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Kapitel 2, 3 und 4 des II. Teiles von "Highway to Hell"

2

 

Man sagt immer, man müsse aus dem Leben, nicht aus Büchern lernen. Aber ich befand mich noch nie in einer solchen Lebenssituation, konnte also auf keine Erfahrungen zurückgreifen. Aber ich habe ähnliche Situationen in Büchern beschrieben gefunden. Niedergelegte Erfahrungen anderer Menschen. Mir fiel sofort eine Passage aus Alexandre Dumas` Die drei Musketiere ein, neben „Huckleberry Finn“ und „Winnetou“ meinem Lieblingsbuch der Jugendzeit. Nicht die Degenduelle und Kampfszenen hatten mich am meisten fasziniert, sondern die Gefangenschaft von Mylady. Durch Klugheit und List, rhetorisches Geschick und Schauspielerei hatte sie es verstanden, in wenigen Tagen ihren obersten Wächter, den puritanischen Leutnant Felton, einer Gehirnwäsche zu unterziehen, ihn umzudrehen, ihn zu einem Werkzeug ihres Willens und ihrer Pläne zu machen. Wenn ich hier herauswollte, musste ich es ähnlich anstellen. Wenngleich ich nicht über die erotischen Reize von Mylady verfügte. Es musste mir gelingen, Zugang zu meinen Wächtern zu finden. Ohne Hilfe würde ich es nicht schaffen, mich zu befreien. Ich überlegte, wie Mylady vorgegangen war. Sie hatte als Erstes die Situation analysiert, die Schwächen ihres Kerkermeisters herausgefunden und diese dann in ihrem Sinne ausgenutzt. Ihn an seinen einzig empfindlichen Stellen getroffen: seinem religiösen Wahn und seiner unterdrückten Sexualität. Von beidem würde es hier bestimmt genügend geben. Mein Wächter war eine Wächterin. Ich wusste sofort warum. Zum einen meinte der Sektenführer sicher, diese Frau würde in ihrem religiösen Wahn und der Treue zu ihm, keine Beziehung zu dem zum Tode Verurteilten aufbauen. Außerdem verfügte sie, wie ich etwas später erfuhr, über die medizinischen Kenntnisse einer gelernten Krankenschwester und konnte mir die notwendigen Spritzen und Medikamente professionell verabreichen und meinen körperlichen und seelischen Zustand mit Sachverstand beurteilen. Zum anderen glaubte ich an eine Strafe für begangene Sünden. Als ich diese Frau sah, die vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt war, aber mindestens zehn Jahre älter wirkte, wusste ich sofort: Man muss für alles im Leben bezahlen. Dieses brustlose Geschöpf mit der altmodischen Brille, dem hochgesteckten roten Dutt und der schneeweißen Haut, die noch nie die Floridasonne an sich herangelassen hatte, und den kurzen Bartstoppeln über der Oberlippe war meine Strafe für Evi.

 

Evi kam nach dem Umzug ihrer Familie während des laufenden Schuljahres in unsere Klasse. Sie war eine Musterschülerin, brachte ein Zeugnis der 9. Klasse mit, auf dem nur Einsen in allen Fächern standen und sie sollte mit genau diesem Ergebnis auch den Realschulabschluss erwerben. Musterschüler waren nicht die beliebtesten, zumal wenn sie weiblich waren und dies nicht durch ihr Äußeres unter Beweis stellen konnten. Sie war das unerotischste weibliche Geschöpf, das mir bis zu diesem Zeitpunkt unter meine kritischen und überheblichen Augen gekommen war. Das wäre weder für sie noch für mich ein Problem gewesen, hätte sie sich nicht sofort in mich verliebt und ich gerade einen Korb von meiner seit Langem Angebeteten aus der Parallelklasse bekommen. Meine Stimmung war auf einem Niveau, das ich nicht einmal meinem größten Konkurrenten gewünscht hätte. Enttäuschung, Wut, Verachtung, Selbstmitleid, Rachsucht und noch ein halbes Dutzend anderer liebreizender emotionaler Empfindungen gingen eine unheilvolle Allianz ein. Evi bekam diese Allianz zu spüren. Ich machte mir einen Spaß daraus, sie leiden zu lassen. Einen von ihr geschriebenen Liebesbrief ließ ich im Unterricht absichtlich fallen, mein Banknachbar hob ihn schnell auf und las ihn in der Pause zur Belustigung der fünfundzwanzig Mitschüler in theatralischem Ton vor. Evi schloss sich auf der Toilette ein und hatte die nächsten zwei Tage gerötete Augen. Ich bekam ein schlechtes Gewissen, wollte mir aber vor meiner Clique keine Schwäche anmerken lassen und mimte den Coolen. Ich habe mich nie bei ihr entschuldigt. Ich hätte dies lieber tun sollen. Denn meine Strafe war hart und nicht ganz ungerechtfertigt.Als ich meine Wächterin sah, wusste ich, dass es keine Zufälle im Leben gibt.

