Cover

Michael Gertges
Aus meinem Tagebuch

12.11. Intensivstation

Licht raumschiffartig
Umgeben von Apparaten
Magensonde, Infusionen
Verschiedene Katheter
Monitorüberwachung
Wie von Ferne eine Stimme
Das neue Herz arbeitet ausgezeichnet.
Noch viel zu schwach mich zu freuen

12.11. Diät

Erster Tag der fünften Woche
Geduld kostet Kraft
Muskelaufbautraining
Fast noch mehr
Zunehmen werde ich kaum
Alles kann nur besser werden
Trotz Furcht und Zittern


13.1. Maßstab

Freude über Fortschritt
In Millimetern gemessen
Es geht aufwärts
Atemberaubende Aussicht


13.11. Unvermeidbar

Ganz neu lernen
Auf eigenen Füssen zu stehen
Das muss wohl so sein
Um endlich frei zu sein
Eigene Wege zu suchen und zu gehen
Mit Freude und Zuversicht


15.11. Organ

Wunder, Geschenk, Gnade,
das Alles und noch mehr,
wofür die Worte fehlen,
erst zu erfinden wären,
ist mir mein neues Herz.






15.11. Unterschied

Im Theater stehen am Ende
Auch die Leichen strahlend vor dem Vorhang.
Doch das Leben ist der Ernstfall,
und der Tod ist unwiderruflich.


16.11. So ist das nun mal

Keine Chance der Kontrolle
Darauf vertrauen müssen
Dass richtig gestellt sind
Medikamente und Diagnosen.

Um alles bitten müssen,
dabei dankbar und freundlich
voller Verständnis sein
für die Vergesslichkeit, für
die Launen und Schrullen
der Pfleger und Schwestern.

Nein, sei nicht ungerecht,
es gibt auch die anderen,
die etwas mehr tun als ihre Pflicht:
wohltuende Nähe und Teilnahme


16.11. Preis der Freiheit

Auf eigenen Füssen stehen
Die ewige Wiederkehr des Gleichen meiden
Ebenso die ausgetretenen Pfade in die Langeweile
Und die Holzwege in die Verzweiflung
Einsamkeit kann der Preis sein,
sich selber treu zu bleiben.


16.11. Einsicht

Was ist denn so schlimm daran,
wenn ich nicht mehr weiter kann.
Zur Ruhe kommen, vielleicht
Auch der Einsicht, dass nichts mehr geht,
wenn alles so weitergeht,
alles beim alten bleibt.
Nicht mehr weiter können.
Die Chance erkennen und ergreifen
Sein Leben ändern zu wollen.


16.11. Siehe, es ist sehr gut.

Zur Ruhe kommen
Innen und außen.
Ein paar Schritt Distanz
Zu sich selbst
Ein freudiges Erkennen
Fertig geworden
Geschaffen
Besser
Als mir zugetraut
Ich sehe mit Wohlgefallen
Auf mein Werk


16.11. gute Gesinnung


„Denke das Gute.“
Ist das alles
Bleibt Hoffnung Lüge
Vertrauen Betrug
Alles wie es ist
Sind wir alle
Unbehaust
Heimatlos


17.11. Vor dem Fenster

Buchenzweige, nur wenig Blätter
Die Sturm und Regen standhielten.
Heute morgen, schwarzer, kahler Zweig,
nur dieser eine vor dem Fenster,
behängt mit Dutzenden von Regentropfen
silbrig glänzend trotz fahlem Licht.
Erklären können mir die Physiker fast alles,
nur nicht das Wesentliche,
nicht die Schönheit des Anblicks,
nicht die geweckten Erinnerungen.


18.11. Sprachräume

Befindlichkeiten beschreiben
Erfahrungen bezeichnen
Noch Ungewohntes namhaft machen.
So den Ängsten Grenzen setzen
Raum der Freiheit
Der Geborgenheit erweitert.
Leben ergreift Chance,
Freude beginnt zu blühen.


19.11. Idylle

An die Apothekerzeitung,
manchmal auch die Tageszeitung
verkauft er die Witze
die nach dem Rasenmähen
auf der Terrasse hinterm Haus
bei einem Bierchen ihm einfallen.
Nicht auf den Hund, sondern
Auf einen Mähtraktor
Ist er dadurch gekommen .
Weit hat er es gebracht.


19.11. Ordnung

Jeden Freitagnachmittag
Bei jedem Wetter
Von März bis November
Sitzt er auf dem
Mähtraktor
Beschneidet seinen Rasen
Genau acht mal vier Meter.


22.11. Morgengebet

Flieg, Gedanke meiner Freude
Breit aus die Flügel beide
Verbreite Licht und Heiterkeit
In den dunklen jungen Tag
Durch dein Lied, deinen Flug.


23.11. irisches Märchen

geschwächt, gelitten, fast zerbrochen
am bewahrten Geheimnis
wurden zu Zeugen drei Bäume
vom hier Gestürzten bezeichnet.
Sie wollen und können nicht schweigen.
Dem ahnenden Reisenden
Geübt im Hören des Fremden
Wispern sie ihr Geheimnis zu:
Der König hat Eselsohren.


24.11. Vorbereitung

In genau 30 Tagen ist Heilig Abend
Was schenke ich dem Heruntergekommenen,
dem Mensch geborenen Gott,
dessen Geburt an diesem Tag
erinnert, vergegenwärtigt wird.


