Ich atmete schwer. Lasse meine Hand noch zwischen meinen Schenkeln liegen. Vorstellungen verblassen langsam und räumen der Wirklichkeit den Platz. Das Kribbeln verabschiedet sich leise, ich öffne die Augen, blicke mich im Raum um. Draußen auf der Straße hupt jemand. Eine Alarmanlage springt an. Nein, schämen will ich mich nicht. Ich bin einsam. Mitten in meiner Familie, mitten in meinem Leben. Die Lust spendet mir Trost. Wenigsten für einen kurzen Moment löst sich ungeliebtes Leben im Rausch der Ekstase auf. Dann gibt es nur noch mich und Schwänze, die sich an mir reiben, Finger die jede meiner Öffnungen erforschen und Samen, der sich über mir im Schwall ergießt. Es ist nicht die Erotik, die mir in meiner Beziehung fehlt. Ich bin es, die verloren gegangen ist. Irgendwo auf dem Weg habe ich mich sitzengelassen und bin einfach weitergegangen. Ohne mich umzuschauen, ohne es zu bemerken. Und nun liege ich hier, suche nach einem Weg, die Leere zu füllen. Versuche den Platz, der meiner war, neu zu besetzen. Mit Kindern, mit Freunden, mit Arbeit, Alkohol, mit Selbstbefriedigung, die mir selbst keinen Frieden bringt. Manchmal sieht es so aus, als hätte ich Erfolg. Dann kehrt für einen kurzen Moment das Leuchten in meine Augen zurück. Leider nur um sich anschließend für eine noch längere Zeit zu verabschieden. Das Telefon klingelt. Ich gehe nicht ran. Bald gehe ich auch nicht mehr raus. Es wird der Tag kommen, da stehe ich nicht einmal mehr auf. Wozu auch. Die Welt drinnen ist still. Vielleicht kann ich mich ja irgendwann rufen hören. Vielleicht gebe ich mir selbst ein Zeichen. Dann will ich das auf keinen Fall verpassen. Noch bemerkt niemand, wie es mir geht. Die Fassade ist perfekt. Alles ist unter Kontrolle. Nichts was das Bild trübt. Eine Vorzeigefrau, eine Mutter, eine, die nebenher ihren Job macht. Noch. Bis zu dem Tag, wo alles zusammenbricht.
"Frau Berlohr, können Sie mich hören?" "Ja doch" rufe ich schon zum dritten Mal. Doch der Mann im weißen Kittel scheint es nicht zu bemerken. "Frau Berlohr!" Augenblicklich wird mir klar, was hier passiert. Ich liege auf einer Liege. Der Raum ist in gleißendes Licht getaucht, ein Mann beugt sich über mich und versucht offensichtlich, mich zu wecken. Es gelingt ihm nicht. Kein Wunder. Mein Bewusstsein ist nicht in meinem Körper. Aber es ist wieder da. Das was ich gestern noch verloren glaubte, ist zurück. Während meine Hülle auf dem OP-Tisch liegt, schwebe ich über dem Szenario und weiß plötzlich wieder worum es geht. Warum ich hier bin, was meine Aufgabe ist. Alle Antworten, die gestern noch im Nebel lagen, stehen plötzlich wie eine fette Leuchtreklame vor mir. Zeit vergeht. Sie kämpfen um mein Leben. Währenddessen ich an der Schwelle stehe und zögere. Ein Kanal öffnet sich, er ist in warmes Licht gehüllt. Magische Klänge fesseln mich, ziehen mich in den Kanal. Ein göttliches Gefühl will mich in Besitz nehmen. Irgendetwas in mir wehrt sich. Jetzt noch nicht. Ich trete einen Schritt zurück, stürze in einen Abgrund. Die Reise beginnt. Um mich herum entsteht ein Meer, das ungebändigt tost und brodelt. Schäumende Wellen türmen sich meterhoch auf, brechen über mir, verschlingen mich, wirbeln mich umher und spucken mich wieder aus. Meine Gedanken gehorchen mir nicht mehr. Zeit löst sich auf. Ich existiere nur noch zwischen den Sekunden. Hier gibt es keine Kontrolle mehr, keine Strategie. Alles ist ohne Struktur, nichts verläuft linear. Bestehen kann ich