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Franziskus v. Ritter-Groenesteyn
ABBAS UND REBECCA
Die Passion einer Liebe stark wie der Tod
R O M A N

Leseprobe


Sarah und die Steine


Sarah war schön. Schön und begehrenswert. So begehrenswert, dass Abishai sie heiratete. Und ihre Heirat vermehrte seinen Besitz um ein Beträchtliches. Doch der Groll gegen seinen Vater wuchs von Tag zu Tag.
Eines Tages war Abishai verreist. Er suchte in fremden Ländern nach kostbaren Stoffen und noch kostbareren Perlen.
Abishai war weg für eine lange Zeit. Und Sarah war begehrenswerter denn je.
Und eines Nachts, ermuntert durch die Triebkraft übermäßigen Weinkonsums griff eine Hand nach ihrem Kleid, um den verschlossenen Garten zu öffnen. Sarah war nicht im Stande sich diesem Griff zu entziehen, nicht, weil sie etwa nicht wollte, nicht, weil die Hand stürmischer war, als Abishai je sein würde, sondern wegen dem Messer, das ihr Leben bedroht. Sie konnte wählen zwischen Tod und Schande, die, wenn sie offenbar werden sollte, ihren vorzeitigen Tod bedeutete. Doch diese vage Hoffnung des Nichtoffenbarwerdens genügte ihr. Und so war sie dem Griff zu willen; und im Dunkel der Grotte, wohin sie die Hand genötigt hatte, wurde Abbas gezeugt. Und das Schicksal eines jungen Mannes, nahm seinen Lauf.

Fern der Heimat freut sich Abishai am Ufer des Roten Meeres über den Fund erlesener Perlen. Der Perlenhändler möchte das Geschäft, ein guutes Geschäft, sagt er, mit Abishai feiern.
Er kennt ein Haus, in dem Perlen anderer Art wohnen, echte orientalische Augenweiden, und die Proportionen, sagt er und macht dabei eine runde Bewegung mit seinen Armen. Und seine Augen weiten sich, wohlgeformt!
Und Abishai ist nicht abgeneigt, mal einen Blick zu riskieren. Fern von Jerusalem und Bethlehem schützt ihn die Anonymität vor neugierigen Blicken und tuschelnden Mündern. Und es bleibt nicht bei dem Blick.

Auf dem Heimweg ärgert sich Abishai über den Besuch im Perlenhaus, weil Sarah ein feines Gespür für Konflikte mit dem mosaischen Gesetz hat und es dann so schwierig wird, ihr gerade in die Augen zu schauen. Er ist verärgert, weil ihre Augen ein stummer Vorwurf sein werden. Und er ist verstimmt, weil der Mann in ihm sagt, dass es nicht bei einem Konflikt bleiben wird; es sei denn, er verzichtet auf das Reisen, aber selbst dann...

Sarah weiß nichts von Abishais Traum und auch nichts von seinem Konflikt mit dem Gesetz ihrer Väter. Sie weiß nur eines: Sie erwartet ein Kind und Abishai ist nicht der Vater. Und das bedeutet Steine!

Sarah hat noch einen zweiten Konflikt; denn obwohl Abishai nicht der Vater ist, der wahre Vater aber ihr ein Messer an die Kehle gehalten hatte, liebt sie die Frucht ihres Leibes dennoch schon jetzt. Und so leidet sie doppelt. Sie leidet für sich und sie leidet für das Kind; denn sobald es sich in ihren Lenden abzeichnen wird, ist auch sein Leben bedroht, soviel steht fest. Die Steine des strengen mosaischen Gesetzes werden beide treffen, Mutter und Leibesfrucht und es gibt nichts, was sie dagegen tun kann, außer darauf zu hoffen, dass Abishai barmherzig sein wird; doch das hieße die Gerechtigkeit mißachten und wer darf das schon...

Nikodemus war ein Israelit ohne Falsch und Tadel. Er war ein Freund von Abishais Vater; gerne wäre er auch Abishais Freund gewesen, doch so war er mehr so etwas wie sein Gewisssen.
Nikodemus nahm am drohenden Schicksal für Kind und Mutter Anteil wie ein Vater und deshalb bereitete ihm das zunehmende mütterliche Rund Sarahs wachsende Sorgen. Schließlich kannte auch er die Strenge des mosaischen Gesetzes. Er wußte, dass Abishai, den äußeren Schein des Gesetzes meisterhaft zu wahren verstand; denn das war seine Passion: die Rechtfertigung seines Tuns vor dem Gesetz des Mose.
Nikodemus Passion, war anderer Art. Es war die eines jeden Israeliten ohne Falsch und Tadel: die Suche, Sehnsucht und der Wunsch nach dem Mashiach, dem Gesalbten des allmächtigen Gottes.
Doch die Sorge um Sarahs Wohlergehen hielt ihn vorübergehend vom intensiven Studieren der Torarollen, den heiligen fünf Büchern Mose, ab. Und das warf ein helles Licht auf den Charakter des Nikodemus, dem es gelang, dem mosaischen Gesetz auch Züge der Barmherzigkeit abzugewinnen; und das in einer Situation, in der die neugierigen Blicke zunahmen und sich das Tuscheln der Münder verstärkte.
Letztere waren der Grund weshalb Abishai mehr den Aspekt der Gerechtigkeit betonen würde, während er, Nikodemus, wäre er an Abishais Stelle, alles daran setzen würde, die Barmherzigkeit triumphieren zu lassen. Aber er war nicht an Abishais Stelle, und alles was er versuchen konnte, war, Abishai die Steine der Gerechtigkeit zu nehmen, auf irgendeine Weise, doch dazu mußte er mehr wissen. So entschloß er sich mit Sarah bei nächster Gelegenheit darüber zu sprechen.

Sarah sitzt auf der Terrasse und atmet die Bergluft der judäischen Hügelwelt in sich ein. Ihr Blick geht Richtung Grotte und wäre da nicht der Hügel, könnte man sie auch sehen. So bleibt sie ihren Blicken verborgen, und das ist gut so; denn die Erinnerung daran ist schmerzlich. Nikodemus ahnt ihren Schmerz und fragt:
Sarah möchtest du mir etwas sagen?
Sarah zögert.
Sarah, ich weiß, dass du ein Kind erwartest.
Sarah seufzt.
Sarah, ich weiß aber auch, dass du deinem Mann treu ergeben bist. Ich kenne dich von Kind auf. Aber nun sagen mir meine Augen, dass ich mich in dir getäuscht habe.
Nikodemus nimmt Sarahs Hand und legt sie auf sein Herz.
Aber mein Herz sagt mir, dass sich meine Augen irren. Wem soll ich glauben Sarah? Hilf einem alten Mann.
Sarah kann nicht anders, zu lange hat sie sich zurückgehalten und ihre Antwort geht unter im Schluchzen der Tränen. Nikodemus zieht sie an sein Herz, so, wie er das schon früher gemacht hat, als Kummer ihr Herz plagte und er wartet.
Es tut so weh, sagt Sarah und krümmt sich zusammen bei der Erinnerung an jene Nacht. Nikodemus atmet auf, denn er weiß nun, dass die Stimme seines Herzens Recht behalten hat.

Dann erinnert sich Nikodemus daran, wie Abishai das Gesetz auszulegen pflegt und seine Stirn zieht sich in krause Falten. Er sagt, ich könnte dich verstecken, und er sagt es mehr hilflos als überzeugt, ich könnte dich ins Ausland bringen. Du müßtest dann allerdings Griechisch lernen.
Sarah aber ist nicht die Frau, die vor Problemen davon läuft und so sagt sie, Abishai wird mir nichts tun, solange ich schwanger bin. Außerdem wird er nicht vor Ende des Monats zurück sein.

Auf dem Heimweg träumt Abishai seinen Traum. Es ist der Traum, den jeder männliche Israelit hat, der im Begriff ist eine Familie zu gründen: Es ist der männliche Traum, einer männlichen Gesellschaft; und der Traum, den Abishai träumt, ist der von einem Jungen, genauer gesagt, der Traum von seinem Jungen und der wäre ideal dafür geeignet einmal darüber belehrt zu werden, wie man Vermögen mehren kann ohne dabei in Konflikt zu geraten mit dem Gesetz des Mose. Und da freut sich Abishai.

Als Abishai wohl gelaunt, sein Haus betritt und feststellen muß, dass sich Sarahs Proportionen während seiner Abwesenheit ohne sein Zutun verändert haben, ist seine Freude plötzlich getrübt. Die lästige Erinnerung an das Perlenhaus ist wieder da und er weiß auch nicht wie, holt er aus, weil die Erinnerung, sie wird immer lästiger und sein Traum von einem Jungen zerplatzt und mit einem Schlag macht er seinem Ärger Luft. Seine Hand brennt und Sarah hält sich die Wange und krümmt sich am Boden, wegen der Erinnerung an die Grotte und weil ihr Abishai gerade bewiesen hat, was er davon hält.
Sarah schweigt und Abishai schweigt auch. Er sitzt da, schaut seine Frau an und weiß, dass der Platz seines Jungen bereits von einem anderen besetzt ist.
Abishai fragt nicht, wer, denn das interessiert ihn im Grunde nicht. Er fragt auch nicht, hat es Spass gemacht, denn das erinnert ihn zu sehr an das Perlenhaus. Am Ende müßte er ihr noch sagen, ich bin nicht besser als du. Dann würde er bei ihr an Respekt verlieren und ihre Augen wären ein stummer Vorwurf und womöglich müßte er den Bastard auch noch adoptieren und dann würde sich sein Traum in einen Alptraum verwandeln. Nein, Abishai kann nur schweigen.

