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Kapitel 1



Obwohl er sich sagte, dass es nicht stimmte, wurde Stetter das Gefühl nicht los, als Versager heimzukehren.

Der Zug rollte langsamer. Stetter spähte aus dem Fenster, erkannte die Hochhäuser, die Stadtsilhouette... Zuffenhausen war längst vorüber. Sie fuhren in den Bahnhof ein, kein Zweifel.

Er stand auf, holte seinen Koffer aus der Gepäckablage. Ein kleiner Koffer, das musste erst einmal genügen, und es war angenehm, mit wenig Gepäck zu reisen, aber trotzdem: Nach all den Jahren so dazustehen, mit nichts als einem Koffer... Ein beschissenes Gefühl.

Er war allein im Abteil, der Zug weitgehend leer. Die Bahn beklagte zurückgehende Fahrgastzahlen, hatte er neulich gelesen, vor allem im süddeutschen Raum. Naja. Alles ließ nach, wenn man es genau betrachtete.

Dann stand er vor der Wagentür, bereit zum Aussteigen. Der ICE schlich nur noch, glitt dahin wie über rohe Eier. Eine ältere Frau gesellte sich zu Stetter, grimmig, mit zerzauster Frisur. Sie sah aus wie eine fanatische Wanderin, mit ihrem knallgrünen Rucksack auf dem Rücken, eine seltsam grelle Farbe für jemanden, der um die sechzig sein mochte.

Stetter beugte sich hinunter, spähte wieder raus. Sechzig. In knapp zehn Jahren würde er auch sechzig sein. Daran durfte er gar nicht denken: Dass sein Leben schon in die Zielgerade einbog. Sein Leben, und was hatte er erreicht? Wie gesagt. Nicht dran denken.

Der Zug kam zum Stehen, seltsam weit draußen, vor irgendwelchen Holzplanken. Stetter hörte weiter vorne Türen aufgehen. „Sie müssen auf den grünen Knopf drücken“, keifte die Alte. „Wir sind da.“

Stetter drückte den grünen Knopf, die Tür öffnete sich mit dem üblichen Keuchen, Zischen und Scharren. Tatsächlich, da lag ein Bahnsteig zu seinen Füßen, aus Holz gezimmert. Was war denn nun los? Er stieg aus, folgte den anderen, sah sich um.

Es war schon dunkel, späht, und es nieselte leicht. Die behelfsmäßigen Bahnsteige - an den anderen Gleisen auch; man hatte den ganzen Bahnhof hier heraus ausgelagert - waren sogar überdacht, mit Holzbalken und Plastikplatten.

Er folgt dem Strom der wenigen Fahrgäste, die hier ausgestiegen waren, über die knarrenden Holzbohlen, feucht vom Regen, man rutschte hier und da. Die Lichter der Stadt füllten den diesigen Nachthimmel, der dunkel und schwer auf Stuttgart lag.

Da war er also wieder. Heimgekehrt nach zwei Jahrzehnten in der Fremde, und was hatte er nun davon? Ein gebrochenes Herz und eine verwundete Seele. Und einen beschissenen Job, der auf ihn wartete und über den er noch froh sein musste, weil das nicht mehr so leicht war mit den Jobs, wenn man mal ein gewisses Alter erreicht hatte.

Die hölzernen Bahnsteige vereinigten sich zu einer großen, nicht mehr überdachten Plattform, von der aus zwei Stege weitergingen zur Bahnhofshalle. Was um alles in der Welt war hier los? Endlich dämmerte es Stetter: Natürlich. Stuttgart 21. Die Bauarbeiten für den gigantomanischen Tiefbahnhof von Stuttgart hatten begonnen.

Erschüttert sah er, dass man schon im Begriff war, die Seitenflügel des alten Bonatzbaus abzureissen. Der nördliche Flügel fehlte bereits, und dahinter... War da nicht auch so ein schönes altes Gebäude gewesen, entlang der Heilbronner Straße? Weg, alles weg. Das Alte wurde entsorgt, gnadenlos. Und nun gähnte ein gigantisches Loch im Boden, ein regelrechter Höllenschlund, ein Abgrund von Menschenhand, wie ihn Stetter noch nie gesehen hatte. Es ging hinab, hinab, hinab...

