Cover

Im gelblichen Schein des zunehmenden Mondes lag er zusammengekrümmt in dem Käfig, in den sie ihn nachts sperrten, einem Käfig, der so klein war, dass er ihm nicht erlaubte, sich auszustrecken. Die hölzernen Gitterstäbe zerschnitten das Licht in Streifen. Das Holz war alt und hart wie Eisen – er hatte mehrfach versucht, es zu zerbrechen, ja sogar hineingebissen. Nutzlos. Die Nacht war kalt, der Boden war hart, seine Haltung war schrecklich unbequem. Aber schlimmer als der Hunger, als die Krämpfe in seinen Muskeln, brannten Wut und Scham in ihm. Er zitterte. Er wollte nichts als fort zu kommen, fort, fort, ganz egal, wohin. Leider gab es nichts in dem Käfig, das ihm dazu hätte nützen können. Nur den Boden, die Stäbe, einen Wasserkrug aus Ton ... er sog scharf die Luft ein und setzte sich auf. Der Krug.
Das irdene Gefäß klirrte nur leise, als es auf dem Boden zerbrach. Er zog die größte Scherbe aus dem Haufen, sie war scharf. Nur ein wenig, natürlich. Aber vielleicht scharf genug. Zuerst versuchte er, ob er nicht den Käfig damit beschädigen könnte. Er sägte ein wenig an den Stäben, bemühte sich, sie aus ihrer Halterung zu lösen. Dann probierte er es mit dem Schloss. Erfolglos. Etwa eine Stunde verging, er bemerkte es daran, dass die Lichtstreifen sich bewegten. Schließlich gab er diese Idee auf. Er musste sich beeilen, er würde nur diese Nacht haben. Also gut. Es blieb noch genug Zeit für seinen zweiten Plan. Fort, egal wohin. Er prüfte die Spitze am Ende der Scherbe. Nicht sehr spitz. Aber auf jeden Fall spitz genug. Er nahm sie fest in die rechte Hand, streckte den linken Arm aus. Am Handgelenk. Das würde am einfachsten sein. Er umklammerte die Scherbe so fest, dass seine Hand schmerzte. Doch er zögerte nicht. Er holte aus und stieß mit aller Kraft zu.

Als die Sterne verblassten, verließ Efreth das große Zelt seiner Familie. Er ging ein paar Schritte abseits, um zu pinkeln. Dann rieb er sich noch ein wenig schläfrig die Augen und beschloss, nach dem Sklaven zu sehen. Er ging ein paar Schritte zu dem Holzkäfig, der im Freien neben dem Zelt stand, so, dass er für jeden gut zu sehen war. Dieser Käfig war auch ein Symbol.
„Aris“, sagte Efreth laut. „Genug geschlafen, Aris“.
Dann sah er den Käfig und stieß einen wütenden Fluch aus. Das Blut bedeckte den ganzen Boden, es war zwischen den Stäben hindurch gelaufen und in die Erde gesickert. Efreth nahm den Schlüssel, der an einer Kette um seinen Hals hing und öffnete das Schloss. Noch immer lästerlich fluchend beugte er sich über die reglose Gestalt.
„Aris!“ Er rüttelte ihn an der Schulter. Nichts. Er rüttelte wieder, heftiger.
Langsam verzog der Bewusstlose das Gesicht und blinzelte.
„Noch nicht tot ...“ murmelte Efreth. „Du hast Pech gehabt“. Er stand auf und versetzte dem Liegenden einen Tritt.
„Du bist noch nicht tot!“, brüllte er triumphierend. „Und du wirst nicht sterben, dafür sorge ich! Du Ratte, du Wurm, wie kannst du es wagen! Du Schandfleck! Nein, du stirbst nicht! Du wirst geheilt, und sobald du wieder stehen kannst, werde ich dich vor allen Leuten windelweich prügeln!“
Er packte den dürren Körper und warf ihn sich über die Schulter wie einen Sack Korn. Dann stapfte er mit ihm zum Zelt des Heilers.

Er erwachte in muffigem Halbdunkel, das intensiv nach Kräutern duftete. Seine Handgelenke pochten dumpf. Dann plötzlich spürte er einen stechenden Schmerz, der ihn beinah laut aufschreien ließ. Doch er beherrschte sich. Er versuchte nachzudenken. Tastende Finger auf seinem Arm, ein Ziehen, das ebenso schmerzte wie der Stich zuvor. Er erinnerte sich langsam und begriff, wo er sein musste, was gerade geschah. Zuerst überflutete ihn die Enttäuschung. Er lebte. Er fühlte sich sehr schwach, aber nicht, als werde er gleich sterben. Leider. Ein neuer Stich, wieder das Ziehen. Er hielt die Augen weiterhin geschlossen und lauschte auf seine Umgebung. Der Heiler, der seine Wunde nähte, summte leise eine Melodie. Sonst kein Laut. Sie waren allein in dem düsteren Zelt. Das bedeutete, dass nicht alle Hoffnung verloren war. Er wartete, bis die Stiche aufhörten, der Alte etwas Kühles, Feuchtes auf die Nähte strich, Stoff darum wickelte. Dann spürte er den nach Salbei riechenden Atem ganz nah an seinem Gesicht. Er zuckte nicht mit der Wimper.
„Du wirst leben ...“, murmelte der alte Mann. In seiner Stimme schwang Mitleid. Aris öffnete die Augen nicht, als er schnell die Hände um seinen Hals legte. Er drückte, auf die Luftröhre, den Kehlkopf. Der Heiler zappelte, konnte sich aber nicht befreien, er öffnete den Mund, es kam nur ein Ächzen heraus. Als er sich endlich nicht mehr bewegte, ließ Aris los und rappelte sich mühsam auf.
„Vergib mir“, flüsterte er unhörbar. „Ich wollte nicht ... aber sie dürfen, sie dürfen mich nicht wieder bekommen“. Er war so schwach. Doch er musste fort. Statt den Ausgang zu benutzen, kroch er an der Rückseite des Zelts unter der fellbespannten Plane durch. Noch war der Tag sehr jung, es herrschte Stille im Lager. Außerdem lag das Zelt am Rand der Siedlung, direkt am Wald. Ein Glück. Dennoch blieben ihm vielleicht nur Minuten, bis sie es bemerken würden. Er lief los, steif und ungelenk, aber entschlossen. Nach wenigen Minuten wurde ihm furchtbar schwindlig, seine Beine fühlten sich an wie weiches Wachs. Nach zwei Stunden schmerzte sein ganzer Körper so sehr, dass er glaubte, er müsse ohnmächtig werden. Angst und Willensanstrengung trieben ihn weiter. Er blieb kein einziges Mal stehen.

I

Es war ein ungewöhnlich warmer, strahlender Frühlingstag. Die Bäume waren mit zartem Grün überzogen, Vögel zwitscherten wild durcheinander, Bienen summten zwischen den Blumen, die am Straßenrand blühten, violetten Taubnesseln, gelbem Löwenzahn, weißen Buschwindröschen. Auch die Weißdornsträcher, Holunderbüsche und wilden Kirschbäume trugen duftige Blüten. Zu ihrer Linken funkelte der träge fließende Fluss Ida in der Sonne.
„Der Frühling ist doch was Feines“, sagte Lion Winther, Unterführer der Söldnertruppe „Sperber“ und streckte die Arme, dass seine Schultern knackten.
Sein Vorgesetzter Leto Veit war ganz seiner Meinung. Als sie vor sechs Wochen loszogen, um im Auftrag des Großherzogs von Elpingen den Grafen von Eiben anzugreifen, der unter Fadenscheinigen Begründungen zwei von dessen Dörfern annektiert hatte, war es feucht und kalt gewesen, die Pflanzen noch kahl. Nun schien die Welt wie verwandelt, eine Tatsache, die Leto jedes Jahr aufs Neue beeindruckte. Die Schönheit der Natur ließ ihn fast die Blasen an den Füßen vergessen. Gegenüber seinem fünfzehn Jahre älteren Untergebenen hielt er es allerdings für klüger, solche poetischen Gefühle zu verschweigen. So brummte er nur und kratzte sich den dunklen Stoppelbart.
„Wurde auch verdammt nochmal Zeit. Nach zwei Wochen bei Regen im Zelt schlafen kam ich mir fast so alt vor wie du. Hatte schon so ein Reißen in den Knochen“.
Der gerade neunundreißigjährige Lion lachte dröhnend. „Kleiner Schwätzer! Werd’ erst mal so alt, du Grünschnabel“.
„Solange die Kriegszüge so bleiben, bekommt die Gicht mich eher als das Schwert“, schnaubte Leto.
Tatsächlich waren die Kämpfe der vergangenen Wochen nicht sonderlich fordernd gewesen. Die Männer des Grafen, Söldner wie sie selbst, waren noch müde vom Winter, außerdem wenig motiviert wegen des schlechten Wetters und leisteten kaum Widerstand. Sie lieferten sich ein paar Scharmützel, zündeten einige Bauernhäuser an, dann zogen die Gegner sich zurück und gaben das eroberte Land frei. Jetzt marschierten die „Sperber“ gutgelaunt und fast vollzählig heim und sangen beim Gehen ein schmutziges Lied. Seit zwei Jahrzehnten lief der Krieg im vereinigten Reich Velden nicht mehr anders ab, die einzelnen Fürstentümer stritten sich ununterbrochen, aber selten ernsthaft untereinander. Manchmal wünschte sich Leto ein richtiges Gefecht. Er war zwar seit acht Jahren Söldner, mit gerademal vierundzwanzig aber trotzdem außerordentlich jung, um einer Gruppe von fünfzig Soldaten vorzustehen. Sein Gesicht war noch jungenhaft, weich und freundlich unter dem zerzausten schwarzen Haar, man mochte kaum glauben, dass er schon gekämpft und getötet hatte. Er hatte den Posten noch nicht lange und die Männer ließen ihn das spüren. Ein heldenhafter Einsatz hätte ihm Respekt verschafft – andererseits war es wohl besser so. Er war ehrgeizig, aber kein Kriegsnarr und fand es letztlich doch angenehmer, seinen Sold auf so leichte Weise zu verdienen.
„Die Schlacht mit den Kuralinern hättest du erleben sollen“, begann Lion, „ich war erst siebzehn, aber das ...“
„Wirst du nie vergessen, ich weiß“, fiel Leto ihm ins Wort. „Sechstausend Mann auf unserer und achttausend auf ihrer Seite. Der letzte große Krieg, den das Land gesehen hat. Du hast es mir schon öfter erzählt“.
Was er gegenüber Lion nie erwähnt hatte, war, dass in eben jener Schlacht vor zweiundzwanzig Jahren auch seit Vater, ein zwangsrekrutierter Bauer, gekämpft hatte und gefallen war.
„Und wir haben gewonnen!“, fuhr Lion unbeirrt fort, „Seitdem bleiben sie schön hinter ihren Bergen, die Feiglinge“.
„Der Frieden hat seine Vorteile“, befand Leto. „Zumindest, solange die Herrschaften nicht völlig ohne Soldaten auskommen“.
Die Sonne schien weiterhin, irgendwo klopfte ein Specht. Die Gegend war Menschenleer, bis auf einen einsamen Angler am Fluss, der sich hastig in den Büschen versteckte, als er die Bewaffneten nahen hörte.

