Cover

Mein Name ist Jens. Ich bin leitender Angestellter in einem mittelständischen Unternehmen. Ich bin beruflich erfolgreich und ich habe mich in eine Kollegin verliebt. Das ist meine Geschichte.

Prolog


„Was darf es bei Ihnen zu trinken sein?“. Seit Minuten immer wieder der gleiche Text. Ich ging in Gedanken nochmal den Bericht durch, den ich über unseren Mandantentermin abgeben würde. „Was darf es bei Ihnen zu trinken sein?“ – noch zwei Reihen, und wir wären an der Reihe.

Wir. Ich guckte nach links, wo Ivana saß. Sie schlief, den Kopf leicht gegen die Kabinenwand gelegt, eine Strickjacke als Kopfkissen. Wir kamen gerade von einem dreitägigen Termin aus der Stadt der Liebe zurück. Eigentlich ein entspannter Termin, aber durch einen Fluglotsenstreit mussten wir umbuchen, hatten ein paar Stunden Aufenthalt und würden wohl erst mitten in der Nacht zuhause sein. Seit dem weiß ich, dass Ivana im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern aus Kroatien hierhin ausgewandert ist. Und, dass ihr Großvater ihr zuvor einiges über die Natur beigebracht hatte. Also wenn wir in der Wildnis notlanden müssten, von der Angel bis zur Sonnenuhr könnte sie uns alles bauen.
„Was darf es bei Ihnen zu trinken sein?“ – die Stewardess war inzwischen in der Reihe vor uns angekommen. Ich brauchte jetzt einen Kaffee, denn ich musste uns vom Flughafen aus noch nach Hause fahren. Sollte ich Ivana wecken, oder ihr etwas mit bestellen? Sie trinkt Tee – natürlich auch den am liebsten in der Natur selbst gemacht. Den Orangensaft, den ich ihr heute früh im Hotel vom Buffet mitgebracht hatte, wollte sie nicht. Also Tee und Apfelsaft, das gleiche hatte sie auf dem Hinflug auch getrunken, damit mache ich nichts falsch. Eigentlich verrückt, dachte ich mir. Bei meiner Freundin könnte ich nicht so einfach sagen, was sie trinkt.

„Ich hätte gerne ein Wasser“. Ivana war wachgeworden und hatte mir die Frage, ob ich sie wecken darf, abgenommen. „Na, gut geschlafen?“ fragte ich sie. Sie lächelte nur verlegen und zeigte dabei ihre Grübchen.

Der Flug verlief ruhig, die meisten Passagiere dösten vor sich hin. Um Mitternacht landeten wir, eine halbe Stunde später fuhren wir mit dem Mietwagen auf die Autobahn auf. Und eine weitere halbe Stunde später schlief Ivana wieder neben mir auf dem Beifahrersitz. Ich ging in Gedanken wieder meinen Bericht durch, um nicht einzuschlafen. Wie auf Kommando wachte Ivana auf, als wir von der Autobahn abfuhren. Sie lotste mich bis zu ihr nach Hause. „Gute Fahrt noch“ sagte sie und verschwand in der Nacht.


Kapitel 1


Das Wetter war traumhaft an diesem Wochenende. Jacques und ich waren auf einem Führungskräfte-Treffen im Hauptquartier der Firma. Jacques hatte fast gleichzeitig mit mir in der Firma angefangen und wir hatten uns gemeinsam hochgearbeitet. Er war Abteilungsleiter des Nachbar-Ressorts, wir vertraten uns im Urlaubsfall gegenseitig und wir waren lose befreundet.

Wir saßen am Tisch mit den Abteilungsleitern der anderen Niederlassungen. Irgendwer erzählte eine Geschichte nach der anderen, wie toll in seiner Abteilung alles lief. Das Mittagessen wurde aufgetischt und rettete uns vor der nächsten Geschichte. Mehr leider auch nicht, denn für das Geld, das die Firma für das Catering ausgegeben hat, hatten wir alle mehr erwartet. Rund zwei Stunden später flogen wir wieder zurück Richtung Arbeitsalltag.

Als der Bordservice losging, musste ich an meinen letzten Flug ein paar Monate vorher zurückdenken. Damals war ich mit einer Mitarbeiterin auf einem Mandantentermin. Ivana, sieben Jahre jünger als ich, Sachbearbeiterin in meinem Team und ein echter Hingucker. Ivana war im Büro eher bequem und sportlich gekleidet, und doch war sie die attraktivste Mitarbeiterin, die wir hatten. Und erst ihr logisches Verständnis. Es machte einfach Spaß, mit ihr beispielsweise neue Abläufe durchzusprechen. Und jetzt saß ich neben Jacques. Wer hätte da nicht gerne getauscht.

Der nächste Tag im Büro war wie immer. Ivana war offenbar einkaufen, das Oberteil kannte ich noch nicht an ihr. Ich war ziemlich übermüdet und habe schon nachmittags Feierabend gemacht. Die Arbeitstage vergingen, einer nach dem anderen. Ich hatte vor dem Führungskräfte-Treffen einen neuen Mitarbeiter in mein Team bekommen und ihn gemeinsam mit Ivana an einen neuen Fall gesetzt. Die beiden machten erstaunlich schnell Fortschritte. Aber interessanterweise schien Ivana die treibende Kraft zu sein. Eigentlich war der Neue der Experte und ich hatte ihm Ivana nur an die Seite gestellt, um ihn in unsere Prozesse einzuweisen. Diese Frau ist als Sachbearbeiterin viel zu schade, fand ich.

Einige Tage später habe ich gemeinsam mit ein paar Kollegen Mittagspause gemacht. Die Meinungen über unsere Kantine gingen auseinander, aber die Ofenkartoffeln heute waren wirklich gut. „In Metz im Einkaufszentrum gibt’s richtig gute Ofenkartoffeln“ sagte Ivana. Ich guckte ungläubig. Es war selten, dass Ivana überhaupt in der Kantine etwas erzählt. Das letzte Mal war jetzt rund drei Wochen her, da war sie mit ihrem Freund im Kino und hat uns danach den Film empfohlen. „Du fährst bis nach Metz für eine Ofenkartoffel?“ Ich dachte, ich hätte mich verhört. „Nicht extra dafür. Aber wenn man sowieso in der Nähe ist…“. Naja, warum nicht. Wenn ich jemals in Metz sein sollte, würde ich dort die Ofenkartoffel ausprobieren. Wir aßen unsere Ofenkartoffeln weiter und erzählten nicht viel.

Überhaupt erzählte Ivana nie besonders viel, wenn ich mit in der Kantine war. Früher dachte ich, das wäre ihre Art. Aber wenn sie mit anderen Kollegen alleine am Tisch saß, war sie viel offener. Eine Zeitlang war ich der Meinung, sie fände mich unsympathisch – aber dazu passte dann der Umgang mit mir nicht, wenn wir uns mal unterhalten haben. Ich glaube, es war einfach ihre Distanz ihrem Arbeitsplatz gegenüber. Auf einer Fortbildung hat sie mal einen alten Schulfreund getroffen und mit dem in der Pause einen Kaffee getrunken, da war sie wie ausgewechselt und hat sogar laut gelacht. Und mir als Chef gegenüber war sie wohl einfach nur etwas mehr zurückhaltend. Schade, ich habe immer versucht, ein Kollege statt einer Autoritätsperson zu sein.

Ich versuchte, das Gespräch noch ein bisschen in Gang zu bekommen. Ich hoffte, sie würde noch ein bisschen was aus ihrer Kindheit erzählen. Ich wusste, dass sie mit ihrem Großvater früher oft in der Natur war. Ich glaube, ich würde doch nicht für eine Ofenkartoffel nach Metz fahren. Viel lieber würde ich sehen, wie sie draußen ein Feuer anzündet und da eine Kartoffel grillt. Aber ich hatte kein Glück, sie erzählte heute nicht mehr.

Es wurde Wochenende und ich ging einkaufen. Wasser hatte ich im Einkaufswagen, aber ich wollte noch irgendwas mit Geschmack kaufen. Also noch Apfelsaft. Eigentlich mochte ich fast alles, aber in letzter Zeit hab ich unbewusst nur noch Apfelsaft gekauft, ich wusste nicht mal, warum. Meiner Freundin Jessica, bei der ich vor einem Jahr eingezogen war, war das egal. Nachdem ich die Einkäufe weggebracht hatte, ging ich eine Runde ins Fitnessstudio. In letzter Zeit hatte ich damit wieder angefangen. Es hält fit, und man kann in Ruhe nachdenken. Und ich musste nachdenken.

Ich hatte mich in den letzten Wochen immer wieder dabei erwischt, mitten am Tag an Ivana zu denken. Ich ging mit Jessica ins Kino, aber schon auf dem Weg dorthin wünschte ich mir, Ivana liefe neben mir. Ich habe mich mit Freunden getroffen oder bei meiner Schwester etwas abgeholt und mir immer in Gedanken vorgestellt, wie ich Ivana als meine Begleitung vorstelle. Nicht irgendwie als Freundin, sondern als Kollegin, die zufällig mit mir unterwegs ist, vielleicht weil wir danach noch gemeinsam einen Termin haben oder so.

Und dann ihr Aussehen. Sie hatte diese Woche ein neues Oberteil an. Mir war schon vor Monaten aufgefallen, dass sie ihre Oberteile und Hosen fast immer zwei Tage hintereinander anzog, aber es wirkte an ihr nicht störend. Und wenn ich an ihre Sommerkleidung zurückdachte, musste ich lächeln.
Auf den Fernsehern im Studio begann eine Folge der Simpsons, aber mir war nicht nach Comedy. Ivana war eine Mitarbeiterin. Einen kurzen schmutzigen Gedanken zu haben, wenn sie im Sommer mal etwas mehr Haut zeigte, dieses Recht nahm ich mir auch als Chef heraus. Verglichen mit Jacques Gedanken, die er auch noch unter Männern frei heraus erzählt, war ich glaube ich ein guter Vorgesetzter. Aber das hier waren keine schmutzigen Gedanken, das hier war anders.

Ich hatte genug trainiert für heute. Ich ging heim, wünschte meiner Freundin eine gute Nacht und legte mich hin. Ich konnte seit Wochen nicht mehr vernünftig einschlafen, aber ich hatte auch keine Lust, mit Jessica zu reden. Es war unehrlich ihr gegenüber, dass ich teilwiese selbst beim Einkaufen an Ivana denken musste.

Am nächsten Abend schloss ich die Augen. Braune Schuhe, blaue Jeans und darunter ein weißer Spitzen-String. Ein weißes Top, darüber eine hellblaue Jacke – das war schnell aufgezählt. Aber was hatte Jessica heute an? Irgendetwas dunkles, aber mehr bekam ich nicht zusammen – dabei habe ich sie nicht Freitag zuletzt gesehen, sondern sie saß gerade neben mir auf der Couch. Mir wurde schlecht. Beim ersten Mal vor ein paar Wochen hatte ich dieses Ergebnis noch als Versehen abgehakt. Aber jetzt wusste ich, dass ich mir diese Frage stellen würde. Und trotzdem war das Ergebnis immer das gleiche. Was war mit mir los? Ich musste hier raus und machte mich auf ins Studio.
Ich quälte das Laufband, bis mir die Tränen kamen. Tränen, weil ich mich seit Wochen körperlich verausgabte. Aber vor allem Tränen, weil ich nicht wusste, was das alles hier werden sollte.

