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ASTAROTHS ENDSPIEL UND GOTTES VETO

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ASTAROTHS ENDSPIEL UND GOTTES VETO

Wie der Untergang der Menschheit verschoben wurde

Fantastischer Roman

von

Frank Tenner

Copyright

1. Auflage 2024

Published and Copyright by Frank Tenner

All rights reserved.

Schriftsatz, Ebook und

Coverdesign von YOUTBOOKS

Dedication

Die Handlung dieses Romans sowie die darin vorkommenden Personen sind frei erfunden; eventuelle Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten und 

tatsächlich lebenden oder bereits verstorbenen Personen wären rein zufällig.

„Das Wunder ist die Substanz von der das Leben zehrt.“

(Ernst Jünger)

„Wunder erleben nur diejenigen, die an Wunder glauben.“

(Werner Sprenger)

„Beherrsche dein eigenes Schicksal, sonst wird es jemand anders tun.“

(Jack Welch)

Table of Contents

TABLE OF CONTENTS

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Epilog

Von Frank Tenner ebenfalls erschienen

1. Kapitel

1. KAPITEL

Es war ein Maitag, wie ihn sich die meisten Menschen wünschen. Nicht zu heiß, nicht zu kalt. Das Thermometer zeigte 23 Grad Celsius an. Und die Sonne schien um die Mittagszeit, ohne in ihrer Arbeit von einer einzigen Wolke gestört zu werden. Natürlich gab es solche wunderschönen Tage schon des Öfteren. Dieser unterschied sich aber in einem entscheidenden Punkt von allen anderen. Grund dafür waren Gäste, die in der Hauptstadt eingetroffen waren. Keine gewöhnlichen Touristen, auch keine berühmten Künstler oder Staatsmänner. Niemand nahm wirklich Notiz von ihnen, niemand kannte sie. Zu viel Wasser war die Spree hinuntergeflossen seit sie das letzte Mal Berlin gemeinsam einen Besuch abgestattet hatten. Keiner von den Bewohnern, denen sie damals begegnet waren, lebte noch. Aber die Gäste sollten das Geschick der Stadt und des Landes nachhaltig prägen. Genau genommen der gesamten Welt.

Zwei der Neuankömmlinge saßen auf einer Parkbank und beobachteten die vorbeifahrenden Fahrgastschiffe und Motorboote. Auf den ersten Blick hätte man vermutet, es handele sich um einen Vater und seine Tochter. Zumindest konnte man aufgrund des Altersunterschiedes auf diese Idee kommen. Der Mann im weißen Anzug mochte das Renteneintrittsalter erreicht haben, seine Haare wiesen viele graue Strähnen auf, genauso wie der dichte Vollbart. Die Wangenknochen standen leicht hervor, die Haut wirkte ausgetrocknet. Er saß etwas vornüber gebeugt, als ob die Last der Jahre ihn erschöpft hätte. Die Augen hielt er geschlossen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden oder auch nur, um die Sonnenstrahlen und die angenehme Atmosphäre noch mehr genießen zu können.

Seine Begleiterin mochte Anfang dreißig sein, ihre halblangen schwarzen Haare wirkten frisch frisiert. Sie schien sich erst vor wenigen Stunden in die Obhut einer geschickten Friseurin begeben zu haben.

Der gelbe Hosenanzug leuchtete in der Sonne. Die Strahlen schmiegten sich an das dünne und fast durchsichtige Gewebe. Nur die dicken grauen und lehmbeschmierten Stiefel bildeten einen Kontrast zu der ansonsten so sauberen und mondänen Erscheinung.

Der Alte öffnete die Augen, schaute auf einige auf der Wiese spielende Halbwüchsige und meinte: „Er müsste eigentlich schon hier sein. Punkt zwölf Uhr war vereinbart.“

Die Frau lächelte: „Du kennst ihn doch, Pünktlichkeit war noch nie seine Stärke. Wir haben doch alle Zeit der Welt. Oder der Ewigkeit.“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Der Chef hat sich bestimmt etwas dabei gedacht, uns gerade zu diesem Zeitpunkt in die Metropole zu schicken. Vielleicht droht ein nicht mehr zu löschender Brand.“

„Bisher konnte noch jeder Brand gelöscht werden. Nur die Zahl der Brandopfer hat sich im Laufe der Jahre erhöht.“

„Mögest du recht haben, mir würden unsere Ausflüge fehlen. Jedes Mal sieht und erfährt man völlig neue und verrückte Dinge. Weißt du, wie lange es her ist, dass wir in dieser Stadt weilten?“

„Natürlich. Bin ich ein Mensch, der irgendetwas vergessen könnte? Es sind genau vierundneunzig Jahre.“

„Plus acht Monate, zwei Wochen, zwei Tage und vierundzwanzig Minuten. Nein, jetzt fünfundzwanzig Minuten.“

„Du liebst es, zu rechnen und den Buchhalter zu spielen.“

„Manchmal kommt es auf jeden Heller an. Oder, wie es jetzt heißt: auf jeden Cent.“

„Du bist und bleibst ein Pfennigfuchser.“

„Im Gegenteil. Ich bin großzügig, nur ein Fuchs, der weiß, wo der Hase lang läuft. Immer in Richtung des Geldes. Die Menschen können nicht anders. Es ist ihre Natur. Wäre es anders, hätten wir nichts zu lachen.“

„Wir hatten so viel zu lachen. Zumindest ich. Ihr drei seid manchmal zu verknöchert. Erinnerst du dich an unseren letzten Aufenthalt? Natürlich, was für eine Frage. War er nicht köstlich? Unser Besuch im Eldorado? Gabriel mit seiner Kapelle wusste die Leute in Stimmung zu bringen. Die hübschen Tänzerinnen, oder waren es Männer in Frauenkleidern? Selbst wir konnten die Geschlechter fast nicht voneinander unterscheiden. Die kurzen Röckchen, dieser komische Stil, Charleston nannten sie ihn? Und die mitsingenden, begeisterten Massen, darunter viele Gäste aus dem Ausland.“

„Kein Wunder, die hatten doch alle Kokain in ihren Nasen oder Morphium und Heroin in ihren Adern. Als ob sie der realen Welt entfliehen wollten. Einige schrien: Wir tanzen auf dem Vulkan! Ist das nicht wunderbar? Andere sangen: Es zieht das Glück vorbei. Merkten gar nicht, dass sie ihr bisschen Glück verspielten.“