Als Abishai ein paar Tage später schließlich alles weiß, überlegt er, ob er sich, Sarah und dem Kind, diesen Alptraum antun solle.
Nein, sagt er sich, das wäre keine gute Lösung, darunter würde Sarah und das Kind zu sehr leiden. Wer weiß schon, was das für ein Vater war. Am Ende ist das Kind gewalttätig und wird ihn noch erschlagen.
Es ist schon gut, denkt sich Abishai, dass das Gesetz des Mose alles so klar regelt. Das erspart allen Beteiligten viel Leid. So denkt Abishai.

Nikodemus redet ihm ins Gewissen. Doch Abishai hört nicht. So bleibt Nikodemus nichts anderes übrig als mitanzusehen, wie die Gerechtigkeit die Steine erhebt, spitze, scharfe Steine, und ihren verhängnisvollen Lauf nimmt und niemand läßt sich von der Barmherzigkeit überzeugen; denn dafür liegen in Judäa einfach zu viele Steine herum.
Sarah krümmt sich wieder am Boden, doch diesmal nicht wegen der Erinnerung, sondern weil es das einzige ist, um ihr Kind zu schützen. Dann trifft sie ein Stein am Kopf und sie wird ohnmächtig. Nikodemus, der schaut, aber nichts machen kann, atmet auf, denn nun hat Sarah wenigsten keine Schmerzen mehr. Und besiegt von der Gerechtigkeit verläßt er den Ort der Steinigung um zu trauern.

Und als wäre dies ein Signal, setzt das Fortgehen von Nikodemus dem Steinhagel ein jähes Ende und einer nach dem anderen zieht sich schuldbewußt zurück; denn sie waren wieder zur Besinnung gekommen, die Männer von Bethlehem.

Rachel, das Mutterschaf


Über Nikodemus Haus liegt ein Schleier der Trauer. Es ist eine Trauer ohne Tränen, denn für Tränen sitzt der Schmerz zu tief. Nikodemus will niemanden sehen. Doch gegen Abend klopft es energisch an der Tür. Es ist Rachel, die Hirtenmutter und sie trägt diesen Namen zu Recht; denn Rachel heißt übersetzt, das Mutterschaf, und alles an ihr strahlt eine warme Mütterlichkeit aus, und das liegt an ihrer kleinen Tochter Rebecca, die erst vor kurzem geboren wurde. Rachel, das Mutterschaf, wäre, wenn sie ein Mann wäre, ein Israelit ohne Falsch und Tadel.
Der Diener naht mit verhaltenem Schritt. Er öffnet das schwere Tor und fast hätte Rachel ihm auf die Nase geklopft, so sehr war sie damit beschäftigt auf sich aufmerksam zu machen.

Das Blut an ihren Händen und an ihrem Hirtenmantel ist das erste, was der Diener sieht. Rachel ist die Hirtin von Nikodemus Schafen und es liegt auf der Hand, dass der Diener sie zu Nikodemus führt; nimmt das Leben doch keine Rücksicht auf Trauer und wenn ein Berglöwe noch nicht satt geworden ist, dann ist es vielleicht nicht nur einer sondern deren viele. Man muß also etwas unternehmen. Doch diesmal geht es nicht um Löwen, es geht um Menschen.

Ehrwürdiger Nikodemus. Ich brauche eure Hilfe. - Sarah braucht eure Hilfe.
Sarah?
Die Frau, die gesteinigt wurde.

Als Nikodemus Sarah wiedersieht, wandelt sich die Trauer in Freude, wenn auch in eine von Wehmut durchzogene Freude, denn die Steine hatten häßliche Spuren hinterlassen; nur der Bauch, er war von Wunden frei.

Sarahs Augen fragen, hat dir dein Herz gesagt, dass ich lebe?
Aber die Antwort Nikodemus geht unter im Schluchzen seiner Tränen.
Er sagt, es tut so gut dich zu sehen.
Aber in Wirklichkeit tut es weh. Er möchte noch sagen, ich freue mich dich wohlauf zusehen, aber das kann er nicht, denn die Spuren in ihrem Gesicht und anderswo sagen ihm, dass das eine Lüge wäre.

Rachel, das Mutterschaf, sagt, sie ist noch sehr schwach. Ich habe von Ferne alles beobachtet und wollte sie beerdigen, da sah ich dass sie noch lebte, gepriesen sei der Allmächtige.
Ich danke, dir, Rachel, sagt Nikodemus, aber niemand darf davon erfahren.
Rachel nickt und sagt leise, Sarah wird es nicht überleben, aber sie hat den Willen einer Löwin. Bis zur Geburt wird sie wohl durchhalten.
Nikodemus weiß, dass sie recht hat.
Sorge gut für sie. Es wird dir an nichts fehlen. Ich kann nicht täglich nach ihr sehen, das würde auffallen. Aber wenn die Wehen einsetzen rufe mich.
Ja, Herr.

Als die Wehen einsetzen, ist Nikodemus zur Stelle. Rachel, das Mutterschaf, läßt seinen Augen keine Zeit sich an das Dunkel des Zelts zu gewöhnen. Ihr Blick sagt: Raus! Frauensache!
Herr, sagt, sie, wenn ihr helfen wollt, so helft dem Hirten, meinem Mann, beim Werfen der Lämmer. – Männersache.

Der Hirte, ihr Mann, sticht gerade einem Schaf mit dickem Bauch ein langes spitzes Messer tief hinein und Nikodemus denkt, eine merkwürdige Art um Lämmer zu werfen. Der Hirte, ihr Mann, hält sich die Nase; der Bauch, er schrumpft und das Schaf springt auf, als sei es nie schwanger gewesen.
Blähungen, sagt der Hirte. Feuchtes Gras.
Nikodemus nickt wissend, dann erblickt er ein Mutterschaf und sein Rund erinnert ihn an Sarah.

An diesem Tag erblickten drei Lämmer und ein Junge das Licht der Welt und die Freude war groß auf den Feldern von Bethlehem.

Sarah, sagte Nikodemus, wir müssen deinem Jungen einen Namen geben. Sarahs Augen leuchten, denn sie weiß, dass das eigentlich Männersache ist. Ihre Augen leuchten, weil Nikodemus feinfühlig genug ist, ihr nicht zu sagen, dass dies Sache des Vaters ist, von dem doch niemand weiß, wo er jetzt ist. Aber am meisten leuchten ihre Augen, weil Nikodemus ihr zu verstehen gibt, dass aus der Männersache jetzt eine Frauensache geworden ist und es ihr zufällt, dem Jungen, ihrem Jungen, einen Namen zu geben.
Rachel, begabt mit dem Sinn fürs Praktische, möchte ihn gerne David nennen, denn es gibt in ganz Judäa keinen besseren Vornamen, um es noch zu etwas zu bringen, wenn einem der Lebensanfang bereits von Steinen verhagelt wurde.
David ist ein guter Name.
Nikodemus möchte ihn Sarah nennen, wäre er ein Mädchen, aber Sarah, passt nicht für einen Jungen.
Jesuah!
Jesuah, sagt Sarah plötzlich und schaut Rachel an.
Er soll Jesuah heißen, Retter, denn sein Leben verdankt er deiner Rettung.
Rachels Augen leuchten; aber der Hirte, ihr Mann denkt, na ja, ein bißchen habe ich auch zur Rettung beigetragen, denn er war es ja, der Sarah, auf seine Schultern nahm.
Amen, sagt Nikodemus, was so viel heiß, wie: So sei es.
Amen! Möge sein Leben das Leben anderer retten!

Niemand konnte ahnen, dass in nicht allzu ferner Zukunft ein weiterer Retter auf den Feldern von Bethlehem geboren werden sollte.

Sarah atmet schwer; und man weiß nicht, ist es wegen der Steine, wegen des Kindes, auf ihrer Brust, oder wegen der Frage, die schwer im Raum schwebt und keiner stellt, weil die damit verbundene Erinnerung an jene verhängnisvolle Grotte, Sarah dazu veranlassen könnte noch schwerer zu atmen.
Es ist schwer Klein-Jesuah nach einem Vater zu nennen, an den die Erinnerung nur aus einer Hand besteht, die sich vergriffen hatte. Hände haben keinen Namen und wenn doch, haben Hände, die einen dazu verleiten noch schwerer zu atmen, einen Namen, den man einem Kind, unmöglich geben kann.
So schwebt die Frage weiter im Raum; und Sarah atmet schwer.
Nikodemus würde Sarah gerne das Atmen erleichtern, aber er kann es nicht. Wenn Nikodemus Jesuah seinen Namen geben würde, was er wirklich gerne täte, ja, wirklich, wären sofort neugierige Blicke da und wo neugierige Blicke sind, da sind die tuschelnden Münder nicht fern.
Auch Rachel würde gerne einen Namen sagen; und sie setzt schon dazu an, als ihr Sarah zuvor kommt und im Sterben flüstert:
Vater!
Nikodemus, versteht nicht und auch Rachel versteht nicht, aber der Hirte, ihr Mann, sagt, das ist ein guter Name.
Abba.
Nein, sagt Sarah, nicht Abba, sondern bar, Sohn des Vaters, Abbas. Gott soll sein Vater sein.