Ich war mit meinem Latein am Ende. Das wollte ich nicht, das durfte nicht sein, aber ich hatte keine andere Erklärung. Ich war verliebt. Verliebt in Ivana, eine Kollegin. Schlimmer noch, in eine Mitarbeiterin. Das konnte doch nicht mein Ernst sein. Aber alle Indizien sprachen dafür. Während ich an mir selbst zweifelte, freute ich mich schon auf den nächsten Tag. Ihre Geschichten, egal welche, waren wie ein richtig spannendes Buch. Man wollte nicht aufhören, darin zu lesen. Und kaum hatte man es weggelegt, freute man sich schon darauf, bald wieder Zeit für das nächste Kapitel zu haben.

Warum ich mich in Ivana verliebt hatte, war mir auf der einen Seite klar. Sie war klug und hatte eine Auffassungsgabe bei der Arbeit, die war phantastisch. Sie konnte liegengebliebene Autos genauso überbrücken wie Computer reparieren. Und bei all dem war sie noch dazu bildhübsch, ein Traum von einer Frau, und auch genau mein Typ. Diese Kombination hatte ich noch nicht erlebt.

Draußen parkte eine Frau ihren roten Citroen ein. Instinktiv guckte ich ans Steuer, denn Ivana fuhr so ein Auto. Die Wahrscheinlichkeit war nicht groß, dass das ausgerechnet ihr Auto war. Sie fuhr ein Allerweltsauto und wohnte am anderen Ende der Stadt, rund 30km entfernt. Aber mein Handeln hatte mit Vernunft nichts mehr zu tun, ich guckte seit Wochen in jeden Citroen, den ich sah.

Auf der anderen Seite verstand ich nicht, warum ich mich in Ivana verliebt hatte. So toll sie auch war, sie war eine Mitarbeiterin. Optisch mein Typ, aber mir war klar, dass das nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie war vergeben und wohnte mit ihrem Freund zusammen. Sieben Jahre jünger als ich, völlig andere Interessen, und manchmal zu arrogant für meinen Geschmack. Was sollte das alles? Als ihr Chef konnte ich wohl kaum mit ihr flirten. Und selbst wenn, was sollte dabei rumkommen? Ein paar Kinobesuche, eine kleine Affäre und dann nach drei Wochen wieder Chef und Mitarbeiterin spielen? Wohl kaum.

Ich wusste nicht, was das alles sollte. Ich beschloss, erst einmal auf Abstand zu gehen. Ein paar Tage lang nicht mehr als nötig mit ihr reden, ohne dass es auffällt. Meine Mandanten eher mal von einer anderen Sachbearbeiterin betreuen lassen. Und ich aß lieber auswärts und verzichtete auf die Kantine.

*



Ich hatte sieben Kilo in den letzten zwei Monaten abgenommen. Mein Training der letzten Monate zahlte sich also aus, zumindest war das der offizielle Grund. In Wirklichkeit schlief und aß ich nicht mehr vernünftig. Für manche ist das Büro der Zufluchtsort, wenn es in der Beziehung schlecht läuft. Für manche ist der Lebenspartner der Ausgleich, wenn man im Job Probleme hat. Aber mein Problem saß im Büro, und meiner Freundin konnte ich wohl kaum davon erzählen.

Mein selbst verordneter Abstand hat nichts gebracht. Mir ging es nicht besser, aber ich reagierte eifersüchtig, wenn andere Kollegen mit Ivana redeten und ich ihr aus dem Weg gehen musste. Mich auf die Arbeit zu konzentrieren fiel mir zunehmend schwerer.

Immerhin wusste ich jetzt, dass ich nicht körperlich krank war. Meine Bauchschmerzen hatten keinen organischen Grund. Es waren Schmetterlinge im Bauch. Vor einem halben Jahr hätte ich jeden ausgelacht, der damit angekommen wäre. Heute wusste ich, dass es das wirklich gibt. Alleine beim Gedanken an Ivana, an ihr Lächeln, an ihre Grübchen drehte sich mein Magen so, als säße ich auf der Achterbahn. Und dass mir überhaupt ihre Grübchen aufgefallen waren, verwirrte mich. Vor einem halben Jahr hatte ich Grübchen noch für etwas generell Schlechtes gehalten, sowas wie Orangenhaut.

Ich war verzweifelt. Ich wollte reden – aber mit wem? Einem Freund konnte ich mich nicht anvertrauen, die ganze Geschichte war mir zu peinlich. Gab es vielleicht so etwas wie ein Seelsorge-Telefon? Eine Website, bei der man anonym Hilfe bekommt? Eine Radio-Talkshow? Ein Forum, wo man einfach mit Fremden diskutieren konnte? Mit irgendjemandem musste ich doch reden! Webseite, Radio und Forum fielen weg, da war mir das Risiko zu groß, dass ein Kollege mich oder Ivana wiedererkennt.

Ich fand eine Beratungsstelle, die die Anfrage vertraulich behandelte. Man konnte sein Problem online einreichen und die Antwort irgendwann mit Benutzername und Passwort wieder abholen. Und ich legte los:

Hilfe!
Ich lebe seit drei Jahren mit meiner Freundin zusammen und wir lieben uns. Unsere Beziehung ist nicht perfekt und vielleicht etwas angeschlagen, aber wir hatten auch schöne Zeiten und ich möchte durchhalten, damit die wiederkommen.
Aber mir geht seit Monaten eine andere Frau nicht aus dem Kopf. Es ist eine Kollegin und ich bin jedes Mal berauscht, wenn ich ihr im Büro begegne. Ich habe Gefühle für diese Frau, die ich noch nie vorher erlebt habe.
Die Kollegin hat einen Freund, sieben Jahre jünger als ich und ich bin ihr Vorgesetzter. Zwischen uns wird sich nie etwas ergeben, ich weiß gar nicht, ob sie mich überhaupt nett findet.
Was soll ich tun?
Euer Jens



Wow, das hat gutgetan. Ich wusste nicht, welche Antwort ich eigentlich bekommen wollte. Aber jede Antwort war besser als das, was ich die letzten Monate durchgemacht habe.

Zwei Wochen später war immer noch keine Antwort da. Dafür hatten Jessica und ich einen richtig schönen Abend, und mir wurde klar, wie wichtig sie für mich war und wie sehr wir zusammengehörten. Am nächsten Tag musste ich auf den Weihnachtsmarkt. Unsere Firma hatte dort einen großen Info-Stand und meine Abteilung hatte mittags Standdienst. Ivana war auch da – und sie kam nicht alleine! Als sie ihren Freund und mich miteinander bekanntmachte, hätte ich vor Schreck fast meinen Glühwein fallengelassen. Er war mir absolut unsympathisch und ein glückliches Paar habe ich mir auch immer anders vorgestellt. Aber sie waren ein Paar. Ich fühlte mich geohrfeigt, aber war zugleich auch froh darüber.

Nach meiner Schicht war ich durchgefroren, ich wollte mich sofort ins Bett legen. Aber vorher warf ich noch einen Blick auf meine Mails – eine Antwort von der Beratungsstelle lag für mich bereit! Ich loggte mich ein und las:

Hallo Jens!
Frage Dich doch mal, warum eine andere Frau überhaupt solche Gefühle bei Dir auslösen kann? Du sagst, dass Du Deine Freundin liebst. Aber wenn alles perfekt wäre, hätte die andere dann eine Chance?
In festen Beziehungen verliebt man sich oft fremd. Manchmal sollen wir eine Entscheidung treffen, für die Beziehung oder vielleicht auch für einen Neuanfang. Und oft kann ein fremdes Verlieben Dir zeigen, was Dir in Deiner Beziehung fehlt.
Ich kann es nicht sicher sagen, aber wenn Du die Probleme in Deiner Beziehung angehst und mit Deiner Freundin ansprichst, dann wird auch die andere keinen Platz in Deinem Kopf oder Deinem Herzen mehr haben.
Viel Glück!



Na also! Ich war einfach nur blind. Ich hatte mich die ganze Zeit nur gefragt, was mich an Ivana reizt. Dabei hatte Ivana nur einen Zweck, sie sollte mir die Probleme in meiner Beziehung aufzeigen. Ich hatte mir eingeredet, dass da ernste Gefühle für Ivana sind. Dabei war sie in Wirklichkeit nur ein kleines Feuer für meine Beziehung. Ein halbes Jahr lang habe ich mit mir selbst gekämpft, um diese Gefühle zu verstehen. Fast ein Jahr lang trug ich diese Gefühle jetzt schon mit mir herum. Und das alles nur, weil ich in meiner Beziehung unglücklich war und nicht, weil sie wirklich meine Traumfrau war.
Weinend vor Glück fiel ich ins Bett. Ich konnte zwei Stunden lang nicht schlafen vor Freude. Es war endlich vorbei.


Kapitel 2


Weihnachten – das Fest der Liebe. Zwei Wochen ist es jetzt her, dass ich dachte, es wäre vorbei. Seit zwei Wochen arbeiten Jessica und ich an unserer Beziehung. Wir haben offen über alles gesprochen, was mich und auch sie gestört hat und warum es in letzter Zeit nicht mehr so gut lief.

Und es war super. Wir waren auf dem richtigen Weg, wieder ein glückliches Paar zu werden. Und vielleicht, wenn es Ivana nicht gäbe, würde ich Jessica einen Heiratsantrag machen.

Aber Ivana ging mir nicht aus dem Kopf. Es war so wie immer. Meine Freude nach dem Weihnachtsmarkt hielt genau bis zum nächsten Tag. Mit meiner ersten Begegnung mit Ivana waren alle Gefühle wieder da. In den letzten zwei Wochen war mir etwas klargeworden. Dass Ivana die Frau ist, die irgendjemand da oben für mich ausgesucht haben muss. Die oder keine, das wurde mir jedesmal klar, wenn ich an sie dachte.

Wie mit allen Mitarbeitern habe ich auch mit ihr ein Personalgespräch zum Jahresende geführt. Sie machte ihre Arbeit gut, und ich musste aufpassen, dass ich nicht zu sehr im Gespräch mit ihr ins Schwärmen kam. Und mit jedem Satz wurde mir wieder klarer – die oder keine.

Weihnachtszeit, Zeit für eine Firmen-Weihnachtsfeier. Unsere war sehr gelungen, zunächst das offizielle Rahmenprogramm auf der Bühne und danach ein hervorragendes Essen. Es gab Wein ohne Ende, und Ivana langte ordentlich zu.