nur, wenn ich loslasse. Mich verabschiede von all dem, was ich glaubte zu sein. Ich lasse mich mitreißen ohne mich zu wehren. Gleichzeitig fällt mir ein Erlebnis aus meiner Kindheit ein. Ich war ein kleines Mädchen, habe am Strand von Hiddensee nach Bernsteinen gesucht. Marianne, die mich begleite, erzählte mir die Geschichte vom Leuchturmwärter, der nach den kräftigen Stürmen morgens in aller Frühe mit einer Taschenlampe in der Hand den Strand auf und ab geht, um nach Bernsteinen zu suchen. Lange bevor die ersten Strandspaziergänger auf den Beinen sind, bevor Touristen den Strand absuchen, geht er Tag für Tag seine Runde, um wenig später Taschen voller Bernsteine zum Leuchtturm zu tragen. Die Geschichte hat mich immer fasziniert. Ich habe mir einen kleinen Mann vorgestellt, der sich, mit hochgezogenen Schultern, den Körper mit Regenjacke, den Kopf mit Südwester geschützt, die Steilküste entlang kämpft. Der Wind peitscht ihm in das von Sonne und Salzluft gegerbte Gesicht, neben ihm brüllt und schäumt das Meer, aufgewühlt, wild und dunkel. Unbeeindruckt dessen, was um ihn herum geschieht, setzt er seine Suche fort. Stein für Stein dreht er um, hebt angespülten Seetang hoch. Hat er etwas gefunden, dann prüft er die Fundstücke durch leichtes Klopfen an die Zähne. Echter Bernstein klingt nicht hell wie Glas sondern dumpf wie Holz. Ich weiß jetzt, dass es diesen Leuchtturmwärter wirklich gab. Ich weiß jetzt, dass es eine Verbindung zwischen mir und ihm gibt. Wir sind zwei Suchende. Umgeben von schäumenden Wellen, gefährlichen Steilklippen und immer der Gefahr ausgesetzt, im nächsten Moment von der gewaltigen Kraft der Natur in endlose Untiefen gerissen zu werden. Gegensätzlich sind nur unsere Ziele. Während er nach Schiffen in Not, abgerutschten Steilhängen oder sonstigen Sturmschäden sucht, treibt mich die Suche nach dem Retter. Zu oft habe ich mich in meinem Leben gefühlt, wie auf einem sinkenden Schiff, zu oft bin ich abgerutscht oder einfach vom Weg abgekommen. Vielleicht hätte ich einfach nach ihm rufen sollen. Plötzlich verschwindet das Meer so schnell, wie es gekommen ist. Ich verstehe gerade noch, dass das nur die Vorstufe war, da fetzt es mich auch schon auseinander. Ich schreie laut auf. Der Schmerz bricht aus jeder Zelle heraus und baut sich vor mir auf zu einem riesigen, fauchenden und speienden Ungeheuer. Ich verspüre nur noch einen Wunsch. Ich will kämpfen. Mich wehren gegen die Macht, die mein Leben bedroht. Gegen den Schmerz, der mich zerreißt, der sich eingebrannt hat wie ein Siegel und sich gleichzeitig windet, wie ein schleimiger ekliger Monsterwurm. Jetzt steht er vor mir und ich schreie ihn an. „Kämpfe mit mir!“ Ich schlage ihm meine Fäuste in den Leib. Er schlägt zurück. Ich schlage fester. „Kämpfe mit mir!“ Die Wucht meiner Schläge ist gewaltig. Lange zurückgehaltene Energie. Ein Damm der plötzlich bricht. Wassermassen, die sich aus der Gefangenschaft befreien. Eine Welle der Wut überrollt mich. Tränen laufen über mein Gesicht. Sie spülen alles an die Oberfläche. Bilder aus meiner Kindheit, Worte die sich in meine Seele geätzt haben, Verluste, die mir den Boden unter den Füßen weg schlugen. Wie viel kann ein Mensch ertragen? Irgendwie bin ich immer wieder aufgestanden, habe mir den Staub aus den Kleidern geklopft und eine weitere Schicht Erfahrung auf meine Seele gelegt. Bis zu dem Tag, wo der Druck unerträglich wurde. Plötzlich habe ich mich selbst nicht mehr gefunden unter den Sedimenten meiner Vergangenheit. Aber damit ist jetzt Schluss. Heute hole ich mir mein Leben zurück. Meine Fäuste hämmern in den Leib des Monsters, ich fühle den Schmerz und spüre gleichzeitig die Erlösung in jedem dieser Schläge. „Frau Belohr!