Alles fügt sich irgendwann zu einem Gesamtbild, welches nicht von Menschenhand gemalt wurde. Die gleiche Brille, das gleiche jungfräuliche Gehabe, der gleiche leicht rötliche Damenbart. Ich sollte für meine Ignoranz und Überheblichkeit büßen. Der Blick durch die starken Brillengläser verriet, dass sie mich als Ausgeburt des Teufels ansah, wahrscheinlich hatte man sie genau in dieser Weise oktroyiert. Diesmal würde mir meine Lignose nicht helfen können. Es würde harte psychologische Arbeit auf mich zukommen. Sie sollte sich noch schwieriger gestalten, als ich es ohnehin vermutete, weil ich nämlich nur auf einen Teil meiner logischen Kapazitäten zurückgreifen konnte. Die anderen kämpften mit den Drogen. Joseph oder wie immer der Verrückte mit bürgerlichem Namen hieß, schien es mit seinem Plan ernst gemeint zu haben. Er wollte mich täglich mit irgendwelchen Drogen vollpumpen, bis ich völlig abhängig und körperlich am Ende war und bei einer Blut- oder Haarprobe oder der Autopsie eine Einstufung als Drogenabhängiger bescheinigt bekommen würde. Mir war klar, dass mir nicht viel Zeit für die Manipulation meiner Wächterin bleiben würde. Ich musste schnell Zugang zu ihr finden.

