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Irgendwann, irgendwo...
Lächelnd sitzt er vor mir. Eine dicke Perlenkette schmückt seinen gewaltigen Bauch, die Füße sind
verschränkt und die Augen zu kleinen, listigen Schlitzen zusammengekniffen. Ich sehe ihn an. Eine
Minute vergeht. Er lächelt. Nichts verändert sich. Er ist die Ruhe selbst.
Ich nicht. Ich wackle auf meinem Stuhl hin und her, schaue ihn an, lasse meinen Blick immer wieder
schweifen. Seine Ruhe macht mich nervös. Um mich abzulenken, fixiere ich die Uhr, die neben mir
auf dem Regal steht. Der Sekundenzeiger rückt unermüdlich von einem Strich zum nächsten. Tack,
tack, tack… Metronom meiner Sekunden, Stunden, Lebensjahre.
Und er? Rückt keinen Millimeter nach rechts oder links. Er sitzt. Selbstverständlich, als gehöre ihm
die Zeit der Welt. Starr wie ein Fels und doch lebendiger als das Ticken der Uhr.
Ich fühle mich unbehaglich. Sollte ich nicht irgendetwas tun? Eine CD einlegen? Mir fällt Reinhard
Mey ein. Ein Livemitschnitt von 1970. Mein Gott, das ist 39 Jahre her. Mein Taschenrechner streikt,
als ich versuche, 39 Jahre in jedes einzelne „tack, tack“ umzurechnen.
Wie komme ich jetzt auf Reinhard Mey?
„...Irgendwie, irgendwann, wenn es regnet denk ich manchmal dran und dann sehe ich sie vor mir
stehen...
eine kleine nasse Kreatur, blickte unablässig auf die Uhr und sie wartete auf irgendwen...“
Es geht wohl um verpasste Gelegenheiten.
Was verpasst ein Buddha, wenn er da sitzt und nichts macht?
Was verpasse ich, wenn ich so da sitze, nichts mache, außer zuzusehen, wie er nichts macht?
Was für eine Zeitverschwendung. Ich trinke Wein und starre auf eine Figur aus Stein.
Er lächelt.
Ob ich mich in 39 Jahren noch daran erinnern kann? Welche Qualität muss ein Augenblick haben,
damit wir ihn speichern? Was macht eine Sekunde kostbar? Sinnloses? Sinnvolles?
Mein Glas ist leer. Ich stehe auf, verliere den Buddha für einen Moment aus den Augen. Wird er mir
folgen? Jedenfalls fühle ich mich beobachtet. Mit einem vollen Glas in der Hand kehre ich zurück.
Er sitzt und lächelt.
Ich setze mich zu ihm, schließe die Augen und denke über kostbare Sekunden in meinem Leben
nach. Es waren eher die unspektakulären Momente.
Eine Autofahrt. Vorbei an gelben Rapsfeldern. Windräder drehen sich im Hintergrund, U2 dröhnt aus
den Boxen und dann plötzlich passiert es. Für den Bruchteil einer Sekunde hat alles um mich herum
den selben Rhythmus. Gleichklang der Welt. Zeitfenster für alle Sinne. Sein im Augenblick.
Jetzt lächle ich. Reinhard Mey singt vom Schuttabladeplatz der Zeit und ich frage mich, was das
Letzte sein wird, woran ich denken werde, bevor meine Zeit auf dieser Welt ihrem Ende entgegen
geht. An die Gesichter meiner Kinder? An das Meer?
Wehmut erfasst mich. Ein dumpfes Gefühl steigt von der Magengegend hoch in den Brustraum und
endet als unangenehmes Kribbeln im Rachen. Ich nenne es das “Todesgefühl“. Es kommt, wenn ich
mir vorstelle, dass es mich eines Tages nicht mehr gibt. Es kommt, wenn ich mir vorstelle, dass die
Gewissheit, dass ich eben ich bin, sich auflöst in einem grauen Nebel aus zeitlosem Nichts. Eine
endliche Geschichte. Das macht mir Angst.
Wie viele Menschen werden sich 36 Jahre nach meinem Tod noch an mich erinnern? Wie muss ich
meine Zeit nutzen, damit etwas von mir bleibt?
Das Todesgefühl macht einem kämpferischen Strategen Platz. „Rück mal zur Seite, hier gibt es was
zu planen!“
Vielleicht sind es gerade die Gedanken an begrenzte Zeit, die vorhandene Zeit so wertvoll
erscheinen lassen.
„Tack, tack“ tickt die Uhr.
Ich trinke einen Schluck, spüre, wie der Wein durch meinen Körper fließt und beschließe, den
Abend ohne Lebensplanung ausklingen zu lassen. Mein Glas ist halbvoll oder halbleer und Zeit ist
relativ. Absolut betrachtet bleiben mir vielleicht noch 40 Jahre. Genug Zeit um zu leben. Zu wenig
Zeit um alles zu erleben. Genug Zeit um vieles noch mal von vorn zu beginnen. Zu wenig Zeit um
neu anzufangen.
Was soll’s. Ich schaue meinen Buddha an, sitze, lächle und schon ist Zeit eine Ewigkeit. Nicht
irgendwann, nicht irgendwo, sondern hier und jetzt.

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Tag der Veröffentlichung: 07.05.2009

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