Sie sah bezaubernd aus und nur zu gerne hätte ich mich auf den freien Platz neben sie gesetzt, aber Frederic war schneller. Frederic war ein Mitarbeiter aus meiner Abteilung, und es war ein offenes Geheimnis, dass er an Ivana interessiert war. Mit steigendem Alkoholkonsum wanderte Frederics Arm wie bei jeder Firmenveranstaltung auch dieses Mal um Ivanas Hüfte. Er machte aus seinem Interesse an ihr keinen Hehl, im Gegenteil. Gegenüber Kollegen hat er mal verlauten lassen, dass sie beide ja ein vielleicht zu gutes Team wären für Kollegen. Sie schien nichts gegen seine Berührungen zu haben, aber ich glaube, sie hat das nie als das gesehen, was es war, sondern ihn nur als normalen Kollegen.

Ich beneidete Frederic. Als Abteilungsleiter konnte ich nicht so für jedermann offensichtlich um Ivana rumtänzeln wie er. Und als ihr Chef war Ivana mir gegenüber auch lange nicht so locker.

Die Lockerheit nahm mit jeder Flasche Wein zu, und als die Feier zum inoffiziellen Teil auf der Tanzfläche überging, hatte ich es irgendwie geschafft, mich etwas zwischen Ivana und Frederic zu drängeln. Als Chef hatte ich immerhin den Vorteil, dass Frederic mich nicht so einfach beim Tanzen wegdrängen konnte.

Als der Saal sich leerte und nur noch ein harter Kern übrig war, war Ivana völlig betrunken. Sie fragte mich nach der Uhrzeit und hielt sich dazu mit beiden Händen an meiner rechten Schulter fest, um nicht umzufallen. Ihre Lippen kamen mir dabei so nah wie noch nie. Ich genoss das und noch mehr genoss ich, dass sie in ihrem betrunkenen Zustand diese Frage in der gleichen Art und Weise alle fünf Minuten wiederholte. Ich musste mich konzentrieren, damit ich nicht irgendwann versuchte, sie zu küssen. Und ich genoss Frederics Gesichtsausdruck, der offensichtlich keine Uhr dabei hatte.

Irgendwann mussten wir gehen. Wir zogen gemeinsam bis zur nächsten größeren Metro-Station und da teilte sich unsere Gruppe in alle Richtungen. Frederics Zug kam als erstes, darum fiel seine Verabschiedung leider kürzer aus, als es ihm lieb war. Ivanas nächster Zug kam als nächstes und wäre dann erst wieder eine Stunde später gefahren. Ich fragte mich, ob ich ihr erzählen soll, dass sie den Zug gerade verpasst hat. Dann wären in der Zwischenzeit alle restlichen Kollegen in ihre Züge gestiegen und ich hätte noch fast eine halbe Stunde mit ihr alleine gehabt. Noch ein Vorteil, dass ich Chef war. Frederic hatte den gleichen Gedanken gehabt wie ich, das hatte ich in seinem Gesicht gesehen. Aber bei ihm wäre es aufgefallen, wenn er seinen Zug absichtlich verpasst hätte. Bei mir hätte sich niemand etwas böses dabei gedacht, denn es war unter uns Abteilungsleitern üblich, dass man in einer solchen Situation Mitarbeiterinnen nicht nachts an einer Metro-Station alleine lässt.

Eine halbe Stunde. Ich könnte ihr unauffällig Komplimente machen und ihre Reaktion testen, am Montag würde sie davon sowieso die Hälfte nicht mehr wissen. Ich könnte versuchen, sie mit zu mir zu nehmen. Bei ihrem Zustand hatte ich sowieso Sorgen, ob sie heil nach Hause kommt. Jessica war am Wochenende weg und ich hätte Sekt, Wein und Apfelsaft gekühlt gehabt. Ich hätte sie gar nicht abschleppen wollen, sondern vielleicht ein bisschen ihre Nähe genießen und ihr mein Gästezimmer anbieten. Und am nächsten Tag ihr ganz gastfreundlich ein Frühstück zubereiten, denn was sie mochte und was nicht, das hatte ich mir vor knapp einem Jahr bei einer Dienstreise im Hotel unbewusst gemerkt.

Nach einem Hauptgewinn in der Lotterie muss man ja auch nicht das Geld direkt ausgeben. Den Koffer voller Geld einfach ins Arbeitszimmer zu legen und zu wissen, dass der Hauptgewinn da liegt, ist ja auch schon ein tolles Gefühl.

„Ivana, beeil Dich ein bisschen, Dein Zug kommt in fünf Minuten“. Ich hatte es mir anders überlegt, ich fühlte mich schlecht bei dem Gedanken. Gar nicht gegenüber Jessica. Wir hatten uns wieder angenähert, aber Ivana war meine Traumfrau, das hatte Vorrang. Aber irgendwie schlecht gegenüber Ivana, sie anzulügen und ihren Alkoholpegel auszunutzen. Und ich hatte Angst. Angst davor, dass irgendjemand meinen Schwindel bemerken könnte. Angst vor Ivanas Reaktion gleich oder morgen früh. Und Angst davor, eine Grenze zu überschreiten. Bisher waren meine Gefühle für Ivana nur in meinem Kopf.

*



„Und, was sind Deine guten Vorsätze für’s neue Jahr?“ Wir waren bei Freunden eingeladen, um dort ins neue Jahr zu feiern. Jeder von uns ließ das vergangene Jahr Revue passieren und erzählte ein paar Geschichten. Und fast jeder hatte irgendetwas als guten Vorsatz. Die meisten fingen ja doch spätestens im Februar wieder das Rauchen an.

Ich ging die letzten zwölf Monate im Kopf noch einmal durch. Beruflich lief alles gut. Der Job machte zwar zunehmend weniger Spaß, weil ich durch private Gefühle abgelenkt war. Aber ich war Abteilungsleiter und mein realistisches Ziel war es, in etwa zwei Jahren die Gesamtleitung einer Landesniederlassung zu übernehmen. Und für meine Karriere hatte ich nie viel kämpfen müssen. Ich war verdient soweit gekommen, aber ich hatte auch viel Glück und jemanden da oben, der mich offenbar mochte und die Weichen für mich richtig gestellt hat. Auch aus Fehlern musste ich noch nie ernste Konsequenzen tragen, ich bin fast aus jedem Problem herausgekommen und habe mir selten auch nur ein blaues Auge geholt.

Mein Privatleben war mir dagegen früher eher egal. Solange mir mein Beruf Spaß gemacht hat, mussten notfalls auch Beziehungen zurückstecken. Auch mein Umzug nach Frankreich damals aus beruflichen Gründen ging zu Lasten meiner damaligen Beziehung, das war mir egal.

Aber dieses Jahr habe ich privat eine Seite an mir kennengelernt, die ich nicht kannte. Bisherige Beziehungen und Liebschaften, die von mir ausgingen, gingen eher aus einem flüchtigen sexuellen Interesse hervor. Man flirtet, man trifft sich, man verbringt die eine oder andere Nacht miteinander. Und irgendwann entwickelt man ein Interesse, auch die eigentliche Person näher kennenzulernen. Aber dieses Jahr hatte ich Gefühle für Ivana kennengelernt, die dazu nicht passten. Ich interessierte mich für jedes Detail an Ivana. Ich wollte sie kennenlernen, mit ihr Zeit verbringen, mehr über sie erfahren. Mein Interesse war nicht sexueller Natur, sondern galt der Person. Natürlich wollte ich auch ihren Körper berühren können. Aber wenn ich nur einen einzigen Tag oder eine einzige Nacht mit ihr verbringen könnte, würde ich mich für den Tag entscheiden.

Wir waren mit dem Fondue fertig und gingen zum Nachtisch über. Ich war in Gedanken immer noch bei Ivana und was sie in mir ausgelöst hat. Hatte ich gute Vorsätze für das neue Jahr? Unbedingt. Je länger ich nachdachte, desto klarer wurde es. Ich habe zum ersten Mal im Leben etwas gefunden, das mir wirklich wichtig war – Ivana. Und ich würde zum ersten Mal im Leben für etwas notfalls kämpfen, wenn es sein muss. Sie war der Hauptgewinn, das hatte ich rausgefunden. Jetzt ging es nur noch darum, genügend Lose zu kaufen, damit ich ihn auch gewinnen konnte. Und ich würde mich nicht mehr einfach so durch mein Leben bewegen, sondern offener und ehrlicher.

„Zehn, neun, acht, sieben“ – es war soweit, das neue Jahr stand kurz davor. Als das Feuer losging, küssten Jessica und ich uns liebevoll. „Frohes neues Jahr, mein Schatz“. „Das wünsche ich Dir auch, mein Liebling“. Und in dem Moment wusste ich, dass ich mich von Jessica trennen müsste. Auch wenn unsere Beziehung in den letzten Wochen wieder harmonischer geworden war – ich fühlte mich einfach schlecht dabei, wenn ich mit Jessica etwas unternahm und dabei an Ivana dachte.

Eine Woche später begann ich mir, die ersten Wohnungen anzugucken. Unsere gemeinsame Wohnung lief auf Jessica und ich hatte im Moment keinen Freund, bei dem ich länger als nur ein paar Tage hätte einziehen können.

Die Zeit zwischen Wohnungssuche und Besichtigung verbrachte ich mit Gesprächen zu dem Mann da oben. Ich war nicht gläubig, aber auf meinem bisherigen Leben hatte jemand Weichen gestellt. Und dieser Jemand müsste sich ja auch bei meinen Gefühlen für Ivana etwas gedacht haben.

„Ein Zeichen bitte“. Wir mussten unsere Passwörter im Büro alle 30 Tage ändern, und ich entschied mich für diese drei Worte. Wenn es da oben jemanden gab, würde er mein Passwort lesen und meinen Hilferuf hören, dachte ich.

Und das erste kleine Zeichen kam. Ein Anruf, der einen kurzfristigen Termin beim Mandanten erforderlich machte. Alle Firmenautos waren unterwegs, ich hatte die Wahl zwischen Taxi und den drei Sachbearbeitern, die mit dem Auto zur Arbeit kamen. Eine Stunde später saßen Ivana und ich in ihrem Auto. Der eigentliche Termin war schnell erledigt. Aber er fand in einem militärischen Hochsicherheitsbereich statt, in den wir erst nach einer aufwendigen Sicherheitsüberprüfung einfahren durften. Ich genoss die Wartezeit mit Ivana wie lange nichts mehr.

Aber sollte mir das wirklich etwas sagen? Falls nicht, folgte das nächste Zeichen zwei Wochen später. „Hast Du nicht doch Lust, heute Abend zum Badminton mitzukommen?“ Mein Kollege ging fast auf die Knie. In unserer Abteilung gab es schon seit Monaten eine Badminton-Gruppe. Anfangs hatte ich mitgespielt, mehr wegen Ivana als aus sportlichen Gründen. Aber ich hatte mich vor Wochen dauerhaft aus dieser Gruppe verabschiedet, als ich mir Abstand von Ivana verordnet hatte. „Bitte!“ Mein Kollege meinte es offenbar ernst. Die Hälfte der Gruppe war krank, und ihnen fehlte ein vierter Mann. Meine Abend-Verabredung hatte mir eine Stunde vorher ohnehin abgesagt. Die Chance auf ein Doppel mit Ivana machte mir die Entscheidung leicht, und am Abend saß ich in der Metro Richtung Badmintonhalle.