Ich schaute sie mit großen verzückten Augen an und rief laut: „Maria!“Sie zuckte zusammen. „Hören Sie auf mit ihrem Geschreie. Ich bin nicht Ihre Maria.“ Sie hatte einen deutlichen Akzent, ich als Ausländer konnte nicht viele davon erraten, aber diesen kannte ich, er war unverwechselbar: Sie musste aus Texas stammen. Ich tat, als ob ich Ihre Zurechtweisung gar nicht gehört hätte. Obwohl ich meine Drogen noch gar nicht bekommen hatte, sprach ich wie ein Drogensüchtiger. „Maria. Maria. Aus Dallas. Der Stern von Bethlehem. Maria. Die Erleuchtete.“ „Sie sollen mit Ihrem unsinnigen Gerede aufhören! Sie sind ein böser Mensch, Sie können mich nicht täuschen. Vater Joseph hat mich schon vor Ihnen gewarnt. Sie seien heuchlerisch und voller Lügen.“ Ich schaute wieder mit möglichst großen, unschuldig wirkenden Augen. Dann schüttelte ich den Kopf. „Sie haben recht, Maria. Ich bin ein böser Mensch. Ein sehr böser Mensch. Der Teufel hat mich gefangen, ich bin sein Werkzeug. Aber auch ich war einmal so unschuldig und rein wie Sie. Ich wollte nie etwas Böses tun, nie jemanden verletzen. Der Herr hat mich geprüft und ich habe versagt. Ich habe die Prüfung nicht bestanden. Aber ich hatte Angst um meine Tochter!“ Diesmal war sie es, die mit geweiteten Pupillen durch ihre Brillengläser schaute. Ich hatte zumindest Ihre Neugierde geweckt. „Sie sollen mit Ihrem Geschwätz aufhören, sonst verklebe ich Ihren Mund.“ Sie ging zu einer weißen Vitrine und öffnete die linke Tür, die aus milchigem Glas bestand. Ich drehte meinen Kopf so weit wie möglich nach rechts, um zu erkennen, was sich im Inneren der Vitrine verbarg. Es waren offenbar Medikamentenpackungen, Gläser und Röhrchen. Und Spritzen. Ich konnte deutlich sehen, wie sie die Spritze mit einer gelben Flüssigkeit aufzog. Mir fiel sofort mein Erlebnis bei den Rebells ein, als ich den Drogencocktail trinken musste, der mir ermöglichte, die Halle von der Decke aus zu betrachten. Und ich sah mich wenig später, meinen Mageninhalt aus dem Autofenster auf den Highway ergießen. Ein zweiter Witz der Moiren, Parzen oder Nornen, wie immer die kalten Damen, die angeblich unser Schicksal weben, von den einzelnen Völkern auch genannt wurden. Sie setzten mich dem aus, was ich am meisten verabscheute: Drogen. Meine Abscheu verflüchtigte sich aber bereits nach wenigen Minuten. Ich spürte, wie meine Brust sich weitete, mein Herz sich ausdehnte und meine Sinnesorgane eine übernatürliche Schärfe erreichten. Was hatte ich bloß gegen Drogen gehabt? Ich fühlte mich, als ob ich samt der Pritsche, auf die man mich geschnallt hatte, eine Erdumrundung vollführen könnte. Was interessierte mich die Welt an sich? Nur diese Bilder, diese Gefühle waren wirklich. Ich sah eine Tanzfläche vor mir und hörte ganz deutlich das Saturday Night Fever aus den Boxen