Gegen Abend schlugen sie ihr Lager auf einer Wiese auf, nahe einer Stelle, wo das Ufer eine natürliche Bucht bildete, die sich gut zum Wasserholen eignete. Da die Nächte trocken und milder geworden waren, machte sich kaum noch jemand die Mühe, ein Zelt aufzustellen. Die Männer sammelten Holz, bald bildeten sich Grüppchen um mehrere Lagerfeuer, wo man sich mit dicker Suppe und Schnaps warmhielt. Nachdem die Expedition von so kurzer Dauer gewesen war, waren sie noch bestens mit Proviant ausgestattet. Leto wollte sich eben zum Essen setzen, als einer der Männer, denen er aus reiner Gewohnheit aufgetragen hatte, die nähere Umgebung zu erkunden, sich ihm mit aufgeregtem Gesichtsausdruck näherte.
„Herr Veit!“, rief er schon aus einigen Metern Entfernung, „Herr Veit, ich glaube, du solltest mitkommen. Der Bruta und ich haben etwas Komisches am Fluss gefunden. Wir glauben, es ist ein Elf“.
„Ein Elf? Das kann gar nicht sein, ihr Blödiane habt sicher nicht richtig hingeschaut. Die kommen doch nie zu uns runter“, rief Lion.
Leto runzelte die Stirn. „Wie habt ihr ihn denn gefunden?“, fragte er etwas verärgert. „Sitzt er auf einem Baum und spielt Blockflöte, oder was?“
„Da merkt man, dass du keine Ahnung hast“, bemerkte sein Unterführer grinsend, „So ein Bursche aus dem Norden würde dir die Flöte um die Ohren hauen. Das Einzige, womit diese Biester spielen, sind Messer“.
„Herr, er liegt im Wasser. Ich glaube er ist tot“, sagte der Kundschafter.
„Also gut, das werde ich mir ansehen“, entschied Leto. Er folgte dem Mann, der, wie er sich jetzt erinnerte, Albert hieß, ein Stück Flussaufwärts. Tatsächlich wusste er fast nichts über Elfen, obwohl das Reich Velden eine Grenze mit ihnen teilte. Sie lebten im Nordosten, wo die Gegend flach und Öde wurde, sich über hunderte, vielleicht tausend Meilen nur Steppe und Nadelwälder erstreckten. Alte Chroniken behaupteten, dass erst sie vor etwa zweihundert Jahren dort aufgetaucht waren, als Einwanderer aus einem noch kälteren und unwirtlicheren Land. Aber niemand wusste es so genau. Die Veldener hatten kein Interesse daran, in die kargen Ebenen vorzudringen, die Elfen ihrerseits mieden jeden Kontakt. Nur Händler fuhren gelegentlich per Schiff den Fluss Ida hinauf, der die beiden Länder verband, um mit den Sippen zu tauschen, die unter anderem wunderbare Keramik und hochwertige Waffen produzierten. Leto hatte noch nie davon gehört, dass ein Elf freiwillig das Reich seines Volkes verlassen hätte ... vermutlich hatten die Späher sich wirklich getäuscht.
„Dort ist es, Herr Leto“.
Eine Gruppe von fünf Männern stand am Flussufer und schaute murmelnd auf etwas, das im flachen Wasser am Ufer lag.
„Warum hat ihn niemand herausgeholt?“, fragte Leto. Unbehagliches Räuspern ging durch die Runde.
„Wenn es ein Elf ist, verflucht er uns vielleicht“, sagte einer zögernd. Leto stöhnte.
„Also gut, geht zu Seite und lasst mich sehen“. Er ging näher heran und kniff die Augen zusammen. Die Sonne war fast völlig versunken, das Ufer lag im Schatten alter Weiden, so dass die Gestalt im Wasser schlecht zu erkennen war. Sie lag auf einem Gewirr von angetriebenen Ästen und sah aus wie ein magerer Junge.
„Na also, das ist doch gar kein ...“, setzte Leto an, dann aber sah er ein Ohr, das zwischen den hellen, nassen Haaren hervorblitzte. Es lief oben spitz zu.
„Sowas“, murmelte er und stieg die Böschung hinab ans Wasser. Er griff unter den reglosen Körper und hob ihn an. Er war leicht, erschreckend leicht, durch die Kleidung konnte er Knochen spüren. Ohne Mühe trug er ihn auf die Wiese. Dabei fiel ihm auf, dass das Holz, auf dem er gelegen hatte, mit Ranken von Schlingpflanzen fixiert war, es mochte eine Art Floß gebildet haben, das jetzt aber zerfallen und halb versunken war. Die anderen hielten nervös Abstand, als er den Jungen auf die Wiese legte. Er schien doch etwas älter sein, ein junger Mann eher, ausgestreckt war er kaum kleiner als einer von ihnen. Er trug Kleidung aus festem, gräulichem Leinenstoff und halbhohe, lederne Stiefel, die Handgelenke waren mit schmutzigen Verbänden umwickelt. Das magere Gesicht entsprach dem, was Leto über Elfen gehört hatte: Die Wangenknochen waren hoch und ausgeprägt, die Augen, die tief in den Höhlen lagen, wirkten, obwohl geschlossen, ungewöhnlich groß. Die Ohren waren tatsächlich spitz.
„Was macht bloß ein Elf hier?“, fragte Leto laut, eher an sich selbst als an die umstehenden gerichtet.
„Ist er tot, Herr?“, wollte Albert wissen.
„Hm, das werden wir gleich sehen“. Leto beugte sich vor und legte eine Hand auf die Brust, gleichzeitig lauschte er auf Atem. Er hörte nichts, aber nach einigen Augenblicken meinte er ein flatterndes Pochen zu spüren.
„Ich glaube, er lebt noch. Wir sollten ihn mit zum Lager nehmen“.
„Aber ... wenn er uns verzaubert?“
„Wer sagt überhaupt, dass Elfen zaubern können? Außerdem ist er verflucht nochmal bewusstlos!“
„Er kann sich ja selbst mit einem Zauber belegt haben! Meine Oma sagte ...“
„Ist mir völlig egal, was deine Oma gesagt hat! Schluss mit der Diskussion! Zwei tragen ihn, einer vorne, einer hinten. Er wiegt ohnehin nicht viel“.
Murrend folgten sie seiner Anweisung.
„Tatsächlich!“, rief Albert aus, als er den Oberkörper aufhob, „Er wiegt fast nichts! Das ist doch Hexerei! Herr!“
„Unsinn, gebrauch deine Augen. Das ist nicht Hexerei, sondern Unterernährung“.

„Na, dass mich der Schlag trifft“. Lion rieb sich über die Halbglatze. „Es ist wirklich ein Spitzohr. Passt nur auf, wenn er noch lebt. Sie sind hinterhältige Mistkerle!“
Sie hatten ihn in eine Decke gewickelt und ans Feuer gelegt. Langsam trockneten Haare und Kleidung, aber der Elf lag weiterhin regungslos.
„Fang du nicht auch noch damit an“, stöhnte Leto. „Der Bursche ist zu drei Vierteln tot und hat immer noch keinen Mucks getan. Woher weißt gerade du eigentlich so viel über Elfen? Hast du jemals welche kennengelernt?“
„Das nicht, aber ich kannte jemanden, der sie getroffen hat“.
„Aha. Woher kanntest du ihn, aus der Kneipe?“
Die inzwischen fast zwanzig Männer, die sie neugierig um das Feuer drägten, lachten leise.
„Nein, mein junger Herr“, erwiderte Lion etwas spitz, „Er diente in diesem Regiment. Aber das war vor deiner Zeit“.
„Also sind deine Geschichten nicht nur unsicher, sondern auch noch veraltet“. Das Lachen wurde lauter.
„Na und! Bei denen ändert sich nie etwas! Das bisschen Kultur, was sie haben ...“
„Wie auch immer, dieser hier tut so schnell niemandem etwas. Falls er überhaupt noch einmal aufwacht. Es sollte uns eher interessieren, was er hier wollte ...“
In diesem Moment regte sich der Bewusstlose ein wenig, seine Lider zuckten. Ein Raunen ging durch die Männer. Langsam, blinzelnd, öffnete der Elf die Augen. Sie waren leicht schräg gestellt und funkelten im Feuer, als er sich mühsam auf die Ellenbogen aufrichtete und um sich blickte. Er musterte die Söldner, die ihn ihrerseits voller Fasznation anstarrten. Schließlich sagte er etwas in einer fremdartigen Sprache und kam dann mit ganz unerwarteter Schnelligkeit in die Hocke, wachsam, sprungbereit. Zu schnell. Sein Kreislauf musste verrückt spielen, er blinzelte erneut und seine Beine zitterten.
„Ganz ruhig“, sagte Leto langsam. Er war nicht sicher, ob er ihn verstehen konnte, deshalb bemühte er sich um einen entsprechenden Tonfall. „Wir tun dir nichts“.
Daraufhin ließ die Körperspanung des Elfen nach. Er senkte den Kopf und strich sich eine Haarsträhne aus den Augen. Und dann fragte er, zu ihrer aller Erstaunen, leise, aber vernehmlich:
„Ist das hier ... Velden?“ Er sprach mit einem starken, seltsam harten Akzent.
„Ja“, erwiderte Leto, als er sich von der Überraschung erholt hatte.
„Gut“. Er sackte geradezu in sich zusammen.
„Albert“, befahl Leto, „hol ihm etwas zu essen“.
Er selbst griff nach einer Feldflasche, die er am Gürtel trug. Sie enthielt Branntwein. Er spürte die Blicke der versammelten Mannschaft in seinem Rücken, als er zu dem Kauernden ging, sich vor ihn kniete und ihm die Flasche entgegen streckte. Der Elf blickte auf. Nach einem Moment des Zögerns nahm er die Flasche an, zog den Korken heraus, schnüffelte daran. Dann nahm er einen tiefen Schluck.
„Ich dachte, sie trinken keinen Alkohol“, flüsterte jemand in der gespannten Stille.
Albert brachte eine Schüssel mit dickem, dampfenden Eintopf und ein Stück Brot. Der Elf aß, langsam und vorsichtig, wie jemand, der lange gehungert hat.
„Danke“, sagte er, als er damit fertig war.
Leto hatte sich neben ihm niedergelassen, er spürte, wie die Erwartung und Neugier um sie herum geradezu greifbar wurden.
„Also ...“, fragte er schließlich, „wie bist du hier her gekommen? Kommst du direkt ... aus eurem Land?“
„Ich hatte ein Floß“.
„Und damit bist du den ganzen Weg gekommen? Diese paar Äste, auf denen du gelegen hast? Das sah nicht gerade fest aus“.
„Wie weit ... ist es zur Grenze?“
„Das sind mindestens drei Tagesmärsche ...“, murmelte Lion verblüfft. „Und das mit einem wackligen Floß?“
„Ich erinnere mich nicht an die Tage ... ich habe geschlafen“. Der Elf schien selbst überrascht.
„Aber warum?“, fragte Leto. „Wozu das alles? Musstest du fliehen?“
„Fliehen ... ja, das ist das Wort. Ich war gefangen“.
„Von Menschen?“
„Nein, von meinem Volk“.
Unter den versammelten Soldaten wurde immer lauter getuschelt. „Warum?“, fragte irgendjemand im Schutz der Dunkelheit. „Bist du ein Verbrecher?“
„Nein“. Die Augen des Elfen blitzten. „Ich war Knecht ... Sklave, sagt ihr“.
Wieder Gemurmel, einige Stimmen schimpften über Barbarei. In Velden war die Sklaverei seit immerhin hundertfünfzig Jahren abgeschafft.
„Das reicht jetzt“, bestimmte Leto, „genug mit der Fragestunde. Geht gefälligst schlafen. Oder saufen, wenn ihr wollt. Aber das hier ist unser Gast, und auch wenn’s mit der Höflichkeit der Söldner nicht weit her ist ...“
Murrend zerstreuten die Männer sich.
„Ach, da fällt mir ein, ich habe nicht mal gefragt, wie du heißt“.
„Heißt?“
„Na, dein Name“.
„Oh. Sie nannten mich ... Aris“.
„Freut mich. Ich bin Leto“. Leto streckte ihm eine Hand entgegen, die der Elf verwirrt betrachtete.
„Andere Sitten, hm? Auch gut. Du musst müde sein. Leg dich schlafen, es wird dir nichts passieren, da gebe ich mein Ehrenwort.“.
„Ihr seid sehr freundlich. Ich habe das nicht erwartet“.
Für einen Moment blickten sie sich direkt an, forschend, doch respektvoll. Dann senkte Aris den Kopf.
„Ich bin wirklich müde“.

„Ich traue ihm nicht. Er könnte uns im Schlaf erstechen“, wisperte Lion, als sie sich alle schlafen gelegt hatten.
Leto beobachtete die schmale, unbewegte Silhouette im Feuerschein und schüttelte stumm den Kopf. Einen stolzen Blick hatte er gehabt, dieser Elf, trotz seiner offensichtlichen Schwäche. Er sah nicht aus wie jemand, der im Schlaf mordete. Ein seltsamer Bursche.