„Da hast du doch deine Aktie daran gehabt. Wie viele haben ihr Geld verprasst, sind dem Größenwahn verfallen, haben spekuliert, sich verschuldet oder sind zu Straßenräubern und Dieben geworden?“

„Ich habe nur meine Pflicht erfüllt, getan, was meinem Wesen entspricht. Du hast dich doch bloß um die neuesten Erfindungen gekümmert. Dieses Auto, welches mit dreihundert Stundenkilometern über die Autobahn düste oder die Flugzeuge, die alle Orte der Welt näher zusammenrücken ließen. Und du hast einigen dieser verlorenen Seelen sogar noch Lotteriegewinne beschert.“

„Die du ihnen wieder abgenommen hast. Lass die Vorwürfe. Wir sind doch keine Krämer. Jeder macht das, was er am besten kann. Viel interessanter ist es doch, zu vergleichen, was sich in all diesen Jahren verändert hat. Hattest du schon Gelegenheit, dich umzuschauen?“

„Ja. In der Nacht war ich in zwei Clubs. In dem zweiten wollte man mich gar nicht hereinlassen, egal wie viele Geldscheine ich den Einlassern vors Gesicht hielt und als Trinkgeld versprach. Meine Kleidung und mein Alter entsprächen nicht den Regeln der Einrichtung. Er sagte wirklich, mein Alter und der Einrichtung. So diskriminiert habe ich mich noch nie gefühlt. Als ob diese Marionetten etwas vom Alter und der Zeit wüssten. Die sollten erstmal mein oder dein Alter erreichen. Na, ich bin mal kurz um die Ecke und habe mich umgezogen. Schwarze Lederkleidung, die werde ich jetzt öfter tragen, die steht mir, glaube ich, sehr gut. Und ein wenig Schminke und Rouge, die hatte ich schon damals im Eldorado aufgetragen. Naja, etwas älter bin ich schon geworden, zumindest mein Geist, ich kam mir fast vor wie ein Clown im Zirkus. Aber es war ein voller Erfolg. Ich durfte passieren. Allerdings musste ich vorher fast eine Stunde in einer Warteschlange stehen.“

Die Frau an seiner Seite unterbrach ihn: „Warum bist du nicht auf andere Weise ins Gebäude gelangt?“

„Ich wollte einen authentischen Besuch. So wie ihn die Menschen jede Nacht erleben. Dennoch wurde ich beim Anstehen wütend. Ich wollte das Gebäude schon abfackeln. Doch ich erinnerte mich an die Worte vom Chef: Auf keinen Fall vom Zorn hinreißen lassen. Die Mission hat stets Vorrang!

Das Warten hat sich, muss ich allerdings zugeben, gelohnt. Eintausendvierhundertsieben verrückt Tanzende. Auf drei Etagen. Das Zeug, welches sie konsumierten, unterschied sich kaum von dem, welches wir vor über hundert Jahren, na ja, genau vor vierundneunzig Jahren, acht Monaten, zwei Wochen, zwei Tagen und zweiunddreißig Minuten, konsumiert haben. Die Musik war weniger lustig. Hämmernde Bässe, die mir ins Hirn gedrungen wären, würde ich eins besitzen. Ich kam mir fast vor wie in der Hölle. Oder in eine andere versetzt. Zwei junge Männer wollten mich auf die Toilette begleiten und mich mit ihren Mündern glücklich machen. Hätten sie geahnt, wen und was sie da glücklich machen würden, hätten sie noch mehr von den Pillen, die sie in ihrer Tasche hatten, geschluckt. Ich konnte mir nicht verkneifen, ihnen auf ihre verschwitzten Haare zu kotzen. Und ihr Geld habe ich verschwinden lassen. Einen kleinen Scherz muss man sich hin und wieder erlauben. Als sie die Cocktails bezahlen wollten, hatten sie keinen Pfennig in der Tasche. Oder Euro, wie das neue Geld jetzt heißt. Zwei Ordner haben sie hochkant herauskatapultiert. Köstlich.“

„Was war mit den Frauen? Unzüchtig wie eh und je?“

„Gaben sich selbstbewusst. Wirkten dennoch etwas orientierungslos. Lebenshungrig, ja. Abenteuerlustig, vielleicht. Ich habe einigen meinen Spezialtrunk verabreicht. Sie wurden sehr gesprächig. Eigentlich nur äußerlich verändert, sie hatten viele Bemalungen auf ihren Armen und an ihren zumeist gut sichtbaren, wohlgeformten Beinen und den eingeschnürten Brüsten. Aber sie plapperten am Ende auch nur von ihrem Prinzen, dem Haus am Waldrand und der Reise auf die Malediven. Was immer sich geändert hat, die Träume scheinen die gleichen zu sein.“

„Hast du etwas anderes erwartet? Die Menschen sind und bleiben Menschen.“

„Bist du heute wieder geistreich und eloquent. Die nächsten Tage mit dir werden bestimmt das reinste Vergnügen.“

Bevor die Frau antworten konnte, entdeckten sie nur wenige Meter entfernt einen Mann. Sie hatten ihn nicht kommen sehen. Er schien, direkt aus dem Erdboden aufgestiegen zu sein.

Er war schlicht gekleidet, hatte blaue Jeans und ein dunkelrotes Cordhemd an, war mittelgroß, sein Alter nur schwer bestimmbar. Vielleicht Mitte vierzig, vielleicht älter. Oder jünger. Mit der rechten Hand stützte er sich auf einen braunen Spazierstock mit goldenem Knauf. Wie die nächsten Schritte zeigten, nicht nur der Bequemlichkeit wegen. Er stützte sich kräftig auf den Knauf, um aufrecht gehen zu können. Dennoch konnte er ein leichtes Hinken nicht vermeiden. „Ihr habt noch ein Plätzchen für mich?“

Die Frau deutete auf die freie Fläche neben sich. „Bitte. Wir haben schon seit einer halben Stunde auf dich gewartet. Du warst für zwölf Uhr angekündigt.“

Der Alte neben ihr korrigierte: „Seit einunddreißig Minuten und zwanzig Sekunden.“

„Unser Buchhalter. Immer korrekt bei der Abrechnung. Der Chef hatte mich noch zu sich gerufen. Mir letzte Instruktionen gegeben. Seit wann seit ihr hier?“

Die Frau im gelben Hosenanzug lächelte: „Ich bin, um unseren Freund zu imitieren, genau seit fünfundachtzig Minuten und dreißig Sekunden in der Erdensonne sitzend. Richie, so nennt er sich in dieser Zeit, kam schon gestern an und konnte bereits das Nachtleben erkunden.“