Das Spiel war okay, Ivana sah selbst in bequemer Trainingshose zum Anbeißen aus. Und als sie sich danach anbot, mich zur nächsten Metro-Station mitzunehmen, war der Abend gerettet. Wir fuhren etwa 10 Minuten durch strömenden Regen und ihr Blick, als sie sich von mir verabschiedete, ließ die Sonne in mir scheinen. „Danke!“. „Danke für diesen schönen Abend“ dachte ich bei mir, aber sie bezog es natürlich nur auf das Mitnehmen.

Ich wartete noch fast eine Stunde auf den nächsten Zug. Aber ich war glücklich. Und ich dankte dem Mann da oben für dieses Zeichen.

Am folgenden Wochenende habe ich mich von Jessica getrennt und bin in meine neue Wohnung gezogen.

*



Liebe Ivana,

bitte verzeih mir diese anonyme Mail. Ich weiß nicht, ob ich dir nach einem Korb noch in die Augen gucken könnte. Selbst für diesen Schritt hier musste ich eine ganze Menge Mut aufbringen.

Von unserer ersten Begegnung an fand ich dich interessant. Anfangs war es nur dieser erste Eindruck, dass du genau mein Typ bist. Doch mit jedem Moment, in dem ich dich näher kennengelernt habe, finde ich dich mehr und mehr faszinierend. Du bist so hübsch und attraktiv, wie ich niemand anderen kenne. Gleichzeitig bist du die einzige Person, die nicht nur atemberaubend gut und trotzdem natürlich aussieht, sondern ein interessanter Typ ist.

Ich habe mich in dich verliebt, und zwar Hals über Kopf. Dieses Gefühl schleppe ich jetzt schon seit sehr vielen Monaten mit mir rum und hoffe, dass es sich wieder legt. Mein Verstand sagt mir, dass ich dich vergessen soll. Du hast einen Freund, und ich hoffe wenigstens, dass er dich glücklich macht. Dazu gibt es noch eine ganze Menge Gründe, warum ich das hier nicht machen sollte. Ich bin mir gar nicht sicher, was du überhaupt von mir hältst. Wahrscheinlich habe ich in der letzten Zeit viele seltsame Sachen gemacht, weil ich nicht weiß, wie ich mit dir umgehen soll.

Aber der Verstand ist nun mal nicht alles. Mein Herz beginnt zu pochen, wenn ich dich nur sehe. In meinem Bauch kommen jeden Tag neue Schmetterlinge dazu. Und meine Knie werden weich, wenn du lächelst und ich in deine Grübchen sehe. Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Ich träume von dir. Ich denke jeden Tag ein Dutzend Mal, wie schön es mir dir zusammen wäre. Ich kann dir ohne Nachdenken sagen, welche Klamotten du bei unseren letzten Begegnungen anhattest. Ich kann einfach nicht weiter auf meinen Verstand hören.

Ivana, ich musste dir das einfach schreiben. Insgeheim hoffe ich, dass du meinen Schritt auf dich zu irgendwie erwiderst. Vielleicht weckst du mich auch einfach nur auf, wenn du glücklich bist und ich auf meinen Verstand hören soll. Oder hast du einfach nur Lust auf einen E-Mail-Flirt?

Ich mag dich so sehr!


Vor drei Tagen hatte ich angefangen, meine Gefühle niederzuschreiben. Ich wusste nicht mehr anders weiter. Ich hatte gehofft, dass ich damit vielleicht von meinem Trip runterkam. Aber je länger ich meinen Brief hier und da noch verbesserte, desto eher wurde mir klar, dass der Badminton-Abend kein Zufall gewesen sein kann. Irgendjemand da oben wollte, dass das hier passiert. Und während mir das klar wurde, ging alles wie von selbst. Ich hatte mir eine anonyme Mail-Adresse angelegt und wenige Minuten später war es passiert, ich hatte auf Senden geklickt.

*



Am nächsten Tag konnte ich nicht frühstücken. Mit Herzklopfen ging ich ins Büro. Hatte sie meine Mail gelesen? Wusste sie, wer der Absender war? Wie würde sie reagieren? Würde sie mit mir darüber reden wollen oder hatte sie sich schon beim Betriebsrat über mich beschwert? Was hatte ich mir dabei überhaupt gedacht? Ich war mal wieder völlig fertig.

Im Büro begrüßte ich sie wie jeden Morgen. Ihr Blick war freundlich und der Augenkontakt eine halbe Sekunde zu lang für eine normale Begrüßung. War das einfach nur Zufall und Einbildung, oder hatte sie meine Mail gelesen? Ich wusste es nicht.

Die nächsten beiden Tage waren wie immer. Zumindest sie verhielt sich so und ich darum auch. In Wirklichkeit konnte ich keinen einzigen Satz fehlerfrei schreiben und habe nur die Zeit im Büro abgesessen. Mit zitternden Händen habe ich stündlich meine Mails gecheckt, ob sie mir geantwortet hat.

Am Freitag nach der Arbeit war es so weit. Eine Antwort im Posteingang. Ich guckte mich nervös um, obwohl ich alleine in der Wohnung war. Und dann öffnete ich die Mail.

Wow, mal schön langsam bitte. Du kennst mich doch überhaupt nicht! Guck mal genauer hin und lass Dir von ein paar hübsch geschminkten Augen und Deiner Phantasie keinen Streich spielen.



Naja. Eine Einladung zu einem Date sah anders aus. Aber es hätte schlimmer laufen können. Ich trank mir etwas Mut an, klickte auf Antworten und schrieb:

Stimmt, ich kenne Dich kaum. Dann gib mir die Chance, Dich kennenzulernen? Hübsch geschminkte Augen waren was für den ersten Eindruck. Ich gucke das ganze letzte Jahr genauer hin und höre genauer zu. Was du erzählst, fesselt mich. Ich kann mich an keine Silbe von Dir erinnern, bei der ich nicht gehofft habe dass du weiter redest. Ja, du siehst verdammt gut aus. Aber eben nicht nur und das ist es, was mich so anzieht.

Hältst du mich für so oberflächlich, um sich von hübsch geschminkten Augen verleiten zu lassen? Um mich vor dir bis aufs Hemd zu blamieren nur wegen einer kurzen Schwärmerei, bei der mir meine Phantasie einen Streich gespielt hat?



Ich hatte gehofft, im Laufe des Wochenendes noch eine Antwort zu bekommen, aber sie ließ mich im Stich. In der kommenden Woche war unser Umgang normal wie immer. Man hätte meinen können, es wäre nichts passiert oder sie wüsste nicht, wer da mit ihr schrieb. Erst als ich mich beim Verschicken einer Akte etwas dumm anstellte, sie mich anlächelte und sagte „komm gib her, ich mach’s schon“, da ahnte ich, dass sie es wusste.

Freitag bekam ich es dann schriftlich:

Nein, ich halte dich eben nicht für oberflächlich, gerade deshalb bin ich umso mehr geschockt über das hier. Ich mag Dich, und das vom ersten Moment an, und du hast Recht ich wusste nie wirklich was du von mir hältst, es schwankte immer.

Wie dem auch sei, Du solltest auf deinen Verstand hören und deine Phantasie einfach nur Phantasie sein lassen.



Nach dem Lesen dieser Mail wurde mir schlecht. Jetzt hatte ich schwarz auf weiß, dass sie wusste, wer ich war. Ich hätte froh sein müssen über das „ich mag Dich“, aber mein Magen war anderer Meinung.

Nach 24 Stunden und nachdem ich meine Ernährung auf Zwieback hatte umstellen müssen, klickte ich auf Antworten:

Wow. Bis zu Deiner Mail von gestern habe ich mir irgendwie eingebildet, wenn ich mich unauffällig verhalte, würde ich aus dieser Geschichte noch unerkannt rauskommen. Keine Ahnung, warum. Seit gestern ist mir klar, was ich angerichtet habe, und mein Magen verhält sich die letzten 30 Stunden so, als wäre ich 30 Stunden Achterbahn gefahren, nur ohne das Schöne dabei.

Ich hätte Dir diese Mail nie schreiben dürfen. Jedes Wort davon war ehrlich, aber ich habe Dich damit überfahren und schockiert und bringe uns beide in eine doofe Situation. Ich weiß nicht mal, was mich aus heiterem Himmel dazu geritten hat, und nachgedacht hab ich da auch nicht groß.

Ich hoffe, dass unser normaler Umgang darunter nicht leidet, zumindest in ein paar Tagen, die ich glaube ich selbst noch brauche. Das wäre schade, denn das, was ich Dir z.B. Ende letzten Jahres gesagt habe, hatte mit meinen Gefühlen nichts zu tun und war ehrlich so gemeint, wie ich's gesagt habe.

Ich sollte auf meinen Verstand hören, ja. Nur hat der mich letzte Woche eine halbe Stunde alleine gelassen, und jetzt ist's sowieso zu spät. Vielleicht sollte ich mich aber auch das erste Mal im Leben um etwas bemühen, was mir wichtig ist.

Gib mir die Chance, Dich kennenzulernen!



Es dauerte wieder ein paar Tage, in denen wir im Büro so taten, als wäre nichts passiert. Die nächste Antwort kam tagsüber, als ich Urlaub hatte:

Ich glaube, ich habe mich geirrt und weiß überhaupt nicht, wer Du bist. Und ich will es auch gar nicht wissen. Wenn Du mich kennenlernen willst, dann wüsste ich keinen Grund, warum Du das nicht einfach tust.



„Hahaha, sehr witzig“ dachte ich bei mir. Aber mir fehlte immer noch der Mut, zu ihr zu gehen und ihr ins Gesicht zu gucken. Also antwortete ich:

Doch, Du weißt genau, wer ich bin. Lass Dich doch von ein bisschen gespielter Normalität nicht irritieren.
Ich würde gerne mit Dir bei einem Glas Tee darüber reden. Vorschlag: Schick mir doch einfach an meine Büro-Mailadresse einfach nur einen Treffpunkt. Wenn Du falsch liegst, bekommt irgendjemand eine Mail, mit der er sowieso nichts anfangen kann und wir vergessen das alles. Und wenn ich nichts von Dir höre, dann weiß ich leider, dass ich mich zu unrecht über Dein „ich mochte Dich“ gefreut habe.



Ihre Antwort kam nach fünf Minuten:

Sorry nein, da spiele ich nicht mit.



„Schade“ dachte ich nur und schrieb ihr das auch, damit war unser Mail-Verkehr beendet.

Ein paar Tage mit viel gespielter Normalität später hatten wir einen gemeinsamen Präsentationstermin. Wir haben prima zusammengearbeitet, den Mandanten um den Finger gewickelt und unser Umgang miteinander war so eingespielt, dass ich Vertrauen aufbaute. Nachmittags schickte ich ihr eine Nachricht über unser firmeneigenes Chat-System: „Hast Du nach der Arbeit kurz Zeit für mich?“ – „Na klar“. Ich traf mich mit ihr am Ausgang und wir gingen zu ihrem Auto. Ich wollte sie zu Starbucks auf einen Kaffee einladen und mir ihr reden. Doch sie fuhr kommentarlos auf den Parkplatz vor der Metro-Station, so als wollte sie mich nur mitnehmen. „Mein Zug kommt gleich irgendwann. Wir könnten also bis dahin noch reden.“ – „Klar, können wir“. Mein Gott machte sie mir das Leben schwer. Mich verließ der Mut. „Ich kann aber auch einfach am Gleis warten“. „Oder so“.