schallen. Ich hatte diesen Titel der Bee Gees mit sechszehn Jahren geliebt, er hatte mir zu meinem ersten sexuellen Erlebnis verholfen. Nach einer durchtanzten Nacht, in der mindestens ein Dutzend Mal vom DJ dieser Disco-Titel gespielt wurde, gelang es mir, meine Tanzpartnerin, die zwei Jahre älter war als ich und sicher nicht nur auf dem Tanzboden mehr Erfahrungen gesammelt hatte, zu mir nach Hause zu lotsen. Meine Eltern hatten ein Wochenende in Paris gebucht und ich war Herr über vier große Zimmer und vor allem über ein riesiges Bad mit einer Badewanne, die über Sprudeldüsen verfügte und über zwei in die Ränder eingebaute rote Seitenleuchten. Ich schickte im Kopf einen Dank an meine ideenreichen Eltern. Sie hatten mir den Einstieg ins Sexualleben wirklich erheblich erleichtert. Zwei Gläser eines durchschnittlichen Sektes reichten, um meine Schüchternheit und Unerfahrenheit zu überwinden. Bei Jessica war dies nicht nötig, sie hatte schon einige Drinks an der Bar genommen und bedurfte keiner weiteren Animierung. Sie machte mir den Abschied vom Jungmannsein leicht. Es lagen Jahrzehnte zwischen diesem Erlebnis auf dem dunkelblauen Plüschteppich vor der Badewanne und meinem jetzigen Traum. Und doch konnte ich direkt in Jessicas Augen schauen, hörte den schnellen Atem und schmeckte die feuchten Sektlippen. Es gab also doch Zeitmaschinen. Die Droge musste mich in die Vergangenheit zurückkatapultiert haben, so realistisch konnte kein Traum sein. Ich fühlte, wie mein Geschlechtsteil anschwoll und die Erleichterung unmittelbar bevorstand. Ich wollte schon laut Jessica schreien, aber irgendetwas musste sich im Gehirn den Drogen entzogen haben, ein Winkel, in dem mein Schutzengel wohnte. Oder mein Überlebensinstinkt. Als das Ejakulat hervorschoss, rief ich mit einer nicht nur gespielten Sehnsucht: „Maria! O Maria! Meine Maria!“

Ich spürte einen Schlag ins Gesicht, ein Brennen auf der linken Wange. Der Schlag war nicht stark genug, um mich aus meinem Badezimmer zu holen, aber immerhin hatte ich jetzt eine andere Perspektive: Ich sah zwei Frauen vor mir. Jessica, die sich niederkniete und dann langsam und mit einem Lächeln auf den Lippen zur Seite rollte und Maria, die sich über mich beugte und wie aus einem fernen Nebel und mit einem weißen Megafon vor dem Mund rief: „Sie sind ein perverses Schwein!“ Vielleicht hatte sie sogar recht, vor allem aber war ich ein Lebewesen, das den ersten Teil dieses zusammengesetzten Substantives Lebewesen behalten wollte. Eine zweite Ohrfeige zerstörte meine schönen Gefühle. Ich musste auf eine Erdumrundung verzichten. Stattdessen setzte man mich auf ein Karussell und ich drehte mich auf einem hässlichen braunen Metallpferd mit weißen Ohren langsam, aber ohne Ende im Kreise. „Maria! Rette mich! Überall sind Teufel. Sie wollen mich fangen.“

