Highway to Hell.
Frank Tenners letzter Fall
28. Kapitel
Ich war pünktlich eine Minute vor zehn in der 27. Etage des beeindruckenden Wolkenkratzers der Warwick-Bank.
Das Vorzimmer mit den beiden hübschen, in meinen Augen etwas zu schlanken, sehr elegant gekleideten Sekretärinnen, hätte mancher Villa in Palm Beach Ehre gemacht. Die farbenfrohen Bilder an den Wänden waren sicher keine Andy-Warhol-Fälschungen. Und die Einrichtung hatten die Besitzer in keinem Möbelkaufhaus erstanden. Wahrscheinlich sollten die Besucher schon beim Betreten des Raumes spüren, dass ihr Geld, mochte es auch anderswo fehlen, hier gut und reichlich angelegt war. Auf der Couch, auf der mich die Brünette platzierte, hätte ich meine Fußballmannschaft aus Abiturtagen unterbringen können. Die beiden Damen schauten hin und wieder möglichst unauffällig zu mir herüber. Ich spielte mit meinem Handy. Um eine Minute vor halb elf hatte ich genug von Backgammon und von der Bittstellerposition.
„Sagen Sie Ihrem Chef, ich könne nicht länger warten, ich hätte noch einen anderen dringenden Termin.“
Die beiden Barbies blickten mehr erstaunt als erschrocken, wahrscheinlich hatte ich eine Premiere eingeleitet. Wer hier wartete, wartete geduldig und bis er an der Reihe war. Oder der Boss ihn lange genug hatte schmoren lassen.
Die Brünette wandte sich mit einem gut einstudierten Lächeln an mich. „Mister Morgan hat noch wichtige Telefongespräche zu führen. Aber ich werde ihn über Ihre Absicht in Kenntnis setzen.“
„Das wäre sehr reizend von Ihnen.“
Meine Ungeduld und mein Auftreten zeigten Erfolg. Zwei Minuten später betrat ich das lichtdurchflutete Büro. Statt einiger Fenster gab es auf drei Seiten riesige, vom Fußboden bis zur Decke reichende Scheiben.
Im Vergleich zu diesem Rundumblick wirkte meine Fensteraussicht in der Detektei wie der Blick aus einem Bullauge eines mittelgroßen Flussdampfers. Gregg Morgan sah meine unverhohlene Bewunderung. Er wirkte heute sehr ruhig und gelassen, die Nervosität des gestrigen Abends war ihm nicht mehr anzumerken.
„Ich liebe Sonne, Licht und Glas.“
„Ich auch. Und Pünktlichkeit. Ich gehöre nicht zu einer gesellschaftlichen Schicht, deren Vertreter man vor den Türen herumlungern lässt.“
„Wenn ich Ihren Anzug sehe, Mister Tenner, bin ich geneigt, Ihnen recht zu geben. Ihren Schneider müssen Sie mir verraten. Einen Detektiv kann man ruhig warten lassen, Sie sehen nicht aus wie ein gewöhnlicher Schnüffler. Ich habe natürlich einige Erkundigungen eingezogen. Sie kommen aus dem Land der Dichter und Denker, haben eine ausgezeichnete Bildung und sind, etwas ungewöhnlich, Detektiv und Schriftsteller. In welcher Eigenschaft sind Sie bei mir? Detektiv oder Schriftsteller? Eintänzer? Oder Erpresser und Geldeintreiber? Wer sind Sie wirklich? Ich darf doch Frank sagen? Aber bevor wir uns unterhalten, übrigens ist dieser Raum abhörsicher, nur zu Ihrer Information und Beruhigung, möchte ich Ihnen natürlich einen Platz anbieten. Vielleicht diesen wundervollen gelben Designersessel? Kostet so viel wie ein Mittelklassewagen. Wie wäre es mit einer Erfrischung? Kann ich Ihnen vielleicht ein Glas Wein einschenken? Ich kenne einige Ihrer Gewohnheiten. Sie lieben Wein.“
„Wohl wahr. Ich liebe Wein. Aber nicht am Morgen. Danke für das Angebot. Alkohol am Morgen schmeckt mir nicht. Ich trinke in den Abendstunden ein oder zwei Gläser Riesling oder auch mal einen guten Weißburgunder, am liebsten Weine aus dem Frankenland, einer Region meiner Heimat.“
„Sie sind Weinspezialist, Frank. Ein Genießer. Das finde ich gut. Mir ist, da bin ich ganz offen und uneitel, die Qualität des Weines vollkommen egal. Wissen Sie, Frank, was das Allerwichtigste im Leben ist?“
Ich wusste es. Mein Großvater hatte mich an seiner Lebensweisheit und Erfahrung teilhaben lassen. Als er einmal einige Gläser Bier zu viel getrunken hatte, öffnete er seine Weisheitsschatulle. „Mein Junge, eines solltest du dir unbedingt hinter die Ohren schreiben und immer beherzigen: Es gibt für einen Mann nur zwei Dinge, die sein Leben entscheidend prägen und die wirklich erstrebenswert sind. Das sind die zwei großen M´s!“
Ich muss etwas ratlos geschaut haben. Obwohl ich das Alphabet kannte. Als ob ich seine Ausführung akustisch nicht richtig verstanden hatte, fragte ich: „Die zwei großen M´s?“
„Ja, mein Sohn. Moos und Möschen.“
Moos und Möschen. Mein Großvater war ein schlauer Mann. Ich reduzierte aber in dieser Situation seine Weisheit auf eines der beiden M`s: „Geld?“
Ralp Morgan lächelte. „Nein. Zumindest nicht zuerst. Am wichtigsten ist ein geregelter Stuhlgang. Ansonsten wird man nervös und konzentriert sich nur noch auf seine eigene Scheiße. Entschuldigung für den vulgären Ausdruck, ich meine auf seine eigene Befindlichkeit. Anstatt lieber auf die Umwelt zu achten. Um Geld, das ganz große Geld zu machen, braucht man gute Nerven. Und die hat man nur bei einem geregelten Stuhlgang. Mein persönliches Geheimrezept für diesen Stuhlgang sind zwei Gläser Chardonnay am Morgen. Ob dieser aus Kalifornien kommt, Südafrika, Australien oder aus Ihrem Heimatland ist mir ziemlich egal. Kaum habe ich die Gläser getrunken, kann ich die Toilette aufsuchen und fühle mich wohl, gereinigt und vermag mich auf die Börsenkurse zu konzentrieren und mein Kapital zu vermehren. Eine einfache Lebensphilosophie, zugegeben, aber sehr realitätsnah und erfolgreich. Ich denke, im nächsten Jahr schaffe ich es unter die Top einhundert der Spitzenverdiener dieser Welt.“
„Gratulation. Das ist doch ein wirkliches Lebensziel. Gut scheißen zu können und die steigenden Zahlen auf dem Konto zu beobachten.“
„Aus Ihrem Sarkasmus entnehme ich, dass Sie einen guten Stuhlgang haben und an ihn keinen einzigen Gedanken verschwenden müssen. Außerdem vermute ich in Ihnen jemanden, der das Geld nicht besonders schätzt. Diese Haltung begegnet mir meist bei Menschen, die genug Geld auf dem Konto haben, um sich leisten zu können, was sie wollen. Wenn Sie einer der vielen Penner wären, die nachts unter einer der Brücken der Stadt kampieren müssen, würden Sie mit mehr Respekt über das wichtigste Zahlungsmittel des Lebens sprechen.“
„Sie irren, ich weiß den Wert des Geldes sehr wohl zu schätzen und ich verachte niemanden, der viel Geld verdient oder verdienen will. Nur, wenn es zum Selbstzweck wird und der Allgemeinheit entzogen und auf Kosten der Gesellschaft gehortet oder gegen sie verwendet wird, bekomme ich Bauchschmerzen und möchte das tun, was Sie jeden Morgen so glücklich macht.“
„Auf Kosten der Allgemeinheit? Sie sind wohl Liberaler oder noch schlimmer, ein Sozialist?“
„Gott bewahre, Mister Morgan. Ich liebe nichts mehr als die individuelle Freiheit. Außerdem bin ich kein Atheist. Das Erste ist mit Sozialismus unvereinbar, das Zweite ihm wesenseigen.