„Warst du in einem Tanztheater, einem Varieté, Ballhaus oder Revuepalast? Ihr wisst, nichts liebe ich mehr als den Tanz.“

Richie griente: „Was mit deinem Hinkefuß besonders angenehm sein dürfte.“

„Lass deinen Sarkasmus. Was verstehst du von Leidenschaften? Der Tanz ist nicht nur für die Wohlgeratenen und Unversehrten erfunden worden. Gerade mit kleinen Einschränkungen weißt du ihn mehr zu schätzen als die meisten anderen. Wenn ich an die Künstlerin Frida aus Mexiko denke, jenes kleine, so leidgeprüfte Menschenkind, die ihren Schmerz einfach weggetanzt und dem Leben dadurch Sinn verliehen hat, könnte ich vor Bewunderung meinen Zylinder ziehen, den ich heute leider nicht aufhabe.“

„Du hättest wenig Freude an den neuartigen Tänzen gefunden. Ich war in einem Nachtclub, riesig, mehrere Etagen, aber vom Tanz, wie du ihn kanntest, kann keine Rede sein. Es handelte sich mehr um ein sich Versenken in hämmernde Töne bei flackerndem bläulichen Licht. Wenn man jede Zeit an der Art ihrer Musik misst, scheint mir, die heutige ist nur unter Drogen zu ertragen. Vielleicht ein Ersatz für Ideale und große Lebensziele.“

Die Frau meinte: „Sind wir hier, um wie menschliche Wesen über den Sinn des Daseins zu philosophieren oder um wichtige Aufgaben zu erfüllen?“

„ Belgo, du hast wieder den Nagel auf den Kopf getroffen. Eine sehr schöne Wendung, die sich die Menschen haben einfallen lassen. Überhaupt scheint mir ihre Existenz durch den Tanz und die Sprache gerechtfertigt. Sofern es sich tatsächlich noch um Tanz und Sprache handelt und nicht um bloße Surrogate, was Richie andeutete. Wenngleich der Chef in dieser Frage schon immer anderer Meinung war. Womit wir beim Punkt wären. Was habt ihr von ihm für einen Auftrag erhalten?“

Fast zeitgleich kam aus beiden Mündern die Antwort. „Wir sollen Astaroth in seiner Arbeit unterstützen.“

„Da habt ihr wohl nicht genau zugehört. Deshalb musste ich vor meiner Abreise noch einmal in die Eiskammer. Widerlich. Da lob ich mir doch das lodernde Feuer. Mein Bein verträgt keine Kälte. Wir drei sind nicht hier, um Astaroth zu unterstützen, zumindest nicht nur, sondern um ihn bei seiner Tätigkeit zu beobachten und zu kontrollieren. Dafür zu sorgen, dass er nicht wieder übers Ziel hinausschießt. Ein wenig Chaos ist nicht schlecht, bei der Erzeugung sollen wir helfen, es darf aber nicht zur völligen Auflösung des Erdenreiches kommen. Zum einen könnte ER uns Ärger bereiten, zum anderen fehlte uns unser wichtigstes Betätigungsfeld.“

„Da muss ich dir ohne Vorbehalte zustimmen. Ich sagte bereits zu Belgo, die Ausflüge auf die Erde würden mir fehlen. Schon in diesen paar Stunden habe ich so viel Neues oder Altes, aber im neuen Gewand, erleben dürfen. Glaubst du, Astaroth will diesmal entgegen aller Anweisungen auf die totale Auflösung setzen?“

„Ich traue es ihm zu. Vor endlich langer Zeit meinte er mit seinem typischen Grinsen: Das Finale ins Nichts nähert sich der Zielgeraden.“

„Ist das nicht ein Ausdruck von diesem wahnsinnig gewordenen deutschen Dichter?“

„Ja, Astaroth liebt ihn. Er meint, es wäre der einzige Mensch, der die Zeichen der Zeit richtig gedeutet und das Ende, auch von IHM, vorausgesagt hätte. Vielleicht fühlt sich unser Freund als Vollstrecker der Apokalypse, als ein böser Engel des totalen Untergangs. Wie auch immer, der Chef misstraut ihm inzwischen und zweifelt an seinem Gehorsam. Deshalb sollen wir ihn nicht aus den Augen lassen und seine Pläne erkunden. Wir werden ihn heute Abend treffen. In einem berühmten Lokal, einer sogenannten Kiezkneipe. Ihr kennt sie, wir waren dort bei unserem letzten Aufenthalt. Dieses Sextett war gerade eingekehrt, und als die Herren genügend getrunken hatten, boten sie den Gästen eine spontane Gratisvorstellung. Sie brachten mit ihren wunderbaren Stimmen Schwung in die Musikszene. Astaroth schenkte diesem Collin sogar seine Armbanduhr.“

„Stimmt. Wir haben uns über seine Großzügigkeit noch gewundert. Aber er war an diesem Abend in Geberlaune. Vielleicht voller Vorfreude, weil er wusste, dass einige Wochen später die Börse zusammenbrechen und das ersehnte Chaos eintreten würde.“

„Punkt neun Uhr sollen wir uns einfinden. Er hat für uns einen Tisch reservieren lassen. Wo werden wir Quartier nehmen?“

„Astaroth hat die Quartiersuche übernommen. Er wird uns beim Abendessen über das Ergebnis informieren. Bis zum Treffpunkt haben wir genügend Zeit, um unserer Arbeit nachzugehen. Was wirst du unternehmen?“

Belgo schaute direkt in die Sonne. „Ich werde noch eine Weile hier sitzen bleiben und den blauen Himmel und die Sonne genießen. Wer weiß, wann uns wieder einmal so ein Tag beschert sein wird. Danach wird mir schon etwas einfallen. Die Stadt ist groß, wenngleich um fast eine Million Einwohner geschrumpft im Verhältnis zu unserem letzten Besuch. Nur Autos gibt es jetzt Dutzende Male mehr als damals. Vielleicht mache ich einen Bummel durchs Technikmuseum, die neuesten Erfindungen und ihre Geschichte interessieren mich schon.“

Richie lachte. „Mit Arbeit hast du ja noch nie viel am Hut gehabt. Selbst als du in den 20er Jahren diesen Riesenhut mit der breiten Krempe getragen hast.“

Asmodeus wiegelte ab. „Soll sie machen, was sie will. Faulheit gehört zu ihrem Wesen. Und Wissenserweiterung ist schließlich auch Aktivität. Keiner von uns vermag, gegen seine ureigenste Natur zu verstoßen. Und wir sind nicht ihre Vorgesetzten. Bei uns muss sie ihre Arbeitsergebnisse nicht abrechnen. Was wirst du unternehmen?“