„Wenn du willst“, schlug er an nächsten Morgen bei einem Frühstück aus Haferschleim vor, „nehmen wir dich mit in die Stadt. Es sind nur zwei Tagesmärsche“.
Aris runzelte die Stirn. „Welche Stadt ist das?“
„Elpingen, Hauptstadt des gleichnamingen Großherzogtums und Sitz des Herzogs“.
„Ist sie groß?“
Leto schmunzelte. „Jedenfalls groß genug, dass ein Neuling nicht allzu sehr auffällt. Selbst wenn er ... etwas anders ausieht“.
Zum ersten Mal zeigte auch der Elf ein feines Lächeln. „Gut. Dann nehme ich das Angebot an“.
In der Morgensonne sah er noch mitgenommener aus als am vergangenen Abend. Das kinnlange, flachsblonde Haar war sehr achtlos gekürzt worden und fiel in wirren Strähnen, ein verblassender blauer Fleck verunzierte die linke Schläfe, die Kleidung hatte Löcher. Die Bandagen an den Handgelenken waren schmutzig und voller verwaschener Blutflecke.
„Die sollten gewechstelt werden“ sagte Leto und zeigte darauf.
Aris Gesicht verhärtete sich. „Das ist nicht nötig“.
„Sei nicht dumm“, erwiderte Leto gelassen, „So wie das aussieht, kann ich den Wundbrand schon fast riechen. Oder kriegen Elfen so etwas nicht?“
„Doch, Mensch, kriegen sie“.
„Also, was dann?“
„Meine Wunden sind meine Sache“.
„So ein Unsinn. Ich lasse den Feldscher holen. Außer, du willst unbedingt die Arme verlieren“.
Die Miene des Elfen drückte Anspannung und Unbehagen aus, als Meister Berthold, der Wundarzt der Truppe, die alten Verbände löste. Der rundliche, ältere Mann pfiff durch die Zähne, als er sah, was darunter lag.
„Gute Geister, ich habe ja so einiges gesehen aber das hier ist wirklich schauderhaft ...“
Leto und Lion beugten sich neugierig vor und verzogen die Gesichter. Über die Innenseiten beider Handgelenke liefen breite, gezackte Wunden, an den Rändern ausgerissen und mit groben Stichen vernäht. Sie waren bläulich-rot geschwollen.
„Nur leicht entzündet“, stellte der Feldscher fest. „Aber wie ist das passiert?“
„Wie schon“, erwiderte Aris gereizt, „Ich habe das getan. Ich wollte mein Leben nehmen. Aber ich hatte keine Waffe“. Dieser Umstand schien ihn zu verbittern.
„Warum in aller Welt wolltest du sterben?“, fragte Lion.
„Bei meinem Volk ist es die größte Schande, ein Sklave zu sein. Schlimmer als der Tod. Man sperrte mich nachts ein, ich konnte nicht einmal ein Messer bekommen. Also zerbrach ich den Wasserkrug und benutzte die Scherben“.
„Na, das muss ziemlich schmerzhaft gewesen sein“, murmelte Berthold, während er starken Schnaps auf die Wunden goss und sie danach mit frischen Binden umwickelte.
„War es. Aber ich war entschlossen. Leider ... hat man mich gefunden, bevor ich tot war. Mein Herr war sehr wütend. Er brachte mich zu einem Heiler, der die Wunden vernähte. Ich stellte mich bewusstlos, dann erwürgte ich den Heiler und floh“.
Die drei Männer blickten ihn ungläubig an.
„Und danach ... hast du dann das Floß gebaut?“, erkundigte sich Leto schließlich.
„Zuerst bin ich einen Tag gelaufen. Dann traf ich auf den Fluss und bin die Nacht durch geschwommen. Erst, als mir die Kraft ausging, baute ich das Floß“.
„Erst dann ging dir die Kraft aus?“
„Das ist doch nicht möglich, nach den Blutverlust“, protestierte der Feldscher. „Du musst dich irren!“
„Ihr Menschen seid seltsam“, schnaubte der Elf. „Wenn der Hase verfolgt wird, läuft er, bis er umfällt. Was ist erstaunlich daran? Ich hatte Grund, zu laufen und zu schwimmen. Wenn sie mich erwischen, würde mein Tod sich über Tage hinziehen. Auf das Floß legte ich ich erst, als ich so schwach war, dass ich mir sicher sein konnte, sie würden mich nicht lebend finden“.
Darauf wusste niemand etwas zu erwidern.

Die Geschichte verbreitete sich schnell unter den Söldnern. Leto hatte Lion und Meister Berthold befohlen, darüber zu schweigen, er hatte allerdings kaum erwartet, dass sich sich tatsächlich daran halten würden. Es war zu verrückt, zu unglaublich. Alle redeten darüber, wandten verstohlen die Köpfe und blickten verstohlen zu Aris hin, der ganz hinten auf dem Proviantkarren mitfuhr. Es hatte einige Überredung gekostet, ihn vom Laufen abzuhalten.
Er war zweifellos stolz. Und zäh. Die Männer misstrauten ihm, fürchteten ihn sogar, obwohl sie bewaffnet und in gewaltiger Überzahl waren.
„Ich werd’ froh sein, wenn wir in der Stadt und ihn los sind“, meinte Lion. „Er ist nicht grade gut für die Stimmung“.
Leto nickte zustimmend, obwohl er selbst, trotz der grausigen Geschichte, durchaus eine gewisse Sympathie für den Elfen empfand. Vielleicht, weil auch seine Mutter im letzten Krieg hatte flüchten müssen. Nach dem Tod ihres Mannes war sie mit drei kleinen Kindern nach Elpingen gegangen und hatte sie dort in bitterster Armut aufgezogen. Das Gefühl von Entwurzelung und ständigem Kampf ums Überleben war Leto nicht fremd. Entschlossenheit, Stärke, das waren Werte, die er schätzte. Er glaubte auch nicht, dass Aris sich gegen jemanden von ihnen wenden würde, immerhin verdankte er ihnen sein Leben. Seine Augen fand er allerdings beunruhigend. Im Sonnenlicht waren sie von einem leuchtenden, intensiven Grün, der Farbe des jungen Grases. Eine unnatürliche Farbe für Augen. Sie glühten unheimlich in den dunklen Höhlen.
Gegen Mittag entlud sich die angestaute Nervosität in einem Streit. Sie hatten eine kurze Pause eingelegt, um die Wasserflaschen aufzufüllen und die Beine etwas auszuruhen. Leto hatte die Stiefel abgelegt und kühlte seine wunden Füße im Flusswasser. Ein Fehler, wie er bald bemerkte. Er fuhr herum und seufzte auf, als er laute Stimmen hörte.
„Niemals hat man Ruhe mit diesem Kinderstall“, murmelte er und beeilte sich, auf die Beine zu kommen. „Und mich hält man für unreif ...“
Er zögerte nicht, den Proviantwagen anzusteuern. Was er sah, überraschte ihn wenig. Vier der Söldner standen vor dem Wagen, auf dem Aris immer noch saß – ruhig, zurückgelehnt, schweigend. Umso mehr redeten die anderen. Wütend drängte sich Leto durch den schaulustigen Rest.
„Weil du ein Dämon bist!“, war der erste Satz, den er verstehen konnte. „Du lebst noch, obwohl du tot sein müsstest! Du guckst wie ein Dämon! Du siehst aus wie ein Dämon, mit deinen komischen Augen, deinen komischen Ohren!“ Der Sprecher war in Rage, er hatte rote Flecken auf den Wangen und spuckte beim Reden.
Aris musterte ihn mit einem undurchschaubaren Gesichtsausdruck, richtete sich etwas auf und antwortete deutlich leiser:
„Sieh an. Für mich siehst du aus wie ein Dämon. Dein Kopf ist rot, du hast eine verzerrte Fratze und gelbe Zähne, außerdem Warzen, aus denen Haare wachsen. Du bist ziemlich hässlich, um ehrlich zu sein“.
Leto bemerkte Lion am vorderen Rand des Halbkreises von Zuschauern. Er arbeitete sich vor und packte ihn an der Schulter. „Warum lässt du das zu?“, zischte er.
„Lass sie sich abregen, das wird ihnen gut tun“, gab der ältere Mann zurück.
„Darüber sprechen wir noch ...!“
„Wenigstens bin ich ein hässlicher Mensch!“ Die Stimme des erregten Angreifers überschlug sich fast. „Und der schlechteste Mensch ist noch besser als ein Ungeheuer wie du!“
Viele murmelten zustimmend.
„Schluss jetzt!“, rief Leto vernehmlich und trat vor. „Bram, halt deine große Klappe und lass ihn in Ruhe! Man muss sich ja für euch schämen!“
„Aber Herr ...“
Aris sagte irgendetwas, so leise, dass kaum jemand es verstehen konnte. Bram aber hatte es offenbar verstanden, denn er schnellte herum und holte zu einem Faustschlag aus. „Sei still, du ...!“
Blitzschnell tauchte der Elf unter seinem Arm hinweg und rammte ihm den Ellenbogen in den Bauch. Bram, ein kräftiger, muskulöser Mann im besten Alter, mindestens doppelt so schwer wie er, klappte mit einem Seufzer zusammen und sank in die Knie.
In das erschrockene Raunen mischten sich jetzt auch anerkennende Töne. Die Soldaten hatten von Jugend an Erfahrung mit Raufereien und wussten einen gut platzierten Treffer zu schätzen.
„So, damit haben alle genug, denke ich“, sagte Leto. „Wir marschieren weiter und zwar sofort“. Diesmal gehorchte man ihm eilig.
Er blieb am hinteren Ende des Zugs, ging neben dem Wagen her.
„Sag mal“, fragte er den Elfen nach einigen Minuten des Schweigens, „kannst du mit Waffen umgehen?“
„Kann ich. Wieso?“
„Das eben war nicht übel. Wenn du Arbeit suchst, könntest du bei uns anheuern. Ich glaube, du könntest im Söldnergewerbe gutes Geld verdienen“.
„Was heißt das, Gewerbe?“
„Es ist das, wovon du lebst, deine Arbeit. Ein Söldner lebt vom Kämpfen“.
„Und er kämpft für Geld?“
„Ja“.
„Nur dafür?“
„Wofür sonst?“
„Ihr Menschen seid wirklich verrückt. Und hässlich“.
Leto lachte. „Ist das dein erster Eindruck? Na danke“.
„Nun ja. Mir scheint ... in jedem Volk gibt es solche und solche“, erwiderte Aris schmunzelnd.
„Das ist wohl das wahrste Wort dieses Tages“.