Aber mit Freiheit und Gottesglauben ist ein weiterer Begriff untrennbar verbunden: der der Verantwortung. Damit meine ich soziale Verantwortung. Dieser Begriff scheint für Leute wie Sie ein Fremdwort zu sein.“
„Sie ergreifen doch nicht etwa Partei für den Pöbel, für die hirnlose Masse, der man alles einreden kann?“
„Nein, für die, die ihr Hirn benutzen und dennoch keine Chance haben, es sinnvoll einzusetzen, weil es Leute wie Sie gibt, Mister Morgan, die dies mit unlauteren Methoden verhindern. Die ein Spiel spielen und sich nicht an dessen Regeln halten.“
„Sagen Sie doch Gregg, wir sind in keiner Aufsichtsratssitzung, Frank. Es ist mir eine Freude mit Ihnen zu plaudern. Um Ihnen etwas zu helfen: Es gibt in diesem Spiel nur eine einzige Regel – der Gewinner legt die Regeln im Nachhinein fest und bestimmt den Beginn des nächsten Spiels. Es ist ein Spiel für Übermenschen, nicht für hirnlose Proleten oder für intellektuelle Idealisten wie Sie.“
„Gut Gregg. Sie haben damit selbst die Regeln festgelegt, ich habe Sie verstanden. Es geht ums Gewinnen, der Sieger schreibt rückwärtig die Geschichte des vergangenen Spieles oder aller Spiele.“
„Sagen wir lieber, er schreibt die Interpretation für die Zeitgenossen und die nachfolgenden Generationen vor.“
„Sie wollten wissen, wer ich bin? Eine Frage, die ich mir in den letzten Jahren des Öfteren gestellt habe. Sagen wir es so, ich bin jemand, der versucht, etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Der einen Weg finden will aus einem fast undurchdringlichen Dickicht, gewissermaßen ein philosophischer Schnüffler.“
„Klingt richtig poetisch. Sie sollten Dichter werden.“
„Bin ich, manchmal zumindest. Aber ich bin heute nicht als Poet bei Ihnen, sondern als Wahrheitssucher, egal ob Sie mich als Detektiv ansehen oder nicht. Die Lizenz ist aber echt.“
„Wahrheit? Was ist Wahrheit? Können Sie es mir verraten?“
„Die alte Pontius-Pilatus-Frage, klug und die reale Welt mit ihren komplizierten Strukturen als Grundlage und doch gleichzeitig zynisch und überheblich, die Antwort in der Frage schon negierend und lächerlich machend. Ich muss aber zugeben, diese Frage und die Art, sie zu stellen, passt zu Ihnen.“
„Sie passt zu mir und zur realen Welt. Und Sie? Wollen Sie mir jetzt etwas über die absolute oder göttliche Wahrheit erzählen? Als ob es etwas Feststehendes und Ewiggültiges gäbe? Wahrheiten sind doch nur noch nicht erkannte Irrtümer.“
„Nein. Ich will Ihnen nur etwas erzählen über den Glauben an die Wahrheit und die Notwendigkeit, sie zu suchen. In großen und in kleinen Dingen.
„Lächerlich. Wahrheiten sind nur Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind.“
„Irrtümer. Illusionen. Alte Sprüche. Nietzsche. Höre ich in Ihren Kreisen immer wieder. Scheint der Guru der Mächtigen oder zumindest der Machthungrigen zu sein. Dabei war dieser Dichterphilosoph selbst doch nur ein zorniger, enttäuschter, trauriger Mann, der an Gott und der Welt verzweifelte und doch so gern geglaubt hätte. Wenn Sie schon beim Zitieren sind, möchte ich Ihnen mit Pestalozzi antworten: Wer kein Herz für die Wahrheit hat, dessen Kopf nimmt früher oder später der Teufel. Ihren Kopf scheint er schon längst zu besitzen.“
„Sie könnten Mitglied in unserem Club werden, Ihr Geist ist scharf, pointiert und unterhaltend. Ich wiederhole, die Konversation mit Ihnen bereitet mir große Freude. Allerdings müssen Sie nicht nur einen originellen Geist besitzen, sondern mindestens eine Milliarde Dollar auf Ihrem Konto vorweisen. In wenigen Jahren wird die erforderliche Mindestsumme zehn Milliarden betragen. Die Inflation hinterlässt ihre Spuren und die meisten unseres Clubs sind durch die letzte Krise nicht gerade ärmer geworden, die Ansprüche steigen. Nur die Besten der Besten werden noch Eingang in unseren illustren Kreis finden.“
„Darf ich fragen, ob Sie David Niven gekannt haben, war er Mitglied in Ihrem Kreis?“
„War er. Ein feinsinniger Kopf. Mit ihm habe ich mich gerne unterhalten. Hat sich leider mit den falschen Leuten eingelassen. Kannten Sie ihn auch?“
„Unglücklicherweise. Er hat mir ein Stück meines kleinen Fingers abgeschnitten. Hatte aber nicht viel Erfolg, die moderne Chirurgie war besser.“
„Sie sind ein Scherzbold. Solch trockenen Humor mag ich. Aber Geist allein reicht nicht, um bei uns Mitglied zu werden. Haben Sie die Milliarde, Mister Tenner? Ich denke doch, wohl eher nicht.“
„Nein. Ich denke, Sie haben Erkundigungen eingezogen und kennen meinen Kontostand. Aber ich besaß einmal über einhundert Millionen, kurzzeitig, ich habe sie verschenkt, an Hilfsorganisationen.“
„Dann sind Sie wohl doch nicht an der richtigen Stelle. Wir haben nichts zu verschenken, sondern nur zu gewinnen.“
„Im Augenblick haben Sie einiges zu verlieren.“
„Wir können nicht verlieren, wir haben sozusagen ein Dauerabonnement auf den Sieg.“
„Vielleicht sollten Sie einmal Ihr altes Mitglied Niven fragen, wie man sich als Gewinner fühlt.“
Ich musste bei meinen Worten an das jämmerliche Gestöhne und Gefluche des Jokers denken, bevor ich ihm eine Kugel in den Kopf schoss. Wenn ich den Blick meines Gegenübers richtig deutete, keimte jetzt eine gewisse Feindseligkeit, Verachtung und Wut in seinem Inneren. Ich konnte dies gut verstehen. Und ahnte die Konsequenzen. Meine Chancen, dieses Gebäude heil und gesund wieder zu verlassen, sanken auf ein Niveau, welches unter dem Meeresspiegel lag. Genau genommen befanden sie sich auf Höhe des Marianengrabens. Tiefer ging es nicht. Aber ich war nicht bereit, klein beizugeben. Immerhin konnte ich gut tauchen, obwohl mir dies ohne Wasser nicht viel nützen würde und an eine Überschwemmung des Raumes oder eine allgemeine Sintflut war wohl in absehbarer Zeit nicht zu denken. Obwohl die Menschheit langsam beginnen sollte, eine neue Arche Noah zu bauen. Egal, ich hatte meine Lignose am rechten Unterarm. Diese kleine Einhandpistole hatte ich regelrecht lieb gewonnen. Ich nahm sie zwar nicht mit ins Bett, aber einen festen Platz auf dem Nachttisch hatte sie sich erobert. Sie hatte sich diesen Ehrenplatz redlich verdient. Wenngleich nicht alle Personen, die durch die Striche symbolisiert wurden, und das Zeitliche gesegnet oder zumindest verlassen hatten, auf ihr Konto gingen. Aber ich wollte doch zumindest den Überblick behalten. Sie würde mir auch diesmal gute Dienste leisten. Und nicht nur als Tagebuch und Erinnerungsstütze.
