Biss dein Herz aufhört zu schlagen
Vorwort
Ich stecke mir die Kopfhörer meines iPods in die Ohren und drehe die Musik bis zum Anschlag auf,
damit ich den unerträglichen Lärm der anderen Menschen nicht mehr ertragen muss.
Meine Finger fliegen über das Rad des iPods, und innerhalb weniger Sekunden habe ich eines der
Lieder herausgesucht, das ich für solche Anlässe brauche; eins mit viel Bass und Rumgeschreie.
Die Stimme des Sängers kreischt in meinen Ohren, der Bass der Gitarre scheint mein Trommelfell
platzen zu lassen. Erleichtert lehne ich mich im Sitz zurück und schaue aus dem Fenster.
Träge trottet der Schulbus die Straße entlang, und ich wünsche mir sehnlichst, auszusteigen und das
kleine Stück bis nach Hause zu laufen. Es ist mir sowieso ein Rätsel, wieso ich in den Bus gestiegen
bin. Zu Fuß wäre ich viel schneller gewesen.
Seufzend fummele ich an den Schnüren meines Kapuzenpullis herum und sehe nach vorn, um
gerade noch einen erschrockenen Blick auf die rote Ampel werfen zu können. Ich reiße mir die
Ohrstöpsel heraus und höre ein lautes, dröhnendes Hupen, das von meiner Seite aus zu kommen
scheint. Mein Blick wandert wie in Zeitlupe nach links, und mir springen zwei riesige Scheinwerfer
ins Auge. Es waren die Scheinwerfer eines riesigen Lastwagens, der geradewegs auf mich zuraste.
Kapitel 1 - »Ein Neuanfang«
Es war ein Tag wie jeder andere in Utah; die Sonne schien unerbittlich auf den heißen Asphalt des
Schulgeländes, der Himmel war indigoblau und keine einzige Wolke zog am Horizont vorbei,
die saftig grünen Blätter der Bäume wehten träge im Wind, der hin und wieder mal aufkam.
Ich saß auf meinem gewohnten Platz (nämlich in der letzten Reihe rechts), ignorierte weitgehend
die Stimmen meiner Mitschüler und die des Lehrers und kritzelte gedankenverloren Muster in
meinen Collegeblock. Die East High School war im Moment der letzte Ort, an dem ich sein wollte.
Wie passend!, dachte ich sarkastisch und stand schwerfällig von meinem Stuhl auf, als die
Schulglocke ertönte und das Ende des Unterrichts ankündigte.
Bald werde ich nämlich ganz woanders sein und dort die Schulbank drücken. ...Wie ich mich freue.
Seufzend packte ich mein Etui und den Collegeblock in meine Tasche, machte den Reißverschluss
zu und hängte sie mir über die Schulter. Ich schlängelte mich geschickt durch die Tischreihen,
wobei ich die verächtlichen Blicke meiner Mitschüler nicht beachtete, ging geradewegs auf die Tür
zu, die bereits offen stand, und hörte mit einem Mal die Stimme meines Mathelehrers hinter mir.
»Jody, könnte ich dich kurz sprechen?«
Ich zuckte unsanft zusammen und blieb wie angewurzelt stehen. Das hat mir noch gefehlt!
Zögernd wandte ich mich von der Tür ab, schaute ihn an und bemerkte zu spät Victors Schulter,
mit der er mich mit voller Absicht rammte. »Aus dem Weg, du Freak«, grunzte er und drängelte
sich an mir vorbei. »Genau, du Niete«, stimmte ihm Nancy, die High School-Schlampe, zu.
Sie kam mit ihren meterhohen High Heels auf mich zugewatschelt, während ihr Minirock bei jedem
Schritt mehr Haut preisgab, und baute sich schließlich Kaugummi kauend vor mir auf.
Ihr war es egal, dass unser Mathelehrer hinter ihr stand und sie mit gerunzelter Stirn beobachtete.
Ihr war es egal, dass ich ihr überhaupt nicht zuhörte.
Sie wollte nur wieder ihre übliche 'Du-elender-Versager' Show abziehen, das war alles.