Die nächste Woche machte ich mir jeden Tag Gedanken, ob sie mich vielleicht verwechselt haben könnte. Aber mit wem? Es gab einen Kollegen, mit dem sie einen sehr lockeren Umgang pflegte. Aber der hatte einen völlig anderen Stil als ich, zu ihm würden meine Mails von den Formulierungen gar nicht passen. Das konnte nicht sein. Vielleicht mein Abteilungsleiter-Kollege Jacques. Da wir uns im Urlaubsfall gegenseitig vertraten, hatten sie auch öfter miteinander zu tun. Und auch wenn ich selbst nie wusste, warum, offenbar mochte Ivana Jacques. Zumindest geizte sie mit einem Lächeln ihn gegenüber nie. Und er genoss ihre Attraktivität, das merkte man ihm auch deutlich an. Aber nein, ich machte mich nur unnötig verrückt. Es passte alles in den Mails, natürlich wusste sie, dass ich es war.

Eine Woche später wiederholte ich meinen Versuch. Wieder saßen wir in ihrem Auto, und wieder wollte sie den Parkplatz steuern. Aber diesmal sagte ich „fahr mal geradeaus zum Starbucks, wir sollten etwas besprechen“. Ein fragend klingendes „Okay“ war ihre Antwort, und meine Knie wurden weich. Wusste sie etwa wirklich nicht, was ich wollte?

Auf dem Parkplatz stiegen wir aus und gingen in den Starbucks hinein. „Du hast keine Ahnung, was ich mit Dir besprechen will?“ fragte ich, und sie lächelte verlegen und verneinte es. „OK, dann wird das jetzt ziemlich peinlich…“ murmelte ich. Langsam verstand ich auch ihren seltsamen Gesichtsausdruck eine Woche zuvor, als ich schon mal im Auto mit ihr reden wollte. Ich bestellte und wartete auf unsere Cappuccino während sie uns schon mal einen Sitzplatz gesucht hatte.

Ich ging in Gedanken alle meine Möglichkeiten durch. Ich könnte mit ihr über ihre Karriere reden und mögliche Aufstiegschancen. Weil sie wirklich gut in ihrem Job war, würde ich das wohl unauffällig hinbekommen. Aber was, wenn sie in ein paar Wochen eins und eins zusammenzählt und einen Verdacht bekommt? Ein Verdacht alleine ist harmlos. Ich könnte noch aus der Geschichte heil rauskommen. Bisher bin ich aus allen Fehlern heil rausgekommen, das würde auch diesmal klappen. Aber halt! War sie nicht der Hauptgewinn, für den ich jedes denkbare Los kaufen wollte? Was war aus meinen guten Vorsätzen geworden, ehrlicher sein und für Dinge kämpfen, die mir wichtig sind?

Als unser Kaffee fertig war, ging ich zu ihrem Tisch. Offenbar hatte sie die Wartezeit auch zum Nachdenken genutzt und ihr war klar geworden, weshalb ich mit ihr reden wollte. Ich setzte mich zu ihr.


Kapitel 3

Ivana zitterte mit beiden Händen, so dass sie ihren Cappuccino gar nicht trinken konnte. Ihr Gesichtsausdruck war völlig entgleist, jeder Ansatz eines Lächelns verschwunden.

„Du kannst Dir denken, weshalb ich mit Dir reden will?“. „Und wenn?“ entgegnete sie kalt, und ihr Gesicht war verhasst. Ich hörte mich etwas stammeln von einem Fehler, zu dem ich stehen wolle. Und von Dingen, die ich nicht wollte. Sie sagte wohl, dass sie das alles nicht glauben könne oder so, aber genau verstand ich es nicht.

Ein paar Minuten schwiegen wir uns an. Besser gesagt, ich stammelte irgendwelchen Unsinn. Sie antwortete etwas von „ich bin schon so oft verarscht worden, ich kann auch das verdrängen“. Als mein Bewusstsein langsam wieder kam, hörte ich mich reden „Trink bitte erst aus. So, wie Du zitterst möchte ich nicht, dass Du sofort Auto fährst“. Ich hatte sie wohl gefragt, mit wem sie mich denn eigentlich verwechselt hätte, denn sie fragte nur „Muss ich darauf antworten?“. Das war doch kein Verhör, ich war doch nur neugierig. Ich bat sie nur noch, bitte im Büro niemandem davon zu erzählen, das hätte Auswirkungen auf die Abteilung, die keiner absehen könnte. Irgendwann fragte sie, ob sie denn jetzt bitte fahren könnte.

Draußen tobte ein Unwetter. Bis zur Metro waren es fast 15 Minuten Fußweg, aber ich lehnte ihr Angebot ab, mich mitzunehmen. Ich wollte alleine sein und sie war glaube ich auch nicht böse über meine Entscheidung.

Triefend nass in der Metro angekommen habe ich zum ersten Mal verstanden, warum sich Menschen in ihrer Verzweiflung vor den Zug werfen. Bei mir war es nicht der Verstand, der mich auf dem Bahnsteig hielt, es war nur noch Feigheit.

Zuhause angekommen, versuchte ich, einen Sinn in all dem zu finden. Ich setzte mich stumm vor den Fernseher und guckte einen Film in der Hoffnung, dass mich das ablenkt. Was im Teletext als Thriller ausgezeichnet war, entpuppte sich als Liebesfilm mit Happy end. Na prima.

Kurz vor Mitternacht loggte ich mich nochmal in die eigens für Ivana angelegte anonyme Mailadresse ein und las:

Nachdem meine Hände langsam aufgehört haben zu zittern, wollte ich noch etwas schreiben.
Ich verstehe glaube ich, warum Du dachtest, ich meine Dich. Aber ich hätte nie geglaubt, dass Du mich sympathisch finden könntest. Das geht genauso wenig in meinen Kopf rein wie, dass man durch Null teilen kann.
Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.



Natürlich antwortete ich:

Wenn ich Deinen Gesichtsausdruck eben sehe, Du meine Gefühle „verdrängen“ musst und Du Dir nicht einmal vorstellen kannst, dass ich jemanden auch nur sympathisch finden könnte, dann musst Du mich ja für einen absoluten Widerling halten.

Du hast eben was von „verarscht“ gesagt. Wenn ich Dich hätte verarschen wollen, dann hätte ich Dir sonstwas erzählt, als mir klar wurde, dass Du mich verwechselt hast. Glaub mir, mir wäre schon etwas eingefallen damit Du nicht merkst, weshalb ich eigentlich mit Dir im Starbucks war. Aber Du warst mir so wichtig, dass ich ehrlich zu Dir sein wollte.

Guck Du bitte auch beim nächsten Mal genauer hin bevor Du so urteilst.



Wenige Minuten später kam von ihr:

Du hast mich völlig falsch verstanden. Ich hatte nie die Möglichkeit, dich als Person kennenzulernen.

Vielleicht können wir das irgendwann aus der Welt schaffen. Im Moment bin ich noch nicht bereit, darüber zu reden.



Ich antwortete ihr „sehr gerne“ und, dass sie einfach Bescheid sagen sollte, ich würde gerne nochmal einen zweiten Kaffee mit ihr trinken.
Neun Stunden später klingelte mein Wecker. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich hätte ihn auch abschalten können, genauso wie den Fernseher. Aber um mich rum war mir alles egal.

Wir hatten den ganzen Tag über ein wichtiges Meeting im Büro. Ich war völlig fertig, habe meine Präsentation total verrissen und mir damit beruflich keinen Gefallen getan. Aber ich war froh, dadurch Ivana nicht sehen zu müssen. Am nächsten Tag habe ich mich krankgemeldet und mir so ein verlängertes Ivana-freies Wochenende verschafft.

Die nächste Woche hätte peinlicher nicht sein können für mich. Und mittendrin durfte ich mir eine Predigt anhören über die verrissene Präsentation und dass ich offenbar urlaubsreif sei. Aber immerhin hatte Ivana ihr Wort gehalten und niemandem davon erzählt.

Zum Ende der Woche bat ich sie wieder um einen Kaffee, und sie sagte zu. Auf dem Weg zu ihrem Auto bemerkte ich ihre Nervosität, ihre Angst und versuchte sie aufzuheitern. „Hey, das schlimmste hast Du doch schon hinter Dir. Und ich blamiere mich doch, nicht Du“. Aber irgendwie überzeugte sie das nicht.

Im Starbucks angekommen fragte ich sie, ob sie denn jetzt bereit wäre, zu reden. „Eigentlich nicht“ war die Antwort, aber nun saßen wir ja einmal hier. „Was hat denn eigentlich Dein Freund dazu gesagt?“ – „Nichts. Der liest doch meine E-Mails nicht“. Seltsame Beziehung fand ich. Wenn ich jemanden aufrichtig lieben würde, würde ich ihm nicht so ein Geheimnis vorenthalten, zumal sie ja dieses Treffen hier ihrem Freund gegenüber wahrscheinlich als Überstunden verkauft hat. Ich versuchte, ihr meine Gefühle zu erklären. Wann das angefangen hat oder dass ich selbst nicht weiß, was mit mir los ist.

Aber ihr Gesichtsausdruck wurde sofort ernst, als wolle sie das nicht hören, und ich wechselte das Thema. „Ich bin letzte Woche noch so richtig in den Regen gekommen“ – „Hattest Du verdient“ sagte sie und es war ein Hauch von einem Lächeln zu sehen. „Und ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen und war völlig fertig“ – „Ging mir ähnlich“. So richtig rund lief dieses Gespräch nicht.

Ich versuchte, das Gespräch mit ein paar Witzen über die Arbeit aufzulockern. Und über Ihre Arbeit – sie hatte um den Jahreswechsel herum die Chance auf eine Beförderung verpasst, ohne es zu bemerken. „Ist jetzt vielleicht auch besser so“ meinte ich, denn damit hätte sie noch mehr mit mir zusammenarbeiten müssen.

„Glaubst Du denn überhaupt, dass Du mit mir noch zusammenarbeiten kannst?“ Ich hatte die Frage ernst gemeint. Ich hätte ein „nein“ nicht schön gefunden, aber wenn man schon zehn Stockwerke tief gefallen ist, kommt es auf einen weiteren Sprung aus dem dritten Stock auch nicht mehr an. Ich war notfalls bereit, die Firma zu verlassen, ich sah ohnehin in nichts mehr einen Sinn.