„Lassen Sie uns zu Ihrem Anliegen kommen. Sie haben einen Mitschnitt, von dem Sie glauben, er könne mir und meinen Freunden schaden?“
„Alles zu seiner Zeit. Verraten Sie mir zunächst, wie Ihre Interpretation der letzten Finanzkrise lautet?“
„Sie wollen etwas lernen? Gut. Einige gierige Manager haben, um Boni zu verdienen, ohne auf Sicherheiten zu achten oder die Risiken einzukalkulieren, Kredite vergeben. Und haben der Regierung damit in die Karten gespielt, die dem einfachen amerikanischen Mann sein eigenes Haus versprochen hatte. Die Anhäufung vieler Milliarden nicht abgesicherter, vor allem von Immobilienkrediten, führte zu einem Zusammenbruch des Kreditmarktes und mit ihm verbundener Finanztransaktionen.“
„Einleuchtend. Und partiell richtig. Aber jetzt gebe ich Ihnen meine Interpretation, die auf Tatsachen und vor allem auf den von Ihnen angesprochenen Mitschnitten beruht und genau auf die Wahrheit zielt, die Sie als eine bloße Fiktion bezeichnen: Sie und einige Ihrer einflussreichen Freunde haben die genannte Situation genutzt, um Hunderte konkurrierender Banken loszuwerden, inzwischen über dreihundert, sie in den Konkurs zu treiben oder zu übernehmen. Zweitens haben Sie den Aktienmarkt manipuliert und den Leitzins gedrückt, um Ihre Gewinne ins Unermessliche zu steigern. Außerdem wollten Sie Ihren Partnern oder den Mitgliedern Ihres Clubs im Ausland, vor allem denen in Kanada, Zugang zum amerikanischen Markt verschaffen und Gelegenheit geben, wichtige Bankinstitute zu übernehmen. Des Weiteren haben Sie Ihren Bankfreunden in der Schweiz einige Milliarden zusätzlicher Einnahmen verschafft, auf Kosten der amerikanischen Steuerzahler. Und last, but not least haben Sie es geschafft, den Staat und seine Kassen zur Absicherung Ihrer mehr oder wenigen riskanten Geschäfte zu benutzten, besser – auszunutzen, insbesondere bei Bankverschreibungen.“
„Bravo, Mister Tenner. Wenn die Penner unter den Brücken, die bezahlten Politclowns in den Regierungen und die meisten Investoren Ihren Verstand besäßen, würde das Leben und das Geldverdienen für uns sicher schwieriger werden. Aber Sie sind ein Einzelgänger. Und die wirkliche Dimension unseres Handelns haben selbst Sie nicht annähernd begriffen. Wir bestimmen, in welche Richtung sich die Welt dreht. Wir bestimmen, wer vier Jahre lang oder auch acht den Präsidenten spielen darf. Wir bestimmen, was mit dem Geld auf diesem Globus passiert. Wie immer es läuft, selbst wenn es schlecht läuft, läuft es für uns gut. Zweiundzwanzig Billionen Dollar Schulden hat die USA. Hört sich viel an, aber überlegen Sie Mister Tenner, in den kommenden Jahren wird der Nominalwert aller ausstehenden OTC-Derivate-Verträge ein Vielfaches dieser Summe erreichen. Lassen Sie sich diese Tatsache durch den klugen Kopf gehen. Alle haben Angst vor einer verstärkten Sonneneruption, Explosionen auf der Sonne, die Auswirkungen auf unseren Globus haben werden. Die sind nur ein Wetterleuchten im Vergleich zu den Folgen einer wirklichen Finanzexplosion. Wenn die Kontrakte platzen, platzt der Planet. Die sogenannte Finanzkrise 2008 war nichts weiter als eine kleine Geldvernichtungs- und Geldumverteilungsaktion, wenngleich die größte in der bisherigen Geschichte. Sie haben recht, natürlich mussten wir endlich einmal durchgreifen, um einige lästige Konkurrenten zu entsorgen und die Staaten einzubeziehen, um mehr Geld zu verdienen und um mehr Macht zu bekommen. Aber es ist der Grundtrieb des Lebens, dem wir folgen. Wir sind der Beweis des Darwinschen Entwicklungsprinzips. Wir haben dieses Prinzip nicht geschaffen. Wir akzeptieren es nur und ziehen unseren Nutzen daraus. Man kann sich dagegen stellen. Aber der Preis ist der Untergang. Sie sind doch Deutscher. Da sollten Sie sich mit verlorenen Kriegen auskennen. Wollen Sie nicht endlich einmal zu den Siegern gehören, an einem Krieg teilnehmen, den Sie mit unserer Hilfe gewinnen können?“
„Es kommt nicht darauf an, zu den Siegern zu gehören, sondern zu denen, die für die Gerechtigkeit eintreten. Manchmal gewinnen auf lange Sicht die, die durchhalten und nicht kapitulieren. Denken Sie nur an die Seminolen.“
„Diese Säufer, Spieler und Schrottsammler? Schöner Sieg. Und militärische Siege sind ohnehin nur von begrenztem Wert. Sehen Sie sich das Empire an. Das größte Weltreich, das je existierte. Großbritannien hat die Weltkriege und viele kleinere Kriege gewonnen. Und? Was ist das Ergebnis? Ein kleines Land mit einer großen Vergangenheit. Und nutzlosen Erinnerungen. Ihr Land hat die Kriege verloren und ist dennoch obenauf. Weil Sie eine gute Wirtschaft haben und Bankiers, die anderen das Geld aus der Tasche gezogen haben. Aber auch die Wirtschaft ist veränderbar. Glauben Sie denn, dass in Ihrem Land die Leute, die sich heute gegen die Kernenergie stellen, in einigen Jahren noch eine Mehrheit haben werden oder eine Regierung, die ihre Argumente erhört, wenn die herkömmlichen Rohstoffe und Energien verbraucht sind? Oder die Energiepreise unerschwinglich werden? Wenn es ans Eingemachte geht und der Wohlstand immer kleiner wird, wenn selbst die Penner unter der Brücke morgens sich nicht mehr ihr Frühstück an irgendwelchen Suppenküchen abholen können? Oder im Winter keine Energie mehr zum Heizen zur Verfügung steht? Nein. Wenn Sie Ihre verschenkten Millionen wiederhaben wollen, kaufen Sie Aktien der Energieanbieter, das Klima verspricht unendlichen Profit. Oder erwerben Sie Aktien der Pharmaindustrie oder der Rüstung. In zwanzig Jahren können Sie dann unserem Club beitreten. In wenigen Jahren beginnen die wirklichen Verteilungs- und Überlebenskämpfe. Wir mischen die Karten neu.