Nun versteht auch Nikodemus; und er ist beschämt, weil das viele Studieren hätte ihn gleich verstehen lassen müssen. Ist doch Abba, der Kosename Gottes und was wäre besser geeignet, um die böse Erinnerung, die auch der kleine Jesuah in sich trug, nach und nach zu heilen.

So wurde aus Jesuah, dem Retter, Jesuah der Sohn des Vaters; aber alle sollten ihn nur Abbas nennen. Doch zu dieser Stunde ahnte niemand die wahre Bedeutung dieses Namens.

Dem kleinen Jesuah war es egal, wie man ihn nun rufen würde, er saugte sich satt an Rachel, dem Mutterschaf und Nikodemus erinnerte das an eine Prophezeiung des Jesaja:

Saugt euch satt an ihrer tröstenden Brust,
trinkt und labt euch an ihrem Reichtum.

Dann starb Sarah.

Als acht Tage vorüber waren und Sarah bestattet war, sollte das Kind beschnitten werden und damit offiziell seinen Namen erhalten, der bereits von Sarah vergeben war; aber das konnte in Jerusalem ja keiner wissen.

Und so kam der kleine Jesuah in den Genuß seines ersten Tempelbesuchs; ein schmerzhafter Genuß, wie sich herausstellen sollte und das war wegen dem mosaischen Gesetz.

Der Hirte, ihr Mann, trägt den kleinen Abbas stolz auf seinen Armen, als wär’s sein eigener Sohn, hebt ihn hoch und alle Anwesenden erheben sich und rufen:

Gesegnet, der da kommt!

Bis auf Abbas, er schläft und sein Mund ist geschlossen. Der Hirte, ihr Mann, übergibt den kleinen Abbas dem Mohel. Der Mohel ist ein echter Messerspezialist und damit Fachmann im Stiften eines Bundes zwischen Gott und Mensch. Er legt den kleinen Abbas auf einen Stuhl. Abbas erwacht und gähnt; Nicht irgend ein Stuhl, sondern ein Stuhl, den man den Sitz des Propheten Elia nennt, denn bei jeder Berit Mila, oder einfach nur Berit, was so viel heißt wie Bund, der Bund der Beschneidung, ist der Prophet Elia, des Bundes Engel, dabei, um, wie man sagt, das Kind vor Gefahren zu schützen. Aber Abbas ermüdet das alles ein wenig und er schläft wieder ein. Der Mohel sagt:

Dies sei der Stuhl für Elia, zum Guten sei seiner gedacht.
Auf deine Hilfe hoffe ich, Ewiger.
Ich harre auf deine Hilfe, Ewiger, deine Gebote erfülle ich.
Elia, des Bundes Engel, auf ihn sind wir vorbereitet.
Er stehe zu meiner Rechten und stütze mich.
Ich harre auf deine Hilfe, Ewiger.

Nikodemus, Rachel und ihr Mann antworten im Chor und Abbas schläft selig, denn sprechen kann er noch nicht:

Mögen wir erquickt werden mit der Seligkeit deines Hauses,
der Heiligkeit deines Tempels.

Der Mohel legt das Kind auf den Schoß von Nikodemus, den Paten, und gedenkt dabei des Bundes Abrahams; jene Bundes, den auch bald, in einigen Jahren der andere Jesuah schließen wird:

Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt,
der du uns geheiligt durch deine Gebote und uns die
Beschneidung
befohlen.

Der kleine Abbas, verpackt wie ein Geschenk, ganz warm und weich, schläft und sein Mund ist geschlossen. Als er einen kühlen, scharfen Luftzug verspürt, erwacht er aufs Neue. Abbas, nunmehr hellwach, wird von fachmännischer Hand auf seinen Berit mit Gott vorbereitet und dazu gehört die Freilegung jenes männlichen Attributs, dass unabdingbar an einem Kinde notwendig ist, damit es der Traum eines jeden männlichen Israeliten sein kann. Als ahnte sein männliches Attribut, dass der Berit mit Gott ein Blutbund ist, hat es sich so klein wie möglich gemacht. Doch der Mohel, ein echter Messerspezialist, zieht an dem, was sich am liebsten verstecken würde.
Und der Mohel zieht und zieht und als er nicht mehr ziehen kann, ein Schnitt und Blut und der Bund ist vollzogen, die Vorhaut ab, der Mund des kleinen Abbas weit offen und das Gaumenzäpfchen, ja man sieht es gut.
Durch das Geschrei des kleinen Abbas hindurch, der seinen Berit Mila noch nicht anders feiern kann, als durch Schreien, sagt der Hirte, ihr Mann, Worte des Dankes. Und alle sagen dann das, was sie sich für den kleinen Abbas wünschen:

Wie er in den Bund eingeführt worden,
so möge er in
die Thora,
in die Ehe und
in die Ausübung guter Werke
eingeführt werden.

Der kleine Abbas freut sich über so viele gute Wünsche und schreit noch mehr, denn anders kann er seine Freude noch nicht ausdrücken; und dann darf er sich ganz offiziell Jesuah, Sohn des Abbas, nennen. Aber er zieht es vor zu schreien; denn sprechen muß er erst noch lernen, auch das Wort Berit Mila.

Abbas wuchs unter der Obhut von Rachel und ihrem Mann zu einem Knaben heran; und Rebecca, Rachels Tochter, war seine Spielgefährtin. Es war eine friedliche und fröhliche Zeit.

Es war der Morgen seines Lebens und es war der Morgen vor der Nacht.

Wenn Abbas und Rebecca nicht Verstecken spielten, tollten sie mit den drei Lämmern auf den Feldern Bethlehems herum. Und eines Tages wurde Abbas bewußt, dass es drei Lämmer waren, er und Rebecca aber nur zwei; und da hatte er zum ersten Mal einen Wunsch.

Und abends, am Hirtenfeuer, fragte Abbas:
Mama Rachel, warum habe ich keine Geschwister außer Rebecca?
Rachel dachte kurz nach und sagte dann, ich möchte dir die Geschichte von Elkana und Hanna erzählen. Elkana war mit Hanna verheiratet und beide liebten sich sehr. Aber ihre Liebe blieb ohne Kinder, und das war viele Jahre so.
Und dann?
Und dann fing Hanna an, Gott um einen Sohn zu bitten; und weil Hanna dabei soviel weinte, schickte ihr Gott den Eli, den Priester. Und Eli sagte ihr:

Geh in Frieden!
Der Gott Israels wird dir die Bitte erfüllen,
die du an ihn gerichtet hast.

Und dann?, fragte Abbas.
Und dann, sagte Rachel, wurde Hanna schwanger und gebar einen Sohn; den nannte sie Samuel, denn sie hatte ihn vom Herrn erbeten, und Samuel wurde ein großer Prophet.

Abbas dachte kurz nach, was das für ihn bedeute und sagte, Mama Rachel?
Ja, Abbas?
Erhört Gott auch eine Bitte, wenn man nicht weint?
Ja, Abbas, das tut er. Er liebt uns.
Das ist gut, sagte Abbas, und dann schlief er ein in den Armen von Rachel, dem Mutterschaf, und träumte von Samuel, seinem Brüderchen.


Fiat, ein Engel wartet


Noch über ein anderes Leben gilt es zu berichten, zeigt sich doch darin, wie anders das Leben von Sarah, Abbas und Abishai hätte verlaufen können, wäre Abishai, der Pharisäer, ein Mann der Barmherzigkeit gewesen und nicht der Gerechtigkeit; und natürlich ist auch dieses Leben auf das engste - und im weitesten Sinne – verbunden mit dem Leben von Abbas und Rebecca.

Nazareth, der kleine Ort auf den Hügeln Galiläas, der mehr aus Höhlen als aus Häusern besteht und deshalb von Durchreisenden, besonders dann, wenn es Judäer sind, oft für kleiner gehalten wird, als es ist, dieses Nazareth hat sich bereits zur Nachtruhe begeben; und man ist dabei das Maariv, das Abendgebet, zu verrichten, so auch eine junge Frau im Haus am Rande des Dorfes.
Anders als bei den meisten Nazarenern, ja sogar anders als bei den Judäern, ist ihr Gebet von einer tiefen Sehnsucht nach dem Kommen des Ha Masiach, dem Gesalbten Israels, durchdrungen. Nicht, das dies nicht die Sehnsucht eines jeden Juden wäre, dessen Kommen man an jedem Shabbat entgegenfiebert, nein, es ist eine Sehnsucht, wie sie nur ihrem Herzen entspringen kann und keinem anderen; und das ist letztlich ein Geheimnis.
So schließt also Myriam, die junge Frau aus Nazareth, in ihr Maariv die Bitte um das Kommen des Ha Masiach in einer Weise ein, wie nur sie es kann; und das Gelübde, das sie dafür abgelegt hat, unterstreicht dabei die Ernsthaftigkeit ihrer Bitte in überzeugender Weise.
Myriam, die auch die fünf Bücher Mose kennt, aber immer schon mehr von seiner Barmherzigkeit, als von seiner Gerechtigkeit angezogen wurde, wollte, wie es im sechsten Kapitel, des Buches Numeri, dem vierten Buch des Mose, vorgeschlagen wird, dem Herrn etwas besonderes tun, und zwar um des Kommens des Ha Masiach willen:

Wenn ein Mann oder eine
Frau
etwas besonderes tun will und das
Nasiräer Gelübde
ablegt, so dass er ein dem Herrn
geweihter Nasiräer
ist, dann soll er auf Wein und Bier verzichten.