Nach einigen Sekunden, Richie schien eine Weile angestrengt nachzudenken, antwortete der Gefragte: „Ich werde mich um die Geldsäcke kümmern. Mal sehen, was aus den Banken wurde und ihren Besitzern. Und, was hast du vor?“

„Ich werde mir die Casinos der Stadt, einige öffnen schon um elf Uhr ihre Pforten, ansehen und vielleicht zwei, drei Jungvermählte beobachten oder in Versuchung bringen und ihre Gefühle testen. Vielleicht kann ich ihnen, sofern sie es verdienen, einige unerwartete Hochzeitsgeschenke als Belohnung überreichen.“

„Du bist viel zu gutmütig für deine Aufgaben. Das Schenken überlasse lieber unseren Konkurrenten. Wir sehen uns um neun bei Tattersall. Viel Erfolg ihr beiden.“

2. Kapitel

2. KAPITEL

WährenddieDreiihrGesprächführten,warihrKollege schon bei der Arbeit. Er hatte Punkt zwölf Uhr das Ministerium betreten. Er musste eine Sicherheitskontrolle über sich ergehen lassen. Allerdings wirkte er in seinem dunklen, perfekt sitzenden Designeranzug, den Gucci- Schuhen und der blinkenden Rolex am Handgelenk nicht wie einer der typischen Terroristen, die sich gegen hochrangige Staatsbedienstete verschworen hatten. Die Kontrolle verlief daher nur oberflächlich und schnell. Eine hübsche Blondine in einem schwarzen Kostüm kam auf ihn zu: „Guten Tag, Herr Roth. Mein Name ist, wie Sie sicher auf meinem Schild gelesen haben: Eva Dumont. Ich bin die Assistentin des Ministers. Er erwartet sie schon. Bitte folgen Sie mir.“

„Hübscher Name. Klingt vielversprechend. Ich folge Ihnen, wohin Sie wollen.“

Sie geleitete ihn zum Aufzug und dann bis zum Büro des Ministers. Sie klopfte zweimal kurz an die Tür. Ein junger, gut frisierter Mann mit einer auffälligen roten Krawatte öffnete die Tür. Nachdem sie den Gast ins Zimmer geleitet hatte, entfernte sich die Blondine.

„Herr Roth? Bitte treten Sie ein. Der Minister ist sich gerade die Hände waschen. Er ist in ein, zwei Minuten wieder zurück. Bitte nehmen Sie doch Platz.“ Der junge Mann zeigte auf einen der modernen Ledersessel. Der Angesprochene lächelte. „Danke. Kein Mensch kann etwas gegen seine biologischen Bedürfnisse tun. Da bleibt der Mensch doch immer Tier. Egal, wie weit wir uns sonst von der Natur entfernt haben.“

Der junge Mann, der sich erst vor einem Monat zum Assistenten hochgearbeitet hatte, schaute etwas verwundert. Er wusste wohl nicht so recht, ob es sich um eine flapsige Bemerkung oder einen ernst gemeinten philosophischen Beitrag handelte. Um nichts falsch zu machen, nickte er nur und sagte: „Treffend bemerkt, Herr Roth. Ah, da kommt er schon.“

Offenbar war er froh, die Unterhaltung nicht vertiefen zu müssen und die Verantwortung für ein ernsthaftes Gespräch an seinen Chef weitergeben zu können. Der Minister erhöhte die Schrittgeschwindigkeit, als er den angekündigten Besucher erblickte. Er reichte diesem die Hand. „Seien Sie willkommen. Ich musste nur mal kurz verschwinden.“

„Ihr Assistent hat mich schon darüber unterrichtet, dass Sie eine schwache Blase haben. Das ist mit zunehmendem Alter für viele Männer ein Problem. Aber ich kann Ihnen ein altes Hausmittel meiner Großmutter verraten, mit dessen Hilfe Sie wieder die gesamte Nacht durchschlafen können.“

Der Minister war verwirrt. Er schaute pikiert auf seinen neuen Assistenten. Wie konnte dieser von seinen Problemen mit dem Wasserlassen wissen, den mehrmaligen Schlafunterbrechungen in der Nacht aufgrund des unangenehmen Druckes in der Blasengegend? Und selbst, wenn er aufgrund des Verhaltens im Büro, wo er tatsächlich zwei-, dreimal bis zum frühen Nachmittag die nur für ihn reservierte Toilette aufsuchte, eine solche Vermutung hegte, gehörte es sich nicht, solch intime Dinge auszusprechen, schon gar nicht gegenüber einem Gast. Er musste den Verstand verloren haben oder war diplomatisch völlig ungeschickt. Offenbar hatte der Personalchef doch keine gute Entscheidung getroffen. Er würde diesen gleich nach dem Besuch anrufen und zur Rede stellen.

Ein strafender Blick verriet dem Assistenten, dass sich seine gerade begonnene Karriere schon wieder ihrem Ende zuneigte. Dabei hatte er monatelang dem Personalchef zu Munde geredet, war vor ihm fast zu Kreuze gekrochen, hatte jeden Auftrag ausgeführt und ihm jede heimliche Bemerkung der anderen Mitarbeiter zugetragen. Er wollte protestieren und eine Erklärung abgeben, aber der Minister zeigte auf die Tür. „Bitte, Herr Schumann, lassen Sie uns jetzt allein!“

Die kurze Bemerkung seines Gastes hatte den Minister verunsichert. Er wirkte jetzt nervös und unkonzentriert und überlegte, ob er auf das Angebot mit dem Hausmittel eingehen sollte.