Wir werden die neue Weltordnung kreieren und dies im Sinne des Fortschritts oder besser im Interesse der Erhaltung der menschlichen Rasse oder zumindest ihrer besten Vertreter. Sie müssen es realistisch sehen: Die ganze Welt ist nur ein Spiel. Und ein Global-Banker hat quasi die Position des Quarterbacks inne, ist Spielgestalter und Kopf des Spiels. Früher war das sicher anders. Ein guter Bankier musste ein guter Buchhalter, aber nicht unbedingt kreativ oder risikobereit sein, nur pünktlich und korrekt und gut rechnen können. Aber die Zeiten haben sich grundlegend geändert. Seit der Aufhebung der Regulierung der Kreditinstitute 1982 hat sich das Bankenwesen verwandelt und mit der Aufhebung des Trennbankengesetzes 1999, dank der Clinton-Mannschaft, wurde es zum härtesten Spiel der Welt. Wer in diesem Haifischbecken überleben will, in dem es nicht mehr um Millionen und Milliarden, sondern um Billionen geht, der muss einfallsreich sein. Wer gar erfolgreich mitspielen will, darf sich nicht an Gesetze und Regeln halten. Das einzige Gesetz in dieser Branche lautet: Es gibt kein Gesetz für die Big Player. Big Player sind freie Menschen und wie Ihr großer Philosoph, den Sie leider wohl nicht genug schätzen, einmal schrieb: Der freie Mensch ist immer unsittlich! Ich weiß, es mag im herkömmlichen Sinne unmoralisch sein, aber ohne Bestechung von Regierungsbeamten, denken Sie an die Riggs Bank, das Waschen von Drogengeldern, Stichwort Citibank, oder die Beeinflussung der Rating Agenturen, denken Sie an die Einschätzung von Lehman Brothers vier Wochen vor dem Crash, oder Wetten auf den Verlust und Untergang, wie Kelly Buss sie abgeschlossen hat und damit Milliarden verdiente, könnten sie das Spielfeld verlassen, bevor überhaupt der Anpfiff erfolgte. Gewinnen kann man nur, wenn man schnell und skrupellos ist, bereit, Schmerzen zu ertragen und vor allem anderen Schmerzen zuzufügen. Kennen Sie den einzig wirklich guten Bond Film, der nicht einmal als echter Bond-Film in die Annalen der Filmgeschichte eingegangen ist! Sag niemals nie? Ja? Erinnern Sie sich an die Szene, in der Bond gegen Maximilian Largo Domination spielt? Einsatz: die Welt. Virtuelle Waffen aller Art zur Zerstörung und zur Verteidigung und mit jedem eigenen Fehlschuss oder einer unzureichenden Verteidigung erhalten die beiden Spieler echte Stromschläge, die sogar zum Tode führen können. Aber der Einsatz ist das Risiko Wert: die gesamte Welt. Die Globalisierung der Menschheit. Alles nur mit Hilfe von virtuellen Zahlen.“
„Sie meinen, die meisten Menschen werden immer ärmer und einige Big Player immer reicher?“
„Sie sind doch Sozialist! Was interessieren denn Milliarden von Proleten, Hungerleidern und Brückenschläfern, die Welt kann diese Massen ohnehin nicht mehr tragen. Regulierung der Weltbevölkerung im Sinne des Überlebens unseres schönen Planeten und derer, die diesen Planeten verdient haben, weil sie etwas für seine Weiterexistenz tun. Genau dies ist das erstrebenswerte Ziel. Dafür wirken wir. Eine neue, vernünftige Weltordnung.“
Ich war von diesen Ausführungen nicht sonderlich überrascht. Die Banksters machten ihrem negativen Ruf alle Ehre. Eigentlich übertrafen sie ihn noch um etliche Hedgefonds.
„Vielleicht ist das, was Sie bewirken, aber nur ein neues Chaos?“
Gregg lehnte sich in seinem hohen Sessel zurück. „Um noch einmal Ihren so klugen Landsmann zu zitieren, dessen wichtigste Erkenntnisse in unserem Club auf einer riesigen Bronzetafel im Eingangsportal verewigt sind: Der Gesamtcharakter der Welt ist in alle Ewigkeit Chaos.
Auch hier gilt: Wir erschaffen das Chaos nicht, wir nutzen und verändern es nur in unserem Sinne. Es gibt für unsere Mitglieder eine Trinitätsformel der Gewinn- und Machtsteigerung: EKC. Die Buchstaben stehen für: Erschütterung, Krise und Chaos. Was glauben Sie denn, Mister Tenner, wer die Geschichte schreibt? Irgendein Gott? Ein imaginäres Schicksal? Oder die Regierungschefs der großen Staaten? Nein, ganz sicher nicht. Wir machen die Geschichte. Wir allein. Wir organisieren Kriege, wenn es sein muss und unseren Interessen dient. Wir schieben die Milliarden dahin, wohin wir sie haben wollen. Und sie verwandeln sich in Armeen, Waffen, in Häuser, Städte, Straßen, in Aufbauprogramme, Nahrungsmittel oder - in Hunger und Ruinen. Staaten, Regierungen, Nationalitäten, Religionen. Alles nur kleinkarierter Quatsch. Geld ist universal. Allmächtig. Der einzig wahre Gott.“
„Vielleicht werden Sie eines Tages wie König Midas den wahren Gott um die Erlösung von diesem falschen Gott anflehen müssen.“
„Es gibt keinen Gott in dem Sinne, wie Sie es meinen. Und wenn es einen gäbe, würde ich - um noch einmal meinen Lieblingsphilosophen zu zitieren – nur an ihn glauben, wenn er zu tanzen verstünde.