Ich erkannte meine eigene Stimme nicht. Aber ich hatte gesprochen. Mein Wille schien trotz der Drogen nicht völlig ausgeschaltet zu sein. Maria sagte etwas, aber die Worte drangen nicht bis in mein Gehirn. Ich konnte sie nicht decodieren, es blieben Laute ohne Bedeutung. Aber ich spürte etwas Kaltes auf meinem Gesicht. Ein Lappen voller Nässe wurde mir mehrmals über die Stirn, Nase und Mund gerieben. Dann erlosch die Sonne um mich und ein tiefes Schwarz erfüllte für einige Sekunden oder Jahre den Raum. Mein Gehirn knipste eigene Lampen an. Nein, keine Lampen, sondern Milliarden von Glühwürmchen, die um mich herumtanzten und die die Nacht zum Tag machten. Ein Zeitgefühl besaß ich nicht mehr, wielange ich dem Tanzen und Herumschwirren zusehen musste, weiß ich nicht. Irgendwann drehten sich die Würmchen nach den Klängen von Verdis Melodie des Freiheitschores aus Nabucco. Ich fühlte mich erhoben, obwohl ich die Oper nur ein einziges Mal in deutscher Sprache gesehen hatte und dies vor Jahrzehnten, fiel mir der Text ein und ich sang aus voller Brust: Flieg, Gedanke, getragen von Sehnsucht, lass`dich nieder in jenen Gefilden, wo in Freiheit wir glücklich einst lebten, wo die Heimat uns`rer Seele ist. Herrlich. Freiheit. Ja, ich würde wieder frei sein, ich würde diesem Kerker entfliehen. Wie hieß es doch im gleichen Lied: Die Erinn`rung allein gibt uns Stärke zu erdulden, was uns hier bedroht. Was an Qualen und Leid unser harret, un`ser Heimat bewahr`n wir die Treue! Teure Heimat, wann seh ich dich wieder, dich, nach der mich die Sehnsucht verzehrt? Auf die Heimat kam es an. Und die Erinnerung. Ich hatte eine tolle Stimme. Warum war ich nicht Opernsänger geworden? Dann hätte ich mich nicht mit Schwerverbrechern und Drogen herumschlagen müssen. Oder nahmen die Stars auch Drogen zu sich, um einen Abend in der Scala durchstehen zu können? War das Singen vielleicht genauso anstrengend wie eine Bergetappe der Tour de France? Konnte man überhaupt noch Höchstleistungen ohne Drogen vollbringen? Um hier herauszukommen, würde ich keine Drogen benötigen, sondern ihnen den Kampf ansagen müssen. Verdammt, ich wollte in meine Heimat zurück, in meinen Pool, in mein King-Size-Bett. Zusammen mit Joanne. Ihr Gesicht erschien deutlich vor meinen Augen. Ich konnte sogar die kleinen Grübchen in den Augenwinkeln sehen. „Komm zurück, Frank! Lass mich nicht alleine!“ Ich hatte mein eigenes kleines mentales Aufbauprogramm. Es funktionierte gar nicht so schlecht. Was konnte ich tun? Wie in meine Heimat zurückgelangen? Ich musste Evi für mich gewinnen. Religion und Sexualität. Diese beiden waren der Schlüssel zur Versklavung oder zur Freiheit. Sie wirkte nicht so, als ob Vater Joseph sie jeden Abend zu sich ins Bett beordern würde. Da gab es bestimmt andere, wesentlich attraktivere Jüngerinnen. Was hatte ich über die Grundsätze der Kinder Bethlehems in Terrys Kurzbeschreibung dieser religiösen Gemeinschaft gelesen? Der Kampf des Teufels gegen das Gute würde durch die Kinder Bethlehems, die Besitzer des wahren Glaubens, entschieden. Sie allein wären in der Lage, den Untergang, der gleichbedeutend mit dem Leben in der Sünde wäre, abzuwenden. Mein Gehirn konnte diese kurzen klaren Gedanken nur in verschlüsselter Form, ziemlich verworren und in einer unangemessenen Zeitspanne empfangen. Aber sie kamen an, bis mein Kopf vor Schmerzen zu platzen drohte, ich Schweißausbrüche bekam und meine Augen aus den Höhlen treten wollten. Bevor ihnen dies gelang, verlor ich das Bewusstsein und fiel in einen todesähnlichen Schlaf.