Bis sie am Nachmittag des nächsten Tages Elpingen erreichten, wagte keiner der Söldner mehr, den Elfen anzureden. Dieser wiederum hüllte sich in brütendes Schweigen. Alle waren erleichtert, als die Herzogsstadt vor ihnen auftauchte. Elpingen war eine etwa mittelgroße Ansiedlung, die sich um das Schloss des Großherzogs gruppierte, das auf der Kuppe eines Hügels thronte. Auf diesem lagen auch die hübschen alten Fachwerkhäuser der Altstadt, umgeben von einer starken Mauer. Der größere Teil der Stadt aber erstreckte sich außerhalb davon, ein chaotisches Labyrinth von engen Gassen zwischen mehr oder weniger schäbigen Holzhütten, das sich ständig vergrößerte. Der Krieg vor über zwanzig Jahren hatte viele Flüchtlinge vom Land her getrieben, außerdem kamen auf dem Fluss Händler vorbei, die auf ihren Reisen Halt machten, manchmal auch Niederlassungen eröffneten.
Aris sprang vom Karren, als sie die ersten Häuser erreichten.
„Was willst du jetzt tun?“, fragte Leto.
Er zuckte die Schultern. „Leben, irgendwie, was sonst?“
Leto griff in seine Börse und drückte ihm ein paar Münzen in die Hand. „Die Gasthäuser an der Stadtmauer sind billig, versuch es dort“.
„Ich will keine Geschenke“.
„Arbeite für mich. Dann kannst du es zurückzahlen“.
Für einen Moment zögerte Aris. Dann lächelte er und nickte. „Also gut. Damit hast du mich wohl überredet“.
„Gut. Ich sage dir Bescheid, wenn es was zu tun gibt“.
„Woher willst du wissen, wo ich bin?“
„Das wird nicht schwer sein. Ich kenne mich aus und weiß, wen ich fragen muss“.
„Ist ... eine große Stadt“. Der Elf ließ den Blick über das Häusergewirr schweifen und wirkte zum ersten Mal ein wenig verunsichert.
„Es ist meine Heimatstadt“, sagte Leto. „Also ... wenn du Hilfe brauchst, besuch mich. Das meine ich ernst. Frag in der Schäfergasse nach mir, da wohne ich“.
Aris nickte vage. Dann wandte er sich ab und ging davon. Leto blickte ihm nachndenklich hinterher. Er fühlte sich irgendwie verantwortlich, obwohl er vermutlich schon mehr getan hatte, als er musste.
Danach marschierten sie durch das Haupttor zum Schloss, wo ihnen der Quartiermeister den Sold auszahlen würde. Kaum ein Einwohner drehte den Kopf nach den „Sperbern“, man war an die Präsenz der Bewaffneten gewohnt – und sie lieferten niemals prächtige Triumphzüge, weshalb man ihnen auch keine Bewunderung zollte. Nachdem sie ihr Geld erhalten hatten, zerstreuten sich die Söldner ohne weiteres Aufhebens, um nach Hause oder ins nächste Gasthaus zu gehen. Nun wäre es auch für Leto Zeit gewesen, zu seinem Haus in der Unterstadt zu gehen, doch er zögerte und entschied sich schließlich, zusammen mit ein paar anderen in einer Schenke einzukehren. Die Sonne ging schon unter, als er sich endlich entschließen konnte heimzukehren.
Die erste Person, die er dort antraf, war seine Mutter. Sie saß im Licht der letzten Sonnenstrahlen auf einer Bank vor dem kleinen, aber ordentlichen und soliden Haus, das er vor zwei Jahren gebaut hatte und rupfte ein Huhn. Anita Veit war eine magere, sehnige Frau Ende Vierzig mit früh ergrautem Haar und Fingern, die von ihrer Arbeit als Näherin steif geworden waren. Als sie ihren Sohn erblickte, ließ sie vor Freude das Huhn fallen.
„Leto, mein Junge!“ Sie eilte ihm entgegen und umarmte ihn. „Was bin ich froh, dass du wieder da bist. Jedes Mal sehe ich dich blutend da liegen, jedes einzelne Mal ... geht es dir gut? Du riechst nach Schnaps, ich mag es nicht, wenn du trinkst, das weißt du!“
Leto befreite sich lächelnd und wie immer etwas unbehaglich aus ihrer Umklammerung. Sein Vater war tot, auch seine jüngere Schwester war als Kind gestorben, sein älterer Bruder Alain aber war ein Säufer und Nichtsnutz. Aus diesen Gründen hing Anita sehr an ihrem jüngeren Sohn. Für seinen Geschmack etwas zu sehr.
„Mir geht es gut“, versicherte er, „du brauchst dich nicht zu sorgen. Wie geht es Elinna und dem Kleinen?“
Anita verzog das Gesicht. „Deine Frau wird, wenn du mich fragst, immer fauler. Aber Fergus ist eine Wonne. Er wächst prächtig und kommt ganz nach seinem Großvater“.
Leto seufzte leise. „Dann sollte ich wohl mal rein gehen“.
„Gut, ich bereite das Essen vor. Du wirst ja sicher Hunger haben!“
„Warum hilft Elinna dir eigentlich nicht?“
„Sie war müde und hat sich hingelegt“. Der Tonfall seiner Mutter sprach Bände über das Schicksal einer armen alten Frau, deren Schwiegertochter sie schmählich im Stich ließ.
Mit einem erneuten Seufzer öffnete Leto die Tür. Der Wohnraum lag in fast völligem Dunkel und roch muffig, er ging sofort zum einzigen Fenster und öffnete die zugeklappten Läden weit.
Die junge Frau, die auf einem Bett in der hinteren Ecke des Raumes lag, stöhnte und setzte sich auf.
„Anita, ich hab’ dir gesagt ... oh, Leto, du bist es. Ich hätte dich nicht so bald zurück erwartet“.
Er kam zu ihr und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Wir haben Glück gehabt, es ging leicht. Keinem war großartig nach kämpfen zumute“.
Sie lachte spöttisch auf. „Mir scheint, seit ich aufgehört habe, habt ihr alle keinen Mumm mehr in den Knochen“.
„Leicht gesagt“, schnaubte er. „Mir scheint, seit du aufgehört hast, hast du überhaupt kein Feuer mehr im Hintern. Im Ernst, du könntest gelegentlich mal aufstehen und meiner Mutter zur Hand gehen. Du weißt, wieviel sie in ihrem Leben schon geschuftet hat“.
„Ich habe dir immer gesagt, dass ich nicht gut mit dem Haushalt bin“.
„Ich erwarte auch nicht, dass du es gut machst, mir reicht schon, wenn du überhaupt etwas tust“. Er kniff sie scherzhaft in den Oberarm.
Dabei schien es ihm, als hätte sie in den vergangenen Wochen schon wieder zugenommen. Als er sich in Elinna verliebt hatte, war sie eine der wenigen Frauen gewesen, die als Söldner kämpften. Ein Wildfang mit braunen Locken und einem drallen, aber auch starken und geschmeidigen Körper, ein Jahr älter als er. Sie hatte allen die Köpfe verdreht. Auch Leto war eine Weile hingerissen von ihr. Geheiratet hatte er sie vor zweieinhalb Jahren aber nur deshalb, weil sie ein Kind trug, das mit ziemlicher Sicherheit von ihm stammte. Sie hatte das Kämpfen natürlich aufgegeben und widmete sich seit der Geburt vor allem dem Kleinen ... und dem Müßiggang. In den vergangenen Jahren war sie immer rundlicher geworden. Leto hatte sie immer noch gern, doch er begehrte sie nicht mehr. Er glaubte, dass sie wusste, dass er gelegentlich zu den Huren ging. Und dass es ihr gleichgültig war.
„Hat der Alte trotzdem gezahlt?“, fragte sie.
„Natürlich“. Er ließ den prall gefüllten Geldbeutel auf das Bett fallen, so dass er ein angenehmes Klirren von sich gab.
„Ich liebe dich“, rief sie grinsend und schlang ihm die Arme um den Hals.
Sie wandten die Köpfe, als sie ein Tappen auf dem terrakottagefließten Boden hörten. Nur mit einem Hemdchen bekleidet kam der zweijährige Fergus die Treppe vom Schlazimmer hinab gewatschelt. Er war ein hübsches Kind, mit dunklen Augen und Haaren, wie seine Eltern, einem niedlichen Gesichtlein. Wie immer, wenn sein Vater nach längerer Abwesenheit zurückkam, betrachtete er Leto verwirrt und etwas erschrocken.
„Na schau mal!“, rief Elinna süßlich, „Komm her, mein Lieber, dein Vater ist da“.
„Mama“, sagte Fergus und näherte sich zögernd. Er zuckte zusammen, als Leto ihm unsicher den Kopf tätschelte. Leto wusste nie so recht, was er mit dem Kind anfangen sollte. Natürlich liebte er es, aber da er an seinen eigenen Vater keinerlei Erinnerungen hatte, war ihm nicht ganz klar, worin eigentlich die Aufgaben eines Vaters lagen. Dass er so selten zuhause war, machte die Sache nicht leichter. Er war erleichtert, als seine Mutter mit dem gerupften Huhn hereinkam.
„Hallo, mein Sonnenschein!“ Ihr Gesicht leuchtete auf, als sie ihren Enkel sah. „Mein Süßer! Wir kochen jetzt etwas Feines zu essen, wie findest du das?“
„Was zu essen“, wiederholte Fergus strahlend.
„Ich ... werde dir helfen“, verkündete Elinna widerwillig.
„Oho“. Anita zog eine Braue hoch. „Gut. Dann geh und mach den Topf voll Wasser, während ich das Gemüse putze“.
Elinna verzog das Gesicht, hob dann aber gehorsam den Kessel auf, um damit zum Brunnen im Hinterhof zu gehen.
„Du solltest öfter zuhause sein“, sagte Anita vorwurfsvoll, sobald sie den Raum verlassen hatte. „Wenn du hier bist, benimmt sie sich besser und behandelt mich mit Respekt“.
„Ja ... ja, Mutter. Ich werde mich bemühen“, brummte Leto.
Er wünschte sich von Herzen, dass der nächste Einsatz bald kommen würde.

Vier Wochen vergingen. Die Obstbäume verloren ihre Blüten, dafür verdeckte der intensive Duft des Flieders nun für eine kurze Zeit den üblichen Gestank in den Höfen der Unterstadt. Auf warmen Regen folgte strahlend sonniges, warmes Spätfrühlingswetter. Die perfekte Zeit,
um einen kleinen Krieg zu beginnen. Aber nichts dergleichen. Es gab keine Arbeit für Söldner. Leto langweilte sich unerträglich. Er schnitzte ein Holzschwert für Fergus und musste feststellen, dass das Kind dafür noch viel zu klein war. Es fuchtelte damit herum, traf zuerst das Schienbein seiner Mutter und dann seinen eigenen Fuß, woraufhin es durchdringend zu heulen begann. Sie versteckten das Schwert im Schrank.
Er versuchte, sich mit Elinna zu unterhalten, aber da sie das Haus nur verließ, um einzukaufen oder mit ihren Freundinnen aus der Nachbarschaft zu tratschen, hatten sie wenig Gesprächsstoff. Ziemlich bald begann er, die Tage in irgendwelchen Tavernen zu verbummeln, um den Vorträgen seiner Mutter zu entgehen. Er fühlte sich unruhig, voller Tatendrang und Energie, aber es gab nichts, auf das er sie richten konnte. Nach drei Wochen kam sein Bruder zu Besuch. Er hatte von irgendjemandem erfahren, dass Leto in der Stadt war und wollte sich Geld leihen. Sie stritten sich, wie immer, wenn sie sich trafen. Alain nutzte jede Gelegenheit, um Leto zu reizen. Der wiederum wusste genau, dass der Ältere neidisch und unzufrieden mit seinem eigenen Leben war, er sah allerdings nicht ein, dass er deswegen Mitleid haben oder nett zu ihm sein sollte.
„Es ist schrecklich“, sagte er abends in der Schenke zu Lion. „Wenn mein großer Bruder auftaucht, weiß ich, dass ich zu lange in der Stadt bin“.

Eine Woche später sollte die Untätigkeit endlich ein Ende haben. Leto saß schon nachmittags mit drei Männern aus der Truppe, Connar, Andres und Hergart, im gut besuchten Gasthaus „Zum Landsknecht“. Sie spielten Karten und tranken eher lustlos das bittere Schwarzbier, das hier ausgeschenkt wurde.
Sie wandten die Köpfe, als sich schwere Schritte dem Tisch näherten. Ein großer, stämmiger Mann in den Vierzigern, ausstaffiert mit feinen Samtkleidern und einem albernen Ziegenbärtchen, grüßte sie mit einer angedeuteten Verbeugung.
„Guten Tag ihr Herren. Kennt ihr zufällig einen Söldnerführer namens Leto Veit?“
„Das bin ich“, erwiderte Leto erfreut. Der Neuankömmling roch geradezu nach Kaufmann, Geld, einem Auftrag. „Was kann ich für Euch tun?“
Der Mann schien erstaunt. „Ihr seid jünger, als ich erwartet hätte. Nun ja, zur Sache. Mein Name ist Ulrich Heißter, ich bin Händler. Ich könnte Eure Dienste gebrauchen“.
„Worum geht es?“
„Es handelt sich um eine kleine Expedition, die ich plane. Einträglich, aber ein wenig riskant, deshalb wäre es mir lieb, wenn ich zwanzig gute Männer dabei hätte. Ich zahle natürlich gut“.
„Was sind denn das für Risiken, von denen Ihr redet?“, fragte Andres, ein kleiner, unruhiger Mann, misstrauisch.
„Ich will mit einigen Experten in die grünen Berge, um dort Mineralvorkommen zu untersuchen. Nach meinen Informationen gibt es dort große Mengen von Salz, Metallen, seltenen Steinen, die noch niemand erschlossen hat. Das will ich prüfen. Aber die Wege sind gefährlich, Räuber und so weiter, dann gibt es in den Bergen natürlich wilde Tiere“.
„Ich hab’ gehört, dass in den Bergen bösartige kleine Gnome leben“, sagte Andres.
„Märchen. Und selbst wenn. Hättet ihr Angst vor ‚kleinen Gnomen’?“, entgegnete der Kaufmann herausfordernd.
„Natürlich nicht“. Leto grinste. „Wir sind gerne bereit zu helfen. Ich trommle zwanzig Männer zusammen. Sagt einfach, wann es losgeht“.
„Wunderbar“. Heißter rieb sich die behaarten Hände. „Seid in zwei Tagen bei Tagesanbruch vor der Stadt“.
Er wandte sich um und verließ das Gasthaus.
„Nun“, fragte Leto in die Runde, „fürchtet sich irgendjemand von euch vor kleinen Gnomen?“
Eilig schüttelten die Männer die Köpfe.
„Fein. Dann sagt Lion bescheid. Er soll noch fünfzehn andere aussuchen, die mitkommen“.
Er lächelte. „Wurde auch Zeit, dass wir wieder was zu tun bekommen“.
Nachdem die Männer abgezogen waren, bezahlte er den Wirt für das Bier.
„Sag mal, Dieric“, fragte er obenhin, als der flinke Alte die Münzen einsteckte, „du hörst ja ziemlich viel bei deiner Arbeit“.
„Freilich, mein Junge“.
„Dann hast du doch sicher auch davon gehört, dass jetzt ein Elf in der Stadt lebt ...“
„Hab’ ich, da gab es einiges Gerede“.
„Du kannst mir wohl nicht sagen, wo er jetzt steckt?“
Dieric kicherte. „Zufällig hab’ ich gehört, dass er für den Kaufmann Alaric am Flusshafen arbeitet. Als Lastträger“.
„So ist das. Danke“.
„Warum interessiert dich das?“
„Weil ich vielleicht eine bessere Arbeit für ihn habe“.