„Vermutlich würden Sie zusammen mit ihm um das goldene Kalb herumtanzen?“
„Das ist ein origineller Gedanke. Ich mag euch Deutsche, ihr seid so geistreich. Zusammen mit Gott um das goldene Kalb tanzen? Sie haben wirklich Humor. Allerdings keinen Sinn für Realitäten.“
„Sie sind nicht der Erste, der mir das sagt. Den Humor brauche ich, um diese Realität ertragen zu können und den Sinn für diese nicht zu verlieren. Und mir ist in dieser intoleranten Zeit auch bewusst geworden: Verschwindet der Humor, kehrt das Mittelalter zurück.“
„Dieses ist spätestens mit dem Internet ganz sicher für immer verschwunden. Damit haben wir eine neue Dimension der Machtsteigerung erreicht. Die Guten können die Welt nicht nur erobern, sondern nach ihren Vorstellungen planen.“
„Alle Achtung. Sie überraschen mich immer wieder. Sie glauben wirklich, Sie seien einer der Guten?“
„Absolut. Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse. Und der Inhalt der Begriffe gut und schlecht oder böse sind nur eine Frage der Definition. Haben Sie mich mal die modernen Actionfilme und Krimis angesehen? Es gibt keine im klassischen Sinne Guten mehr. Klar, in der Wirklichkeit hat es nie die Guten gegeben, aber wenigstens in ihren Filmen und Büchern haben die Menschen ihre aufrechten Helden gehabt. Und heute? Alles nur gebrochene Helden, bipolar, vom Geist des Bösen angehaucht. Oder dem Zeitgeist entsprechend divers. Wissen Sie, was ich Ihnen damit sagen will? Selbst in der Fantasie gibt es diese Guten, wie Sie sie sich vorstellen oder erträumen, nicht mehr. Weil selbst die Filme, die Literatur, die Kunst sich der Wirklichkeit beugen müssen. Ich definiere gut als lebenssteigernd, schlecht als absterbend, dem Untergang geweiht und böse als dem Mob nicht verständlich und Angst einflößend. Nicht mehr und nicht weniger.“
„Haben Sie auch eigene Ideen und Maximen oder haben Sie sich alles aus den Büchern anderer Denker geklaut?“
Mir fiel ein Spruch meines Großvaters ein, den ich immer für sehr zynisch hielt, nicht meinen Großvater, der eher ein Satiriker war, sondern diesen speziellen Spruch: Manche Menschen werden erst zu einer Bereicherung für unsere Erde, wenn sie beginnen, sich in solche zu verwandeln.
Jetzt begriff ich, wie der Spruch gemeint war: nicht zynisch, nicht einmal satirisch, sondern er stellte eine nüchterne, reale Einschätzung von Menschen dar, die in ihrer ursprünglichen Daseinsform der Erde nur Schaden zufügten und erst nach ihrer Verwandlung einen gewissen, wenngleich nur sehr kleinen allgemeinen Nutzen brachten.
„Sie haben sich selbst mit Ihren Entscheidungen und Handlungen geschadet. Es dürfte nicht förderlich sein, wenn die breite Öffentlichkeit erfährt, dass die Krise, die der Welt einige Billionen gekostet hat, quasi ein Komplott einiger besonders gieriger Bankster oder selbst ernannter Weltenlenker war. Und, was für Sie noch unangenehmer sein dürfte, einige der Leute, die Sie übers Ohr gehauen haben, werden darüber nicht sehr erfreut sein.“
„Sie meinen den Mann mit dem schönen Spitznamen Gorilla? Unsinn. Die Lehman-Manager sind reichlich versorgt. Keiner unserer Konkurrenten muss an der Suppenküche anstehen. Einige sind von Milliardären zu Millionären geworden. Aber sie können immer noch ihre Angestellten bezahlen und einige haben zwar ihren Posten verloren, aber besitzen mehr Geld als vorher.“
„Die Beteiligung von hohen Regierungsvertretern bei Ihrem abgekarteten Spiel wird sicher auch manchen Journalisten oder Staatsanwalt auf den Plan rufen. Und es wird einige Staatslenker geben, die Ihrem Spiel nicht gerade tatenlos zusehen werden.“
„Glauben Sie? Naiv. Gaddafi war damals auch nicht entzückt, als er erfuhr, dass wir ihm anderthalb Milliarden seiner schönen Dollar weggenommen haben. Ein Telefonat mit dem Präsidenten genügte und das System in Libyen war in wenigen Monaten dank unserer ausgezeichneten Truppen nur noch Geschichte. Es gibt keinen Gaddafi mehr. Unsere französischen Freunde waren uns sogar dankbar für die Rettung ihrer Milliarden, die dieser Schlawiner Gaddafi von Frankreich nach Asien transferieren wollte. Wenn interessiert heute noch der Schnee von gestern?
