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Thilos Sicht


Mein Name ist Thilo. Ich bin 14 Jahre alt und eins der unzähligen Straßenkinder in New York City. Ganze sechs Monate lebe ich jetzt schon hier auf der Straße. Diese Monate haben schon ihre Spuren hinterlassen und mich geprägt. Meine Kleider sind schon längst zerrissen und dreckig, und meine Haut ist überseht mit kleinen Verletzungen, unter anderem auch Schürfwunden und leichte Prellungen. Aber das Schlimmste ist, dass ich Hautausschlag habe. In den letzten Tagen hat man schon gespürt, dass die Wintermonate in Anmarsch sind. Der Herbst verabschiedet sich langsam aber sicher. Es wird immer kälter - vor allem nachts. Die Nächte entwickeln sich zum Schlimmsten! Die Zeitungen aus den Müllcontainer und alles, was man noch so verbrennen kann, reicht bald nicht mehr zum Wärmen. Daher suchte ich am Abend einen Notschlafplatz - eine Halle in dem hunderte von Liegen aufgebaut sind -, aber es gibt dort für die unzähligen auf der Straße lebenden Menschen – darunter auch erschreckend viele Kinder - viel zu wenig Betten. Freunde habe ich keine. Ich habe auch schon früh hier auf der Straße gelernt, dass man niemand vertrauen kann. Wenn man Hilfe sucht, sucht man vergebens. Am besten hilft man sich selbst, denn auf den New Yorker Straßen weiß man nie, wer es wirklich ehrlich mit einem meint. Ja, und ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie ich den extrem kalten Winter in New York überstehen soll. Wahrscheinlich werde ich erfrieren oder verhungern. Und ich bin mir sicher, keiner wird mich vermissen.
Von den Drogen und dem Alkohol halte ich mich bis jetzt erfolgreich fern, weiß aber nicht wie lange ich dieser Verlockung noch widerstehen kann. Zumindest vom Alkohol, da man mir erzählte, dass er einen nachts warm halten würde, und Wärme ist das Wichtigste, was wir gebrauchen können. Vielleicht sollte ich nur einmal testen, ob es stimmt, was man sich drüber erzählt. Ich schaue nur äußerst ungern zurück auf mein Leben vor der Straße. Meine Vergangenheit, die möchte ich vergessen! Meine Eltern verstarben an einem Verkehrsunfall, als ich gerade mal 10 Jahre alt war, sodass ich danach ins Heim kam. Aber dort habe ich schreckliches erlebt, bis ich nach vier Höllenjahren entschloss, abzuhauen. Ich bin mir sicher, dass sie mich dort noch nicht einmal mehr suchen. Sie sind nun eine Last mehr los und vermissen, das tut mich bestimmt niemand, da ich keine Eltern mehr habe. Wer jetzt meint, da gäbe es noch die Polizei, der irrt sich. Auch die Polizei kümmert sich einen Dreck um uns Straßenkinder. Wir sind für sie ein Abschaum und hausen zu Recht im Dreck, da wir kriminell sind und gefährliche Krankheiten mit uns herumtragen. Dass wir täglich um unser Leben kämpfen, dass das Leben auf der Straße extrem hart ist, das möchte keiner sehen. Es ist für alle uninteressant!

Emilios Sicht


Mein Beruf war Streetworker. Meine Arbeitsfeld die Straßen von New York. Bevorzugt waren meine Klienten, die Kinder. Meine Aufgabe war es, sie im besten Fall von der Straße zu holen, sodass sie sich zurück in ein normales Leben mit Schule, Arbeit und vor allem mit einer schützenden Wohnung eingliedern konnten. Aber wie gesagt, das war der günstigste Fall. Leider gelang es mir nur selten - zu selten für meinen Geschmack! Ich wollte am liebsten allen Kindern auf der Straße helfen, doch es waren zu viele. Ein unmögliches Unterfangen und Wunschdenken. So musste ich mich mit dem zufrieden geben, was mir möglich war - die Kinder auffangen und versuchen zu retten. Ich durfte mich aber auch nicht zu sehr mit den Kids anfreunden - deren oftmals schrecklichen Geschichten zu nah an mich dran lassen -, da es schlussendlich nur Klienten waren. Wenn ich bei einem versagte, dann sollte das wohl so sein, dennoch tat mir jedes Kind, das rückfällig wurde, dem ich nicht helfen konnte, im Herzen leid. Natürlich gab ich bei einem Rückfall nicht auf! Versagt hatte ich im Grunde erst, wenn mein Klient - aufgrund seiner schlechten Lebensumstände - zu Tode kam oder er 18 Jahre alt wurde und leider nicht mehr meiner Verantwortung unterlag. Nur wenn es ein Klient ausdrücklich wünschte, betreute ich diesen noch über den 18. Geburtstag hinaus. Glücklicherweise verstarben bisher nur in den wenigsten Fällen einer meiner Schützlinge. Mein Vorgesetzter meinte, dass ich viel zu oft eine zu tiefe Beziehung zu den Jugendlichen aufbaue, sie zu nah an mich heran lasse und mich ein mögliches Versagen deswegen so sehr mitnahm. Aber ich fand, gerade weil ich für die Kindern und Jugendlichen mehr als nur ein blöder Sozialarbeiter war, war ich so erfolgreich und die Schützlinge vertrauten mir ihre Sorgen an. In Zeiten der tiefsten Not, wenn sie keinen außer sich selber hatten, kam ich und war deren Rettungsanker. An mich konnten sie sich wenden und festhalten. Wenn sie eine Schulter zum Ausweinen brauchten, war ich da! Brauchten sie einen Kummerkasten, bot ich mich an! Oft bin ich das Einzige, was sie noch haben, und auf mich können sie sich auch verlassen! Ich half den Kids, anstatt ihnen noch mehr Leid zu zufügen. Klar, bis sie mir Vertrauen schenkten und mich an sich ran ließen, war es oft ein weiter und harter Weg und es gab auch schon welche, deren Vertrauen ich nie erlangt hatte, denen ich leider keine Rettung sein konnte, aber im Grunde knackte ich fast jede harte Schale, die man sich bei einem Leben auf der Straße aufbaute. Mein Beruf als Streetworker liebte und übte ich mit Freude aus. Jedes Kind oder jeder Jugendlicher, den ich zurück in ein soziales Umfeld helfen konnte, war Dank genug und erfüllte mein Herz mit so einer Freude, die man sich – meiner Meinung nach - nur in diesem Beruf holen konnte.