„Wollen wir uns dort hinsetzen? Da redet es sich wie auf der häuslichen Couch. Gemütlich und intim. Darf ich Ihnen einen Kaffee oder Tee zubereiten lassen?“

„Nur, wenn Sie einen Kaffee mittrinken. Oder müssen Sie mich dann wieder verlassen?“

„Lassen Sie bitte Ihre Scherze. Privates gehört nicht hierher.“

„Warum, sprachen Sie selbst nicht von Gemütlichkeit und Intimität? Ich will Sie doch nicht ärgern, sondern Ihnen helfen. Unter uns: Ich leide ebenfalls an Blasenschwäche. Aber mit dem Mittel meiner Großmutter habe ich alles unter Kontrolle. Das ist auch wichtig beim ehelichen Verkehr. Es ist doch peinlich, mitten im Liebesspiel ständig ein Örtchen aufsuchen zu müssen. Frauen mögen das gar nicht.“

Das Blut stieg dem Minister ins Gesicht. Er sah, wie er sich in der letzten Nacht kurz vor dem Höhepunkt seiner Gattin plötzlich zurückziehen musste. Sie hatte selbst beim Frühstück kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Woher wusste dieser Roth davon? Hatte er nur allgemein geraten? Oder, viel schlimmer, hatte man eine Wanze in seinem Schlafzimmer versteckt? Das würde viel erklären. Natürlich, man sammelte privates Material über ihn, um ihn zu erpressen, ihm seine Unterschrift abzunötigen. Mit Zorn in der Stimme meinte er zu seinem Gast: „Mit solchen Methoden habe ich nicht gerechnet. Sie sollten mich überzeugen, das Geschäft schmackhaft machen, nicht aber mit solch unlauteren Mitteln operieren.“

Richard Roth schaute mit großen, erstaunten und unschuldigen Augen wie ein Kind, dem man erstmalig im Leben einen Luftballon hinhält. „Herr Minister, ich verstehe Sie nicht. Ich weiß beim besten Willen nicht, von welchen Methoden sie sprechen.“

Der Minister sah in die so naiven Augen seines Gastes. Vielleicht hatte er einfach nur von den allgemeinen Symptomen der Krankheit auf konkrete Situationen geschlossen oder selbst schon solche Situationen erlebt.

„Entschuldigung. Ich bin wohl etwas empfindlich, was mein kleines Problem anbelangt. Da reagiere ich hin und wieder überreizt.“

„Das kenne ich nur zu gut. Deshalb sprach ich auch von meinem Heilmittel.“ Er lachte. „Und ich bin kein Lobbyist der Pharmaindustrie. Die brauchen meine Unterstützung nicht, sondern haben ihre Milliarden in den letzten Jahren auch ohne meine Fürsprache erwirtschaftet. Es handelt sich um ein altes Hausmittel, welches keine Apotheke anbietet.“

„Gut. Danke. Sie können es mir nach unserem dienstlichen Gespräch verraten. Jetzt wollen wir aber zum eigentlichen Thema kommen. Wollten Sie mir nicht eine Mappe mit den nötigen Unterlagen mitbringen?“

„Natürlich.“

Der Minister schaute etwas misstrauisch, da sein Gast keine Mappe oder Aktentasche bei sich trug. Dieser lächelte nur, griff in sein Sakko und holte einen Hefter hervor, der mit Fotos, Zeichnungen, Beschreibungen und Kalkulationen gefüllt war. Der Hefter war fast zwei Zentimeter dick und keine einzige Seite wies einen Knick auf oder wirkte gefaltet.

Der Minister schüttelte ungläubig den Kopf. Der Anzug seines Gastes saß millimetergenau, schien von einem Maßschneider angefertigt zu sein. Es war nicht begreifbar, wo er den Hefter versteckt hatte. Aber er hatte keine Zeit lange darüber nachzugrübeln. Sein Gast schlug den Hefter auf und begann einige Fotos und Zeichnungen auf dem rechteckigen Holztisch auszubreiten und einige Erklärungen abzugeben.

„Ihr Generalinspekteur hat Ihnen sicher schon Informationen zu diesem neuartigen Waffensystem übermittelt. Es ist nicht nur neu, es ist einzigartig. Die Amerikaner würden uns dieses System mit Kusshand abnehmen. Aber wenn man der Rüstungsindustrie auch nachsagt, sie würde nur auf Gewinne aus sein und sich nicht um Nationalitäten kümmern, unsere Nation steht für uns an erster Stelle. Sie haben selbstverständlich Vorkaufsrecht.“

„Nun, wir wissen beide, es geht nicht darum, Ihre Innovation und die Qualität Ihrer Rakete anzuzweifeln, ich persönlich würde Sie Ihnen sofort abnehmen, aber es gibt andere Faktoren, die ich nicht unberücksichtigt lassen kann. Der Haushalt ist schon jetzt im Ungleichgewicht, die kritischen Stimmen zur Haushaltsfinanzierung häufen sich. Zum anderen haben wir diese Pazifisten in verschiedenen Parteien und Lagern, die nicht begreifen wollen, wie gefährlich unsere gegenwärtige Lage geworden ist und wir ob wir wollen oder nicht, kriegstüchtig werden müssen. Nur mit Abschreckung und Aufrüstung können wir Schlimmeres verhindern.“

„Das sehen Sie vollkommen richtig. Si vis pacem para bellum. Von dieser sehr weit reichenden Waffe geht eine Menge Abschreckung aus und“, er machte eine Kunstpause, „sie kann auch helfen, Kriege zu einem siegreichen Ende zu führen, den Krieg zum Verursacher zurückzubringen.“

„Sie meinen, wir kaufen das System und schenken es unseren Verbündeten?“

„Von Schenken war nicht die Rede. Sie könnten die Waffen, wie die Amerikaner es klugerweise tun, einfach vermieten. Das würde auch bei der Finanzierung helfen. Sie kreieren ein weiteres zweckgebundenes Sondervermögen und sichern es durch ausländische Bürgschaften ab. Schauen Sie sich die Ergebnisse unserer Tests an. Einfach grandios. Ingenieurskunst, langjährige Erfahrung unserer Mitarbeiter und Einfallsreichtum haben etwas geschaffen, was die Kriegskunst revolutionieren wird. Wenn Sie die Kalkulationen in Ruhe durchsehen, werden Sie erkennen, wie günstig unser Angebot ist. Sie, Herr Minister, werden sicher in die Geschichtsbücher eingehen, als der Politiker, der die Kriegsmüdigkeit und Stagnation überwand und durch seine mutigen Entscheidungen dem Krieg eine Wende zum Guten gegeben hat.“

„Die Entscheidung liegt nicht bei mir allein, der Kanzler, der in dieser Frage sehr zögerlich agiert und das Kabinett müssen zustimmen und in einigen Fragen leider auch das Parlament. Und es könnte zu einer Eskalation kommen. Wir wollen doch keinen Weltkrieg riskieren.“