“ brüllt jemand neben mir. Grollende, monströse Laute steigen hoch. Ich öffne den Mund und spucke sie heraus. Ich fühle mich selbst wie das Monster, wie ein verwundetes Tier, das um sein Leben kämpft. Kurz blitzt der Gedanke auf, aufzuhören, die Augen zu öffnen, um den Spuk zu beenden. Nein. Ich will da durch. Ich will da durch, weil es der einzige Weg ist, mich zu retten, mir selbst den Südwester und die Regenjacke anzuziehen. Wie viel Zeit ist vergangen? Kann ich innehalten, Kraft sammeln? Ich beobachte das Ungeheuer. Es ist auf Augenhöhe geschrumpft. Schnaufend und erschöpft stehen wir uns gegenüber, den Blick fest auf die Augen des anderen gerichtet. Nur nicht wegschauen. Ich spüre meine Kraft, meinen Herzschlag und weiß plötzlich, dass ich nicht mehr davon laufen muss. Das Monster dreht sich weg und kriecht davon. Etwas in mir verändert sich. Das Tosen legt sich. Es wird still. Ich bin auf dem Grund des Strudels angelangt. Ich fühle den Boden unter mir und lasse den Kopf nach vorn sinken. Haare kleben in meinem Gesicht, meine Lippen schmecken salzig. Die Wut ist verebbt, das Meer taucht wieder auf. Glitzernd, ruhig und spiegelglatt. Ich stehe am Strand, lasse meinen Blick schweifen, da taucht am Horizont eine Gestalt auf. Verschwommen, vernebelt. Ich erkenne ein kleines Mädchen. Sie sucht Bernsteine, denke ich und nähere mich langsam. Ich bin aufgeregt, weiß, was mich erwartet. Das Mädchen bin ich. Mit einem Mal wird mir klar, wie viel Kraft ich aufgewendet habe, damit dieses Kind mich nicht findet. Ich habe am Wegrand abgesetzt, habe später vorgegeben es zu suchen und habe mich doch immer vor ihm versteckt. Versteckt vor diesem fröhlichen Wesen mit all seiner Vitalität, seiner Präsenz und Lebensfreude. Und alles nur aus Angst, dass es den erlebten Schmerz, das endlose Gefühl der Einsamkeit und all die damit verbundene Traurigkeit über mir ausschüttet, wenn ich mich ihm zuwende. Pseudoharmonie habe ich über sein Gefängnis gebaut. Doch was nützt ein Palast, wenn unter der Erde ein Vulkan brodelt. Das Kind in mir hat rebelliert. Es hat mich blockiert, behindert, festgehalten, wo es konnte. Dabei hat es gefleht: „Hohl mich hier raus!“ Aber seine Stimme verhallte in mir. Ich habe weggehört. Mich abgelenkt, zugeschüttet, betäubt. Nun lächelt das Mädchen mich an, streckt mir erwartungsvoll die Hand entgegen. Auf der Hand glitzern kleine Bernsteine. Ich zögere einen kurzen Moment. Blicke mich noch einmal um. Das Meer plätschert leise und friedlich. Schnell greife ich die Hand, ziehe das Kind zu mir heran und wiege es in meinen Armen. Unsere Körper schmiegen sich aneinander bis die Konturen verschwimmen, wir eins werden. Es wird hell in mir. Die Bilder lösen sich auf und mich umhüllt ein tiefes Gefühl von Frieden und Demut. Ich öffne die Augen. "Frau Berlohr, können Sie mich hören?" Ich nicke. Dann spüre ich, wie jemand meine Hand ergreift. Ich drehe den Kopf zur Seite. Neben dem Arzt steht meine kleine Tochter. Tränen rollen über ihre Wangen. "Mami ist wieder da." Die Worte kommen flüsternd aus meinem Mund. Dann falle ich in einen tiefen Schlaf.
Tag der Veröffentlichung: 06.05.2009
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dem Leben