Einige Minuten später schlenderte er gemütlich in Richtung Fluss. Er war ausgesprochen neugierig. In den vergangenen Wochen hatte er nichts von Aris gehört – ein Umstand, der ihn nicht sonderlich überrascht hatte. Er hatte sich öfter gefragt, was aus ihm geworden war, ganz allein in dieser fremden Stadt, bei einem fremden Volk. Nun, er würde es herausfinden.
Der Flusshafen war nicht mehr als ein kurzer Quai, an dem vielleicht ein oder zwei Mittelgroße Handelsschiffe festmachten. Sie blieben für gewöhnlich nicht lange, frischten nur ihre Vorräte auf für die weitere Reise nach Norden oder von dort zurück. Nur eine Handvoll Händler hatten feste Niederlassungen in Elpingen eröffnet. Einer von ihnen war Alaric Rothschild. Er handelte hauptsächlich mit Waffen, Pelzen und Keramik aus dem Norden, die er weiter südlich teuer verkaufen konnte. Leto kannte ihn vom Sehen und wusste, wo sein Geschäft mit dem anschließenden Lagerhaus lag. Gerade wurde ein Schiff entladen, das ihm zu gehören schien, einige junge Burschen schleppten Kisten herunter. Einer von ihnen war sehr schmal und hatte halblanges, helles Haar.
„He, Elf!“, rief Leto.
Er drehte den Kopf, erkannte ihn und setzte seine Last ab.
„He, Mensch! Sieh an, du hast mich tatsächlich gefunden.“
Leto sagte nichts. Er staunte. Aris hatte neue Kleidung aufgetrieben, ein schmutzigweißes Hemd und eine dunkle Hose. Die Ärmel des Hemdes waren aufgerollt und entblößten leicht gebräunte Arme mit geschmeidigen Muskeln. Sein Körper hatte sich auf erstaunliche Weise verändert. Er war schlank, aber nicht mehr mager. Bis auf die vernarbten Wunden an den Hangelenken waren alle Anzeichen des schrecklichen Zustands, in dem er sich befunden hatte, verschwunden, er wirkte gesund und kraftvoll. Die Haare waren ein wenig in Ordnung gebracht, sie fielen jetzt weich und glatt. Plötzlich verstand Leto, warum alle Welt von der Schönheit der Elfen redete. Verwirrt stellte er fest, dass er ihn anziehend fand.
„Du siehst ... gut aus“, platzte er heraus. „Also, ich meine, du hast dich wirklich gut erholt ...“
Aris lächelte auf eine Weise, die ahnen ließ, dass er genau wusste, was Leto wirklich gemeint hatte.
„Ich habe Glück gehabt“, sagte er, „Dieser Mann, Rothschild, hat mir erlaubt, für ihn zu arbeiten. Ich bin ihm schon einmal begegnet, als er zum Handeln zu meinem Volk kam. Er fürchtet sich nicht vor Meinesgleichen. Und er hat mir erklärt, was ich wissen musste“.
„Du hättest mich fragen können“, erinnerte ihn Leto.
„Ich schulde dir genug“.
„Eben deshalb bin ich hier. Du hast mir versprochen, für mich zu arbeiten. Ich habe Arbeit. Und ich wette, sie macht mehr Spaß als diese hier“.
„Hmm, ich finde sie nicht schlimm. Aber ich halte mein Wort. Du kannst über mich verfügen“.
„Du kannst mir nicht erzählen, dass dir das hier lieber ist, als zu kämpfen“.
„Nein“. Ein Funkeln trat in die Augen des Elfen. „Ich gebe zu, ich würde mich freuen, wieder ein Schwert zu halten“.
„Also, in zwei Tagen bei Morgengrauen brechen wir auf“.
„Gut“.
„Gib mir die Hand darauf“.
„Was?“
„Hat Rothschild dir das nicht erklärt? Bei uns macht man das so“.
„Es ist seltsam, dass ihr Menschen euch immer anfassen wollt. Na gut ...“
Sein Händedruck war warm, fest und trocken, die Hand schwielig. Die Berührung verursachte bei Leto ein angenehmes Prickeln, das sich von seinen Fingerspitzen durch den ganzen Körper ausbreitete. Na so etwas, dachte er.
Es war nicht so, dass er noch niemals diese Art von Interesse an einem Mann gehabt hätte. Als er mit gerademal sechzehn Jahren begonnen hatte, als Söldner zu arbeiten, hatte ein älterer Soldat ihn unter seine Fittiche genommen. Viktor war sein Name gewesen, ein freundlicher, starker und mutiger Mann von fünfunddreißig Jahren, der für den unerfahrenen Leto Freund und Lehrer auf einmal gewesen war. Als er den Jungen eines Abends gebeten hatte, in sein Zelt zu kommen, schien es diesem nur natürlich, zu tun, was er von ihm verlangte, schon aus Dankbarkeit. Und es war nicht unangenehm gewesen, im Gegenteil. Einige Jahre später war Viktor allerdings gestorben, nicht im Kampf, sondern an der Syphillis, die er sich wohl bei einer Hure geholt hatte. Leto war erwachsen geworden, hatte geheiratet und geglaubt, dass „diese Phase“ seines Lebens damit endgültig beendet sei. Nun, zumindest hatte er das bisher gedacht.

„Das ist nicht dein Ernst“, sagte Lion. „Du willst nicht wirklich den Elfen mitnehmen“.
Auch die übrigen Männer, die sich an diesem klaren Morgen zwei Tage später an der Straße vor der Stadt versammelt hatten, murmelten unzufrieden und missmutig durcheinander.
„Das habe ich vor“, erwiderte Leto gelassen.
„Unmöglich! Wir haben genug gute Männer, Männer, die wir kennen und denen wir trauen können. Und du willst einem ... einem Fremdling vor ihnen den Vorzug geben?“
„Es ist ja nicht so, dass wir niemals Neulinge aufnehmen würden. Ich glaube, dass er vielversprechend ist. Und ich treffe die Entscheidungen, Lion“.
Sie starrten sich ärgerlich an.
„Was geht hier vor? Wenn ihr Probleme habt, regelt sie jetzt, denn unterwegs kann ich sie nicht gebrauchen“.
Ulrich Heißter kam im Schritt auf einem schönen, kräftigen Braunen herangeritten. Seine Kleidung war deutlich schlichter als vor zwei Tagen, robust und in Erdfarben gehalten, aber von bester Qualität. Ihm folgte ein Karren, auf dem drei Männer, ein älterer, brummiger Kutscher und zwei blasse Kerle, vermutlich Gelehrte, zwischen einer Vielzahl von Kisten und Säcken saßen.
„Seid gegrüßt, Herr Heißters“, sagte Leto. „Verzeiht. Ein Teil meiner Mannchaft hat Probleme mit dem neuen Rekruten“. Er wies auf Aris, der der Diskussion bisher gleichgültig gefolgt war.
Der Kaufmann hob die Brauen. „Ein Elf, hier bei uns! Das ist außergewöhnlich. Aber höchst erfreulich, finde ich. Die Vorstellung, einen von ihnen als Leibwächter zu haben, hat mich schon immer gereizt, nur waren die, die ich kennenlernte, niemals willig, ihre Heimat zu verlassen und hatten auch kein Interesse an Geld. Ich gratuliere zu Eurem Glück, Herr Veit“.
„Wirklich, Herr?“, fragte Lion verblüfft.
„Oh ja. Ich war schon oft zum Handeln im Norden, es war nicht zu übersehen, dass sie ein außerordentlich mutiges und kämpferisches Volk sind“.
„Aber ... wir haben ihn noch nicht mal mit einer Waffe kämpfen sehen“. Lion wollte sich noch nicht ganz geschlagen geben und wusste die restlichen Söldner hinter sich.
„Lasst ihn gegen einen von euch antreten“. Heißters lächelte. „Wir sind zwar in Eile, aber doch nicht so sehr. Das würde ich außerdem gerne sehen“.
„Ich auch!“, rief einer der Gelehrten vom Wagen.
„Wie faszinierend“, sagte der andere und zog ein Monokel aus seiner Tasche.
Alle Augen richteten sich auf Aris, der die Achseln zuckte, dann nickte. „Gern“.
„Was habe ich gesagt!“, rief der Kaufmann begeistert.
„Eine gute Idee, finde ich auch“, stimmte Leto zu, „Nun, Freiwillige? Wie wäre es mit dir, Lion?“
„Vergiss es, ich nicht!“ Der Unterführer schüttelte heftig den Kopf.
„Sonst jemand?“
Betretenes Schweigen.
„Dann werde ich es tun“. Leto spürte, wie Spannung von ihm Besitz ergriff. Er war ein guter Kämpfer und er hatte schon lange keinen wirklich guten Kampf mehr gehabt. Er reichte Aris ein altes Langschwert samt Scheide und Schwertgurt, das er noch zuhause gehabt hatte.
„Kannst du damit kämpfen?“
Der Elf ergriff die Waffe, zog sie aus der Scheide und wog sie in der Hand. Ein feines, fast geistesabwesendes Lächeln trat auf sein Gesicht, als er sie betrachtete.
„Ja. Das wird es tun“.
Leto zog sein eigenes Schwert, einen Anderthalbhänder. „Ist das in Ordnung? Ich habe wegen der Länge einen Vorteil. Ich kann mir ein anderes leihen“.
„Nein, das ist kein Problem. Benutz die Waffe, die du gewohnt bist“.
Sie maßen sich mit Blicken, gingen langsam durch das taufeuchte Gras, bis sie einander gegenüber standen. Die Umstehenden bildeten ganz unwillkürlich einen Halbkreis.
„Da lasst Euch mal nicht besiegen, Herr Veit“, sagte Heißters. „Das wäre ja beschämend vor Euren Leuten. Aber ich wäre nicht überrascht. Das wird ein spannender Kampf, denke ich“.
„Wie lange kämpfen wir?“, fragte Aris.
„Jeder versucht, den anderen zu entwaffnen“.
Sie begannen sich zu umkreisen, langsam, lauernd, neugierig. Schließlich sprang Leto nach vorn, er führte das Schwert einhändig und versuchte einen kurzen Schlag aus dem Ellenbogen. Er schätzte, dass der Elf schnell sein würde und hatte Recht damit. Aris wich ihm mühelos mit einer halben Drehung aus, schlug aus demselben Schwung zu. Leto parierte gerade rechtzeitig, die Waffen prallten mit lautem Klirren gegeneinander. Leto wusste, dass dies seine Chance war, er war der Stärkere. Er drückte mit ganzer Kraft. Aris hielt eine Weile Stand, die Klingen zitterten, dann verließ ihn die Kraft, er rettete sich mit einem schnellen Sprung nach hinten. Wieder umkreisten sie sich, sahen sich in die Augen. Sie beide grinsten. Es war ein riesiger Spaß, auf diese Art die Kräfte zu messen. Sie tauschten ein paar schnelle Schläge, parierten, die klare, kühle Morgenluft hallte davon wieder. Sie begannen schneller zu atmen und gerieten ins Schwitzen. Leto verlegte sich nun auf weite, zweihändige Schwünge, um seinen Gegner auf Abstand zu halten. Das funktionierte, aber nicht lang. Plötzlich duckte Aris sich und tauchte anmutig unter einem Schlag hinweg. Er traf Letos Klinge mit voller Kraft von oben, dieser musste alle Kraft aufwenden, um die Waffe nicht fallen zu lassen. Er schaffte es, aber die Spitze der langen Klinge bohrte sich einen Finger breit in die Erde. Leto schnappte nach Luft. Er stand jetzt völlig ungedeckt, ausgeliefert, es war klar, dass Aris sein Schwert schneller heben konnte. Ihn rettete die Erfahrung aus unzähligen Straßenkäpfen. Ohne nachzudenken, zog er dem Elfen mit dem Fuß das Bein weg, warf sich dann nach vorn und rammte ihn mit der Schulter. Sie fielen beide, verloren beide die Waffen. Aber Leto war oben. Und schwerer. Aris hob eine Hand.
„Ich gebe mich geschlagen. Du bist ein würdiger Gegner und ein würdiger Anführer“.
Ulrich Heißters klatschte. „Ein hervorragender Kampf. Also ich würde ihn nehmen, jederzeit“.
„Kommt ja gar nicht in Frage. Er gehört jetzt zu den „Sperbern“. Oder hat noch jemand etwas dagegen?“ Leto sah sich um. Niemand widersprach.
„Dann können wir jetzt ja aufbrechen“, rief Heißters. „Die grünen Berge erwarten uns“.
Leto stand auf und reichte Aris die Hand, um ihm aufzuhelfen. Diesmal ergriff der Elf sie ohne zu zögern. Sie lächelten sich mit einem ganz neuen Einvernehmen an.