»Gut, dass heute dein letzter Schultag war. Wurde auch Zeit, dass du von der Schule fliegst, so wie
du aussiehst. Ich meine - guck dich mal an! Wie kann man bei 30°C einen Pullover tragen?«
Sie rollte mit den Augen und stemmte eine Hand in ihre nicht vorhandenen Hüften.
Nicht ausrasten. Nicht ausrasten. Nein, Jody, NICHT AUSRASTEN.
Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen, und versuchte, die Sache positiv zu sehen.
Nancy hatte recht; heute war mein letzter Tag hier. Ich würde sie und ihre Klatschtanten also nie
wieder sehen. Müsste das nicht eigentlich wie Musik in meinen Ohren klingen?
Wenn ich wenigstens nur die Schule wechseln würde und nicht gleich den Staat, wäre alles okay.
»Ich fliege nicht von der Schule, Nancy. Ich ziehe um.«
Meine Stimme klang leise, dabei hätte ich sie am liebsten angeschrien.
»Oh, noch besser!«, rief sie begeistert und klatschte in die Hände, wie ein kleines Mädchen.
»Das heißt, ich muss deinen Anblick nie wieder ertragen? Wow, super. Küsschen an deine Mom!«
Sie warf mir eine Kusshand zu, lachte gehässig und stolzierte letztendlich an mir vorbei.
Cut! Szene im Kasten. Super, Nancy! Du bist die Drama-Queen Nr.1!
Ich knurrte leise und ballte die Hände zu Fäusten, bevor ich auf das Lehrerpult zuging.
Normalerweise waren mir solche Leute wie sie piepegal, weil ich wusste, dass sie es nicht wert
waren. Immer wieder hab ich mir gesagt, dass Nancy billig, niveaulos und ungewöhnlich dämlich war.
Aber ich konnte mir so viel einreden wie ich wollte - es war einfach unmöglich, nicht auf ihr
ätzendes Verhalten zu reagieren! Ich meine, es war ja nicht so, dass ich kein bisschen Würde mehr
besaß. Klar, der größte Teil davon war schon lange nicht mehr vorhanden, aber das hieß nicht, dass
ich mir so was bieten ließ! Jemandem wie ihr sollten mal Grenzen gesetzt werden, grummelte ich.
»Sie wollten mich sprechen?«
Ich sah meinem Mathelehrer in die Augen und unterdrückte ein Seufzen.
Natürlich wusste ich, worüber er mit mir sprechen wollte. Das Thema hatten bereits alle anderen
Lehrer schon mit mir durchgekaut. Solangsam hing es mir zum Hals raus.
»Jody«, begann Mr Cabot und runzelte besorgt die Stirn.
»Ich weiß zwar, dass Miss Adams bereits mit dir darüber geredet hat, aber ich würde dir auch gern
ein paar Worte mit auf den Weg geben.« Sein Blick fixierte meinen, und ich könnte schwören, dass
er genau wusste, was ich dachte. Nämlich: Super, Mr Cabot. Wie nett von ihnen.
Muss ich mir jetzt also eine zwei Stunden-Predigt anhören?
Beschämt wandte ich meinen Blick ab und sah stattdessen auf meine Finger, die an dem Saum
meiner Bench-Jacke spielten. »Ich hab leider nicht viel Zeit«, nuschelte ich in meinen nicht
vorhandenen Bart. »Meine Koffer sind noch nicht gepackt.«
Stimmt nicht, ich hab sie schon vor fünf Tagen in die Diele gestellt.
Mr Cabot seufzte leise und legte seinen Schlüssel aufs Pult, und ich hob erneut meinen Kopf, um
ihn anzusehen. »Keine Sorge, ich will dir keinen elend langen Vortrag halten«, sagte er und lächelte
leicht, sodass sich kleine Lachfältchen um seine Augen bildeten und er plötzlich zehn Jahre jünger
aussah. Mit hochgezogener Augenbraue betrachtete ich seine strahlend blauen Augen und wartete.