Aber Myriam legte nicht dieses Gelübde ab, denn auf Wein und Bier zu verzichten, war für sie nichts besonderes, weil es das meistens ohnehin nicht gab im unbedeutenden und vielleicht auch deshalb etwas arm erscheinenden Nazareth; nein, ihr Gelübde war anders.
Sie wollte auf etwas verzichten, was sich jede Frau Israels als besondere Auszeichnung wünscht. Sie wollte darauf verzichten, Mutter des ha Masiach zu werden und dies schloß auch den Verzicht auf andere Kinder mit ein; denn man konnte ja nie wissen, ob nicht doch der ha Masiach darunter wäre. Sie verzichtete, damit eine andere Frau Israels endlich dem ha Masiach das Leben schenken könne; und so tat sie etwas Besonderes für den Herrn.
Als gesetzestreue Jüdin, hat Myriam ihrem Vater von dem Gelübde erzählt und ihr Vater schwieg dazu und damit trat das Gelübde in Kraft; denn die Wirksamkeit ihres Gelübdes lag im Schweigen:

Schweigt
ihr Vater dazu, so treten die
Gelübde oder jede Enthaltung,
zu der sie sich verpflichtet hat,
in Kraft.

Auch als ihr später durch einen Mandelzweig nahegelegt wurde, sich zu verloben und damit die Heirat und der Wunsch des zukünftigen Mannes nach dem Traum eines jeden männlichen Israeliten unausweichlich schien, blieb ihr Gelübde in Kraft; denn Josef gab ihr zu verstehen, dass er auch an dem Tage, wo er nicht mehr ihr Verlobter, sondern ihr Mann sein würde, vorhabe, zu ihrem Gelübde zu schweigen und damit auf seinen Traum zu verzichten.
Die Haare Josefs, die auf seinem Nacken in einen langen Zopf mündeten, machten seine Worte glaubwürdig, zeichneten sie ihn doch als Nasiräer aus, dessen Gelübde noch in Kraft war:

Solange das Nasiräergelübde
in Kraft ist,
soll auch kein Schermesser sein Haupt berühren.
Er soll
sein Haar
ganz frei wachsen lassen.

Durch das Schweigen zweier Männer also blieb Myriams Gelübde in Kraft, bis zu jenem Tag, ihres Maariv, zu einer Stunde, als Nazareth bereits schlief und deshalb niemand das bläuliche Licht sehen konnte, das aus einem Türspalt drang; denn zu jener Stunde sprach ein anderer und setzte damit das Gelübde ausser Kraft aber in einer Weise, wie nur er es konnte und das, das ist ein weiteres Geheimnis.

Und es war nun eine völlig neue Situation für Myriam, als ihr plötzlich mitten im geheimnisvollen, prophetischen Blau die Stimme des Dunkelrund, aus dem Munde eines Geisteswesens, die Bitte vortrug, die Mutter des ha Masiach zu werden!

Und sie dachte, was soll aus meinem Gelübde werden?
Der Engel, er wartete.
Und sie dachte weiter, was würde Josef dazu sagen? Und diese Frage war berechtigt.
Der Engel wußte das, aber er wußte auch, dass es eine Prüfung war und so wartete er weiter.
...und ihr Vater, ihre Mutter?
Der Engel, er wartete.
…und Nazareth und die Welt? Und -

Fiat! Es sei!

Und da wurde jene, die um des Himmelreiches willen, um des Kommens des ha Masiach willen, ohne Kinder bleiben wollte, sie wurde zur Mutter der Erlösung.
Der Engel, er wartete nicht mehr.
Myriam hatte die Prüfung bestanden und eine andere Prüfung begann ;es war die Prüfung Josefs, sie hatte begonnen, denn Myriam, sie musste nun schweigen.


Das traumverborgene Dunkelrund


Drei Monate später muß Josef sein Examen ablegen, sein Prüfer ist der Heilige Geist; und die Prüfung, in der sich Josef bewähren muß, ist das gesamte Spektrum menschlichen Vertrauens und die für die Benotung schwerwiegende Frage, ob Gerechtigkeit vor Barmherzigkeit geht oder die Barmherzigkeit vor Gerechtigkeit.

Als sich Josef an der Stelle Abishais sieht und das Mosaische Gesetz auf eine Entscheidung drängt, entscheidet er sich anders, als Abishai vor zehn Jahren, für die Barmherzigkeit. Die in ihm verbliebene Gerechtigkeit, eine ungeheure Kraft, nutzt er nach seiner Entscheidung, um im Garten den wilden Rosenstrauch, der gleich neben dem Mandelstab wächst, zu stutzen. Jener Rosenstrauch, dessen Zweige es gewagt hatten Myriams Kleid, an jener Stelle aufzureissen, die ihm heute soviel Kraft abnötigt; und das war damals vor sechs Monaten, als sie aufbrachen Elisabeth und Zacharias zu besuchen. Dann greift er zu den Steinen der Gerechtigkeit, die überall in Israel herumliegen, versieht sie mit einem Warum und schleudert sie weit von sich, so weit es geht; und dabei verdrängt er den Wunsch, das Ziel seiner Steine möge jener sein, der Myriam daran hindert, ihr Gelübde zu halten.

Was Josef nicht weiß, ist, dass gerade im Dornen- und nicht im Menschenschlachten, im Steine werfen, aber nicht auf Menschen, seine Prüfung bestand. Er weiß daher auch nicht, dass er die Prüfung bereits bestanden hat; und deshalb ist es für das Dunkelrund notwendig, nochmals in Erscheinung zu treten, und zwar im Traum.

Josef sitzt auf einer Buchrolle. Es ist das Gesetz des Mose. Er ist barfuß. Er muß das Gesetz zu Myriam rollen. Myriam steht am Horizont. Die Sonne geht langsam hinter ihr unter. Jetzt ist die Sonne nur noch knapp über dem Horizont und gleich ist sie ganz untergegangen. Seine Aufgabe ist es Myriam zu erreichen, bevor die letzten Strahlen erloschen sind; dabei darf er die Buchrolle nicht zurücklassen. Der Weg ist voller Dornen. Sie bohren sich in seine Füße; sie schmerzen. Der Weg ist voller Schlaglöcher und aus jedem Loch schaut ein Warum. Ein Warum ist gefährlich. Am gefährlichsten ist das Warum mit dem Mandelzweig. Die Löcher lassen ihn fast stürzen. Die Dornen bohren und Josef bietet alle Kräfte auf, um im Gleichgewicht zu bleiben. Es sind nur noch drei Strahlen über dem Horizont und er hat erst die Hälfte des Weges hinter sich. Er weiß nicht, ob er es schafft. Seine Füße bluten, aber er muß weiter. Er darf nicht aufhören zu rollen, sonst schafft er es nicht rechtzeitig. Er beißt die Zähne zusammen und seine Füße rollen und bluten, bluten und rollen. Er möchte über die Dornen laufen, das geht schneller, aber er darf die Rolle nicht loslassen. Ohne Rolle ist er nicht geschützt. Ohne Rolle verschlingt ihn ein Warum. Er ist so müde, so müde und die Füße bluten und da fangen ihn die Arme Myriams auf, und sie ist die Mutter des Erlösers; und das Kind in ihrem Leibe hüpft vor Freude. Josef erwacht und da, da, nur für einen kurzen Moment, aber länger als ein Zündholz brennt, leuchtet es auf das Dunkelrund, und es ist ihm als sage die Stimme:

Josef, Sohn Davids, fürchte dich nicht, Myriam als deine Frau zu dir nehmen, denn das Kind, das sie in sich trägt, ist vom Heiligen Geist.
Und die Stimme klärt auch gleich die Frage um den Namen:

Sie wird einen Sohn gebären;
ihm sollst du den Namen
Jesuah,
geben.

Damit ist klar, dass, das, was bei Sarah zur Frauensache wurde, bei Josef nicht Männersache ist, weil es durch das Dunkelrund bereits zur Engelsache geworden war; und noch etwas anderes war ihm beim Erwachen:

Denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen.

Und da erfaßt Josef eine Freude, die nicht von dieser Welt war.

Wenn Nikodemus seine Thora-Rollen studierte und deshalb nicht auf die Felder Bethlehems kam, wenn es keine Lämmer zum Werfen gab, kurz gesagt, wenn Abbas und Rebecca Zeit hatten, dann versteckten sie sich am liebsten zwischen den Schafen und einer mußte den anderen suchen. Mal zählte Abbas an der alten Eiche, mal war es Rebecca. Es war immer die alte Eiche, denn der junge Obstbaum daneben war einfach noch zu dünn. Man hätte sofort gesehen, wo sich der andere versteckt und dann wäre das Spiel verdorben gewesen, bevor es noch richtig begonnen hatte.
Abbas liebte Rebecca wie seine eigene Schwester.
Und abends, am Hirtenfeuer, lehrte sie Rachel, das Mutterschaf, Gott zu lieben, und das war das wichtigste Gesetz aus den fünf Büchern Mose, das sie kannte:

Höre Israel!
Jahwe, unser Gott, Jahwe ist einzig.
Darum sollst du den Herrn deinen Gott
lieben
mit ganzem Herzen,
mit ganzer Seele und
mit ganzer Kraft.