„Natürlich, das wird schon gehen. Aber was erwartest Du von mir?“. Was sollte ich denn erwarten? Ja klar, ich war ihr Vorgesetzter, aber im Moment saß ich als verliebter Kollege vor ihr. Und als Vorgesetzter hatte ich mich soeben sogar erpressbar gemacht. Wieso sollte ich etwas erwarten? „Gar nichts. Aber ich würde mich freuen, wenn Du in Deinen Mails mir auch mal einen Gruß drunterschreiben würdest“ sagte ich halb im Spaß. Interne Nachrichten unterzeichnete sie manchmal mit „Gruß Ivana“, manchmal auch nicht, und ich war immer traurig, wenn sie in Nachrichten an mich weniger freundlich war als bei anderen Kollegen. Allerdings war es wohl eher eine Frage der Tagesform und hatte nichts mit mir zu tun.

„Was war das denn jetzt mit dem riesen Widerling?“ fragte sie. „Ach vergiss es, ich hab überreagiert“. Damit beendeten wir auch unser Treffen, wir kamen sowieso nicht weiter. Diesmal nahm ich ihr Angebot an und ließ mich zur Metro fahren.

„Du würdest nicht zufällig mal mit mir ins Kino gehen oder so?“ fragte ich sie im Auto halb im Spaß, halb ernst. Aber ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie weder für diese Art von Humor, noch für ein Date im Kino zu haben sei.

Am nächsten Morgen hatte ich vormittags einen Termin. Als ich mittags ins Büro kam, hatte ich eine Telefonnotiz von Ivana in meinem Postfach:

Frau Blanchard hat angerufen wegen dem Gutachten. Du sollst sie zurückrufen, Du wüsstest, worum es geht.
Gruß(!)
Ivana



Ich musste zum ersten Mal seit langem lachen.

*



Die nächsten Tage waren die Hölle. Der Umgang zwischen Ivana und mir war okay. Sie gab mir keinerlei Chance, mit ihr zu flirten. Aber sie war eher lockerer als früher und wirkte auch nicht distanziert. Doch ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht vergessen, ihr Zittern. Was musste ich für ein abstoßender Typ sein, wenn sie sich über meine Gefühle beinahe übergeben musste? Und nach allem, was ich ihr geschrieben habe, war ihre erste Reaktion, sich verarscht zu fühlen und mich verdrängen zu wollen?

Hatte ich nicht wenigstens so etwas wie „Du bist bestimmt ein netter Kerl, aber einfach nicht mein Typ“ verdient?
Die Arbeit im Büro wurde zunehmend nervenaufreibender. Den halben Tag dachte ich daran, was Ivana wohl über mich denken möge. Ich würde wohl wirklich bald Urlaub machen müssen. Immerhin endete jede ihrer Mails auf „Gruß Ivana“. Manchmal rettete das meinen Tag.

*



Zwei Wochen waren inzwischen seit meinem Geständnis vergangen. Das ganze brachte mich nicht weiter, denn ich wollte sie ja immer noch weiter kennenlernen. Da war immer noch diese Faszination, da war immer noch dieses unbändige Gefühl, dass sie das Ziel meiner Träume ist. Und da war immer noch die Verzweiflung, nicht einmal zu wissen, was sie von mir denkt. Ich beschloss, endlich dringend Urlaub zu machen.

Was sollte ich tun? Ein Teil der Frage war einfach zu beantworten. Ich könnte ihr persönlich sowieso nicht in die Augen gucken, darum per E-Mail. Und am besten nächste Woche vor meinem Abflug in den wohlverdienten Urlaub, dann müsste ich sie ein paar Tage nicht sehen.

Blieb noch das wie. Ich wollte ihr schon irgendwie klarmachen, wie verrückt einerseits und wichtig andererseits das ganze für mich ist. Zusammen mit einem Online-Übersetzer erstellte ich folgenden kroatischen Text:

Ja sam idiot. Ali ja vas voli. Moram probati na taj način ¸elio bih vas pozvati na večeru. Dovoljno je kap testovi dijeliti s nulom. To je samo poziv. I'm not uzrujati ako ka¸ete ne. Ali ja bih biti drago ako ga prihvatiti. Moram dobiti priliku?



Übersetzt sollte das irgendwie so etwas bedeuten:

Ich bin ein Idiot. Aber: Ich mag Dich.
Ich muss es daher versuchen: Ich möchte Dich zum Essen einladen. Versuche doch einfach mal, durch Null zu teilen. Es ist nur eine Einladung. Ich bin nicht sauer, wenn Du nein sagst. Aber ich würde mich freuen, wenn Du sie annimmst. Bekomme ich eine Chance?



Ich klickte auf Senden, verließ das Büro und fuhr Richtung Flughafen. Im Hotel angekommen prüfte ich als erstes meine Mails – nichts. Auch die folgenden Tage kam keine Antwort. Der Erholungswert meines Urlaubes hielt sich in Grenzen.

Erst einige Tage nach meiner Rückkehr fand ich eine Antwort in meiner Mailbox:

Ne, ni pod kojim okolnostima. ¦to moram učiniti da bi se zaustaviti?



Mein Herz schlug Purzelbäume vor Freude. Was immer diese Zeichen bedeuten sollten: Wenn Ivana mir statt einem „lass mich einfach in Ruhe“ auf Kroatisch antwortet, war das doch fast so gut wie geflirtet! Eine Übersetzung ergab soviel sie „Nein, auf keinen Fall. Was muss ich tun, damit Du aufhörst?“, das dämpfte meine Euphorie etwas. Aber geflirtet war geflirtet!

Natürlich antwortete ich auch wieder:



Meine Antwort auf das „Was muss ich tun“ lautete damit „Geh mit mir essen!“. Und der Nachsatz sollte so viel heißen wie „Nimm es mit Humor, ich halte mich ab sofort zurück“. Auf das „Geh mit mir essen!“ antwortete sie mit „sorry, nein“, auf den Nachsatz mit „nix verstehen“.

Nachdem ich ihr das übersetzt hatte, lautete ihre Antwort nur „wirklich sehr witzig, danke für die Aufklärung“.

Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich wusste vor lauter Gefühlen nicht mehr, wo vorne und hinten ist, und sie fühlte sich von mir veralbert. Ich wollte sie darauf ansprechen, aber sie hatte das Büro schon verlassen, ehe ich sie abfangen konnte.

Darum schrieb ich ihr:

Sorry für das, was Du als "wirklich witzig" aufgefasst hast. Das kam wohl völlig daneben rüber, tut mir leid.
Wollte ich Dir eigentlich heute persönlich sagen, aber in den Bürotag gehört das nicht rein, und nach Dienstschluß hat sich keine Gelegenheit gefunden (oder mir fehlte der Mut, eine zu finden).
Entschuldigung.



Die Antwort kam zwei Stunden später:

Wieso schreibst Du mir das?
Es waren doch Deine Worte: Nimm’s mit Humor und vergiss es einfach. Dann tu Du das doch bitte!



Die Geschichte entwickelte sich in eine andere Richtung, als ich wollte. Aber solange sie mir eine Frage stellt, wollte sie eine Antwort von mir haben:

Ich weiß auch nicht, warum ich Dir das schreibe. Weil es mir Bauchschmerzen bereitet, dass Du wieder diesen Verarscht-Eindruck hattest. Den wollte ich so nicht stehen lassen.
Nichts würde ich lieber tun als das vergessen. Das versuche ich seit einem halben Jahr etwa fünfzig Mal am Tag, leider erfolglos. Ich kann nur wieder so tun, als wäre nichts.
Aber bitte glaub nicht wieder, ich fände Dich unsympathisch ;-)



Meine Gefühle fuhren weiterhin Achterbahn. Ich bekam einfach nicht raus, was sie von mir denkt. Und es machte mich verrückt. Wir kamen im Büro miteinander aus, aber ich wollte Klarheit und sie gab mir keine Chance, an sie ranzukommen.

Ein paar Tage später feierte ein Mitarbeiter sein Dienstjubiläum. Es wurde langsam sommerlich und wir feierten in seinem Garten bis zum Abwinken. Ivana wollte eigentlich um Mitternacht von ihrem Freund abgeholt werden, doch wir anderen, allen voran Frederic und ich, redeten ihr zu, noch zu bleiben. Gegen vier Uhr morgens landeten wir alle in der Gartenlaube des Gastgebers und schliefen ein. Frederic hatte sich natürlich zufällig den Platz neben Ivana reserviert, aber immerhin: Ivanas Umgang mit mir war genauso locker und unbefangen wie noch auf der Weihnachtsfeier, als die Welt noch in Ordnung war.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Ivana verschwunden. Der Rest unserer Abteilung schlief noch. Auf meinem Handy sah ich drei Anrufe in Abwesenheit – Ivana. Auch wenn ich vom Alkohol noch benommen war, einen schöneren Start in den Tag hätte ich mir nicht wünschen können. Ich ärgerte mich, den Anruf und damit die Chance auf Ivanas Stimme überhört zu haben. Ich rief sie zurück, aber sie ging nicht ran.

*


Es vergingen weitere Wochen, in denen ich nicht weiterkam. Noch immer war meine Laune wechselhaft. Ich wünschte mir nichts mehr als mit ihr in Ruhe reden zu können. Ich wollte doch nur wissen, was sie eigentlich von mir denkt. Aber immer, wenn ich in den letzten Wochen das Thema Gefühle andeuten wollte, blockte sie ab. Ein eiskalter Gesichtsausdruck und Schweigen, und schon war ich gezwungen, meinen Versuch abzubrechen.

Kurz vor Ostern erwischte ich mich dabei, im Supermarkt ein Ostergeschenk auszusuchen. Es war das erste Mal, dass ich von mir aus daran dachte, jemandem etwas zu Ostern zu schenken. Nach einer halben Stunde Auswahl entschied ich mich für eine nicht zu aufdringliche Packung Pralinen in Herzchen-Form. Zuhause angekommen hat mich der Mut verlassen und die Packung ist in den Schrank gewandert.

Beruflich lief es mäßig. Es verging kein Tag und keine Stunde, in der ich nicht an sie denken musste und von der Arbeit abgelenkt wurde. Aber es gab eine Perspektive: Gerüchten zufolge würde unsere Niederlassung in Neuseeland bald einen neuen Gesamt-Leiter brauchen. Ich wollte nicht nach Neuseeland, aber ich wusste, dass Jacques Interesse an diesem Posten hatte, denn Neuseeland reizte ihn schon immer. Wenn Jacques die Stelle bekäme, würde seine Position als Abteilungsleiter des Nachbar-Ressorts nicht mehr neu ausgeschrieben, so viel stand fest. Stattdessen würden unsere Ressorts zusammengelegt und von mir geführt. Das würde nicht nur mehr Geld und neue Herausforderungen bringen – wer weiß, vielleicht bekam ich Ivana ja soweit, dass sie meine Assistentin wurde?

*


Dieser Frühling war geprägt von Dienstjubiläen und runden Geburtstagen. An einem Freitag hatte ein Kollege wieder eingeladen und ich freute mich schon auf einen netten lockeren Abend mit Ivana. Leider ignorierte sie mich, ihr Abend gehörte Frederic. Angewidert sah ich zu, wie er sie umgarnte, abfüllte und zur Verabschiedung scheinbar freundschaftlich küsste.