»Ich möchte dir lediglich sagen, dass ich dir alles Gute wünsche und viel Erfolg, egal, bei was.
Und ich hoffe, dass es dir in La Push leichter fällt, dich zu integrieren und Freunde zu finden.«
Er warf einen sorgenvollen Blick auf die Tür, wo mich vorhin noch Nancy und Victor angeraunzt
hatten, und ich zuckte innerlich zusammen. Wieso dachte Mr Cabot, dass ich mich nicht
integrierte? Konnte er sich nicht denken, warum ich keine Freunde hatte?
Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten und biss die Zähne zusammen, damit ich ihm nichts an den
Kopf werfen konnte. »Danke, Mr Cabot«, murrte ich leise und räusperte mich.
Langsam ging ich einen Schritt zurück, warf meinem Mathelehrer, der nun meiner Vergangenheit
angehörte, einen allerletzten Blick zu und rauschte kurz danach eilig aus dem Klassenzimmer.
Während ich lief, sah ich mich um, und bemerkte, dass der Gang wie leergefegt war.
Selbst als ich an meinem Spind ankam und das Zahlenschloss drehte, bis es sich öffnete, war keine
Menschenseele zu sehen. ... Na ja, bis auf den Hausmeister, der mich mit seinem grimmigen Blick
bedachte. Kopfschüttelnd machte ich mich daran, den sämtlichen Inhalt meines Spindes in die
Tasche zu stopfen (bis auf die leeren Donut-Schachteln, die einfach liegen ließ und die Hello Kitty
Kopfhörer, die ich mir um den Hals hängte) und betrachtete die East High School das letzte Mal
von innen. Im Grunde war sie wie all die anderen Schulen; lange Flure, eintönige Klassenzimmer,
bröklige Außenfassadel, kahle Wände, kotzgrüne Tafeln, die nervtötende Pausenklingel .... Und nicht
zu vergessen diese niveaulosen Menschen wie Nancy - die gab es hier wie Sandkörner am Strand.
Ich schulterte meine Tasche und schlug meinen Spind mit etwas zu viel Schwung zu.
Bin ich froh, dieses Rattenloch endlich verlassen zu können, dachte ich gereizt.
Mit eiligen Schritten lief ich auf die große, eiserne Doppeltür zu, stieß sie auf und atmete
augenblicklich die frische Luft ein, die mir wie ein Gruß ins Gesicht wehte und meine Haare
durcheinander brachte. Blinzelnd starrte ich in den blauen Himmel und seufzte.
»Auch wenn diese Schule einfach das Letzte ist«, sagte ich mir und biss mir auf die Lippe.
»Dieses wunderschöne Wetter hier werde ich verdammt vermissen.«
Langsam schlenderte ich auf das Schultor zu, das glücklicherweise noch offen stand, und warf
keinen einzigen Blick mehr zurück. Ich wollte diesen Klotz von Schule nicht länger sehen -
ich war froh, wenn ich ihn nicht mehr sehen musste. Ein für alle Mal.
»Jody!«
Überrascht hob ich meinen Blick von den Pflastersteinen des Weges und sah meine Mom ein paar
Meter von mir entfernt an ihrem Auto lehnen. Sie hatte ihre kurzen, blonden Locken zu einem
kleinen Zopf hochgesteckt, wobei ihr ein paar Strähnen in ihre faltenfreie Stirn fielen, und
mittlerweile saß auch wieder die Brille auf ihrem Nasenrücken. Ich war froh, dass sie auf mich
gehört hatte; denn mit Kontaktlinsen sah meine Mom aus wie ein Kugelfisch.
Klingt komisch, ist aber so. Manche Menschen sehen mit Brille einfach besser aus als ohne.
»Mom? Was machst du hier?«, fragte ich irritiert, als ich sie erreichte und in die Arme schloss.
Sie seufzte theatralisch und pustete sich eine Locke aus dem Gesicht.
»Ich warte sehnsüchtig auf George Clooney, damit er endlich auf meinem Slip unterschreibt«,
erwiderte sie ironisch und streichelte leicht lächelnd meine Wange.