„Wir sind inzwischen fast überzeugt, dass es sich bei Diamanten um Kohle handelt, die über lange Zeit in der Erde lag“, erklärte Magister Alfredus, der ältere der beiden Gelehrten, stolz.
„Kohle?“, frage Aris, „Verbranntes Holz?“
„Genau das“.
„Wie“, warf Leto von der Seite ein, „Ihr wollt mir sagen, wenn ich die Reste meines Kaminfeuers begrabe, bekomme ich in ein paar Jahren Juwelen?“ Er lachte. „Warum hat man das nicht früher herausgefunden?“
„Es würde sehr viel länger dauern“, erwiderte der jüngere Magister Eusebius pikiert. „Wir wissen noch nicht genau wie lang ...“
„Aber es könnten mehr als hunderttausend Jahre sein“, ergänzte sein Kollege.
„Bei den gütigen Geistern des Windes! Ich wusste nicht mal, dass es die Welt so lange gibt!“
Die Geologen nickten gewichtig. Leto kratzte sich am Kopf. Sie waren jetzt seit entwas mehr als einer Woche unterwegs, nicht gerade schnell, denn der schwer beladene, von einem Maultier gezogene Karren kam noch langsamer voran als die Söldner zu Fuß. Sie hatten Elpingen verlassen, durchwanderten jetzt das benachbarte Eiben, aber die einsamen, schlecht gepflegten Landstraßen und Waldwege sahen eigentlich überall gleich aus. Zu ihrer aller Überraschung hatte Aris es sich zur Gewohnheit gemacht, die langweiligen Wegstunden durch Gespräche mit den Gelehrten zu verkürzen. Das bedeutete, dass er gelegentlich Fragen stellte und die meiste Zeit still und aufmerksam ihren Ausführungen über Mineralien lauschte. Die beiden waren ihrerseits äußerst neugierig auf ihn, stießen mit ihren Erkundungen nach den Leben der Elfen aber auf wenig Mitteilungsbereitschaft seinerseits. Die anderen Söldner hielten Abstand von den Männern, die ihnen wegen ihrer gestelzten Ausdrucksweise und ihrem völligen Desinteresse an Schnaps, Krieg und leichten Frauen suspekt waren. Nur Leto hörte gelegentlich ebenfalls zu, teils aus Neugier, teils, weil es ihn unwiderstehlich in Aris Nähe zog. Einiges von dem, was er dabei erfuhr, war faszinierend, oft begriff er allerdings nicht, was der Zweck all der Forschung war und irritierte die Magister mit der Frage, was man damit denn anfangen sollte.
„Man sollte ihnen nicht zu lang zuhören, da schwirrt einem nur der Kopf“, bemerkte Ulrich Heißters, der mit dem Pferd zu ihnen aufschloss. Leto fühlte wieder einmal Bedauern für das prächtige, temperamentvolle Tier, das sich bei ihrem Tempo sichtlich langweilte.
„Ab und an sind sie allerdings nützlich“, fuhr der Kaufmann fort. „Wenn man ihr ganzes Wissen über Steine praktisch verwenden kann“.
„Manche unserer Erkenntnisse werden in der Zukunft einmal auf eine Art verwendet werden können, die Ihr jetzt noch gar nicht ahnen könnt“. Alfredus strich sich beleidigt über den krausen, graumelierten Vollbart.
„Ja, natürlich“, spottete Heißters, „Sag mir einfach Bescheid, wenn ihr wisst, wie man Steine in Gold verwandelt“.
„Wir sind Geologen, keine Alchimisten, mein Herr!“
„Dann müssen wir wohl doch ganz altmodisch im Boden graben“.
„Sagt mir ... wie habt ihr das mit der Kohle herausgefunden?“, fragte Aris.
Magister Alfredus, eben kurz vor einem Wutausbruch, beruhigte sich sofort. „Also“, begann er erfreut, „das war eine Mischung aus genauer Beobachtung, dem Studium der Texte und ein wenig angewandter Magie. Schon Solivius bemerkte ...“
„Wie lange wird es noch dauern, bis wir die Berge erreichen?“, fragte Leto an Heißters gewandt.
„Vielleicht noch eine Woche, etwas mehr oder weniger“.
„Hmm“.
„Sagt mir ...“. Der Kaufmann senkte seine Stimme ein wenig. „Wie seid Ihr an diesen Elfen gekommen, Herr Leto?“
„Nun, das war eine seltsame Geschichte“.
„So sprecht doch!“
„Wir haben ihn ... am Flussufer der Ida gefunden. Bewusstlos, mit nichts als den Kleidern, die er am Leib trug. Er sagte, er sei aus der Sklaverei entflohen“. Leto zögerte, zuviel zu erzählen.
„So etwas. Ich wusste nicht, dass sie Sklaven halten. Naja, andererseits sind sie nicht sehr offenherzig, dort im Norden. Und es kommt wohl oft vor, dass die einzelnen Clans sich blutig bekämpfen“.
„Kennt ihr die Elfen gut?“, wollte Leto neugierig wissen.
Heißters zuckte die Achseln. „So gut, wie man sie eben kennen kann als Ausländer. Ich habe mit ihnen gehandelt, auch mal eine Nacht bei einem Clan übernachtet ...“
„Wie ist das, sprechen viele von ihnen unsere Sprache? Es hat mich schon die ganze Zeit gewundert, dass Aris sie beherrscht“.
„Einige jedenfalls. Man muss sich ja verständigen und das Elfische ist verteufelt schwierig. Ich habe viele gekannt, die versuchten, es zu lernen, ich selbst gehöre auch dazu. Aber niemandem gelang es. Die Sprache ist ganz anders aufgebaut, sie hat mehr Nuancen, mehr Wörter ... und es ist mehr als das. Sie scheint nicht für uns Menschen gemacht. sie ist so hart, so kalt, es schaudert einen, wenn man sie hört. Ihnen dagegen scheint es leicht zu fallen, Veldisch zu lernen. Mir kommt es überhaupt so vor, dass sie schneller lernen als wir. Im Gegensatz zu dem, was viele denken, sind sie ein junges Volk, jünger als die Menschen. Manchmal glaube ich ... naja, das geht hier wohl zu weit“.
„Was?“
„Nun, ich habe schon gedacht, dass sie uns irgendwann verdrängen könnten. Aber das ist wohl Spinnerei. Im Moment sind sie im Vergleich zu uns in vielen Dingen primitiv“.
„Wie leben sie?“
„Sie sind hauptsächlich Nomaden, Viehzüchter und Jäger, die in kleineren Gruppen von höchstens zweihundert Personen leben. Es gibt einige Siedlungen, vor allem die Städte an den nördlichen Bergen, wo Bergbau betrieben wird. Sie hassen das Graben, aber sie sind verrückt nach Waffen, deshalb tun sie es doch. Nun, soweit ich weiß, gehören alle Bergarbeiter zur niederen Kaste“.
„Kaste? Was ist das?“
„Ihre Gesellschaft ist sehr steif. Jeder hat darin einen festen Rang, einen genau festgeschriebenen Platz, den er nie verlässt. Auch deshalb wunderte es mich, dass dieser hier ist. Für gewöhnlich würden diese Leute ihren Clan niemals verlassen, egal, wie schlecht es ihnen dort geht. Die Loyalität zur Gemeinschaft und zur Familie geht ihnen über alles. Wenn einem von ihnen, selbst dem Geringsten, ein Unrecht getan wird, ruhen sie nicht, bis es gerächt ist“.
„Und sie sind alle gute Kämpfer?“
„Zumindest die meisten Männer. Es gehört zu ihren Idealen. Jeder lernt das Kämpfen von klein auf, es gibt Zweikämpfe, Wettspiele, all das. Ehre, daran glauben sie auch. Hinterhältigkeit und Betrug werden geächtet“.
„Oha. Da hätte ich ihm wohl bei unserem Kampf kein Bein stellen sollen ...“
„Bei ihnen hätte dieser Sieg nicht gegolten. Aber Euer Freund scheint bereit, sich anzupassen. Wirklich, eine erstaunliche Sache. Leider vermutlich auch eine Einmalige. Schade. Wenn größere Gruppe sich entschlössen, hierher auszuwandern ... der Mann, der sie als Söldner unter Vertrag nimmt, könnte ein Vermögen machen. Eine Armee von ihnen würde unsere wegfegen, da bin ich mir sicher!“
„Soso“, murmelte Leto. Er war sich nicht sicher, ob ihm dieser Gedanke gefiel.

Abends rasteten sie um ein großes Feuer auf einer Lichtung unter dem Sternenhimmel. Entgegen den Behauptungen des Kaufmanns waren die Straßen bis jetzt frei und sicher gewesen. Inzwischen ließ die Wachsamkeit der Söldner nach, sie tranken und aßen ausgiebig, die nächtlichen Wachposten nahmen ihre Aufgabe nicht ganz so ernst. Heißters schien das nicht zu stören.
Nach dem Abendessen suchte Leto Aris auf, der etwas von der Gruppe abgesondert an einen Baum gelehnt saß. Er hatte die Augen geschlossen, doch sein Gesicht war aufmerksam. Als Leto sich neben ihm hinsetzte, öffnete er die Augen. Er sagte nichts.
„Ähm“, setzte Leto etwas unsicher an. „Also ... ich wollte .... mich entschuldigen“.
„Wofür?“, fragte der Elf überrascht.
„Herr Heißters hat mir heute erzählt, dass bei euch andere Regeln beim Kämpfen gelten. Und dass die manches verbieten, das in meiner Umgebung als normal gilt. Es ... es gefällt mir nicht, wenn ich auf unfaire Weise gewonnen habe“. Er wurde ein wenig rot. „Das ist mein Ernst“, fuhr er hastig fort. „Ich bin ein Söldner, ja, aber ich habe eine Vorstellung von Ehre. Es ist mir in einem Kampf immer lieber, wenn die Bedingungen für beide Seiten gleich sind. Wenn ich also gewusst hätte, dass ihr so etwas nicht tut, hätte ich es auch sein lassen“.
Der Elf blickte ihn ernst, aber nicht unfreundlich an. „Es gibt keinen Grund für eine Entschuldigung. Es stimmt, ich hatte nicht damit gerechnet. Aber das war mein Fehler, nicht deiner. Weißt du ... ich schätze die Kultur meines Volkes. Aber manchmal sind unsere Vorstellungen auch dumm. Sie sind unlogisch, unbeweglich. Wer siegt, hat Recht, das ist meine Meinung“.
„Ein Mann mit einem Schwert besiegt ein Kind“, protestierte Leto, „Du wirst nicht sagen, er sei im Recht?“
„Nein, denn das wäre kein Sieg, sondern Mord. Doch wenn man in einem ausgewogenen Kampf einen Vorteil hat, sollte es keine Schande sein, ihn zu nutzen. Dein Volk ist pragmatisch und das mag ich an euch, auch wenn es manchmal ungewohnt für mich ist“.
„So?“ Leto musste schmunzeln. „Hat dein Eindruck von uns sich ein wenig verändert? Ich meine, seit ‚hässlich und verrückt’?“
„Er hat sich erweitert, würde ich sagen. Ich bin überrascht, wie sympathisch ich die Menschen oft finde, obwohl sie verrückt und hässlich sind“.
„Sieh an. Deshalb schaust du in den letzten Tagen heiterer drein“.
„Tue ich das? Ja, vielleicht. Langsam gefällt mir dieses Leben. Langsam ... begreife ich, dass ich überhaupt noch lebe. Und dass das vielleicht noch eine Weile so bleibt“. Aris blickte zu Boden. Leto schwieg. Hinter ihnen knackte es leise im Wald. Der Elf fuhr herum und der Schrecken, der für einen Wimpernschlag in seinem Gesicht stand, berührte Leto seltsam.
„Sitzt du deshalb hier?“, fragte er, „Um zu lauschen?“ Er erhielt keine Antwort. Und begriff, dass es nicht der Gedanke an Räuber oder Wölfe war, der diese Angst verursachte. „Du glaubst, dass sie immer noch hinter dir her sind, nicht wahr?“
Aris Stimme war ausdruckslos. „Ich weiß es“.
Warum, fragte sich Leto, sollten sie einen einzelnen Sklaven so lange verfolgen? Er erinnerte sich unwillkürlich an Ulrich Heißters Worte: ‚Wenn einem von ihnen ein Unrecht getan wurde, ruhen sie nicht, bis es gerächt ist’. Aris hatte bei seiner Flucht den Heiler getötet. Aber deshalb ...? Er schob den Gedanken beiseite. Sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
„Sie finden dich nie“, sagte er in aufmunterndem Tonfall.
„Nein, werden sie nicht. Nicht lebend jedenfalls“.
„Nun, ich ... gehe schlafen. Du solltest dich auch hinlegen. Wir haben schließlich Wachen“.
„Bald. Ich bleibe noch eine Weile sitzen“.
„Naja, Ich bin froh, dass das mit dem Zweikampf geklärt ist. Ich gehe gerne sicher, dass keiner meiner Männer mir heimlich böse ist. Kann schlecht sein, wenn man im Kampf Rücken an Rücken steht. Und ...“ Leto beschloss, ein kleines Wagnis einzugehen, „... an deiner Meinung liegt mir ganz besonders“.
„Weshalb?“
„Nun, du bist etwas Besonderes. Ich habe großen Respekt vor dir“.
Aris lächelte plötzlich. „Ich respektiere dich auch, keine Sorge. Du bist ein stolzer Mann, auch wenn du es geschickt verbirgst. Das gefällt mir.“
Sie blickten sich an und für einen Augenblick lag etwas in der Luft. Herrje, dachte Leto. Der Elf war wirklich hübsch, sein Haar hatte im fahlen Mondschein die Farbe von Elfenbein, sein Blick war ungewöhnlich offen und warm. Dann senkte Aris die Lider.
„Also ... gute Nacht sagt man, nicht wahr?“
„Ja. Gute Nacht“.