Heute fuhr ich mit dem Essensbus zu den Obdachlosen, die auf verschieden Plätzen von New York lebten. Wir teilten warme Suppen, Getränke und Decken aus oder im Sommer auch kühle Getränke. Aber da der Winter vor der Türe stand, gab es warme Sachen für die Leute. Gerade parkten wir an einem Ort, wo sich hauptsächlich Straßenkinder am Straßenrand vor eine kleine Seitengasse taumelten. Sie schliefen auf Kartons, die oft vom Regen durchnässt waren. Im Winter würden einige von ihnen an diesem Ort sicherlich den Tod finden, daher verbrachten sie zum Glück nur bis zum ersten Eintreffen des Schnees dort ihre Abende und Tage. Da eng aneinander stehende Häuser die Gasse vor Wind schützte, waren sie dort im Frühling, Sommer und Herbst einigermaßen geschützt, aber trotzdem war es jedes Mal ein erbärmlicher Anblick, die Kinder und Jugendlichen so hausen zu sehen. Auch heute war es nicht anderes. Kaum eingetroffen, wurden wir schon von einer Horde Rudel umzingelt, die heute Erschreckenderweise nur aus Kindern im Alter von 13-18 Jahren bestand. Aber es war wirklich schwer einzuschätzen, wie alt die Leute waren, die täglich um ihr Überleben kämpften. In der ganzen Masse - es waren bestimmt um die 30 - fiel mir sofort ein jüngerer blondhaariger Junge, der schüchtern in der Ecke stand und nicht älter als 15 Jahre sein musste, auf. Seine blauen Augen sahen leer und total verletzt aus, als hätte er nichts mehr zu verlieren. Seine Klamotten nach zu urteilen, wohnte er auch nicht erst seit gestern auf der Straße, sondern schon eine längere Zeit. Sofort schöpfte ich einen Teller voll Suppe und trat auf diesen hoffnungslos wirkenden Jungen zu.

Thilos Sicht


Ich fühlte mich heute nicht so gut. Mein Knöchel an dem rechten Fuß, mit dem ich gestern - nachdem ich einen Obsthändler eine Banane geklaut hatte – umgeknickt war, schmerzte. Da ich aber so einen großen Hunger hatte, klaute ich die Banane, was eigentlich nicht einmal Diebstahl, sondern eher Mundraub war. Ich hatte Hunger gehabt und da es für mich weder die Möglichkeit gab an Essen oder an Geld heranzukommen, musste ich klauen, um mein Überleben zu sicher. Aber diese Händler sahen dies anders! Eine gestohlene Banane, ein gestohlener Apfel oder auch andere gestohlene Obstsorten, waren für sie Verluste. Doch als ob die paar Cent sie arm machte, dass ich nicht lachte. Wie eine Furie ging dieser Händler auf mich zu und schlug mich ein paar Mal, wodurch ich mir ein paar blaue Flecken mehr einhandelte, aber das war nicht schlimm, denn wenigstens war ich schneller und gewann eine Banane. Diese kleine hart erkämpfte Banane gab mir neue Kraft und Energie. Da jeder Schritt schmerzte, blieb ich heute also auf meinem Karton in der Gasse - die von uns Straßenkinder liebevoll Sommervilla genannt wurde - und sah ein paar Bewohnern beim Fußballspielen mit einer Dose zu. Ich fand es bemerkenswert, wie sie in solchen Situationen immer noch Spaß am Spielen hatten und lachen konnten. Mir hingegen, war der Spaß an jeglichen Dingen schon längst vergangen. Man könnte fast schon sagen: mir wurde das Lachen aus der Seele geprügelt, im wahrsten Sinne des Wortes. Gegen Nachtmittag parkte dann plötzlich vor der Gasse ein Kleinbus, wo ein paar Menschen - zwei Herren und zwei Frauen – ausstiegen und einen Tisch mit einem dampfenden Behälter und ein paar Suppentellern, aufstellten. Kaum hatten sie geparkt, stürmten sie alle darauf zu. Ich hatte schon öfter gehört, dass die Sozialorganisation „ANGEL´S FOR STREET“ in regelmäßigen Abständen an Standorten, wo Obdachlose hausten, vorbei kamen, um etwas zu helfen. Ich persönlich war ihnen noch nie begegnet - bis heute! Langsam humpelte ich nun darauf zu, aber blieb erstmal noch an der Wand stehen und sah zu, was so gemacht wurde. Allerdings schien einer der Männer - der größte von ihnen - mich bemerkt zu haben. Er betrachtete mich und kam dann mit einer - ich vermutete, dass es eine heiße Suppe war - auf mich zu gelaufen.