Stetter blieb stehen, genau wie die meisten der Ankommenden, und schaute hinunter. Da unten wurde noch gearbeitet, im Licht einiger Scheinwerfer, die den dunklen Grund der unfassbaren Grube nur unzureichend ausleuchteten. Man sah winzig erscheinende Menschen in gelben und signalroten Jacken umherwuseln, sich über Gestänge und Verschalungen beugen, mit Maschinen hantieren, und bei all dem strahlten sie Hektik aus, so, als wären sie mit dem Zeitplan im Verzug.

Was für eine Kulisse! Stetter hob den Kopf hob den Blick, versuchte zu erfassen, was aus seiner Heimatstadt geworden war. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, zu träumen, in einem Alptraum gefangen zu sein, aus dem er gleich erwachen würde, im Bett neben Klara, und alles, alles, alles würde nur ein böser Traum gewesen sein...

Doch das geschah nicht. Stattdessen rempelte ihn jemand an und knurrte in breitestem Schwäbisch: „Seh‘n Sie net, dass Sie hier alles blockieret?“


*




Eine Flasche, ohne Etikett, die einen knappen Liter einer wasserklaren Flüssigkeit enthielt. Eine Hand überprüfte den festen Sitz des Schraubverschlusses, packte dann die Flasche und schüttelte sie kräftig. Die Flüssigkeit - ölig, schlierig - bildete ein paar Bläschen Schaum, als die Flasche wieder auf dem Tisch abgestellt wurde.

Eine andere Hand, die leise, leise den Deckel von einem großen Glastopf nahm, ihn behutsam beiseite legte ohne einen Laut.

Der große Glastopf enthielt Früchtebowle. Die Flasche wurde angehoben, ausgeleert. Die ölige, schlierige, leicht schäumende Flüssigkeit floß in die Bowle , vermischte sich ohne eine Spur mit ihr.

Der Deckel wurde geräuschlos wieder aufgesetzt, die Flasche wieder zugeschraubt.


*




Lampert erwartete ihn in der Bahnhofshalle wie versprochen. „Karlheinz“, sagte Stetter und drückte dem vierschrötigen Mann gerührt die Hand. „Schön, dass du mich abholst.“

Lampert winkte ruppig ab. „Mann, ist doch Ehrensache unter alten Freunden, oder?“ Er nickte grimmig in die Richtung, aus der Stetter gekommen war. „Was sagst du dazu, hmm?“

Stetter hob die Achseln. „Gruselig, ein bisschen. Obwohl, als sie in Berlin das Regierungsviertel umgebaut haben, da war auch einiges los...“

„Eine Schande ist das“, brach es aus Lampert heraus. „Eine Schande und eine verfluchte Geldverschwendung.“ Er wollte nach Stetters Koffer greifen, was der abwehrte.

„Komm, so alt bin ich nun auch wieder nicht.“

„Auch gut.“ Er nestelte einen dicken Schlüsselbund hervor, immer noch der alte Schlüsselsammler. „Ich hab den Wagen in der Lautenschlagerstraße stehen. Die Parkplätze hier am Bahnhof sind ja jetzt alle kassiert. Was das für ein Verkehrschaos verursacht, allein die Leute, die jetzt hier einen Parkplatz suchen - du solltest die Kollegen von der Verkehrspolizei mal hören, was die an neuen Flüchen drauf haben... Und wenn man bedenkt, dass das noch zehn Jahre so gehen soll...“

Stetter fühlte sich auf einmal müde. „Ja.“

Lampert warf ihm einen Blick zu, verstand, immer noch, genau wie früher, wo als sie sich auch immer ohne ein Wort verstanden hatten. „Wie war deine Fahrt?“

Wie war seine Fahrt gewesen? „Okay“, sagte Stetter.