„Nein, selbstverständlich nicht. Aber man darf sich durch die laute gegnerische Propaganda auch nicht von seinen Zielen abbringen lassen. Außerdem haben Ihre Experten bestätigt, dass ein Einsatz von westlichen Truppen auf dem Boden der Ukraine durchaus dem Völkerrecht entsprechen würde. Was die Entscheidungsfindung anbelangt - Ihr Wort hat Gewicht. Der Kanzler wird vermutlich und in absehbarer Zeit seinen Posten an einen kompetenteren und entschlosseneren Politiker seiner Partei abgeben müssen. Wenn Sie das Geschäft unterstützen, wird es auch alle anderen Hürden nehmen. Für die nötige Publicity werden wir schon sorgen. Ich kenne die Chefredakteure vieler großer Illustrierten und Magazine. Und die Besitzerinnen der meisten Fernsehsender. Und Ihre Kollegen aus den verbündeten Staaten werden voll des Lobes sein. Sie sind ein Vorreiter, einer der die Wende einläutete. Man wird Sie feiern. Apropos Feiern. Ich soll Ihnen noch diese Einladung von unserem CEO übergeben. Er richtet anlässlich seines runden Geburtstages auf seiner Yacht in Ibiza Magna eine kleine Party aus. Für einen illustren Kreis. Höchstens einhundert geladene Gäste. Darunter nicht nur Firmenmanager oder Politiker, sondern auch Künstler aus der Musikbranche und Filmproduzenten. Diese Nacht wird ganz sicher unvergesslich werden. Ich würde selbst gerne teilnehmen, aber das wird wohl nur möglich sein, wenn ich Ihre Zusage mit in die Zentrale bringe. Geben Sie sich einen Ruck. Was sind fünf Milliarden Euro im Vergleich zu einem Sieg unserer Freunde und damit auch der deutschen Nation. Die endlich wieder zu den Siegern gehört. Nicht zu vergessen, dem Erleben einer solchen Nacht. Natürlich ohne alle Blasenprobleme. Mein Wort haben Sie.“

Er schaute dem Minister tief in die Augen. „Hier ist das Rezept. Alle Zutaten sind leicht zu beschaffen. Oder… damit Sie nicht unnötig Zeit vergeuden und schon heute Nacht gut durchschlafen können, gebe ich sie Ihnen gleich mit. Ich habe sie in der Tasche.“

Wie der Magier, der mehrere Kaninchen aus seinem Hut zaubert, holte er nach und nach mehrere kleine Gläser mit Kräutern aus der Hosentasche und stellte sie neben die ausgebreiteten Dokumente.

Der Minister schloss kurz die Augen. „Sie geben mir Ihr Wort? Eine ganze Nacht durchschlafen? Und eine ganze Nacht durchfeiern? Und der Krieg bekommt eine positive Wendung?“

„Positiver geht es nicht. In jeder Beziehung. Sie haben mein Wort.“

„Also gut, ich werde tun, was ich kann. Lassen Sie die Unterlagen hier. Ich benötige sie für die Kabinettssitzung und die Rede im Parlament. Und ich spreche mit meinem Kollegen. Der plädiert schon seit Tagen für eine vollständige Aufrüstung des Landes und wird meinen Vorschlag ganz sicher unterstützen.“

„Wunderbar. Darauf wollen wir anstoßen.“ Roth holte aus der Sakkotasche eine Flasche Champagner und zwei Sektkelche.

Der Minister schaute ungläubig auf die Flasche und die Gläser. „Wie machen Sie das? Wo hatten Sie die Gegenstände versteckt?“

Roth lachte. „Alles Übung. Über viele Jahre. Ich wollte mal Magier werden.“

„Verstehe. Mit diesem Trick könnten Sie vor Publikum auftreten.“

„Danke für das Kompliment. Falls man mich eines Tages im Konzern nicht mehr braucht, werde ich vielleicht das Metier wechseln.“

Er goss geschickt die Gläser voll und reichte eines davon dem Minister. „Auf unsere Vereinbarung. Und auf den Sieg der Gerechtigkeit und Freiheit.“

Der Minister nickte zustimmend und prostete seinem Gesprächspartner zu. „Auf den baldigen Sieg.“

„Wir sehen uns dann spätestens im kommenden Monat auf Ibiza. Ich darf mich verabschieden. Auf mich wartet noch eine wichtige Aufgabe.“

„Dann viel Erfolg. Warten Sie, ich rufe meine Assistentin. Eine sehr kompetente und zuverlässige Mitarbeiterin, der ich volles Vertrauen schenke. Sie wird Sie zum Ausgang bringen. Vorschriften, Gäste dürfen sich im Ministerium nie ohne Begleitung bewegen.“

Er stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und drückte einen Knopf, der unter der Tischplatte angebracht war.

Bereits eine Minute später öffnete die Blondine die Tür und schaute fragend auf den Minister.

„Bitte geleiten Sie unseren Gast zum Ausgang.“

Er schüttelte fast freundschaftlich die Hand seines Besuchers, und als dieser das Zimmer verlassen hatte, griff er zum Zettel mit dem Rezept und den drei Kräutergläsern.

Erst danach ordnete er die Fotos und Papiere auf dem Tisch und steckte sie zurück in den Hefter.

Die Blondine versuchte, auf dem Weg zum Ausgang, nicht zu verschlossen zu wirken. Sie machte einige Bemerkungen zur Ausstattung der Empfangshalle und lobte den unglaublich gut sitzenden Anzug des Gastes. Dieser lächelte. „Sie sollte erstmal sehen, wie gut alles darunter sitzt. Sorry, ich weiß, heutzutage können solche Äußerungen falsch verstanden und als sexuelle Anspielungen verstanden werden. Ich wollte Sie nicht brüskieren. Nur ein dummer Spruch eines dummen Mannes. Verzeihen Sie mir.“

„Nein, es gibt nichts zu verzeihen. Ein kleiner Scherz, den ich auch so verstanden habe. Ich gehöre nicht zur MeToo-Bewegung. Im Übrigen kann ich mir gut vorstellen, wie es unter diesem Boss-Anzug aussieht. Kein Gramm Fett zu viel.“

„Gut beobachtet und ein Sixpack obendrein. Ich prophezeie Ihnen eine steile Karriere in diesem Hause. Und meine Prophezeiungen sind immer eingetroffen.“ Er schaute intensiv in ihre blauen Augen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er heute Abend nicht Zeit für sie hätte.

Als ob er ihren Kopf schauen konnte, meinte er: „Heute Abend bin ich mit Freunden verabredet. Aber morgen oder übermorgen habe ich noch keine festen Verabredungen. Ich würde mich freuen, Ihnen mein Sixpack zeigen zu können.“

Das Gesicht der Blondine wurde puterrot. „Ich würde mich gerne mit Ihnen treffen, aber nur zu einer Tasse Kaffee.“

„Selbstverständlich. Aber als Single brauchen Sie doch auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Und Etikette ist doch nur etwas für Spießer.“

Die Blondine fragte sich, was sie als Single verraten hatte. Einen Ehering trug sie nicht, aber sie hätte doch einen festen Partner oder Freund haben können.