Am kommenden Abend traf ich Ivana und ihren Freund zufällig im G8, einer kleinen Diskothek. Dass wir beide dort ab und zu hingingen, wussten wir, aber über unsere Begegnung waren wir beide überrascht. Sie sah traumhaft aus. Ich kannte sie bis dahin nur im Büro-Dress, und damit ist sie schon äußerst attraktiv. Aber aufgemacht für einen Disco-Abend raubte sie einem den Atem. Mir tat ihr Freund leid, der ahnungslos bei uns stand und sich mit mir unterhielt. Ich versuchte, ihn sympathisch zu finden, aber es gelang mit nicht. Ivanas Umgang mit mir war schüchtern, aber nicht distanziert. „Hier, probier mal“ hielt sie mir ihren Strohhalm hin, als wir uns über ihren Drink unterhalten hatten. Unsere Wege trennten sich später, aber ich genoss den Abend. Sie schien mich zumindest nicht für einen Widerling zu halten. Und von weitem konnte ich sehen, dass die Beziehung zwischen Ivana und ihrem Freund nicht besonders harmonisch war.

Es vergingen drei Wochen, und ich war gut gelaunt. Das Treffen im G8 hatte mich wieder ruhiger schlafen lassen. Der Umgang im Büro war auch ok. Als ich mehrere Kollegen um einen privaten Gefallen gebeten hatte, kam ihre Zusage in Rekordzeit. Und als ich sie während der Kantinen-Betriebsferien einmal nicht gefragt habe, ob sie beim Lieferdienst mitbestellt, hat sie im Spaß eingeschnappt gespielt – so viel Humor hatte ich schon lange nicht mehr mir gegenüber erlebt.

Aber sie war auch distanziert mir als Person gegenüber. Auf das Kantinen-Mittagessen als Entschädigung für meinen privaten Gefallen verzichtete sie freundlich lächelnd. Und als ich darum bat, ob mich jemand auf dem Heimweg bei der Post absetzen könnte, ließ sie anderen Kollegen den Vorzug.

*



Am ersten Mai ist es Tradition bei uns, seiner Angebeteten einen Maibaum zu setzen, also eine bunt geschmückte Birke an der Hauswand zu befestigen. Ich hatte lange überlegt, wie ich mit diesem Tag umgehen soll. Bei ihr zuhause hätte sie das ihrem Freund gegenüber in eine peinliche Situation gebracht, und ein 10cm-Bäumchen als Geste an ihrem Büro-Arbeitsplatz hätte die Gerüchteküche angekurbelt.

Stattdessen überlegte ich, ob ich ihr einen virtuellen Ich-denke-an-Dich-Gruß schreiben sollte:

Liebe Ivana,
am ersten Mai ist es Tradition, einen Maibaum zu setzen. Ich verkneife es mir und schreibe Dir einfach nur, dass ich an Dich denke.
Irgendwas an Dir hat meinen Kopf auf links gekrempelt und ich will wissen, warum. Ich würde mich daher freuen, wenn Du in der nächsten Woche Donnerstagabend mit mir Essen gehst. Einfach nur ein bisschen unterhalten.
Was hast Du zu verlieren? Im schlimmsten Fall hab ich bis zum Hauptgericht kapiert, was ich aus Deiner Art schon immer rauslesen konnte und nie wahrhaben wollte. Für den Fall ist wenigstens das Essen gut, das verspreche ich. Und alleine, dass das vielleicht meinen Kopf wieder sortiert und ich Ruhe gebe, ist's doch wert, oder? *g* Aber vielleicht bin ich ja doch netter als Du glaubst. Dann wird's ein nettes Abendessen, mehr will ich doch überhaupt nicht. Bitte, gib Dir nen Ruck! Das ganze hier ist so verrückt, da musst Du einfach nachgeben! Bitte!
Jens


Ich hatte in Gedanken schon bei einem netten Italiener einen Tisch bestellt. Direkt einen Termin vorzuschlagen schien mir sinnvoll, damit sie sich eher breitschlagen ließ. Und den Donnerstag konnte sie ihrem Freund gegenüber eher unauffällig als Überstunden erklären als ein Freitagabend.

Je länger ich über meine Mail nachdachte, desto mehr überlegte ich es mir anders. Sie zu einem Essen zu überreden war zu plump. Sie würde doch nur wieder glauben, ich wolle nur oberflächlich mit ihr spielen. Nein, ich musste ihr klarmachen, wie ernst es mir war. Also schrieb ich:

Liebe Ivana,
mit etwas Abstand zu meinen Entgleisungen vor einigen Wochen würde ich gerne zum Schluss noch ein paar Worte erklären. Keine Sorge, ich bin aus dem Land der Verliebten wieder zurück. Mit der allerersten dummen Mail wollte ich ursprünglich nur mit mir selbst klarkommen, so ähnlich wie Tagebuchschreiben. Ich habe mich da dann irgendwie reingesteigert, und auf einmal war die Mail abgeschickt. Als dann fälschlicherweise ein "ich mag dich auch" zurückkam, war's um mich geschehen. Aber ich hab’s dann doch irgendwann kapiert und mich wieder beruhigt, Deine Geschenke für Ostern in allerletzter Sekunde wieder ausgepackt, die Maibaum-Pläne drangegeben. Das ganze war alles ziemlich lächerlich und ich würde gerne zumindest erklären, warum es soweit überhaupt kam.

Ich dachte eigentlich, ich kenne mich. Alltags-Kleinigkeiten anderer Leute haben mich noch nie interessiert, sowas geht links rein und rechts wieder raus.

Und dann bemerkst Du auf einmal Ausnahmen. Dass Du bei einer einzigen Person wie selbstverständlich weißt, was sie zum Frühstück trinkt - nur, weil Du ihr Monate vorher bei einem Hotelfrühstück ein einziges Mal etwas Falsches an den Tisch gebracht hast. Dass Du ihr beim Bordservice auf dem Rückflug sogar ohne Nachdenken das richtige mitbestellen wolltest, wenn sie weitergeschlafen hätte - weil Du es vom vorherigen Flug wusstest und Monate später immer noch weißt. Dass Du ihre Handcreme-Sorte kennst, die Du vor Wochen 2-3x im Augenwinkel auf ihrem Tisch wahrgenommen hast. Solche Kleinigkeiten fallen Dir wochenlang auf, und bei den ersten 20, 30, 50 Beispielen dieser Art denkst Du Dir nichts dabei.

Aber es werden immer mehr, und irgendwann fragst Du Dich, warum. Spätestens, wenn Du merkst, dass Du trotz null Modebewusstsein auf Anhieb aufzählen kannst, was sie letzte Woche anhatte und was davon neu war. Oder, wenn Du realisierst, dass dich ihre kühle Art so fertig macht, dass Du sogar die wenigen Situationen nacherzählen kannst, in denen sie mal von sich aus SmallTalk angefangen hat.

Und das macht Dich verrückt. Verrückt, weil Du Dich selbst nicht wiedererkennst.

Und es macht Dich verrückt, wer diese Person überhaupt ist. Wenn Du jemanden interessant findest und auf ihn zugehst - ok. Wenn umgekehrt jemand offen auf Dich zukommt - ok. Wenn Du einfach nur einen lockeren Umgang mit jemandem hast - ok. Hätt' ich alles verstanden. Aber das hier habe ich auch lange Zeit nicht verstehen können.

Wie gesagt, es macht einen verrückt und vor ein paar Wochen ist es dann mit mir durchgegangen. Ich hätte das mit mir selbst ausmachen müssen und Dich da nicht reinziehen dürfen.

Irgendwie wollte ich Dir das erklären, damit Du mich wenigstens nicht für einen völlig durchgeknallten Typen hältst, der sich von ein paar „schön geschminkten Augen“ hat verleiten lassen.

Jens

PS: Klar würde ich Dich immer noch gerne davon überzeugen, dass ich privat netter bin als es in Deinen Kopf will. Solltest Du mir also die Chance auf ein Abendessen geben...



Damit musste sie doch einsehen, was mit mir los war.

*



Inzwischen waren drei Wochen nach meiner letzten Mail vergangen. Eine Chance auf ein Abendessen hatte ich leider nicht bekommen. Und auch ihr Umgang mit mir flachte wieder etwas ab.

Nächste Woche hatte sie Geburtstag. Ich hatte seit zwei Wochen nichts anderes im Kopf als ihr Geburtstagsgeschenk. Schließlich hatte ich zwei Karten für eine Art Musical gekauft, beste Plätze.

Ich wusste nicht, ob es ihr gefiel – das wusste ich nicht mal bei mir selbst. Aber einerseits dachte ich, auf ein so teures Geschenk müsste sie irgendwie reagieren, das würde sie nicht einfach so abhaken. Und andererseits wäre eine reines Abendessen sicherlich sehr verkrampft gewesen, ein Musical dagegen eine schöne Ablenkung, die vielleicht einen solchen Abend auflockern würde.

Aber das Verhältnis zwischen Ivana und mir kühlte immer mehr aus. Stattdessen flirtete sie immer mehr im Büro mit Frederic. Dem hätte ich ohnehin gerne mal meine Meinung gesagt. Hinter Ivanas Rücken hatte er sie schon mehrfach bei mir in einem schlechten Licht dargestellt und ihre fachlichen Fehler aufgezeigt. Was er damit bezweckte, war mir nicht klar. Aber ich war eifersüchtig. Vor ein paar Wochen habe ich es dann auch endlich begriffen. „Ich mag Dich, und das vom ersten Tag an“ – Ivana hatte mich damals mit ihm verwechselt. Frederic hatte das, für das ich alles gegeben hätte.

Am Tag ihres Geburtstages habe ich die Musical-Karten in die Schublade gelegt, in der schon ihre Ostergeschenke lagen.

*


„Soll ich Dich gleich mit zur Metro nehmen?“ - „Ja, gerne!“ Draußen regnete es wie aus Eimern, und unsere Abteilungsbesprechung hatte sie soeben aufgelöst. Die Frage galt natürlich nicht mir, sondern Frederic. „Kann ich auch mitfahren?“ fragte ich, doch ich erntete nur einen bösen Blick und ein „ich hab’s Auto schon voll“.

Das mit dem Mitnehmen zur Metro war nicht neu. Letzte Woche war Ivana durch eine zufällige Situation genötigt, mir das Mitnehmen anzubieten. Man konnte deutlich in ihrem Gesicht lesen, dass sie das nicht wollte, aber es wäre Kollegen gegenüber zu auffällig gewesen, nein zu sagen. Und ihr Gesicht entspannte sich, als ich dankend ablehnte. Bei schönem Wetter muss man sich ja nun wirklich nicht zu viert in ihren Kleinwagen quetschen.

Aber jetzt hatten wir Unwetter. Und ich war eigentlich darüber hinweg, dass ich dachte, ich wäre ein absoluter Widerling für sie. Und jetzt sowas?
Ich traf mich abends mit einem Freund und betrank mich. Am nächsten Tag redeten wir nicht viel miteinander. Ich war ohnehin den halben Tag in einer Besprechung und war verkatert, also wollte ich ein paar Überstunden abfeiern und den Rest des Tages vom Heimarbeitsplatz aus arbeiten.