Manchmal fand Abbas Rebecca nicht, weil sie sich so gut versteckte, dass man meinen könnte, sie wäre ein Schaf geworden. In solchen Fällen suchte Abbas den Hirten auf, denn der hatte einen Blick für seine Schafe und er wußte genau, wo Abbas suchen mußte, damit auch Rebecca wieder an der alten Eiche, neben dem jungen Obstbaum, von dem man noch nicht weiß, welche Früchte er hervorbringen würde, zählen darf.
Auch Rebecca liebte Abbas wie ihren eigenen Bruder.
Und abends, am Hirtenfeuer, lehrte sie der Hirte, ihr Mann, die Ehrfurcht vor dem Herrn, und das war der wichtigste Rat aus den Fünf Büchern Mose, den er kannte:

Du sollst tun, was in seinen Augen richtig und gut ist.
Dann wird es dir gut gehen
und du kannst in das
prächtige Land,
das der Herr deinen Vätern
mit einem Schwur versprochen hat,
hineinziehen und es
in Besitz nehmen.

Wenn Nikodemus zu einer Inspektion kam, lehrte er Abbas die Pflichten vor dem Herrn. Natürlich standen auch die in den fünf Büchern Mose:

Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte,
sollen auf deinem
Herzen
geschrieben stehen.
Du sollst sie deinen Kindern erzählen.
Du sollst von ihnen reden,
wenn du zu Hause sitzt und
wenn du auf der Straße gehst,
wenn du dich schlafen legst und
wenn du aufstehst.
Du sollst sie als
Zeichen
um dein Handgelenk binden.
Sie sollen als Merkzeichen auf deiner Stirn sein.
Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und
in deine Tore schreiben.

So lernte also Abbas die Tefillin, die Gebetsriemen, um sein Handgelenk und das Shma Israel auf seine Stirn zu binden und weil das für einen Juden nicht genug war, lehrte ihn Nikodemus bei anderen Besuchen nach und nach das Schacharit, das Morgengebet, das Mincha, das Nachmittagsgebet und das Maariv, das Abendgebet.
Bei all dem liebten sich Abbas und Rebecca wie Geschwister.
Und abends, am Hirtenfeuer, wenn Nikodemus wieder gegangen war, übte Abbas die Gebete mit seinen Hirten Eltern und Rebecca und schloß die Bitte um ein Brüderchen, den kleinen Samuel, mit ein; dann schlief er ein.
So wuchs in Abbas der Glaube von Tag zu Tag; und weil er in Abbas wuchs, wuchs er auch in Rebecca und der Obstbaum, der ein Apfelbaum war und neben der alten Eiche stand, wuchs auch.

Eines Tages starb das Lieblingslamm von Rebecca; und das war auch für Abbas ein großer Schmerz, denn er konnte Rebecca nicht leiden sehen.
Abbas tröstete Rebecca; und das tat er wie ein Bruder.
Abends, am Hirtenfeuer, erzählte Rachel, das Mutterschaf, von Hiob, von seinem Reichtum, von seinen Verlusten, von seiner Krankheit von seinen Kämpfen und seiner Prüfung durch Gott. Rebecca fragt:
Ist das eine Prüfung, wenn er mir mein Lamm nimmt?
Ja, sagt Rachel, das Mutterschaf, und denkt dabei an Sarah und die Steine.
Das ist gemein, sagt Rebecca und Abbas leidet, weil sie leidet.
Weißt du, sagt Rachel, das Mutterschaf, Gott macht das nicht mit jedem.
Warum, macht er es dann mit mir?, fragt Rebecca.
Weil er dich besonders liebt!, sagt Rachel, das Mutterschaf.
Das ist gemein, sagt Rebecca, und Abbas kann dem nur beipflichten.
Weißt du, sagt Rachel, wenn du sagst, du liebst Gott, ist das eine Sache, aber wenn er dir dann nimmt, was du liebst und du dann sagst, ich liebe dich trotzdem, ist das eine andere Sache. Liebst du ihn?
Ich weiß nicht.
Abbas weiß es auch nicht, aber er weiß, dass dies Rebeccas Prüfung ist und nicht seine und er beginnt sich zu fragen, worin Gott ihn wohl prüfen wird.
Jedes Mal, wenn euch Leid widerfährt, denkt an folgenden weisen Spruch unserer Väter sagt, Rachel das Mutterschaf:

Der Schmelztiegel ist für Silber da,
der Ofen für Gold,
die Herzen aber prüft der Herr.

Und das, der Vergleich von Gold und Herz, tröstet Rebecca ein wenig und sie schläft in den Armen ihres Bruders Abbas ein; und Abbas Kopf liegt auf dem Lamm.
Als im Herbst der Apfelbaum seine ersten Früchte trägt und Abbas mit Rebecca die Äpfel teilt, erkennt Abbas zum ersten Mal, dass er Rebecca nicht immer wie ein Bruder lieben wird; denn Rebecca ist schön, so schön wie die altmächtige Stadt Tirza im Hohelied der Liebe, dem Lied der Lieder, Shir ha Shirim, und zum ersten Mal ist Abbas froh, dass Sarah seine Mutter ist und nicht Rachel, das Mutterschaf.

Schön wie Tirza bist du meine Freundin,
lieblich wie Jerusalem,
prächtig wie Himmelsbilder.

Und das ist der Beginn der Liebe zwischen Abbas und Rebecca. Eine Liebe stark wie der Tod.


Die erste Begegnung


Es war kalt geworden auf den Feldern von Bethlehem. Der junge Apfelbaum neben der alten Eiche hatte seinen ersten Ertrag gegeben, die Schafe ihre Lämmer geworfen und auch die Bitte Abbas, die er täglich in sein Schacharit, Mincha und Maariv miteinschloß, sein Traum, war ihm erfüllt worden. Rachel, das Mutterschaf, hatte ihren neuen Hirtenmantel fest um Abbas Traum geschlungen und der schlummerte darunter tief und fest. Abbas erfreute sich an seinem wahrgewordenen Traum, und Rachel, das Mutterschaf an ihrem Mantel, ein Geschenk des Nikodemus und gefertigt von den kundigen Händen Abrams, des Tuchhändlers aus Jerusalem.
Letzten Sommer endlich war Abbas Traum, ein Brüderchen, sein Brüderchen, in Erfüllung gegangen. Jahrelang hatte er deshalb sein Schacharit, das Mincha und besonders abends das Maariv ausgedehnt.

Rachel, ist stehen geblieben und unterhält sich mit einem Mann und einer Frau auf der Straße nach Bethlehem. Es ist die erste Begegnung zwischen Jesuah und Jesuah. Drei weitere sollten noch folgen – und jedesmal würden sie das Leben von Abbas in besonderer Weise prägen.

Die Frau sitzt und der Mann steht; es ist Joseph und Myriam, die Mutter der Erlösung. Auch sie hat einen warmen Mantel an und darunter scheint sie ein Baby zu tragen. Aber den Kopf kann Abbas nicht sehen. Rachel, weiß, warum noch kein Kopf zu sehen ist und möchte den beiden deshalb gerne helfen, eine Unterkunft zu finden, denn eine Nacht auf freiem Felde kommt für eine Hochschwangere nicht in Betracht.

Rachel, das Mutterschaf, hätte sie gerne zu Nikodemus geschickt, doch Nikodemus war auf sein Landgut nach Galiläa gereist, der Volkszählung wegen; denn in Galiläa war er geboren worden, nicht in Judäa, und das war in den Augen eines Judäers ein Makel. Aber das wußte in Bethlehem niemand, nicht einmal der Judäer Abishai. Myriam aber musste nach Bethlehem, denn dort war ihr Mann, Joseph, geboren worden.

Rachel schickt sie zur Davidsgrotte; denn eine Grotte ist besser als das freie Feld und der Umstand, dass dort einmal König David auf der Flucht vor Saul übernachtet haben soll, tröstet vielleicht ein wenig über die Kälte hinweg.

Und dann, gleich einer Muschel verschloß sich die Grotte vor Rachel, vor Abbas und Rebecca, an seiner Hand und vor allen anderen, um jene Perle zu gebären, nach der Marcellus, ein Römer, suchte, und mit ihm so viele andere. Und dann, hell und strahlend leuchtete sie auf. Und ihr Licht wurde zu einem Stern; und es war jener Stern, den der blinde Bileam erstmals sah.

Ich sehe ihn, aber nicht jetzt,
ich erblicke ihn aber nicht in der Nähe:
Ein Stern
geht in Jakob auf,
ein Zepter erhebt sich in Israel.

Bileam, der Sohn Beors, der einstmals gerufen war, von Balak, dem Sohn Zippors, um das Israel des Mose zu verfluchen und der doch nicht anders konnte als es dreimal zu segnen. Und der Stern hatte die Farbe von Perlmutt; und da wußte Abbas mit einemmal, dass dies kein gewöhnlicher Stern war.
Aber er wußte nicht, was der Stern bedeutete.