24.11. Zeitrechnung

Seltsam, wie nach einer Geburt
Wird geantwortet auf die Frage
Nach dem Alter in Tagen und Wochen.
Später werde auch ich – so ist zu hoffen –
In Jahren und Monaten benennen
Seit wann ich habe mein neues Herz.


24.11. Klage 1995

Die Zeiten sind schlecht
Da ist nicht dran zu denken
Auch nur für’s Gröbste
Noch Personal zu bekommen
Kartoffeln schälen, Hühnerstall
Ausmisten für Kost und
Logis in der Upkammer,
da sind die sich alle zu fein zu:
Ansprüche hat das Gesinde heutzutage.


24.11. Lässlich

Vorsätzliche moralische
Brandstiftung
Nennt der Täter
Einen kleinen Joke
Nicht wichtig genug
Am nächsten Sonntag
Gebeichtet zu werden.
Ob auch das Opfer
Nur einen Spaß darin sah,
hat keiner gefragt
vor seinem Tod.


24.11. Verzicht

Nicht länger leben
Wie die Mauerflechte
Die nie sich entfaltet
Niemals gewachsen ist
Aus Sorge sie könne
Ohne Absicht andere hindern
An ihrer Entwicklung.


26.11. Wir sind für alle da

Nicht austauschbare
Beliebigkeit
Gerade im Dialog
Profil zeigen
Identität wahren
Als zuverlässig erweisen
Nicht heute Pirelli
Morgen vielleicht Sarotti
Und übermorgen Löwensenf
Auf die Fahnen schreiben
Leichter ist es wohl
Unverbindliche Freundlichkeiten
Events mit Unterhaltungswert
Wahrheiten zu Sonderpreisen
Soaps mit hohen Einschaltquoten
Den Genasführten anzubieten
Doch werbewirksam ist das nicht
Auf dem Markt des global village
Und vor allem unglaubwürdig
Für ein Unternehmen mit dem Auftrag
Kirche aus der Kraft des Geistes zu sein


26.11. Traum

Der Traum von Friede
Freude und Gerechtigkeit
Ein politischer Traum
„Ich will den Frieden zu
deiner Obrigkeit und die
Gerechtigkeit zu deiner
Regierung machen.“
Nicht Sicherheit durch
Recht und Ordnung
Oder ähnlich Unbedachtes
Sondern Gewaltenteilung
Und Freude der Erlösten
Wenn die Zeit kommt
In der die Träume sich erfüllen
So wurde einst gesungen
Gehen Gott und die Menschen
Hand in Hand
Dann wird keiner
Sich seiner Nacktheit schämen
Wird nicht versuchen
Sich vor Gott zu verstecken
Jeder wird sein
Wozu er geschaffen
Ebenbild des Lebendigen


28.11. Kampf

Warum soll ich mir Mühe geben.
So reich wie Bill Gates werde ich nie.
Viel zu lange mit diesem
Verrückten Maßstab gelebt.
Viel zu oft gemeint,
vollkommen sein zumüssen.
Völliger Irrtum die Hoffnung
Dadurch beliebter zu sein.


28.11. Hoffnung

In aller Haltlosigkeit
Ergriffen vom Allerhöchsten
Durch das Tal Achor gegangen
Licht des Werdenden sichtbar
Spürbar Tränen der Freude
Ankunft des Heruntergekommenen

Hos 2,17



28.11. Nachtschicht

berufsbedingte Belastungen
mit sozial schädlichen Folgen
statistisch eindeutig erfassbar
Kein Trost für die Betroffenen
Bei aller Liebe zum Beruf
Zweifel an der Notwendigkeit
Als sinnlos erlebtes Opfer
In Freizeit und Privatleben
Hilfreich mag seine Routine
Doch nachtschwarz Außergewöhnliches
Kann alles infrage stellen
Ohnmächtig und wütend machen




28.11. Alternative

Verunsichert, orientierungslos
Veränderung schlägt ins Gesicht
Wie eisiger Schneesturm zu Ostern
Weite des Horizonts verschwimmt
In undefinierbarem Grau
Weh dem der jetzt allein
Wer Tisch und Bett mit niemand
Teilen kann enttäuscht
Vom Leben und sich selbst
Ergreift die Hoffnung er
Als letzten Balken in der Flut
Oder flüchtet sich in Vorurteil
In Fremdenhaß und wird zum Biest


29.11. ganz ehrlich

Freundschaft hinterrücks gekündigt
Die mehr zu werden droht
Als unverbindliche Geselligkeit.
Schlimmer noch die Feigheit
Dem zum Freund Ernannten
Nicht in die Augen sehen zu können
Ehrlicher wäre, sie würden
gleich sagen dass sie einen suchen
für Saufen und Schwarzarbeit


29.11. Kunst
Authentizität des Künstlers
Geheimnis des Schaffenden
Mythos der Überhöhung
Ins zeitlos Ästhetische
Gestalt gewordene Idee
Ausdruck des subjektiv
Zwingenden oder ganz einfach
Pragmatik des Verkäuflichen
Vielleicht auch hier bestenfalls
Mögliche Wahrheiten


Impressum

Texte: Alle Rechte an Text und Bild liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dem "Spender" meines Herzens,seinen Angehörigen und dem BDO

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