Aber genug der Worte. So sehr ich eine gute Unterhaltung schätze. Kommen wir zu dem eigentlichen Anliegen Ihres Besuches. Auch wenn Sie mit den Aufnahmen weniger anfangen können, als Sie vielleicht glauben, will ich nicht kleinlich sein und uns, vor allem Ihnen, Ärger ersparen. Was wollen Sie für die Mitschnitte haben? Ich werde nicht feilschen. Jeder Mensch hat seinen Preis, nur die Höhe variiert.“
„Mit zwanzig oder sogar noch mit einundzwanzig hätten Sie mich vielleicht kaufen können. Jugendliche Naivität und der Wunsch, sich alles leisten zu können waren groß. Aber inzwischen bin ich unbezahlbar geworden. Auch für Sie. Ich will Ihr Geld nicht. Nicht einmal einen Sack voller Gold. Sie haben mich nach dem Bond-Film gefragt, vielleicht kennen Sie einen anderen Streifen? Rendezvous mit Joe Black? Nein? Sollten Sie sich ansehen, eine romantische Komödie mit Tiefgang. Der Tod in Menschengestalt auf der Erde. Als der Mann, den er eigentlich holen soll, ihm Dollarscheine gibt und fragt, ob er wisse, was Geld sei, antwortet dieser: Das ist das, womit man sich kein Glück kaufen kann. So einfach und banal ist das Leben: Sie können sich mit Ihren Millionen und Milliarden und bald Billionen alles kaufen, nur nicht das, worauf es ankommt. Warum sollte ich mich also bestechen lassen? Die Videodateien sind unverkäuflich. Vielleicht werde ich sie verschenken. An unbestechliche Mitarbeiter des Schatzamtes oder an Chefredakteure und Enthüllungsjournalisten. Ich will die Wahrheit, die angeblich nur eine Illusion oder ein Irrtum ist. Vielleicht habe ich noch zu viele von den alten Filmen gesehen, als gut und böse noch klar zu unterscheiden waren. Ich habe nicht die Hoffnung, alle großen Halunken bestrafen zu können. Aber wenigstens hin und wieder sollten nicht nur die Kleinen gehängt werden. Sonst geht der Glauben an die Gerechtigkeit völlig verloren. Ich will einen Fall aufklären. Vielleicht naiv, größenwahnsinnig und realitätsfremd, aber verdammt ernst gemeint. Jenseits allen intellektuellen Geschwätzes. Eine klare, einfache Frage: Haben Sie einen Mörder beauftragt, Ihren Vizepräsidenten zu ermorden?“
„Meinen Sie ernsthaft, ich würde es Ihnen sagen, wenn ich es getan hätte?“
„Ich denke, Sie haben ein Dauerabonnement fürs Gewinnen und brauchen niemanden zu fürchten?“
„Muss ich auch nicht. Die Welt ist ein großes Spiel und ich spiele gerne mit. Aber ich bin nicht größenwahnsinnig. Dan hat, soweit mir bekannt ist, Selbstmord begangen, das ist Mord, aber einer, bei dem sie den Mörder nicht mehr bestrafen können.“
„Es war kein Suizid. Dafür gibt es inzwischen mehrere triftige Anhaltspunkte. Sie haben eine Woche vor dem Tode Dans dem Chef eines Ihrer Sicherheitsdienste und zwielichtigem Mädchen für alles, fünfhunderttausend Dollar auf sein Konto überwiesen. Vermutlich, um den Mord planen und bezahlen zu können. Er hat jedenfalls kurz darauf einen Killer engagiert, der ihn inzwischen identifiziert hat.“
„Das sollen Beweise oder Indizien sein? Ich habe Geld überwiesen? Ich hebe an manchen Tagen fünf oder sechshundert Tausend Dollar ab oder lassen sie überweisen. Singer hat seit über zehn Jahren eine gute Arbeit geleistet und sich einen Sonderbonus verdient. Falls es Ihnen entgangen sein sollte, Sie haben es mit einem Milliardär zu tun, der mit seinem Geld tun kann, was er will. Was ein gedungener Killer für Beschuldigungen erhebt, ist völlig unerheblich.“
„Das wird der Staatsanwalt entscheiden. Immerhin gibt es einen Zusammenhang, den selbst ein Blinder sehen würde. Die Dateien sind ein gutes Motiv für einen Mordauftrag. Und einen Bonus von einer halben Million an einen simplen Sicherheitsbeauftragten zu überweisen, ist auch nicht rational nachvollziehbar. Nicht zu vergessen, der Ursprung des Geldes, eine Überweisung von einem Ihrem Privatkonten, keinem Firmenkonto. Die Hälfte des Geldes wird von Ihrem Bluthund sofort in bar abgehoben? Um sich einen schönen Tag zu machen? Kein Beweis, aber den brauche ich nicht. Mir reicht die Wahrheit. Die erschließt sich mitunter ganz spontan, wie eine Erleuchtung. Und diese Wahrheit wird mich vielleicht nicht freimachen, wie der Apostel Johannes behauptete, aber doch etwas glücklicher. Leisten Sie Ihren Beitrag zu meinem Glück.“
„Ich habe diesem Gespräch zugestimmt, weil Sie mein Interesse geweckt haben. Aber ich habe nicht gewusst, dass Sie verrückt sind, Mister Tenner. Sie sollten keine Detektivlizenz besitzen. Ich dachte, wir könnten wie vernünftige Menschen miteinander verhandeln. Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Sie sind ein Nichts, ein Looser, ein Größenwahnsinniger, ein schnüffelnder Spinner, der die Welt ändern will.“
Ich schüttelte den Kopf. „Sie irren. Die Welt hätte ich vor fünfundzwanzig Jahren ändern wollen. Diesen Idealismus habe ich längst verloren. Aber ich habe den vielleicht auch etwas verwegenen und utopischen Wunsch, sie zu erhalten. Dazu muss man Leuten Ihres Schlages auch mal ihr schmutziges Handwerk legen.“
„So viel Naivität bei Ihrer Intelligenz hätte ich nicht erwartet. Ich besitze Milliarden. Und damit wirkliche Macht. Sie sind im Verhältnis dazu, eine unbedeutende Null.“
„Nun, wo wären wir, wenn die Inder nicht die Null erfunden hätten? Die vielleicht wichtigste Zahl von allen. Ich besitze einige Freunde, aber die sind mehr wert als irgendwelche Ziffern auf Bankcomputern. Sie sind mein Reichtum und meine Macht. Ein einziger Algorithmus würde ausreichen, um all Ihre schönen Ziffern zu vernichten, sie würden sich in Nullen verwandeln. Aber meine Freunde sind echt, aus Fleisch und Blut, mit Gehirnen und Herzen ausgestattet, sie haben im Unterschied zu Ihren Festplatten Seelen. Was Ihr geliebtes Geld anbelangt, kann ich tatsächlich nicht mithalten, ich besitze im Augenblick nicht einmal eine einzige Million. Ich kratze immer nur daran, wage aber nie, diese magische Zahl ganz zu erreichen oder zu überschreiten. Das hängt mit meiner Erziehung zusammen. Geld muss redlich verdient werden, sagte mein Vater, wer Millionen hat, ist entweder Lottogewinner oder Mafiosi. Sie spielen bestimmt kein Lotto. Natürlich muss angesichts der Inflation die Aussage meines Vaters um einige Nullen erweitert werden. Aber ich habe immer noch das Wort „Million“ im Ohr, deshalb bleibe ich lieber kurz davor. Sie können vielleicht mit Ihrem Geld Söldner kaufen, aber keine Freunde. Wissen Sie, woran das mächtige Römische Reich zerbrochen ist? Es gab keine Bauern mehr, die Soldaten wurden. Keine echten Römer mehr, die für ihr Land kämpften, nur Söldner, denen es nicht um Ehre, Vaterland oder Gerechtigkeit ging, sondern um einen möglichst prallen Geldbeutel. Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing. Ich habe keine gute Stimme, deshalb verzichte ich lieber auf Gesangsproben. Mich interessieren Ihre Millionen und Milliarden nicht, genauso wenig wie Ihre Söldner oder Ihre Drohungen.“