Auch die übrige Reise verlief ohne Zwischenfälle. Keinerlei Gefahren, nicht einmal Wildtiere. Die meisten der Söldner begannen zu glauben, dass sie in Wahrheit für eine harmlose Vergnügungsreise bezahlt werden würden. Natürlich fiel ihnen nicht ein, sich darüber zu beklagen. Irgendwann tauchten hinter einer weiten Landschaft von Weizenfeldern und Wäldchen im Fürstentum Ustrid die grünen Berge auf. Es waren eigentlich keine richtigen Berge, eher eine große, ausgedehnte Hügelkette. Felsige Hänge aus gelblichem Sandstein ragten aus dichten Baumgruppen hervor, sie waren noch in großer Höhe mit schmächtigen Kiefern übersäht und von Moos und Flechten überwachsen. Der Name passte wirklich gut, sie wirkten aus der Entfernung fast völlig grün.
Begeistert zückte Eusebius eine Pergamentrolle und Kohlestifte. „Herr Heißters!“, rief er, „Können wir nicht anhalten, damit ich die Berge zeichnen kann?“
„Was nützt mir eine Zeichnung des hübschen Panoramas?“, erwiderte der Kaufmann. „Du kannst beim Fahren zeichnen, wir kommen ja langsam genug voran!“
Eusebius zischte etwas von Banausentum. „Dann wird es eben eine schnelle Skizze tun müssen“. Alfredus nickte voller Verständnis.
„Diese Kapitalisten werden niemals Sinn für wahre Wissenschaft haben“, erklärte er traurig. Die Stimmung der Geologen heiterte sich jedoch sofort wieder auf, als sie den Fuß des ersten Hügels erreichten. Zwischen Laubbäumen und Gestrüpp war der Boden hier von Geröll bedeckt und die Gelehrten sprangen vom Wagen, um Proben zu sammeln. Die Söldner staunten, mit welchem Eifer die zwei pummeligen Männer, die bis jetzt jede körperliche Betätigung vermieden hatten, plötzlich hin und her eilten.
„Wir müssen weiter hoch“, sagte Heißters, „Dort gibt es Höhlen und Schächte, wo sich Mineralien finden. Einige scheinen sogar von Menschen angelegt worden zu sein, vermutlich vor langer Zeit“.
„Leben in den Bergen heute noch Menschen?“, erkundigte sich Leto, „Als wir näherkamen, habe ich Rauch aufsteigen sehen“.
„Ach“, der Heißters winkte ab, „vielleicht ein paar Köhler, gelegentlich Wilderer. Sonst niemand, soweit ich weiß. Ist eine eher unwirtliche Gegend, steil und zerklüftet“.
Der Weg, der in weiten Kurven bergan führte, war dann auch alles andere als komfortabel. Der Wagen rumpelte über Schlaglöcher und herumliegende Steine, manchmal war die Straße beinah zu schmal für ihn. Die Gelehrten stiegen ab und liefen, damit er besser vorwärtskam und weil ihnen von dem Geschüttel übel wurde.
„Vielleicht sollten wir an einer geeigneten Stelle eine Art Basislager einrichten und von dort zu Fuß in die Umgebung vordringen“, schlug Magister Alfredus vor.
„Endlich mal eine gute Idee!“, lachte Heißters. „Das machen wir“.
Etwa eine halbe Stunde später fanden sie die passende Stelle, eine Lichtung unweit des Wegesrands, umgeben von Felsen. Nicht weit davon entsprang ein kleiner Bach. Sie hatten jetzt etwa die Hälfte der Strecke bis zur Hügelkuppe zurückgelegt, der Abend nahte und sie beschlossen, ein Lager aufzuschlagen und es für heute gut sein zu lassen. Die Pferde wurden getränkt und zum Grasen angepflockt, ein Feuer entfacht und das Abendessen gekocht. Während die Suppe kochte, begannen die beiden Magister, mithilfe von Vergrößerungsgläsern, Messgeräten und kleinen Hämmerchen die örtlichen Felsen zu begutachten.
„Ha! Seht euch das an!“, rief Eusebius, nachdem er einen mittelgroßen Stein zerschlagen hatte, „ein Einschluss von Bergkristall!“
„Tatsächlich? Das ist doch schon einmal Anfang“, freute sich Heißters. „Ich kann es kaum erwarten, was für Schätze wir finden werden ...“
Nicht zum ersten Mal fragte sich Leto, woran es liegen mochte, dass bisher niemand sonst Anspruch auf die Bodenschätze erhoben hatte. Es stimmte ihn misstrauisch. Doch die allgemeine Stimmung war so gut, der Abend so schön und die Luft im Nadelwald so frisch und würzig, dass er seine Bedenken beiseite schob. Auch an diesem Abend wurde vielleicht etwas mehr Wein getrunken, als gut gewesen wäre. Heißters war der Meinung, die zukünftigen Reichtümer seien ihnen so sicher, dass man schon im Voraus darauf anstoßen könne.
Als Andres, der flinke, nervöse Mann, der vor bösartigen Gnomen gewarnt hatte, die Wache übernahm, war er schon angeheitert und weniger aufmerksam als sonst. Irgendwann gegen Mitternacht nickte er ein.

Aris lag wach. Das war nicht ungewöhnlich. Seit seiner Flucht schlief er schlecht. Er war unruhig, hatte quälende Träume, immer wieder wurde er wach und lauschte in die Nacht. Lauschte nach ihnen. Er wusste, dass es Unsinn war, sie würden nicht einfach mitten im Land der Menschen auftauchen. Und dennoch fürchtete er sie, fürchtete die Rache, die ihn erwartete, wenn sie ihn jemals erwischten. Also lag er still, aber schlaflos und lauschte. So kam es, dass er die Schritte hörte. Es waren leise Schritte, die Bewegungen geübter Schleicher, von mehreren Personen, die sich näherten. Für einen Augenblick glaubte er tatsächlich, dass es seine Verfolger wären, sein Magen verkrampfte sich vor Furcht. Dann hörte er sie leise flüstern und konnte sie zwar nicht verstehen, doch am weichen, dumpfen Klang der Worte merkte er, dass es Menschen waren. Einige befanden sich hinter ihm, einige an der Seite ... er begriff, dass das Lager eingekesselt wurde. Er richtete sich auf, wollte reagieren, den Wächter aufmerksam machen, der dösend am heruntergebrannten Feuer saß. In diesem Moment flog zischend ein Bolzen, Andres kippte lautlos vornüber. Aris sprang auf die Füße.
„Ein Überfall!“, rief er durchdringend.
Die schlafenden Söldner begannen sich zu bewegen. Gleichzeitig stürmten mit lautem Gebrüll etwa fünfzehn Männer aus den Büschen und hinter den Felsen ringsherum hervor. Aris zog das Langschwert.

Leto erwachte von einem Ruf, er wusste nicht, wer ihn ausstieß und verstand im ersten Moment den Sinn nicht. Er blinzelte, richtete sich schlaftrunken auf – und erblickte die Silhoutten von Männern, die auf die Lichtung gerannt kamen. Sie schrieen, ihre gezogenen Waffen schimmerten im Glimmen des fast erstorbenen Feuers. Sie wurden angegriffen! Leto wühlte sich hastig aus seiner Decke, tastete nach seinem Schwert. Um ihn herum brach Hektik aus, weitere Schreie erklangen, erschrockene und schmerzerfüllte, und auch das dumpfe Geräusch von Waffen, die auf Fleisch trafen. Wie viele waren es? Er hätte es im allgemeinen Chaos unmöglich sagen können. Endlich spürte er den Griff des Anderthalbhänders unter den Fingern, bevor er ihn ziehen konnte, hatte ihn allerdings einer erreicht, der mit einem eisenbeschlagenen Knüppel nach ihm schlug. Leto warf sich herum und wich gerade noch aus. Der Angreifer fluchte, hob die Keule erneut – da traf ihn jemand mit einem Schwertschlag von hinten in die Seite. Er keuchte auf und ging in die Knie. Hinter ihm stand Aris, der dem Gestürzten jetzt ohne zu zögern die Klinge in den Bauch rammte. Der Mann jammerte leise und sackte zusammen.
„Schnell“, sagte Aris und reichte Leto, der noch am Boden lag, die Hand zum Aufstehen. Sie war glitschig von Blut.
„Bist du verletzt?“, fragte Leto.
„Was? Oh, nein, ist nicht meins. Achtung!“
Gleich drei weitere Bewaffnete näherten sich ihnen. Unwillkürlich stellten sie sich Rücken an Rücken, um ihnen zu begegnen. Die Angreifer waren schlecht bewaffnet, sie trugen Kurzschwerter, Beile. Leto schwang den Anderthalbhänder und erwischte den ersten, bevor er zum Angreifen kam. Er schlug ihm glatt den Kopf ab. Der nächste war wachsamer, versuchte zu tänzeln und auszuweichen, doch gegen die Reichweite des langen Schwerts kam er nicht an. Leto parierte ein paar seiner Hiebe und erwischte ihn dann an Knie. Er gab ihm schnell den Rest. Dann wandte er sich zu Aris um, der seinem Gegner gerade schwungvoll den Bauch aufschlitzte.
„Allles in Ordnung bei dir?“
„Ja“.
Sie schauten sich um. Der Kampf hatte sich zu Gunsten der Söldner gewendet. Nur noch einige Kämpfe waren im Gange, zwei Gestalten verschwanden gerade rennend im Wald. Wenig später war der letzte Angreifer gefallen.
„He“, sagte Leto, „du hast mir gerade das Leben gerettet. Danke. Damit sind wir quitt, schätze ich“.
Aris wirkte beinahe beschämt. „Nein“, antwortete er mit gesenktem Kopf, „noch lange nicht“.
Er zuckte ein wenig zusammen, als Leto ihm auf die Schulter klopfte.
„Sei nicht zu bescheiden. Du hast sehr gut gekämpft. Ohne dich wäre diese Sache schlechter ausgegangen“.
Es sah im Halblicht fast aus, als ob der Elf ein wenig errötete.
„Verdammich“, sagte nahe von ihnen Lion. „Andres ist tot, Friedbert auch, außerdem Connar und Hagen“.
„Scheiße“, brummte Leto, „Vier Männer, das ist übel“.
„Allerdings“.
„Mist! Was ist eigentlich mit Heißters und den zwei Magistern?“
„Wir sind hier!“ Der Kaufmann kam, gefolgt von den kreidebleichen Gelehrten, unter dem Wagen hervorgekrochen.
„Wofür bezahle ich euch eigentlich?“, schnaubte er verärgert. „Eure Wache hätte ruhig ein bisschen früher schreien können. Hat wohl geträumt, der Mann?“
„Er hat einen Pfeil in der Kehle“, erwiderte Lion giftig. „Das passiert selbst dem Aufmerksamsten!“
Auch Leto spürte Wut in sich aufsteigen. „Habt Ihr mir nicht noch vor ein paar Stunden versichert, hier gäbe es nur Köhler und ein paar Wilderer?“, fragte er scharf. „Woher kamen dann diese Bewaffneten?“
„Was weiß ich, woher sie kamen! Mir hat man versichert, die Berge seien ungefährlich. Überhaupt, es ist eure Aufgabe, auf so etwas vorbereitet zu sein“.
„Wenn wir es nicht gewesen wären, hätte es mehr Tote gegeben!“, schnappte Leto. „Sagt mir Eines, Herr: Seid Ihr wirklich sicher, dass sich hier nicht noch mehr von der Sorte herumtreiben?“
„Woher soll ich das wissen?“
„Es hat doch einen Grund, dass niemand hier wohnt. Dass niemand bisher Bergbau betreibt ...“
„Nun, vielleicht gibt es tatsächlich ein paar Geschichten über Räuberbanden, die sich hier verstecken ...“
„... Die Ihr lieber nicht erwähnt habt“.
„Ich habe von Räubern gesprochen“.
„Von Straßenräubern. Aber nicht davon, dass hier vielleicht die ganze Gegend von ihnen wimmelt und sie ihren Rückzugsort sicher verteidigen werden!“
„Also“, knurrte Lion, „das kostet Gefahrenzuschlag“.
Das Gesicht des Kaufmanns rötete sich vor Ärger. „Das kommst ja gar nicht in Frage!“
Lion schob das Kinn vor. „Gut. Dann gehen wir. Viel Erfolg noch“.
Leto nickte. „Das ist das Mindeste. Wir müssen die Witwen unterstützen“.
„Ach, ihr seid doch alle Zecken und Blutegel!“
„Also?“
„Na schön, was bleibt mir übrig!“

Bis sie zumindest ihre eigenen Leichen begraben hatten, graute schon fast der Morgen. Danach legten sie sich noch einmal hin, sie waren alle völlig erschöpft und selbst Heißters hielt es für vernünftig, dass sie noch etwas Schlaf bekamen, bevor das Tagwerk begann. Leto fand allerdings keine Ruhe. Er starrte auf den heller werdenden Himmel und machte sich Vorwürfe. Er war der Anführer, er hätte die Männer zu größerer Wachsamkeit anhalten müssen. Heißters hatte die Gefahren heruntergespielt, um weniger bezahlen zu müssen, das war gierig und ziemlich dumm, aber er hätte damit rechnen können. Er war naiv gewesen, dachte er. Zu vertrauensselig. Vielleicht war er doch noch zu unerfahren ...