„Sie sind zu hübsch für einen langweiligen Ehemann oder Partner. Ich habe es in Ihren Augen gelesen: Sie suchen das Abenteuer, hassen das Gewöhnliche. Ganz wie ich. Sagen wir übermorgen gegen sechs Uhr. Ich hole Sie ab. Ziehen Sie ihr rotes Abendkleid an.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er an den beiden Uniformierten vorbei und wartete bis sich die Tür automatisch geöffnet hatte, dann drehte er sich noch einmal um und winkte der völlig verdutzten Assistentin vielsagend zu.

3. Kapitel

3. KAPITEL

Richie hatte sich umgezogen. Der weiße Anzug erschien ihm für eine große Aufsichtsratsversammlung zu auffällig. Mit dem dunkelgrauen Boss Anzug passte er gut zur Gesellschaft der meist älteren und dunkel gekleideten rund dreißig Herren. Zwei ältere Frauen saßen an der Stirnseite des Tisches. Eine wesentlich jüngere Frau, sehr attraktiv wirkend, im dunkelblauen Hosenanzug, direkt Richie gegenüber. Und ganz in der Ecke an einem kleinen Tisch, auf dem ein Computer stand, eine völlig unscheinbare Frau, die vom Personalchef als Protokollführerin eingesetzt worden war. Sie besaß die Fähigkeit, Wortmeldungen präzise zusammenzufassen und in kürzester Zeit per Tastatur in eine Textdatei zu verwandeln.

Richie hatte ganz am Ende der langen Tafel Platz genommen. Keiner kannte ihn, dennoch dachte jeder der Anwesenden, er würde schon dazugehören und einige der Vorsitzenden müssten ja wissen, wen sie zu der heutigen Veranstaltung eingeladen hatten.

Es lag trotz der geöffneten Fenster ein leichter Geruch von Reinigungsmitteln in der Luft. Die Putzkolonne war erst verspätet eingetroffen und brauchte bis um vierzehn Uhr für ihre Arbeit.

Viel hatte sich seit seiner letzten Teilnahme verändert. Der Raum ähnelte dem in Frankfurt, war nur unwesentlich kleiner. Die Ausstattung entsprach dem modernen Zeitgeschmack. Die Technik hatte Einzug gehalten. Es gab einen Beamer, Monitore, eine große Leinwand am Ende des lang gestreckten Raumes. Von den Mitgliedern des alten Aufsichtsrates lebte seit Jahrzehnten niemand mehr.

Der neue Aufsichtsratsvorsitzende, an dem seine goldfarbene Designerbrille sofort ins Auge fiel, und seine Stellvertreter waren erst seit etwas über zwei Jahren im Amt.

Er begann seine Ansprache mit einer allgemeinen Begrüßung und einer Entschuldigung.

„Wir mussten die heutige Sitzung aufgrund einiger logistischer Probleme kurzfristig nach Berlin verlegen. Die zusätzlichen Kosten können Sie natürlich abrechnen. Wer heute noch in Berlin bleiben möchte, kann dies gerne tun, es wurden dreißig Zimmer im Grandhotel auf den Namen unserer Bank reserviert. Außerdem sind zwei Logen in der Staatsoper gebucht. Wer von Ihnen Mozart Liebhaber ist, wird ganz sicher bei der Inszenierung der Zauberflöte auf seine Kosten kommen. Tickets sind an der Abendkasse hinterlegt. Auf meinen Namen“.

Es gab ein zustimmendes und erfreutes Raunen der Teilnehmer.

Richie dachte: Eigentlich hat sich nicht viel geändert. Mit dem Geld der Anleger wird immer noch großzügig umgegangen. Die logistischen Probleme bestanden darin, dass der Vorsitzende seit drei Wochen ein Verhältnis mit der Chefin des Beratungszentrums, der attraktiven Dame im blauen Hosenanzug, hatte. Durch die Verlegung der Sitzung nach Berlin hatte er endlich die Möglichkeit, eine gesamte Nacht mit ihr zu verbringen. In Frankfurt wäre es wieder bei einer ein- oder zweistündigen Kurzzusammenführung in einem mittelklassigen Hotel geblieben. Spätestens gegen zehn Uhr hätte er sich im ehelichen Haus am Stadtrand einfinden müssen. Nun standen ihm ein wunderbarer Abend in der Oper und eine hoffentlich unvergessliche Nacht mit einer dreißig Jahre jüngeren und von ihm protegierten Frau bevor. Man merkte ihm seine gute Laune bei jedem seiner Worte an. Die Teilnehmer führten dies auf die positiven Jahresbilanzen zurück, die er verkünden konnte.

„Im kommenden Jahr werden wir unseren Aktionären sogar eine Ausschüttung von fünfzig Prozent pro Aktie bieten können. Und wir werden die Kosten weiter senken. Ich dachte an eine Schließung von ungefähr siebzig Filialen und den Abbau von zweitausend Stellen. Der Personalchef ist zurzeit dabei, die Standorte und eine Namensliste von entbehrlichen Mitarbeitern zu erstellen. Wir nehmen natürlich Rücksicht auf soziale Belange der zu entlassenden Mitarbeiter. Frau Lange wird die PR-Abteilung darauf einstellen, dass die Notwendigkeit des Abbaus auch der Bevölkerung vermittelt wird. Unser Ruf ist unser Kapital und darf nicht geschmälert werden. Die während der letzten Sitzung von Dr. Heinz erläuterte Umstellung auf Digitalgeld läuft reibungslos, in vier, fünf Jahren dürfte dieser Prozess zu einem erfolgreichen Abschluss gekommen sein. Unsere Partnerbank in Schweden hat auf diesem Gebiet gute Erfahrungen gemacht, die wir in unser Arbeit berücksichtigen werden.