Nicht weit, von den Feldern Bethlehems, und auch nicht in einer dunklen Grotte, sondern in einem lichten Palast, erblickte am selben Tag ein weiterer Mensch das Licht der Welt, aber es war kein Junge, sondern ein Mädchen. Ihr Name sollte Maria sein, und Lazarus war ihr Bruder und Lazarus ärgerte sich ein wenig über seine Schwester, denn Mädchen müssen nicht das schmerzhafte Wort Berit Mila lernen; und das ist gemein, denkt sich der kleine Lazarus. Das war das erste Mal, dass sich Lazarus über seine Schwester ärgern sollte.


Rachel weint


Einmal in der Woche verwandelt sich ganz Israel in eine Backstube. Dann durchzieht der köstliche Geruch nach Challa, jedes Haus, jedes Dorf und jede Stadt; dann sind die Frauen damit beschäftigt Brotteig in Zöpfe zu flechten, Challa, das Shabbatbrot, das man am Abend des Tages bricht und sich dabei den Frieden, das Shalom Shabbat wünscht; und es ist dies immer am Abend des sechsten Tages.
Der siebte Tag, sagt Nikodemus zu Abbas, der ihm gegenübersitzt und nur mit halbem Ohr zuhört, weil ihn seine Nase ablenkt, ist ein besonderer Tag, aber anders als der dritte Tag. Abbas runzelt ein wenig die Brauen. Der dritte Tag, sagt Nikodemus, ist der Tag, an dem im jüdischen Volk, dem Auserwählten, besonders wichtige Dinge geschehen, während man am siebten Tag sich von den besonders wichtigen Dingen erholt, über sie nachdenkt, oder einfach nur Ruhe gibt. Der siebte Tag ist ein Tag der Ruhe.
Nikodemus macht eine bedeutsame Pause, aber Abbas bemerkt das nicht, weil seine Nase den Kampf mit seinem Ohr eindeutig gewonnen hat und das ist schlecht, denn ein Jude sollte den Unterschied zwischen dem dritten und dem siebten Tag wirklich kennen. Aber auch Nikodemus bemerkt nicht, dass Abbas sich seiner Nase widmet und das liegt daran, dass Nikodemus einem anderen Geruch nachgeht und das ist der Geruch, der Duft des Shabbat; und er kommt nicht aus der Küche sondern aus dem Mosaischen Gesetz und um den zu verkosten, muß man die Augen schließen. Zu Abbas Leidwesen öffnet Nikodemus aber die Augen wieder ehe er in die Küche entkommen konnte, um heimlich von dem köstlichen Brot zu naschen. Nikodemus fährt fort:
An sechs Tagen schuf Jahwe, gepriesen sei sein Name, die Welt. An jedem Tag betrachtete er sein Werk und befand es für
Gut.
Aber am dritten Tag befand er es für
doppelt gut; Kitow!
Verstehst du Abbas? Deshalb sucht sich Gott bis heute den dritten Tag für Besonderes aus; Gott!, betont Nikodemus, nicht sein Widersacher, der Menschenfeind. Der nimmt lieber den siebten Tag.
Aber der junge Abbas hörte nicht zu. Und so sehr er sich einst ein Brüderchen gewünscht hatte, so sehr er sich über dessen Geburt freute und bei seiner Berit Mila eine gewisse Schadenfreude nicht unterdrücken konnte, so sehr ärgert er sich jetzt über ihn. Denn Samuel durfte auf den Armen Rebeccas das Werden des Challa beobachten, während er, Abbas, mit Nikodemus das Lecha Dodi einüben musste; jenen Lobgesang, mit dem die Juden symbolisch den Shabbat willkommen heißen. Und, weil sie ihn so lieben, haben sie ihm die Gestalt einer Braut gegeben.

Und auf dem Weg in den Süden, in den Schluchten des abrahamitischen Negev bereitete sich eine kleine Familie auch auf den Shabbat vor; und der Ofen für das Challa war ein einfaches Loch im Boden.

Marcellus, der römische Tribun, würde gerne mit den Juden das Brot der Freude teilen; und heute Abend wird er das erste Mal in seinem Leben dazu Gelegenheit haben. Doch die Freude über diese Erwählung durch König Herodes will ihm nicht so recht gelingen, weiß er doch, dass sich in das Brechen des Challa die Tränen Rachels mischen werden; jene Tränen, die der Prophet Jeremia bereits vorhersah:

Rachel weint um ihre Kinder und
will sich nicht trösten lassen,
denn sie sind dahin.

Und darüber ist er alles andere als froh, denn das ist ein Grund zur Trauer.

Ganz anders Mortius und Sextus, zwei römische Legionäre, die sich auf den Besuch in Bethlehem freuen, ergeben sich doch bei solchen militärischen Aktionen mannigfaltige Gelegenheiten den Hebräern, und hier gilt ihr Augenmerk in besonderer Weise den weiblichen Hebräern, die starke Hand römischer Macht spüren zu lassen; und das ist ein Grund zur Lust.
Sextus freut sich noch aus einem zweiten Grund: Mortius ist, was Frauen angeht, gerne etwas leichtsinnig, und das könnte sein Leben gefährden und dann könnte Sextus endlich das Leben, das er Mortius aus der letzten großen Schlacht schuldet, wieder auslösen; und das ist ein Grund zur Vorfreude.

Und in den Synagogen Israels erklingt das Lecha Dodi und ganz Israel singt:

Komm mein Freund, der Braut entgegen,
wir wollen den Schabbat empfangen.

Und ganz Israel verneigt sich in freudiger Erwartung vor dem Tor der Synagoge, das der Braut, dem Shabbat, geöffnet wird.

Und auf dem Weg in den Süden, in den Schluchten des abrahamitischen Negev verneigt sich die Familie aus Nazareth in Richtung Bethlehem, denn das war auch die Richtung, in der Jerusalems Tempel lag. Doch ein Schleier von Tränen lag um das Gesicht des Kleinen, weil er Myriam, die Mutter der Erlösung, leiden sah; denn das zweite, prophetische Schwert des Simeon hatte sie getroffen.

In Bethlehem öffnet sich das Tor von alleine, doch es ist nicht der Messiahs. Es ist ein Stiefel, der die Tür eintritt; und es erklingt kein Schrei der Freude, sondern ein Schrei der Angst, denn der Stiefel ist römisch. Und der Schrei,
Soldaten! Versteckt die Kinder! Sie töten alle Babies!
kündigt sie an, die Nacht des Propheten Jeremia. Denn Rachel - sie steht für alle Mütter Bethlehems, die Rachel von der Jeremia sprach - sie hatte begonnen zu weinen.

Mortius kann sein Ziel nicht gleich sehen. Das schummrige Dunkel der Synagoge hindert ihn daran. Das Dunkel, und die Männer Bethlehems, die instinktiv einen beschirmenden Wall um Rachel, das Mutterschaf, gebildet haben, weil sie wissen, was Mortius noch nicht weiß; und sie wollen ihn möglichst lange daran hindern, herauszufinden, dass der kleine Samuel, Abbas Brüderchen, noch friedlich an der Brust seiner Mutter schläft.
Rachel, das Mutterschaf, begabt mit dem Sinn fürs Praktische erfaßt sofort die Lage, erfaßt die Hand ihrer Kinder, Abbas und Rebecca, umarmt fest den kleinen Samuel und verlässt die Synagoge durch eine Hintertür. Abbas erfaßt auch etwas, nämlich das, was Rachel ohne es zu bemerken verloren hat; und das ist etwas sehr wichtiges im Leben eines Schafhirten. Rachel hastet durch die Abenddämmerung und stolpert über Steine, die überall in Judäa herum liegen. Sie stößt sich den Zeh blutig, doch sie merkt es nicht, denn sie sucht nach einem sicheren Zufluchtsort für ihre Kinder, besonders für Samuel.
Das römische Schwert, von jüdischer Hand ausgesandt, vollzog an den Kindern Bethlehems eine grausame Kelter und die Tränen der Mütter, die Tränen Rachels, mischten sich mit dem Blut ihrer Kinder. Die Väter aber, standen in ohnmächtiger Wut daneben und manche von ihnen ergriffen das Schwert des Propheten Ezechiel und rufen mit ihm:

Zeige, dass du scharf bist!
Zucke nach rechts und nach links,
wohin deine Schneide gelenkt wird,
meinen Zorn will ich stillen.

Doch ein römisches Schwert streckt sie nieder und da mischt sich in das Blut der Kinder, das Blut der Väter und zu den Tränen der Mütter kommen nun auch noch die Tränen der Ehefrauen.

Mortius suchte derweil nach einer Gelegenheit, die starke Hand römischer Macht etwas auszuleben und dies anders, als durch Blutvergießen; er suchte eine Vereinigung. Doch die strengen Augen von Marcellus hinderten ihn daran.
Als Marcellus einen anderen Legionär anschrie, weil der vor hatte, mehr als nur Neugeborene zu töten, entging seiner strengen Observanz, dass sich Mortius seinem Blick mit einem Mal entzogen hatte und mit ihm Sextus und das war der Fehler des Marcellus. Andererseits wäre es auch ein Fehler gewesen das Schwert des Legionärs nicht zu stoppen. Marcellus hatte also nur die Wahl zwischen, wenn man so will, zwei Fehlern. Doch niemand vermag zu sagen, für welchen Fehler sich Marcellus entschieden hätte, wenn er das Kommende hätte sehen können.