 

3

 

Das Erste, was ich beim Erwachen spürte, war die Trockenheit in meinem Mund. Ich musste monatelang keine Flüssigkeit mehr zu mir genommen haben. Ich sah mich selbst vor meinem geistigen Auge, wie ich im vergangenen Jahr halb verdurstet aus dem Wasser der Karibik ans Land kroch und mir der weise Spruch einfiel: Durst ist schlimmer als Heimweh. Auch jetzt war der Durst viel stärker als meine Sehnsucht nach der teuren Heimat. Meine Hände und Füße waren noch immer mit den Lederriemen an die Pritsche gefesselt. Ich würde verdursten, in einem modernen, unterirdischen Kerker hilflos den Mächten des Wahnsinns ausgeliefert. Oder war ich selbst dieser Wahnsinnige, war ich vielleicht verrückt geworden und von meinen Freunden in eine psychiatrische Klinik geschafft worden? Vielleicht wollte man mir bloß helfen? Ich versuchte, mich abzulenken, mir fielen die bitteren poetischen Worte ein, die der todkranke Heinrich Heine in seiner Matratzengruft verfasst hatte und die sich ohne meine Absicht, tief in mein Gedächtnis eingegraben hatten: In meinem Hirne rumort es und knackt. Ich glaube, da wird ein Koffer gepackt. Und mein Verstand reist ab – o wehe – noch früher als ich selber gehe. Was sollte der Scheiß? Ich würde noch keinen Koffer packen. Der Kampf hatte doch erst begonnen. Jetzt wusste ich, warum ich mich Drogen immer entzogen hatte, ich war ihnen einfach nicht gewachsen. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuschte, hatte ich erst eine einzige Dosis erhalten. All zu lange konnte ich mich also noch nicht in diesem Raum befinden. Man würde mich vermissen und eine Suche starten. Den Gürtel mit dem Chip hatte man mir abgenommen, aber meine Freunde würden mich finden. Ein gleißendes Licht riss mich aus den Grübeleien. Ich musste meine Augen schließen, der Übergang von der absoluten Dunkelheit zum flackernden Leuchtstoffröhrenlicht war zu abrupt gewesen. Nach einer Weile konnte ich die Lider öffnen. Maria stand vor der Pritsche und schaute mich nachdenklich an.

„Sie stinken!“ Ich hatte eine ausgetrocknete Kehle, die Mundhöhle brannte, mir fiel das Sprechen schwer. „Sie können die Gurte öffnen, dann werde ich mich waschen.“ „Das könnte Ihnen so passen. Um zu entfliehen und unsere Gemeinschaft zu verraten!“ „Ich will Ihre Gemeinschaft nicht verraten. Ich wurde selbst verraten. Ich will nur noch sterben. Aber nicht in diesem Zustand. Seien Sie barmherzig und waschen Sie mich! Und geben Sie mir bitte etwas zu trinken!“ Hunger hatte ich überhaupt nicht, die Drogen töteten wohl jedes Hungergefühl ab, aber ich fühlte mich kurz vor dem Verdursten und nicht nur aufgrund der Nachwirkungen der Drogen elend. Auf meine Körperhygiene hatte ich immer besonderen Wert gelegt. Die Nornen waren an Grausamkeit kaum zu überbieten. Erst die Drogen, dann der Kot, Urin und die getrockneten Spermien, der Gestank und das Allerschlimmste: dieses Gefühl des absoluten Ausgeliefertseins. Das war keine adäquate Bestrafung für die Dummheiten und Gefühllosigkeiten eines Jugendlichen. Dieses Märtyrium war schlechtweg und absolut - ungerecht. Wie das gesamte Leben. Wenn es einen objektiven Sinn in diesem Leben gab, hatte er leider ein negatives Vorzeichen. Aber der Mensch besitzt als einziges Wesen die Fähigkeit, die Pole zu vertauschen. Dieser weise Spruch meines alten Geschichtslehrers fiel mir in dieser verrückten Situation ein. Er hatte recht, man konnte umpolen, sich das positive Vorzeichen erkämpfen. Maria schien nicht frei von Mitleid zu sein, vielleicht wollte sie auch nur dafür sorgen, dass mein Leiden nicht verkürzt wurde. Oder die Zeit der Drogenzufuhr. Sie zog mir meine Hose herunter und wusch tatsächlich den unteren Teil meines Körpers ab. Danach reinigte sie die Liege, soweit es ihr möglich war. Dann füllte sie ein Glas mit stillem Wasser, hob mit einer Hand meinen Kopf etwas in die Höhe und hielt mir das Glas mit der anderen Hand an die Lippen. Ich trank in kleinen Schlucken, es gab kein Getränk auf dieser Welt, das mit Wasser konkurrieren konnte. Ich hätte in diesem Augenblick diese lauwarme, geschmacklose Flüssigkeit nicht einmal gegen einen meiner Lieblingsweine aus Franken eingetauscht. Ich überlegte, wie ich weiter vorgehen sollte. Sie ansprechen? Nachdem ich wieder ausgestreckt und hilflos auf der Liege lag, meine Kehle angefeuchtet und meine Lebensgeister zurückgekehrt waren, entschloss ich mich, laut zu beten. Viele Gebete hatte ich mir aus meiner Jugendzeit nicht gemerkt. Aber das Vater unser war mir noch gegenwärtig. Ich sprach es laut und inbrünstig. Dann dachte ich an den Psalm, der mir schon zweimal zu einem Wunder verholfen hatte. Zumindest hatte ich einen kausalen Zusammenhang zwischen Todesgefahr und Errettung für möglich gehalten. „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen! Aber der Herr hilft den Gerechten, er ist ihre Stärke in der Not. Und der Herr wird ihnen beistehen und sie erretten!“