Auch Aris konnte nicht schlafen, obwohl er wirklich todmüde war. Er dachte über ganz andere Dinge nach. Genauer gesagt dachte er über Leto nach. Über den Schrecken, den es ihm versetzt hatte, als er sah, dass einer der Räuber Anstalten machte, ihm den Schädel zu zertrümmern. Er verstand sich selbst nicht. Er war überzeugt gewesen, dass es nichts und niemanden mehr gab, an dem ihm etwas lag. Ihm lag ja nicht einmal mehr etwas am Leben. Zumindest hatte er das bis vor ein paar Tagen geglaubt. Er verstand diesen Menschen nicht, der so völlig grundlos freundlich zu ihm war. Aber ... er mochte ihn. Überhaupt waren die Menschen nicht so, wie man sich bei ihm zuhause erzählte. Ihn hatte die Klugheit der Gelehrten erstaunt, die sich mit solcher Wissbegierde und Aufmerksamkeit ihre Zeit dem Erforschen von Steinen widmeten. Kein Elf hätte geahnt, dass die schmutzigen, hässlichen, chaotischen Menschen auch so etwas hervorbrachten. Und sie waren nicht alle hässlich. Leto zum Beispiel ... Aris war verwirrt.

Am späten Vormittag standen sie immer noch müde und in schlechter Stimmung auf. Nach einiger Beratung beschlossen sie, die Gruppe zu teilen. Acht Söldner würden beim Wagen bleiben, um die wertvollen wissenschaftlichen Geräte und Bücher, die Reisekasse und die Ausrüstung zu bewachen. Der Rest sollte den Kaufmann und die Geologen bei ihren Erkundungen begleiten. Es war jetzt klar, dass sie Gegend gefährlich war, sie würden wesentlich vorsichtiger sein müssen als bisher. Die Männer zeigten wenig Begeisternug für die Exkursion in die Umgebung. Sie waren auf Heißters schlecht zu sprechen und murrten über die ganze Unternehmung.
„Also schön“, entschied Leto schließlich, „Lion bleibt meinetwegen hier, ich gehe mit. Wer noch? Freiwillige vor“.
Lastendes Schweigen antwortete ihm.
„Ich“, sagte Aris.
Leto bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich freute.
„Gut. Noch jemand? Leute, kommt schon“.
„Ich komm auch mit, Herr“, erklärte schließlich Albert.
Zögernd erhoben noch zwei Männer, Gothar und Falk, die Hände. Drei weitere bestimmte Leto. Ohne ein weiteres Wort brachen sie auf. Der Weg, dem sie gestern gefolgt waren, wurde immer schmäler, bis er kaum mehr war als ein Trampelpfad, der sich zwischen Felsen, Bäumen und Sträuchern schlängelte. Außerdem stieg er zunehmend steiler an, so dass das Gehen nach einer Weile beschwerlich wurde. Die ersten Mücken des Jahres umkreisten sie mit enervierendem Sirren. Der Himmel über ihnen zog sich zu, die Luft wurde schwül und drückend. Derweil konnten sie kaum sehen, wie hoch sie gekommen waren, weil der dichte Wald um sie herum den Blick versperrte. Nach zwei Stunden Marsch teilten sich die Bäume allerdings und gaben den Blick auf eine etwa zehn Schritt hohe Felswand frei, die sich vor ihnen erhob. Sofort kam Leben in die Geologen, die bisher sehr bedrückt gewesen waren.
„Sehr euch das an!“, rief Alfredus begeistert. „Das ist Sandstein mit einem hohen Kalkanteil, man sieht es an der Farbe. Er gibt ein hervorragendes Baumaterial ab, auch Bildhauer schätzen ihn“.
Heißters wirkte nicht sonderlich begeistert. „Naja, ist ja schon mal besser als nichts. Aber ich hatte auf größere Bodenschätze gehofft. Lasst uns doch mal um diesen Vorsprung herumgehen“.
„Genau, sehr gut“, stimmte Alfredus eifrig zu und eilte voran, gefolgt von Eusebius, der sein Notizbuch hervorkramte. Der Rest der Gruppe folgte in gemäßigterem Tempo. Am Fuß des Felsvorsprungs wuchsen junge Bäume und Büsche. Die Magister zogen im Gehen Blätter und Äste zur Seite, um Gesteinsproben zu nehmen.
„Schaut, Herr Kollege, mir scheint, ich habe eine fossile Muschel entdeckt“.
„Faszinierend!“
Plötzlich blieb Eusebius stehen und schob die Ranken eines Brombeerstrauches auseinander.
„Na so etwas! Da ist eine Spalte“.
„Ach was“, Heißters kam interessiert näher. Fast unsichtbar verborgen hinter dem dornigen Gestrüpp tat sich ein annähernd mannshohes Loch im Fels auf. Der Kaufmann schob sich hinein, wobei sein wohlgerundeter Bauch ihm gewisse Mühe bereitete.
„Das geht tiefer in den Fels hinein“, stellte er fest. „Zündet die Lampen an, Jungs. Das werden wir uns näher ansehen“.
In der Hoffnung auf eine ebensolche Gelegenheit hatten sie mehrere Laternen mitgebracht, die die Magister jetzt entzündeten. Dann folgten Eusebius und Alfredus Heißters in den dunklen Spalt, die Söldner kamen eher zögernd hinterher. Vor ihnen öffnete sich ein enger Durchgang, der geradeaus auf ebener Strecke in den Fels führte. Nach einigen Metern wurde er niedriger, so dass sie sich bücken mussten und die Wände wiesen Spuren von Bearbeitung auf.
„Dies scheint tatsächlich schon in vergangenen Zeiten ein Minenschacht gewesen zu sein“, hauchte Eusebius. „Welch bemerkenswerte Entdeckung“.
„Allerdings sehe ich keine Stützbalken“, bemerkte Alfredus. „Entweder es hat niemals welche gegeben, oder sie sind schon verrottet. Auf jeden Fall wurde diese Mine schon lange aufgegeben“.
„Na hoffentlich kracht sie uns nicht auf den Kopf“, murrte Gothar leise. Sie folgten dem Gang vielleicht fünfzig Schritt, bis sie auf auf eine Stelle trafen, wo das Gestein halbkreisförmig abgetragen worden war. Kurz dahinter teilte sich der Stollen in zwei Richtungen.
„Hier wurde einmal abgebaut“, sagte Alfredus. „Ich würde das gerne untersuchen. Vielleicht finden sich noch Spuren dessen, wonach man hier früher gegraben hat“.
„Tu das“, stimmte Heißters zu. „Ich platze vor Spannung. Wir warten solange“.
Während die Geologen jetzt mit Hämmern und Meißeln begannen, die Felswand zu untersuchen, setzten sich die anderen Männer auf den staubigen Boden. Die meisten waren froh über diese Pause und nickten sofort ein. Leto dagegen war unruhig. Er hatte sich in engen, fensterlosen Räumen noch nie wohl gefühlt, dass jetzt Massen von Felsen über ihnen lagen, behagte ihm noch weniger. Er wanderte ziellos auf und ab und wandte sich schließlich an Heißters.
„Wenn es Euch nicht stört, Herr, würde ich gern einen Blick hinter diese Gabelung werfen“.
„Sicher, sicher, es kann nie schaden, sich etwas umzusehen“.
Leto entschied sich für die linke Abzweigung. Der Tunnel wurde hier noch niedriger und schmaler und führte leicht abwärts. Leto leuchtete nevös vor sich, er wollte nicht in einen unerwarteten Abgrund fallen. Stattdessen fiel ihm nach einigen Schritten ein Gegenstand ins Auge, der im blassen Schein der Lampe blitzte. Verwundert bückte er sich und hob eine kleine Kupfermünze auf. Eine veldischer Schilling, offensichtlich ziemlich neu. Er runzelte die Stirn.
„Lange verlassen, hmm?“ Vorsichtiger als bisher ging er langsam weiter, wobei er die Lampe mit der Hand abschirmte, so dass sie nur den Boden vor ihm erhellte. Etwa hundert Schritte ging es jetzt schnurgerade vorwärts und er überlegte gerade, ob er doch umdrehen sollte, als sich vor ihn plötzlich eine runde Kammer öffnete. Sie war nicht sonderlich groß und fast völlig mit Kisten und Fässern zugestellt. In einer Ecke lag ein großes, in Stoff geschlagenes Bündel. Leto hob den Stoff an und hätte beinah die Lampe fallen lassen, als er einen beeindruckenden Haufen von Schwertern vor sich sah. Keine Sekunde später hörte er Schritte und gedämpfte Stimmen, die aus einem Tunnel auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes drangen. Sie klangen sehr nahe. Kurz entschlossen löschte er sein Licht, stellte sich neben den Tunneleingang und zog das Schwert. Von den Stimmen her schienen es zwei zu sein, die sich unterhielten.
„... sage dir, es stimmt etwas nicht. Sie müssten schon längst wieder hier sein ...“.
„Trotzdem finde ich, wir sollten bis zur Nacht ...“
Der bullige Mann, der mit einer Fackel in der Hand den Raum betrat, schnappte nach Luft, riss die Augen auf und brach in die Knie, als Leto ihm seinen Dolch in den Hals rammte. Bevor der Zweite reagieren konnte, hatte er die Waffe im Bauch. Er heulte vor Schmerz und kippte über seinen blutenden Kamerad. Leto schnitt auch ihm die Kehle durch und atmete erleichtert auf. Bis er Schritte hörte, und begriff, dass es drei gewesen waren. Der Überlebende war schon nicht mehr einzuholen und fand erstaunlicherweise noch genug Luft, um aus voller Kehle „Zu den Waffen!“ zu brüllen.
„Verdammte Scheiße“, stöhnte Leto. Hastig hob er die Fackel des Toten auf und lief so schnell er konnte in die Richtung, aus der er gekommen war.
Der Weg kam ihm endlos lang vor. Als er die anderen endlich erreichte, war er so außer Atem, dass er kein Wort herausbrachte.
„Da seid Ihr ja“, begrüßte ihn Heißters breit grinsend. „Gute Nachrichten. Wir haben doch tatsächlich eine Metallader entdeckt, kaum ausgebeutet, Ihr glaubt nicht, was ...“
„Ihr Versteck“, keuchte Leto. „Wir sind in ihrem Versteck“.
„Was für ein Versteck?“, fragte Eusebius verwirrt.
„Dem Versteck der Banditen, Idiot!“, schrie Leto. Die Söldner erwachten aus ihrem Halbschlaf und starrten ihn erstaunt an, bevor sie eilig aufstanden.
Aus dem Gang drang das Geräusch schwerer Stiefel. Es mussten viele sein.
„Oh, Bockmist“, murmelte Heißters.
Leto gab ihm einen Stoß. „Worauf wartet Ihr? Lauft! Die Zivilisten zuerst, wir bilden die Nachhut. Hab ihr mich gehört, Leute? Wir bleiben hinter ihnen!“
Der Bolzen einer Armbust prallte klappernd vom Fels neben ihm ab.
„Von wegen Nachhut, kreischte Falk und nahm die Beine in die Hand.
Sie rannten.

Im Nachhinein konnte niemand von ihnen mehr sagen, wie es ihnen gelang, vollzählig und ohne Verletzungen aus dem Tunnel zu kommen. Sie alle liefen vermutlich so schnell wie niemals vorher in ihrem Leben und schafften es schließlich, den Schutz des dichten Waldes zu erreichen. Hinter ihnen strömten die Räuber ins Freie, es waren mindestens vierzig Mann, mit Schwertern, Äxten, Armbrüsten bewaffnet.
„Heißters“, zischte Leto zwischen zwei keuchenden Atemzügen, während sie den schmalen Pfad entlang eilten und die Stimmen ihrer Verfolger langsam verklangen, „das reicht! Wir machen jetzt, dass wir von hier fort kommen, und zwar schnell! Wenn Ihr unbedingt die hiesigen Bodenschätze untersuchen wollt, dann kommt das nächste Mal mit mehr Männern!“
„Oh, ich bin ganz Eurer Meinung“, schnaufte der Kaufmann, „Es ist höchste Zeit, zu gehen. Ich habe auch alles, was ich wissen wollte. Wisst Ihr, was wir da drin gefunden haben?“ Er lachte heißer, beinah irrsinnig. „Silber! Ich wette, niemand von diesem Idioten dort ahnt, dass sie in einer Silbermine sitzen!“
Leto wäre beinah über seine Füße gefallen.

chhut!“, kreischte Falk und nahm die Beine in die Hand.
S

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Tag der Veröffentlichung: 13.05.2011

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