Mortius wollte Sextus, seinen Schatten, los werden; und als sie sich dem Haus des Nikodemus näherten, sagte er zu ihm:
Sieh im Haus nach!
Denn er wusste, und dazu gehört keine große Erfahrung, dass Häuser viele Räume haben, aber - und dazu gehört Erfahrung, Erfahrung, die sich Mortius bei den verschiedensten Gelegenheiten von Vereinigung angeeignet hatte - sich dort nur selten jemand versteckt, der verfolgt wird; Verfolgte verstecken sich woanders. Mortius dachte wie ein Egoist. Er allein wollte in den Genuss von Vereinigung kommen. Und der Egoist in ihm ignorierte, dass Sextus sein Freund von Jugend an war. Und das war der Fehler des Mortius.

Sextus tat, was ihm Mortius sagte, wenn auch etwas widerwillig, weil es ihn daran hinderte, sein beschützender Schatten, zu sein. Und es versteht sich von selbst, dass dies auch ein Fehler war, der Fehler des Sextus.

Wenn so viele Fehler am selben Tag, am selben Ort und durch Menschen entstehen, die sich in irgendeiner Weise nahe stehen, oder dies beabsichtigen zu tun, wie im Falle des Mortius, dann wird daraus ganz schnell ein tödliches Gemisch; Zutaten einer Tragödie griechischen Ausmaßes und nach menschlichen Maßstäben ist da nichts mehr zu retten; nach menschlichen.

Rachel, das Mutterschaf, hatte für Abbas und Rebecca ein Versteck gefunden, dunkel, sicher und unscheinbar, aber zu klein für ein Mutterschaf. Samuel hätte in der Futterkiste ohne weiteres noch Zuflucht gefunden, aber er wäre nie so leise wie Abbas und Rebecca geblieben, die kaum zu atmen wagten. Deshalb blieb Samuel bei Rachel und weil er sich mehr für Milch interessierte als für vereinigungssüchtige Römer, war sein Kopf Rachel, dem Mutterschaf, zugewandt und so konnte er nicht sehen, wie Mortius den Stall betrat, sonst hätte er womöglich noch etwas gewartet mit dem Schrei, um seiner Mutter mitzuteilen, dass es Zeit für die andere Brust war. Und das war der Fehler des kleinen Samuel, wenn man bei einem Säugling überhaupt von einem Fehler sprechen kann.

Der Egoist in Mortius verriegelt von Innen die Tür zum Stall; und natürlich ist auch das ein Fehler.
Fürchte dich nicht!,
sagt Mortius in das Stalldunkel hinein. Aber es klingt nicht dunkelrund, so wie das hebräische

Fürchte dich nicht!

Jahwes, gepriesen sei sein Name. Nein, es klingt anders, eher bedrohlich und eindringend. So tritt Rachel einen Schritt zurück und ihr blutender Zeh schmerzt dabei. Mortius aber macht einen Schritt auf sie zu. Sie legt ihren Arm schützend um Samuel. Mortius aber legt seinen Brustpanzer und sein Schwert ab; und das, obwohl sich Mortius dadurch wehrlos macht, erscheint ihr nicht gerade wie eine Geste des Vertrauens. So tritt sie einen weiteren Schritt zurück. Mortius aber tritt zwei Schritte vor. Rachel kann nicht mehr zurücktreten, denn die Futterkiste hindert sie daran. Und als Mortius nach ihrer Brust greift, um sich zu nehmen, was ihm nicht zusteht, greift Abbas nach Rachels Gesäß, um ihr zu geben, was ihr gehört.
Komm! sagt Mortius.
Nimm!, sagt Rachel, das Mutterschaf.
Und damit meint sie das Schächtmesser, das sich nunmehr im Bauch des Mortius befand.
Das verwenden wir, um Dampf abzulassen!
Mortius will etwas sagen, aber die auf ihn einstürmende Erkenntnis einen Fehler gemacht zu haben und nicht nur einen, durchzuckt ihn wie das Schwert des Ezechiel, hindert ihn, daran zu reden und das Blut in seinem Mund hindert ihn auch. Als er wieder etwas sagen kann, schreit er nach Sextus.
Sextus kommt, er bricht die Tür auf, zerschlägt das Schloss mit römischem Schwert, doch er kommt zu spät.
Verzeih mir!
sagt Mortius zu Sextus und es klingt reuevoll. Denn mit dem Blut entströmt Mortius die Erkenntnis eines doppelten Fehlers: Beraubte er sich doch nicht nur seines eigenen Lebens, sondern auch Sextus, den Freund von Jugend an, der Chance, sein Leben für den Freund zu geben und so die Lebensschuld zu begleichen. Und da will er ihm, in der Erkenntnis des Sterbenden sagen, was Sextus nicht tun soll, um keinen Preis. Sextus aber, der lebt, er nimmt ihm das Wort und sagt:
Sag nichts! Ich weiß, was zu tun ist.
Und mit dem Hieb des Rächers, in den er all seine Wut, Ohnmacht und seinen Schmerz legt, trifft Sextus das Herz des kleinen Samuel, das Herz von Rachel und weil Abbas von seinem Versteck aus alles sehen kann, letztlich auch dessen Herz und der Dorn dringt tief, sehr tief und sein Schmerz übertrifft den Schmerz des ersten Dorns, den der Tod seiner Mutter Sarah ihm einst setzte.

Und die Ohnmacht des Sextus, ohnmächtig, seinem sterbenden Freund, dem Freund von Jugend an, das Leben zurückzugeben, mischt sich mit der Ohnmacht Abbas, der alles mit ansah und nun tatenlos mit ansehen muß, wie das Leben Rachels und das Leben Samuels vor seinen Augen verrinnt. Wut und Verzweiflung steigen in ihm auf und sie haben ihren Ursprung in dem Bewußtsein noch ein Kind zu sein.

Und plötzlich verstand Abbas worin seine Prüfung vom Herrn, Jahwe - aber dafür wollte ihn Abbas nun wirklich nicht preisen - bestand. Jene Prüfung, die er damals am Hirtenfeuer bereits erahnte, ausgelöst durch die Prüfung, welche Rebecca ihres Lamms beraubte; und er fand die Prüfung gemein, sehr gemein, denn es gab niemand, der ihm sein Warum, beantworten konnte; das Warum, das die Prüfung aufwarf. Und auch Rebecca fand die Prüfung gemein, weil sie Abbas nicht leiden sehen konnte, dabei war doch Rachel, das Mutterschaf, eigentlich ihre Mutter, denn die Mutter Abbas, das war Sarah.

Als Marcellus die Toten sieht, weiß er, dass es bereits ein Fehler gewesen war Mortius nach Bethlehem mitzunehmen; nach Bethlehem, das übersetzt Haus des Brotes heißt, das aber an diesem Abend zu einem Haus des Todes wurde. Das war nicht seine, Marcellus, Schuld sondern die Schuld des König Herodes. Und der Gedanke, dass Herodes gerade das Challa in seinem Palast bricht und es mit dem Shalom Shabbat an seinen Nachbarn weiterreicht, bringt ihn in Rage. Aber als er das leise Eigenleben der Futterkiste sieht, weiß er mit einem Male, dass es weitere Fehler zu vermeiden gilt; und es klingt wie ein Befehl:
Laß ihn liegen, wir holen ihn später!
Er war mein bester Freund!
Sextus rührt sich nicht von der Stelle.
Ich sagte, wir holen ihn später.
Diesmal klingt es wie eine Drohung und wenn Marcellus droht, bedeutet das für Sextus Kerker.

Lange nachdem die Schritte verhallt waren, krochen Abbas und Rebecca aus ihrem Versteck. Sie begriffen noch nicht, dass sie Waisen waren, aber sie begriffen, dass etwas Schreckliches passiert war.
Doch das Wesentliche begriff der zehnjährige Abbas noch nicht:
Der Tod seiner zweiten Mutter, Rachel, hatte ihm und Rebecca das Leben geschenkt, blieben sie doch so unentdeckt. Ja, im Grunde verdankten sie ihr Leben auch dem Befehl des Marcellus, nahm er doch die Gefahr des Sextus von ihnen. Doch alles, was Abbas meinte zu verstehen, war dass Jahwe, der Allmächtige -... sei sein Name - alles tun konnte, aber nichts getan hatte, um das Unglück zu verhindern und nichts getan hatte um den doppelten Tod zu rächen. Und da sah er das Messer in der Hand Rachels und ignorierte, was ihn Rachel gelehrt hatte:
Mein ist die Rache, spricht der Herr.