„Willst du noch was essen gehen oder gleich in dein Hotel?“ Sie setzten sich in Bewegung. „Susanne ist ziemlich unglücklich, dass du dich nicht bei uns einquartiert hast, weißt du? Das wäre doch auch gegangen.“

Stetter seufzte. „Du weißt doch, wie das ist mit den Gästen und den Fischen. Ich werde wahrscheinlich länger als drei Tage brauchen, bis ich was gefunden habe. Und dann müssen ja erst die Möbel und so angeliefert werden.“

„Trotzdem.“

Stetter erinnerte sich noch gut, wie beengt sein alter Partner und dessen Familie in ihrer kleinen Vierzimmerwohnung in Heslach lebten. Und die Kinder waren ja noch nicht aus dem Haus; Felix, der Älteste, musste jetzt sechzehn sein und die Kleine zwölf. Zwölf, du meine Güte! Das letzte Mal hatte er sie als Kindergartenkind gesehen. Bevor sich das Drama mit Klara zugespitzt und er nichts mehr mitbekommen hatte vom Rest der Welt...

„Du musst auf jeden Fall am Sonntag zum Essen kommen“, befahl Karlheinz. Sie hatten die Fußgängerampel an der Klettstraße erreicht, warteten auf Grün.

„An Ostern?“

„Susanne besteht darauf.“

„Na, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig.“

„Seh ich auch so.“


*




Hände, die sich auf Bäuche legten, an Hälse griffen, sich verkrampften in hilflosen Bewegungen. Augen, die aufgerissen wurden. Münder, die sich öffneten zu stummen Schreien.

Körper, die von Stühlen sanken. Körper, die zu Boden fielen. Körper, die zuckten und sich wanden.

Keuchende Laute, die irgendwann verstummten.

Herzen, die zu schlagen aufhörten.


*




Stuttgart war immer noch keine Stadt , in der abends das Leben pulste, war es nie gewesen („Hier klappt man abends um acht die Bürgersteige hoch“ hatte es früher geheißen, und das stimmte wohl immer noch), aber trotzdem war genug los, dass sie erst mal im Stau standen.

„Wann fängst du an?“, fragte Lampert. „Am Ersten?“

„Ja,“ sagte Stetter. „Noch zwei Wochen Galgenfrist.“ Er rieb sich die Rückseite der Hand. „Ich hab morgen den ersten Termin mit einem Makler. Am Ostersamstag, auch ein bisschen ungewöhnlich, aber okay. Vielleicht klappt es ja schnell mit der neuen Wohnung.“

Lampert ließ den Wagen wieder ein Stück rollen, bremste kurz vor dem Heck des Wagens vor ihnen, als hätte er ihm einen Schubs geben wollen und es sich erst im letzten Moment anders überlegt. „Ich hab keine Ahnung, was gerade auf dem Wohnungsmarkt los ist. Ich weiß bloß, dass man mit einem Polizistengehalt nicht weit kommt. Wenn wir nicht unseren Vermieter hätten, dem‘s nicht ums Geld geht, wäre an Urlaub im Süden gar nicht zu denken.“

„Das war in Berlin auch nicht besser. Obwohl da die Mieten niedriger sind. Aber wir waren zu zweit, zwei Verdiener...“ Er hielt inne. Er hatte sich doch vorgenommen, nicht mehr so viel an Berlin zu denken.

Lampert nickte. Stetter sah die Knöchel seiner Hände weiß werden, die das Lenkrad umklammerten. Lampert war stark, ein durchtrainierter, muskulöser Mann. „Mann, ja. Tut mir echt leid, das mit Klara... Ehrlich, ich begreif‘s nicht. Ich begreif nicht, wie jemand -“ Er hielt inne. „Das Schlimme daran ist, dass ich mich trotzdem freue, dass du wieder da bist. Verstehst du das?“

Stetter holte wie gegen einen Widerstand Luft. „Geht mir auch so. Wie in alten Zeiten, sag ich mir. Die alten Zeiten waren doch die besten.“


*




Ein Raum, groß, getäfelt. Ein gedeckter Tisch, Stühle unordentlich darum herum. Am Boden dunkle Körper, eingehüllt von Dunkelheit.

Stille.

(Fortsetzung folgt!)

Impressum

Texte: Für Hintergrundinformationen siehe http://freimannstiller.blogspot.com
Tag der Veröffentlichung: 29.08.2009

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