Zuhause angekommen, erreichte mich eine Mail:

Frage: Ist das wirklich Dein Ernst, dass Du sauer bist wegen gestern Abend? Erstens dachte ich, dass Dich jemand anderes mitnimmt. Und zweitens hatte ich Dir letzte Woche schon mal angeboten, Dich mitzunehmen. Da waren Deine Worte, dass Du Dich nicht in mein Auto quetschen willst.
Also ich kann nur sagen sorry, es war nicht so gemeint wie Du es aufgefasst hast.
Schönes Wochenende
Ivana



Ich war verwirrt. Ich glaubte ihr kein Wort, aber warum schrieb sie mir sowas? Es passte nicht zu ihrem Ignorieren, das ich sonst erleben musste. Ich war richtig happy, denn offenbar war ihr meine Meinung über sie doch wichtiger, als ich dachte.

Eine Stunde später kam eine Mail mit fast gleichem Wortlaut nochmal. Jetzt war ich endgültig verwirrt, denn von der Zeit her musste sie diese Mail von zu Hause geschickt haben.

Langsam reimte ich mir zusammen, was passiert war. Sie hatte die Mail verschickt, kurz bevor sie ihren PC ausgeschaltet hat. Von zuhause hatte sie geguckt, ob ich schon geantwortet habe und dabei bemerkt, dass ihre Mail scheinbar gar nicht verschickt wurde. Das Problem war mir auch schon mal passiert, irgendwas stimmte mit unserem Notes-Server nicht. Also hatte sie zur Sicherheit ihre Mail nochmal geschickt.

Aber war ihr meine Meinung so wichtig, dass sie von zuhause aus auf meine Antwort wartete? Es war Freitagnachmittag, ihr Freund hatte soweit ich wusste Geburtstag, und es gab keinen aktuellen Fall in der Firma, weshalb sie von zuhause aus noch hätte in ihre Mails gucken müssen.

Als ihr Vorgesetzter hatte ich auch Zugang zu unseren Protokolldateien. Ich war neugierig geworden und warf einen Blick hinein. Im Abstand von etwa ein bis zwei Stunden hatte Ivana immer wieder ihre Mails von zuhause aus geprüft – wartete sie so sehr auf eine Antwort von mir? Ich wollte es wissen und schickte ihr unter einem Vorwand eine Antwort auf eine andere Sache. Damit wusste sie, dass ich auch ihre Entschuldigungsmails gelesen haben musste.

Am Abend hatte sie laut unseren Protokollen noch einmal ihre Mails geprüft und dabei meine vorgeschobene Antwort gelesen. Von da an hatte sie den Rest des Wochenendes keine weiteren Zugriffe auf ihr Postfach.

Mir war klar: Ich war wieder im Spiel. Was auch immer zwischen uns schiefgelaufen war, ich war ihr offenbar wichtig genug, am Geburtstag ihres Freundes auf eine Antwort von mir zu warten.

Am Montag sprach ich sie darauf an, doch wie immer führte das nur zu einem kühlen Gesprächsende, so dass ich das Thema wechseln musste.

*



Sechs Wochen später war die Situation für mich immer noch genauso unklar wie das ganze letzte halbe Jahr. Aber es war Sommerzeit und damit Urlaubszeit. Ivana und ihr Freund würden im Laufe dieses Wochenendes irgendwann in ihren Sommerurlaub fliegen. Noch vor einem Jahr hatte mir Ivana ihre Urlaubspläne in einer Unterhaltung erzählte. Dieses Jahr hat sie mir nicht einmal auf gezielte Fragen geantwortet. Stattdessen hatte ich stillschweigend ihren Urlaubsantrag in meinem Postfach.

Ich ging nach längerer Zeit nochmal eine Runde ins Fitnessstudio. Die Situation war für mich unerträglich geworden. Ich versuchte jetzt seit Wochen, sie aus meinem Kopf zu bekommen, in dem ich so tat, als wäre nichts. Aber es klappte einfach nicht mehr. Ich musste irgendwie weiterkommen. Ich setzte mich später an meinen Computer und schrieb:

Sag mal,
was müsste ich tun, um dich zum Abendessen einladen zu dürfen? Ich hab wirklich versucht, Dich aus meinem Kopf zu bekommen. Es klappt nicht, ich finde Dich jeden Tag aufs neue wieder faszinierend, und ich hab jetzt schon angefangen, die Tage rückwärts zu zählen, bis Du wieder da bist. Ich kann nicht anders, ich muss noch diesen einen Versuch machen: Gehst Du mit mir essen?
Komm, das ganze ist so verrückt, bitte gib Dir nen Ruck. Nur ein Essen, mehr will ich doch gar nicht. Biiittteeeee....



Als nach 24 Stunden immer noch keine Antwort kam, war mir klar, dass Ivana bereits im Urlaub war. Ich rechnete mir aus, wann sie wieder zurück sei und zählte tatsächlich die Tage rückwärts.

Je mehr Tage vergingen, desto klarer wurde mir: Würde Ivana mir wieder einen Korb geben, würde ich die Firma verlassen. Ich hatte das schon mehrfach im Kopf durchgespielt. Ich könnte ihr Geld bieten, wenn sie von sich aus ging. Aber ich würde in der Firma nicht mehr glücklich werden. Ich könnte mich in eine andere Niederlassung versetzen lassen. Vermutlich wäre das der beste Weg.

Ja, wenn sie sich nicht darauf einlässt, dann würde ich zum Jahresende gehen. Das schien mir der beste Weg zu sein.

Der Tag kam, an dem ihre Antwort kommen müsste. Und sie kam:

Ich war im Urlaub, deshalb meine Antwort etwas spät.
Jens, ein normaler Umgang von meiner Seite mit Dir ist nicht möglich, dafür bist Du einfach schon zu weit gegangen.
Ich sehe für ein Essen keinen Grund.



Der Schock saß tief. Die Absage war die eine Sache. Aber ich wäre schon viel zu weit gegangen – fühlte sie sich durch mich etwa sexuell belästigt? Das wollte ich nie. Ich hatte in der Vergangenheit öfter mal im Spaß gedacht „wenn sie Dich ohnehin behandelt, als hättest Du versucht sie anzufassen, dann hättest Du sie auch letztes Jahr auf der Weihnachtsfeier küssen können“. Aber das war natürlich nur im Spaß, in Wahrheit war das schlimmste für mich, dass ihr meine Gefühle irgendwie unangenehm zu nahe gehen könnten.

Aber genau das war wohl passiert. Meinte sie das ernst? Wenn das ihr ernst war, dann müsste ich gehen, und zwar sofort.
Ich klickte auf Antworten:

Hallo Ivana,
es ist schade, dass wir es nicht mehr geschafft haben, einen lockeren Umgang miteinander hinzubekommen. Es sah im März/April ein paar Mal so aus, als würde es funktionieren, aber das war wohl Wunschdenken und Einbildung.

Ja, Du hast absolut recht, ich bin viel zu weit gegangen. Und während ich überlegt habe, wie ich für mich persönlich noch irgendwas retten kann, hab ich völlig übersehen, dass ich leider Dein Chef bin und was ich eigentlich getan habe (und selbst in Deinem Urlaub lasse ich Dich nicht in Ruhe). Und auch, was ich Dir hier zumute und, wie ich eigentlich reagieren würde, wenn sich ein Mitarbeiter ein solches Fehlverhalten erlauben würde.

Ich habe daher die einzige angemessene Konsequenz gezogen und möchte mich ehrlich für das alles hier entschuldigen. Und ich bitte Dich nochmals inständig, auch nach meinem Weggang das ganze für Dich zu behalten.
Danke & sorry für alles!
Jens



Innerlich hoffte ich natürlich auf eine Antwort. „Stell Dich nicht so an, nur weil ich nicht mit dir essen will“ oder irgendwie sowas.

Die letzten Tage ihres Urlaubes vergingen, und am Montag würde ich Nägel mit Köpfen machen müssen. Es wurde Freitag, es wurde Samstag, es wurde Sonntag, und langsam wurde mir klar, dass kein „bitte bleib“ von ihr mehr kommen würde.

Ich verbrachte die Nacht vor meinem letzten Arbeitstag auf der Toilette. Mir war schlecht. Ich war pünktlich im Büro und hoffte, sie würde wenigstens irgendwie reagieren, doch sie war genauso neutral kühl zu mir wie vor ihrem Urlaub.

Ich verschwand in der Management-Etage.


Kapitel 4


„Könnt Ihr bitte mal alle zusammenkommen. Ich habe eine Kleinigkeit zu besprechen“. Ich hatte den halben Vormittag in der Management-Etage verbracht und über meinen Weggang verhandelt. Das hier war mein letzter Arbeitstag in der Firma und es war die wohl finanziell dümmste Entscheidung meines Lebens. Wäre ich in der Firma geblieben, wäre ich in zwei Jahren wohl ein gemachter Mann. Jetzt und durch meinen Wunsch, sofort zu gehen, ließ ich sogar meine Gratifikation für dieses Jahr sausen.

„Ich habe soeben mit sofortiger Wirkung gekündigt. Ihr wart ein tolles Team, aber ich muss gehen“. Viel mehr als diese paar Worte bekam ich nicht über die Lippen.

Ich guckte in Ivanas Richtung. Ihr Gesicht war eine Mischung aus Entsetzung und Verachtung. Entsetzen darüber, was hier gerade passierte. Ich glaube, sie realisierte jetzt erst, was ich ihr in meiner letzten Mail geschrieben hatte. Und Verachtung vor mir als Person, schlimmer als das, was ich in den letzten Monaten sehen musste.

Unter Tränen stieg ich ein letztes Mal in die Metro ein. Warum nur? Hätte sie nicht einfach nur mit mir essen gehen können? Ich wollte doch nur wissen, warum sie mir meinen Kopf verdreht hat? Ich steckte meinen MP3-Player in die Ohren und hörte "The winner takes it all" - ich war damit wohl kaum gemeint.


Epilog



Ivana und ich haben uns einige Wochen später per Mail und Chat ausgesprochen. Ivana fühlte sich von meinen Mails emotional völlig überfahren. Und mein gespielter normaler Umgang im Büro hat sie fertig gemacht und mich unehrlich erscheinen lassen. Spätestens seit der "Ich weiss, welche Handcreme Du benutzt"-Mail hätten ihre Hände hätten gezittert bei jedem meiner Sätze.

Per Mail hat sie meine Entschuldigung angenommen. Persönlich haben wir seit meinem letzten Arbeitstag kein Wort mehr geredet, bei allen späteren Begegnungen weicht sie mir auch heute noch aus.

Um mich herum ist scheinbar alles zusammengebrochen. Mein Beruf war für mich jahrelang das wichtigste und hat mir Spaß gemacht, doch den hatte ich aufgegeben. Und privat habe ich zum ersten Mal im Leben einen Menschen kennengelernt, der mich auch heute noch sehr fasziniert, aber sie redet nicht mehr mit mir.

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Tag der Veröffentlichung: 26.06.2011

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