„Ich habe mich bei einigen Erfolgen, die ich erringen konnte, zugegebener Maßen auch nicht ganz vom Größenwahn fernhalten können, aber Sie übertreffen mich bei Weitem, Mister Tenner. So unterhaltsam das Gespräch mit Ihnen auch war und egal, welch schöne Geschichten aus ihrer Jugendzeit Sie mir erzählen oder welche Maximen Sie mir verkaufen wollen, ich werde mich darum kümmern, dass man Sie und Ihre Leute aus dem Verkehr zieht.“
„Soll dies eine Drohung sein? Ich muss zugeben, ich fange schon an zu zittern. Ob ich eine Lizenz besitze oder nicht, ist weder für meine Börse von Bedeutung noch für mein Engagement in diesem Fall. Am Ende meiner Spurensuche wird die Wahrheit stehen. Und dies ist keine Drohung, Mister Morgan, sondern ein simples Versprechen. Ihr Mister Singer wird, um der Giftspritze zu entgehen, ganz sicher auf alle Loyalität und Treue einen großen Haufen legen. Einen, wie Sie ihn jeden Morgen herbeisehnen. Dieser Singer wird singen, er wird Sie und Ihre Kumpane gerne opfern.“
„Es wäre nett, wenn Sie mich jetzt verlassen würden, ansonsten werde ich Sie von meinen Leuten entfernen lassen.“
„Ich gehöre nicht nur zu einer Schicht, die man nicht vor den Türen herumlungern, sondern auch zu einer, die sich nicht einfach vor die Tür setzen lässt!“
Er zuckte mitleidig und verächtlich mit den Schultern und drückte auf einen Knopf, der sich an seinem Schreibtisch befand. „Sie glauben gar nicht, was ich alles kann.“
Bereits zehn Sekunden später stand ein Herr in der Tür, dessen Anblick auch einem Hulk Hogan eine Gänsehaut beschert hätte. Der Stoff seines Anzuges hätte wahrscheinlich zur Herstellung eines mittelgroßen Zirkuszeltes ausgereicht. Ich war mir über den Unterschied zwischen Erscheinung und Wesen durchaus im Klaren. Aber ganz sicher waren in diesem Fall beide identisch. Ich hätte nicht nur meine Hand, sondern gleich alle Gliedmaßen einschließlich meines wichtigsten für diese Behauptung ins Feuer gelegt. Der Kerl hatte eine flache Stirn, wulstige Lippen, eine dicke tiefrote Nase und einen kurzen Hals, dies in harmonischer Synthese mit den schmalen Augen. Ich kam zu einem Urteil, das auf einem reichen Erfahrungsschatz basierte: Dieser Typ würde auch durch jahrelanges kontinuierliches Kiffen seinen IQ nicht mehr senken können. Er würde nicht nur keinen Preis bei einem Intelligenzwettbewerb gewinnen können, nein, diesen Typen würde man nicht einmal bei einem solchen Wettbewerb die Zulassung erteilen. Aber bei einem anderen Wettbewerb hätte er wohl Erfolgsaussichten: seinen Mitmenschen, in möglichst kurzer Zeit die größte Anzahl von Knochen zu brechen.
Mein kleiner linker Finger begann wieder einmal zu schmerzen. Ich wollte ihn nicht noch einmal verlieren. Und meine Nase war mir schon als Vierzehnjähriger bei einem Schulboxkampf gebrochen worden, mit sichtbaren Langzeitfolgen, ich brauchte keinen Wiederholungskampf. Ich muss zugeben, mein Herzschlag verdoppelte sich in kürzester Zeit. Trotz meiner großspurigen Worte hatte ich kein gutes Gefühl in der Magengegend, und wenn ich nicht aufpasste, würde der Gorilla dafür sorgen, dass ich meine Nahrung in Zukunft per Strohhalm oder Ernährungsschlauch zu mir nehmen musste. Ich hatte Angst, auch wenn ich dies Joanne und meinen Mitarbeitern gegenüber nie zugegeben hätte. Aber zum einen hatte mein Verhalten einen Sinn gehabt, arrogante Menschen wie Gregg Morgan konnte man nur beeindrucken, wenn man sie an Arroganz überbot. Er musste einsehen, es nicht mit einem Schmalspurschnüffler oder einem bestechlichen Dade-Streifenpolizisten zu tun zu haben. Er musste an ernst zunehmende Gegenspieler glauben. Und er sollte dazu verleitet werden, unvorsichtige Spielzüge zu machen.
Zum anderen hatte ich zwar Angst, aber wo andere beim Spiel noch ein Ass im Ärmel hatten, hatte ich ja meine geliebte Lignose. Seit der technischen Revolution war es ratsamer, im Kampf Mensch gegen Maschine auf die Maschine zu setzen. Oder im Kampf Muskelkraft gegen Sprengprojektile auf die Projektile. Ein Gewichtheber konnte vielleicht ein Gewicht von 242,5 kg heben, eine tolle Leistung, aber ein Kran schaffte 18 Tonnen. Ein fernöstlicher Großmeister konnte seine Hand mit einer Kraft von einer Tonne auf einen Ziegelstein auftreffen lassen. Ein Geschoss aus meiner Pistole würde vielleicht nicht genug Energie besitzen, um den Stein zu durchschlagen, aber den riesigen Bauch aus Fett, Muskeln, Blut und viel Wasser würde es ganz sicher durchdringen, zumal ich Spezialmunition im Magazin hatte. Verboten, aber sehr wirkungsvoll. Meine Angst war also begründet, aber dank der modernen Technik und meiner Fähigkeit, mit dieser umzugehen, beherrschbar. Ich war in den letzten Jahren zu einem Waffenliebhaber geworden. Nicht, weil ich gerne auf Menschen schoss, sondern, weil Waffen große Vorteile mit sich brachten: Sie ersparten einem viel an Lebenszeit, die man ansonsten durch langatmige und unnütze Diskussionen mit Idioten verloren hätte und sie hielten das Budget für Zahnersatz in überschaubaren Grenzen.
Der smarte Gregg gab seinem Golem ein Zeichen und meinte mit einem süffisanten Lächeln: „Los Charles, setz ihn vor die Tür! Und nimm keine Rücksicht auf seinen Anzug oder seine Gesundheit! Und durchsuche ihn gründlich, er hat bestimmt ein Aufzeichnungsgerät bei sich!“
Der Riese wollte meinen Arm packen, den hatte ich aber schon blitzschnell nach oben gerissen und meine Lignose in der Hand. Dem Blick konnte ich entnehmen, dass - wie schon bei anderen Vorstellungen - mein Zaubertrick seine Wirkung nicht verfehlt hatte.
„Hinlegen! Arme und Beine weit vom Körper spreizen!“
Er wusste bei seinem fehlenden IQ offenbar nicht, wie er reagieren sollte. Er schaute ratlos zu seinem Anführer. Ich wollte seine Entscheidung in Richtung Überleben beeinflussen.