Ich spürte, dass meine Worte nicht ohne Wirkung auf das scheinbar einfache Gemüt meiner Wächterin blieben. Für fast alle weltanschaulichen Randgruppen hatte die Offenbarung des Johannes eine besondere Bedeutung. Terrys Bericht hatte meine Vermutungen in dieser Richtung bestärkt. Auch Die Kinder Bethlehems waren offenbar von der Apokalypse besonders beeindruckt und bauten ihre Handlungsstrategien darauf auf. Hätte ich bloß besser im Konfirmationsunterricht aufgepasst und nicht die meisten Texte einfach von kleinen Spickzetteln abgeschrieben oder abgelesen. Aber die dunklen Visionen hatten mich doch fasziniert und im Unterschied zu vielen anderen Bibelpassagen, hatte ich sie sogar vollständig gelesen. Aber dies lag Jahrzehnte zurück, in welchem Teil meines Gehirns hatten sich die Erinnerungen versteckt? Mir fielen die Engel mit ihren Posaunen ein und das Buch mit den sieben Siegeln und die Verkündigung des Tausendjährigen Reiches und der letzte Kampf des losgelassenen Satans.

Damit konnte ich beginnen. „Maria! Ich habe den Satan gesehen. Die tausend Jahre sind vorbei. Der Böse ist seinem Gefängnis entkommen und wird ausziehen zur letzten Schlacht. Er wird seine Heerscharen versammeln. Das Weltgericht wird abgehalten werden. Und ich habe seinen weißen Thron gesehen. Den Thron des Herrn.“ Mir fielen endlich auch einige Zitate ein, das Gehirn war schon eine eigenartige Erfindung. Ich deklamierte: „Und der Tod und sein Reich wurden geworfen in den feurigen Pfuhl. Und der Herr sprach: Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende. O Herr, gib mir die Kraft dem Tier abzuschwören! Gib mir die Kraft dem Bösen zu widerstehen!“ Ich hatte den richtigen Ton getroffen. Und das lag sicher nicht in erster Linie daran, dass ich ein wenig die Notenlehre beherrschte und Klavier spielen konnte. Hier kam es auf die Klaviatur der menschlichen Seele an. Die war mir vertraut. Meine Oma hätte einfach von Menschenkenntnis gesprochen. In modernen Zeiten sprach man von Manipulation. Ich hatte den ersten Schritt getan. Maria war sichtlich erregt. Sie schüttelte mich. „Wie sah er aus, unser Herr?“ „Weiß, ganz weiß. Leuchtend. Ein warmes Licht. Die reine Liebe. Mir wurde zumute, als ob ich fliegen könnte. Es war unbeschreiblich. Unbeschreiblich schön. Ich möchte in seiner Armee dienen. Gegen die Armee der Finsternis streiten. O Maria. Lass uns gemeinsam kämpfen gegen das böse Tier, gegen die Sechshundertsechsundsechzig, gegen den Satan!“ Ich spürte, obwohl sie mich in diesem Augenblick gar nicht berührte, dass ihre Hände zitterten. Die Lippen taten es auf alle Fälle. Die konnte ich sehen, wenngleich ich mich so in meine Rolle hineingesteigert hatte, dass mir die Augen tränten und ich, wie durch einen Schleier die Umwelt wahrnahm. Ich glaubte schon, den ersten Sieg errungen zu haben, als die Tür geöffnet wurde und ein großer, langhaariger, in einen braunen Overall gekleideter Mann den Raum betrat. Seine Gesichtszüge konnte ich kaum erkennen. Die entstandene Spannung und intime Atmosphäre waren zerstört. „Hast du ihm schon seine Dosis verabreicht?“ „Ich bin gerade dabei. Ich musste ihn vorher säubern, er soll ja noch einige Wochen hier verbringen, hat der Vater gesagt. Ich will nicht, dass es hier riecht wie in einer Kloake.“ "Beeile dich,du wirst oben gebraucht!" Mir war zum Heulen zumute. Ich würde mich auf die nächste Reise begeben müssen, ob ich danach in der Lage war, noch einmal so eine Show abzuziehen, stand in den Sternen, die ich in diesem fensterlosen Raum nicht sehen konnte. Ich spürte kaum den leichten Einstich im rechten Unterarm. Maria musste schon einige krankenschwesterlichen Erfahrungen gesammelt und ein Talent im Spritzensetzen haben. Die unnützen Gedanken, Zweifel und Ängste verflogen. Mir ging es wieder gut. Ich wurde ruhig und siegesgewiss. Selbst als kurz darauf das Licht erlosch, ließ ich einfach einige Laternen, die wie künstliche Fackeln aussahen, brennen. So musste ich keine Angst im Dunkeln haben. Wobei, von einem solchen Gefühl war ich im Moment Lichtstraßenjahre entfernt. Ich würde schon hier herauskommen. Aber erst einmal bekam ich Lust, auf einen riesigen Baum zu steigen. Solch einen, wie ich ihn als Dreizehnjähriger erklommen hatte, dieser war nur noch höher, sah aus, wie ein fünfhundertjähriger Baum-Gigant im Regenwald. Als Junge musste ich mich sehr anstrengen, um einen Ast nach dem anderen zu erklimmen. Diesmal flog ich fast bis zum höchsten Wipfel. Ich hatte eine atemberaubende Sicht. Ich konnte über ein riesiges dunkelgelbes Ährenfeld bis zum sattgrünen Waldrand schauen. Mir war nie bewusst gewesen, wie herrlich die Natur, wie leuchtend ihre Farben waren. Ich hörte den in der Ferne rauschenden Bach, in dem ich manchen Fisch geangelt hatte, um ihn dann doch wieder ins klare Wasser zu werfen. Dann richtete ich den Blick zum Himmel. Mein Herz begann, plötzlich heftig zu schlagen. Ich konnte ihn sehen, trotz der weißen Wolken. Endlich! Ich hatte es geschafft, das jahrtausendealte Geheimnis gelüftet: Das Geheimnis der Identität Gottes. Wenngleich die Konturen unscharf waren, gab es keinen Zweifel. Es war das Angesicht meines Großvaters. Er war also Gott. Herrlich. Er war so klug, hatte immer einen Rat für mich. Er hatte es wahrlich verdient, Gott zu sein. Und es gab damit Hoffnung, Hoffnung für die Welt und Hoffnung für mich. Er würde mich befreien. Aber ich sah, wie die Konturen plötzlich verschwammen, die Wolken wurden zu einer unförmigen nebligen Masse. Dann formte sich das Weiß wieder zu einem neuen Bild. Das war nicht mein Großvater, das war John. Noch besser. „John! Bist du Gott?“ 