Als das Messer, von Abbas Hand geführt, mit dem Blut von Rachel in das Fleisch des toten Mortius eindrang, einmal, zweimal, dreimal, da vollzog sich in Mortius doch noch die Vereinigung; doch sie vollzog sich ganz anders, als er sich das je hatte vorstellen können. Ausgeführt nicht von starker römischer Hand, sondern von der schwachen Hand eines judäischen Kindes; und hätte Abbas erfaßt, was er tat, er hätte nicht so oft zugestochen.
Mortius!
Der Schrei des Sextus läßt Abbas erstarren.
Die Hand am Messer und das Messer im Bauch des toten Mortius gewinnt Sextus die absurde Hoffnung Mortius würde noch gelebt haben, als der Befehl des Marcellus ihn fortschickte und nun, so schlußfolgerte er, sei er ein zweites Mal zu spät gekommen.
Du, du hast ihn getötet!
Abbas sagt nichts.
Er war schon tot, sagt Rebecca und hält sich hilfesuchend an ihrem neuen Lieblingsschaf fest.
So, er war schon tot? Er war schon tot. Er war schon tot, sagt Sextus, und es klingt genauso bedrohlich, wie das zischende Geräusch seines Schwerts, das die Luft in Teile schnitt.
Wieso stichst du dann zu, wenn er doch schon tot war, hä? Wieso?
Ich..., ist alles was Abbas sagen kann, und es klingt in den Ohren des Sextus wie ein Geständnis.
Wie oft hast du damit zugestochen, zweimal, dreimal?
Ich,... wiederholt Abbas, ...ich weiß nicht.
So, du weißt es nicht. Ich werde dir helfen.
Die Schwertspitze nähert sich dem Kopf von Abbas. Zähl gut mit, denn ich werde dich jetzt ein bisschen mit meinem Schwert kitzeln. Für jeden Stich ein Stich, ich kann dir das nicht durchgehen lassen. Nein, das kann ich wirklich nicht. Heißt es in eurem Gesetz nicht Aug um Aug? Ich werde mit deinen Augen anfangen müssen.
Das wirst du nicht!
Der Befehl des Marcellus hat wieder diesen kerkerhaften Unterton und Sextus erstarrt für einen kurzen Moment in seiner Bewegung; lang genug für Abbas, um dem Stich auszuweichen. Aber Sextus kann kein zweites Mal ausholen, denn Marcellus Arm hindert ihn daran.
Der Befehl lautet nur die Babies zu töten, keine Kinder, und schon gar keine Mütter. Sextus nur die Babies!
Er hat meinen Freund getötet, sagt Sextus, aber er klingt nicht überzeugt.
Das ist absurd, sagt Marcellus, das hat er nicht. Er war schon tot als wir gingen; und du weißt das. Mach dir nichts vor. Los, pack mit an!
Sie schaffen Mortius ins Freie. Dabei sieht Sextus das Messer und es wippt bei jeder Bewegung.
Einen Moment noch, sagt Sextus und zieht das Messer aus seinen toten Freund.
Was ist noch?, fragt Marcellus ungehalten.
Der Brustpanzer, ist noch im Stall.
Die Kinder auch, sagt Marcellus, und wieder schwingt der Kerker in der Stimme mit.
Ich hole nur den Brustpanzer, versichert Sextus, legt sein Schwert ab, und verschwindet im Stalldunkel.
Sextus!, schreit Marcellus und rennt hinterher, denn es gilt erneut einen Fehler zu vermeiden.
Zu spät.
Ein Schrei, und aus dem Stalldunkel tritt Sextus, in seiner Hand das Messer und es tropft frisches Blut von der Schneide.
Ich sagte -
... keine weiteren Opfer. Beruhige dich, es gibt keine weiteren Opfer, sagt Sextus grinsend, nur ein kleines Andenken. Und es klingt wie ein Versprechen.

Zwei glatte Schnitte kreuzen sich auf der Backe von Abbas; und es sieht aus wie eine Kennzeichnung; und da wird ihm klar, das dies später einmal eine Narbe hinterlassen wird.

Doch die Wut verfolgt Sextus immer noch und wäre Marcellus nur etwas weiter vom Stalleingang entfernt gewesen, hätte sich Sextus ein anderes Opfer gewählt als ein Schaf.
Als das Messer, ausgerechnet das Schächtmesser Rachels, ihr Schaf trifft, da bricht nicht nur das Schaf zusammen, sondern auch Rebecca über ihrem Schaf, getroffen von dem jähen Verlust ihres letzten Ankers der Liebe; von Abbas einmal abgesehen. Und da weint sie Schafstränen, denn die Tränen für Rachel, die Muttertränen, sollten erst später fließen; sehr viel später. Dass sie um Rachel, ihre Mutter, nicht weinen kann, liegt nicht an Herzlosigkeit, sondern an der Tiefe des Schmerzes, der sich in ihrem Herzen vergräbt und keine Träne freigibt; nicht eine einzige.
Und da starb sie, die Liebe.
Der Haß aber, er wuchs; der Hass in den Herzen der Tragödie von Bethlehem; und am meisten wuchs er im Herzen von Sextus, denn sein Durst nach Rache, er war ein ausgezeichneter Nährboden dafür.


Ein Herz erkaltet und Worte des Abschieds


Als Rachel, das Mutterschaf, bestattet wurde, verschwand unter den wachsenden Schichten des Balsams auf ihrem Gesicht auch ein Teil von Abbas Herzen. An diesem Tag beschloß Abbas auf sein Morgengebet, das Schacharit, zu verzichten. Denn am Morgen seines Lebens war ihm das Liebste, das er hatte, genommen worden und Rebecca verzichtete auch.

Durch das Zeichen, das Sextus in Abbas Gesicht hinterlassen hatte, war deutlich geworden, dass Abbas Leben weiterhin in Gefahr war, solange er in Bethlehem weilte; und so schickte ihn Nikodemus zu einem entfernten Verwandten nach dem abtrünnigen Samaria.

Abbas dachte auf dem Weg nach Bet-El an nichts anderes, als an Rebecca und den Apfelbaum mit seinem Blütenmeer im Frühjahr und seinen Früchten im Herbst, war er doch zu ihrem bevorzugter Aufenthaltsort geworden.

Schön bist du meine Freundin,
ja, du bist schön.
Zwei Tauben sind deine Augen.

Und er hörte Rebecca antworten:

Schön bist du mein Geliebter,
verlockend.
Frisches Grün ist unser Lager.

So war das viele Jahre gegangen und nichts schien ihr Glück zu trüben; und in Rebecca war die Gewißheit der Braut Salomos gewachsen:

Der Geliebte ist mein,
und ich bin sein.

Aber ebenso wie die Jahresringe des jungen Apfelbaums neben der alten Eiche den Blicken verborgen blieben, bis man ihn eines Tages fällen sollte, so blieb auch vor den Augen Abbas und Rebeccas und vor den Augen der Welt die Größe ihrer Liebe verborgen; denn noch war ihre Liebe keiner Bedrängnis ausgesetzt. Wie die Trennung von der Wurzel eine Bedrängnis für den Stamm ist, so ist die Trennung vom Geliebten eine Bedrängnis für die Liebe. Die Bedrängnis aber ist ein viel besserer Nährboden für das Wachstum der Liebe, als dies der Wunsch nach Rache für den Hass ist.

Seit jener schrecklichen Shabbatnacht war Abbas klar geworden, dass ihre Liebe erst einen Tag alt war; und so wie dem Tag, die Nacht folgt, mußte auch ihrem Tag, dem Tag der Liebe, die Nacht folgen; und das ist die Nacht des Hoheliedes Salomos:

Des
Nachts
auf meinem Lager suchte ich ihn, den meine Seele liebt.
Ich suchte ihn und fand ihn nicht.

Als dann die Stunde des Abschieds gekommen war, entsprach es dem Ausdruck ihrer Liebe, dass sie unter dem jungen Apfelbaum neben der alten Eiche voneinander Abschied nahmen.

Doch zum Abschied wählten sie andere Worte; Worte nach der Nacht.
Stark wie der Tod ist die Liebe!
Ich werde wiederkommen und dich heiraten!, und dabei drückt Abbas Rebeccas Hände so fest, als wollte er sie nie mehr loslassen. Und Rebecca erwidert den Druck und sagt:
Stark wie der Tod ist die Liebe!
Dann greift sie nach ihrem einzigen Besitz, eine bronzene Brosche, und steckt sie Abbas als Zeichen ihres Einverständnisses an; eine Brosche in der für das alte Israel typischen Form; und das ist die Form eines Kreuzes.

Abbas betrachtet die Brosche wie ein Teil Rebeccas an seinem Gewand und sagt:
Sie wird golden sein, wenn ich wieder komme.
Rebecca möchte etwas sagen, aber der Schmerz der Trennung, der in diesen Worten liegt macht sie stumm.
Abbas ergreift das Messer Rachels, das nunmehr sein Messer geworden ist und sagt:
Dieser Baum sei unser Zeuge!
Dann schnitzt er das Wort für Mann,
Ish,
in das Holz. Und Schriftzeichen für Schriftzeichen reißt das Messer eine Wunde in den jungen Baum. Dann reicht Abbas das Messer an Rebecca und sie schreibt:
Isha, Frau.
Warte!
Abbas nimmt das Messer und zieht einen Kreis um je ein Schriftzeichen aus Ish und Isha. Es ist das Jod und das He; und das ist der Ring ihrer Verlobung, denn für echte Ringe haben Hirtenkinder kein Geld. Dann umarmen sie sich ein letztes Mal und sie wissen, es ist die letzte Umarmung für eine lange Zeit.

Impressum

Texte: Cover Gestaltung: Constantin von Ritter-Groenesteyn
Tag der Veröffentlichung: 10.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

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