Emilios Sicht


„Hey! Mein Name ist Emilio und ich bin ein Streetworker! Du hast sicher Hunger“, sagte ich, als ich bei ihm war und ihm die Schüssel voller Suppe reichte. Der Junge schaute mich überrascht und zugleich dankbar an. Schüchtern und leicht zögernd griff er nach der Schüssel. Sein Blick signalisierte so etwas wie: Ist das echt für mich? woraufhin ich ihm mit einem Nicken zu verstehen gab: Ja, es ist für dich! Daraufhin nahm er die Schüssel, ließ sich langsam an der Wand herunter gleiten und stellte die heiße Schüssel auf seine Knie. Dann sah er zu mir hoch und sagte leise und schüchtern: „Danke!“
„Bitte“, erwiderte ich und kniete mich langsam neben ihn. Sofort begann der blonde Junge von der Suppe zu essen. Nach wenige Minuten fragte er mich, was denn ein Streetworker sei, und ich erklärte ihm: „Wir sind da, um Straßenkindern zu helfen.“ Bewusst verschwieg ich ihm, dass es unser Ziel war, die Kinder von der Straße wegzubekommen, da ich so am besten das Vertrauen aufbauen konnte, ohne sie zu verschrecken und von mir wegzuscheuchen. Ich musste von diesem Jungen zuerst sein Vertrauen erlangen. Ohne Vertrauen ging nichts! Ohne Vertrauen konnte man alles vergessen! Sein Vertrauen zu bekommen, war ein schweres Ziel, das es zu erreichen galt! „Hilfe? Sie scherzen doch? Hilfe? Das ich nicht lache. Nur von sich selbst bekommt man hier draußen Hilfe. NIEMAND … hören Sie? Niemand hilft einem hier draußen! Wenn man hier überleben möchte, darf man keinem vertrauen und steht alleine da, denn jegliche Hilfe - auf die man vielleicht angewiesen wäre - wird einem verwehrt!“ Mir taten die Sätze weh. Er sprach sie nicht verbittert aus, sondern so als sei er verletzt. Dieser - ich vermutete mal 14 oder 15 Jährige Junge – musste sehr schlimme Sachen durchgemacht haben. Und das Schlimmste daran war: Er hatte Recht! Recht mit dem, was er sagte. Diesen Kindern half man nicht. Sie bekamen keine Hilfe und wussten auch oft nicht mal, woher sie diese bekommen könnten. Da waren wir Streetworker der „Angel´s of Street“ Organisation oftmals auch die einzige Hilfe, die sie bekamen.
„Nein, ich scherze nicht. Es ist mein Ernst! Wir helfen Kindern wie dir, ehrlich. Und ich helfe dir auch gerne. Wie alt bist du denn und wie darf ich dich nennen?“
Der Junge schaute mich mit ganz großen Augen an, als wäre ich der Weihnachtsmann. Ich merkte, dass er die Regel der Straße nur sehr genau kannte und wusste, dass man niemandem glauben durfte. Er musste schon eine ganze Weile auf der Straße leben, was mir auch seine zerrissenen Klamotten und sein dünner Körperbau verrieten. Man sah ihm sofort an, dass er eines der unzähligen Straßenkindern New Yorks war.
„Ähm … ich bin 14 Jahre, und Sie dürfen mich ruhig Thilo nennen“, sagte er wenige Minuten später mit einem immer noch ungläubigen Klang in der Stimme. Ich vermutete mal, dass er es drauf ankommen ließ, da er nichts mehr zu verlieren hatte. Wahrscheinlich ließ er sich darauf ein, um zu schauen, was daraus werden würde. Damit war der erste Schritt getan! Der erste Schritt zu einer Besserung und der Zusammenarbeit zwischen uns beiden! Es war auch höchste Zeit, dass ich Thilo fand. Ich hätte ihn schon viel früher treffen und mit ihm arbeiten müssen. Für ihn war es höchste Zeit! Mir war klar: Bevor der Winter einbrechen würde, müsste ich Thilo von der Straße geholt haben, denn sonst würde er sterben!

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Tag der Veröffentlichung: 23.01.2012

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