Ich grinste schief und setzte mich auf den Beifahrersitz ihres knallroten Miatas.
»Da muss ich dich leider enttäuschen«, sagte ich, als sie ebenfalls einstieg und einen Blick in den
Rückspiegel warf, bevor sie den Schlüssel ins Zündschloss steckte und den Wagen startete,
Sie lachte ein bisschen, doch ihr Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Ich runzelte die Stirn.
Meine übersinnlichen Fähigkeiten ließen mich ahnen, dass irgendwas los war.
Und tatsächlich; ehe ich den Mund öffnen konnte, rückte meine Mutter mit der Sprache raus.
»Hör mal, mein Schatz«, begann sie und warf mir einen kurzen Blick zu, bis sie sich wieder auf den
Verkehr konzentrierte. »Ich weiß, dass ich dir gesagt hab, wir fahren erst morgen. Aber es hat sich
so ergeben, dass wir schon heute nacht im Flieger sitzen können. Deshalb hab ich mit David
abgemacht, dass er uns um acht zum Flughafen fährt. Ist ... ist das in Ordnung für dich?«
Ich starrte wortlos durch die Windschutzscheibe und merkte, wie mein Blick verschwamm.
Mein Herz schien einen kurzen Aussetzer zu machen, bevor es doppelt so schnell wie vorher
weiterschlug. Mein Kopf schwirrte plötzlich, und ich musste das Fenster herunterkurbeln, so heiß
war mir auf einmal. Der zischende Wind in meinen Ohren machte diese schreckliche Nachricht
auch nicht gerade besser, aber ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte.
Ich war einfach sprachlos vor Entsetzen. Wie konnte sie mir das antun?
Sie wusste genau, dass das nicht 'in Ordnung' war! Verdammt, ich hatte vielleicht noch vorgehabt,
mich von meinem Vater zu verabschieden!? Die Wut, die mit einem mal in mir aufkam, ließ mich
erzittern. Ich musste meine Hände zu Fäusten ballen, damit ich nicht irgendwo draufhaute.
»Jody, sieh mich an.«
Mom hatte mittlerweile vor unserem Haus in der Sunnyside Ave geparkt.
Ich konnte in unseren Garten sehen - Diego hatte uns anscheinend kommen hören, denn ich hörte
sein aufgeregtes Bellen. Wenig später guckte er auch schon über den Gartenzaun.
Mit einem dicken Kloß im Hals wandte ich mich von ihm ab und schaute meiner Mutter ins
Gesicht. Sie hatte ihre Lippen aufeinandergepresst ud die Augen zusammengekniffen.
»Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Ich weiß, dass ich dir mehr Zeit versprochen habe, damit du
dich von ihm verabschieden kannst. Glaub mir, niemand versteht dich besser als ich.
Du kannst auch ruhig wütend auf mich sein. Aber bitte, versprich mir, dass du mit mir einen
Neuanfang wagst. Ich will nicht, dass du für immer in diesen schlapperigen Kapuzenpullis
herumläufst, irgendwelchen Hardcore hörst, der dir eigentlich gar nicht gefällt und jede Minute
deines Lebens damit verbringst, um deinen Vater zu trauern. Das hätte er nicht gewollt.«
Ich blinzelte, um rasch die Tränen zu verstecken, die mir plötzlich hochkamen, und schluckte.
»Gar nichts weißt du«, fauchte ich sie an.
»Du hast keine Ahnung, wie das für mich ist! Du gehst ja nicht mal selbst zum Friedhof, um ihm
Lebewohl zu sagen. Weißt du, ich habe es satt, andauernd von dir rumkommandiert zu werden.
Ich lebe mein Leben, so wie ich es will. Wenn ich Kapuzenpullis trage, trage ich sie eben. Wenn dich
dieses 'Hardcore' stört, dann kauf dir demnächst Oropax. Und wie lange ich trauere, geht dich
einen feuchten Dreck an.« Mit voller Wucht riss ich die Autotür auf und stieg aus.
»Verdammt noch mal, ich habe meinen Vater geliebt!«
Tag der Veröffentlichung: 16.09.2010
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