„Meine Pistole enthält vier Sprenggeschosse, ich brauche für dich nur ein einziges Projektil. Auf fünf Meter Entfernung kann ich einer Fliege ein Auge ausschießen. Es wäre also besser für die Unversehrtheit deines Kopfes, wenn du meiner Aufforderung nachkommen würdest!“
Ich hatte natürlich gelogen, ich hatte noch nie auf eine Fliege geschossen. Was das Tierreich anbelangte, vermochte ich nicht einmal der berühmten, so oft zitierten Fliege etwas anzutun. Bei der Welt der Zweibeiner war ich aber weniger rücksichtsvoll. Im letzten Jahr hatte ich auf vier Meter Entfernung ins Auge des Sekretärs von Richter Fullham getroffen. Darauf war ich nicht stolz, auf einer Scheibe wäre das höchstens eine Neun gewesen. Eigentlich hatte ich die Stirn anvisiert. Der Schuss hatte mein Leben gerettet, im Bündnis mit meinem Cabbalero-Hemd. Die Geschichte wollte ich an dieser Stelle nicht vortragen, dies hätte etwas angeberisch gewirkt, deshalb beließ ich es bei dem Verweis auf die Fliege und ihr Auge. Dieser Verweis tat nun auch seine sichtbare Wirkung. Der Gorilla legte sich, wenngleich etwas zögerlich, auf die hübsche hellbraune Auslegware und streckte seine Gliedmaßen weit von sich. Ich liebte Waffen, ohne meine Lignose wäre ich bestimmt in einem eher desolaten Zustand in meinem Apartment angelangt und hätte mich von Joanne pflegerisch versorgen lassen müssen, anstatt ihr zu geben, was ihr nach einem solchen Tag der Trennung zustand. Ich würde den starken, coolen und liebeshungrigen Apartmentmitbewohner demonstrieren können.
„Und Sie, lieber Mister Morgan, überlegen sich noch einmal in Ruhe, ob es nicht besser wäre, ihren Sicherheitschef ans Messer zu liefern, mit einer halbwegs plausiblen Geschichte, als selbst vor Gericht zu wandern oder anderweitig Scherereien zu bekommen. Vielleicht von Ihren Freunden von der SCAN.“
Die linke Augenbraue zuckte. Nur kurz und doch verräterisch.
„Sie werden sterben, Mister Tenner. Ich gebe Ihnen darauf mein Wort.“
Ich hatte wieder einmal eines meiner Déjà-vus. Genau diese Worte hatte ich im vergangenen Jahr mit Richter Fullham gewechselt, bevor dieser sich - als letzte Geste der Ehrerbietung gegenüber der schönen Erde - den Lauf seines Jagdgewehres in den Mund steckte und dann abdrückte. Was ich zum Glück nur hören, aber nicht mit ansehen musste. Ich mochte kein Blut. Und vor allem keine Gehirnteilchen auf meinem maßgeschneiderten Sakko aus feinstem Garn.
Lag es an mir oder an der begrenzten Kreativität der Bösen? Vielleicht hatten diese Teufelskreaturen nur einen begrenzten Wortschatz und nur eine überschaubare Anzahl von Verhaltensweisen im Repertoire?
„Die Wette werden Sie, sofern der Tod nicht nur eine Illusion sein sollte, auf jeden Fall gewinnen.“
„Diese Wette gewinne ich innerhalb von sieben Wochen. Sollten Sie dann noch am Leben sein, bekommen Sie einen Dollar von mir. Ansonsten spendiere ich Ihnen eine fürstliche Bestattung.“
„Ich werde meinen Dollar einfordern, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Und weder Sie noch die SCAN oder Ihr Mister Jay können mir Angst einjagen.“
Bei der Wiederholung des Namens SCAN in Zusammenhang mit Jay zuckte die Augenbraue erneut, ich hatte den Eindruck, Gregg an einem besonders wunden Punkt getroffen zu haben.
„Auf Wiedersehen. Und ich wünsche Ihnen einen immerwährenden Stuhlgang.“
Bei diesem Wort kam mir in den Sinn, meinen eigenen Abgang etwas sicherer zu gestalten. Ich griff mir einen der stabilen Bürostühle, öffnete die Tür und schob, nachdem ich sie von außen geschlossen hatte, den Stuhl schräg unter die Klinke. Als ich einen der insgesamt fünf Fahrstühle erreicht hatte, hörte ich schon, wie man von innen versuchte, die Tür aus den Angeln zu heben. Zum Glück war der zweite Fahrstuhl gerade auf dem Weg ins Erdgeschoss und hielt, nachdem ich den Knopf gedrückt hatte, wenige Sekunden später auf dieser Etage. Ein junger Mann in einem glänzenden, dunkelgrauen, gut sitzenden Anzug schaute kurz hoch, nickte mir zu und vertiefte sich dann weiter in eine Mappe, die er aufgeschlagen hatte. Ein Hochglanzprojekt für Hochseejachten. Der junge Mann überlegte wahrscheinlich, wofür er die nächste Millionen-Provision ausgeben konnte. Die Lignose hatte ich nicht wieder in die Schiene zurückgedrückt, sondern hielt sie möglichst unauffällig und verdeckt in der Hand. Vielleicht hatte Morgan den Sicherheitsdienst verständigt und mir ein Empfangskomitee an die Rezeption geschickt.
Ich musste die Waffe nicht benutzen. Warum auch immer, der Bankchef und für mich gleichzeitig Auftraggeber eines Mordes, hatte darauf verzichtet, Alarm zu schlagen. Kein einziger Sicherheitsbeamter wartete auf mich. Meine einsatzbereite Lignose konnte sich für heute zur Ruhe begeben. Aber ich sollte nicht mehr zur Ruhe kommen, denn ich hatte mich mit dem Teufel angelegt oder einer ganzen Horde von ihnen, jener, die selbst die Hölle nicht mehr haben wollte und auf die Erde verdammt hatte. Und wieder war die Sieben ein Menetekel.
Frank Tenner, Chef der Detektei Mackintosh und Co. in Miami, plant schon seinen Abschied vom Detektivgeschäft, als eine ehemalige Klientin ihm den Auftrag seines Lebens anbietet. Er soll die Umstände des Todes ihres Mannes, eines einflussreichen amerikanischen Bankiers, aufklären. Tenner erhofft sich durch die Annahme des Auftrages, auch die wahren Ursachen des Finanzcrashs im September 2008 zu finden. Die Mörderjagd führt ihn nach Kolumbien und Thailand. Alles, was er erleben muss, übersteigt seine bisherigen, keineswegs unblutigen Erfahrungen. Er bekommt es mit Auftragskillern, einer kriminellen Sekte und korrupten Polizisten und Richtern zu tun und stößt auf die SCAN, den mächtigsten Geheimbund der Welt. Nachdem der Detektei die Lizenz entzogen wird und auch seine Lebensgefährtin ins Visier der Killer gerät, gibt er seine bisherigen moralischen Grundsätze und Ideale auf und stürzt sich mithilfe seiner Freunde in ein tödliches Endspiel ohne alle Regeln und Gesetze, in dem es nur noch ein Ziel gibt: Am Leben zu bleiben.
Tag der Veröffentlichung: 09.10.2022
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