiert ganz klar eine zweckgebundene Übertragung der Grundrechte. Wenn die Bahn die Gleisanlagen nicht mehr benötigt, dann gehört ihr der Grund darunter nicht mehr, und sie kann ihn deswegen auch nicht verkaufen, um irgendwelche Baumaßnahmen zu finanzieren. Die Grundstücke müssen von Rechts wegen vielmehr an die Erben der damals enteigneten Besitzer zurückfallen. Und das ist es, was ich erreichen will.«

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Texte: (c) 2009 Freimann Stiller
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2012

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