Darüber hinaus müssen wir uns aber langfristig Gedanken um eine weitere Fusion machen. Viele Volksbanken und Sparkassen werden der internationalen Konkurrenz nicht mehr lange standhalten können, die Eigenkapitaldecke ist einfach zu dünn und selbst für uns wird der Druck der internationalen Banken immer größer. Ich bitte Sie alle, sich bis zur nächsten Zusammenkunft entsprechend ihres Aufgabengebietes und Kenntnisstandes Gedanken um eine mögliche Fusion zu machen und fundierte Vorschläge zu unterbreiten, mit welchem Partner wir die Zukunft am besten meistern können. Und ich möchte Ihnen Mister Martin Brown vorstellen, der für den Finanzbereich von Black Stone verantwortlich ist und uns einige Möglichkeiten der konstruktiven Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Unternehmen erläutern wird.“

Es gab einige Wortmeldungen und Bedenken bezüglich eines erneuten Stellenabbaus. Alle Bedenken wurden aber von einer der beiden älteren Frauen, jene, der man aufgrund ihrer Hornbrille und des altmodischen Kostüms den Lehrerberuf zugetraut hätte und nicht den zweitwichtigsten Posten einer Großbank, mit wenigen, aber gewichtigen Worten zerstreut.

Richie begann, sich zu langweilen. Nur die ins Ohr geflüsterten Bemerkungen zwischen zwei sich nahe stehenden Mitarbeitern erzeugten bei Richie noch einiges Interesse.

Er hörte sich noch den Vortrag des Hedgefondsmanagers an, der den Einstieg der Bank mit zunächst zehn Milliarden Dollar als eine Investition in die Zukunft anpries und die Wettbewerbsvorteile im Detail erläuterte. Als der smarte Mann seine Ausführungen beendet hatte und eine Fragestunde begann, stand Richie leise von seinem Platz auf und verließ ohne Entschuldigung den Raum.

Er dachte an Asmodeus, der sich jetzt vielleicht in einer Spielbank amüsierte, warum sollte er es ihm nicht gleichtun, um Geld ging es dort auch, sicherlich verstärkt durch einen Spaßfaktor. Selbst, wenn sie ihn als den peniblen Buchhalter bezeichneten, wusste er sehr wohl, welchen Lustgewinn man mit Geld erzielen konnte.

4. Kapitel

4. KAPITEL

Er traf seinen Kollegen direkt auf dem Platz vor der Spielbank. Asmodeus hatte sich ebenfalls umgezogen. Cordhemd und Jeans fand er zu gewöhnlich für einen Tempel der Spielsucht und des Geldes. Er trug jetzt einen beigefarbenen legeren Freizeitanzug. Und er hatte sich eine gelbe Krawatte umgebunden. Obwohl Krawatten nicht vorgeschrieben waren. Mit der rechten Hand stützte er sich auf seinen Gehstock.

„Ist deine Bankierssitzung schon zu Ende?“

„Nein, aber zu ermüdend. Ich habe mich verflüchtigt. Es hat sich in den fast einhundert Jahren nicht viel getan, nur dass es jetzt weniger Banken gibt, dafür sogenannte Hedgefonds, die erst nach unserem letzten Besuch erfunden wurden. Sind noch riskanter als die Aktien, die wir 1929 zu Dumpingpreisen verscherbelt haben. Man denkt, die Menschen müssten doch aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, stattdessen vertiefen sie diese. Es gibt bald kein Geld mehr.“

„Wie meinst du das?“

„Nichts zum Anfassen mehr. Keine Münzen, keine Geldscheine. Nur noch Zahlen, die in Maschinen stecken, auf Bildschirmen zu sehen sind.“

„Und wenn diese Maschinen oder Bildschirme streiken, gestört sind, kaputt gehen?“

„Dann sind auch die Zahlen futsch. Alles weg. Keine Schatzkisten mehr, keine versteckten Geldrollen unterm Bett. Aber wer die Maschinen und Bildschirme beherrscht, beherrscht die Welt. Unsere Arbeit wird eigentlich immer leichter.“

„Das muss sich erst noch zeigen. Bisher hat ER uns stets Steine in den Weg gelegt. Ich wundere mich ohnehin, dass wir noch keine Boten getroffen haben.“

„Du weißt doch, er mag uns Steine in den Weg legen, seine eigenen Wege sind unergründlich.

Was ist mit der Spielbank?“

„Ist zwar seit elf Uhr geöffnet, aber alles, was uns interessiert, vor allem Roulette, gibt es erst ab fünf Uhr. In zehn Minuten.“

„Und zweiundzwanzig Sekunden.“

„Du hinkst der Zeit immer hinterher. Deine Sekundenangabe kommt zu spät, sie muss den Zeitraum berücksichtigen, in dem du uns dein Wissen mitteilst.“

„Es gibt gar keine Zeit. Nur den immerwährenden Augenblick. Erst meine Angaben bringen Bewegung ins Spiel. Was hast du in den letzten Stunden getan?“

„Ich war auf einigen Hochzeitsfeiern. Nicht ein Pärchen wurde in der Kirche getraut, alle haben nur die staatliche Beurkundung eingeholt. Und immer mehr Paare leben ohne Trauschein zusammen.“

„Du meinst, es geht zu Ende mit dem heiligen Brimborium der Ehe?“

„Sieht ganz so aus, wenngleich es natürlich regionale Unterschiede geben mag. Alle Hauptstädte haben einen atheistischen Anstrich. Ich werde noch weitere Erkundigungen einholen müssen. Lass uns jetzt lieber Roulette spielen und die Spieler beobachten. Ein Dutzend von ihnen steht schon voller Erregung und Vorfreude an der Tür.“

Tatsächlich gab es eine Gruppe von Männern unterschiedlichsten Alters und Aussehens, die alle rauchten und sich angeregt unterhielten. Über dem gläsernen Portal funkelte der Schriftzug Spielbank Berlin in der Sonne.

Ein Mann in einem völlig schäbigen, verdreckten, früher vielleicht grauen Anzug, näherte sich den beiden seriös wirkenden älteren Männern, wobei Asmodeus diese Bemerkung, er gehöre zu den älteren Männern, strikt von sich gewiesen hätte.

„Bis hierher wurde ich sechsmal von Obdachlosen und Pennern angesprochen. Die Stadt mag sich architektonisch verändert haben, aber weniger Bettler als früher gibt es nicht.“

Richie nickte: „Eher noch mehr. Je reicher eine Stadt oder eine Gesellschaft ist, je mehr Bettler bringt sie hervor. Auch etwas, dass ich schnell gelernt habe.“

Der Mann hielt in der linken Hand das Ende einer schmierigen Leine. Der grauweiß gefleckte Mischlingshund, der sich am Ende der Leine befand, sah genauso heruntergekommen aus wie sein Herrchen. Das Fell war verfilzt und die Schnauze wies rote Flecken auf. Die andere Hand des Bettlers öffnete sich weit und in schlechtem Deutsch flehte er die beiden offenbar gut situierten Männer um einen Euro an.

Richie griente. „Für einen Euro

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 13.10.2024
ISBN: 978-3-7554-8022-8

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