"Ich glaube, dir hat jemand ins Gehirn geschissen, Frank!“

Diesen bösen, ordinären Satz hatte ich von einer früheren Freundin gehört, als sie von meinem Plan erfuhr, Detektiv zu werden. Ich war ihn einfach nicht losgeworden, in so vielen Situationen der letzten Jahre hatte er trotz seiner vulgären Schale seinen Wahrheitsgehalt bewiesen. Und nun kam er auch noch aus dem Mund meines alten Freundes. „Reiß dich zusammen, Frank. Ich dachte du hättest dein altes Ich abgelegt und wärst in der Lage, mit solchen Spinnern fertig zu werden?“ „Entschuldigung, John. Ich bin erst dabei, den Umgang mit Drogen zu lernen. Ich bin wieder mal reingelegt worden. Die Strafe für ein gebrochenes Versprechen.“ „Hör auf, solchen Unsinn zu reden. Du musstest diesen Fall übernehmen. Er führt dich zum Ursprung zurück. Wenn du ihn löst, kannst du alle anderen Fragen, die dich dein Leben lang gequält haben, endlich beantworten. Du hast eine einmalige Chance erhalten. Nutze Sie! Bring diesen Fall zu Ende.“ „Ich bin gefesselt. Die werden mich zu Tode spritzen. Es gibt keinen Ausweg.“ „Was bist du bloß für eine Sissie geworden? Lässt dich von einem Haufen religiöser und geldgieriger Fanatiker überrumpeln, gefangen nehmen und foltern? Hast du vergessen, wer du bist? Du bist der Chef von Mackintosh und Co.! Der angesehensten Detektei Miamis. Du wirst doch meinem Namen keine Schande bereiten?“

Auch dieser Satz war nicht neu. Als ich ihn das letzte Mal vernommen hatte, war ich bereit zum Weiterkämpfen. „Dann sag mir, was ich machen soll?“ „Tausend Worte vermögen nichts gegen eine Tat. Du kannst diese Kleine mit Worten einwickeln, aber überzeugen kannst du sie letztlich nur praktisch. Gib ihr einen Kuss! Das andere wird sich ergeben. Und wenn du hier raus bist, grüß meine Martha von mir. Sag ihr, ich bin stolz darauf, wie sie das Leben jetzt meistert. Die Idee mit der Unterstützung des Waisenheimes finde ich gut. Eines Tages werde ich sie wieder in die Arme nehmen. Sie soll nicht ungeduldig werden. Ich kann warten.“ „Werde ich ihr ausrichten. Danke John. Ich werde versuchen, deinem Namen Ehre zu machen. Ist der Fall gelöst? Hat sich Graham wirklich selbst versehentlich vergiftet?“

„Verlass dich auf dein Bauchgefühl. Ich kann mich nur wiederholen: Nichts ist so, wie es scheint. Lass dich nicht immer in eine bestimmte Denkrichtung drängen. Halte alles für möglich! In dieser Welt musst du davon ausgehen, das alle mit denen du zu tun, nur vielleicht deine engsten Freunde und Kollegen ausgenommen, potentielle Mörder sind. Und wie heißt es so schön: Wer das Ziel nicht kennt, dem nützt auch kein Weg. Oder auf deine Probleme angewandt: Wenn du an keinen Mörder glaubst, kannst du ihn auch nicht aufspüren. Manchmal sind es nicht Lügen, sondern die gewonnenen Erkenntnisse, die die letzte Wahrheit verschleiern.“ Die Wolken verdichteten sich, die Stimme war nur noch als ein Rauschen in meinen Ohren wahrnehmbar, verschwand schließlich genauso wie die Konturen des Kopfes von John. Eigentlich waren Drogen doch keine so schlechte Sache, man konnte sogar Kontakt mit dem Jenseits aufnehmen und sich mit alten Freunden unterhalten. Ich schaute wieder auf die Landschaft vor mir, sog die kräftigen Farben in mich ein und hielt mein Gesicht in den warmen Sommerwind. Einige Stunden oder Monate träumte ich so vor mich hin. Dann senkte ich den Blick in die Tiefe. Mich überkam plötzlich ein Schwindelgefühl. Meine Fähigkeit, fliegen zu können, schien abhandengekommen zu sein. Ich hatte Angst abzustürzen. Wie bei meiner Klettertour als Dreizehnjähriger. Als ich den allerhöchsten Ast erreicht hatte und gerade begann, die wundervolle Aussicht zu genießen, hörte ich erst ein Knacken und dann ein Nachgeben des Astes, auf dem ich stand. Ich wollte mich noch an einem Seitenast festhalten, aber dieser war biegsam, gab nach und ich verlor das Gleichgewicht, dann ging es abwärts. Dreizehn Meter in die Tiefe, nur etwas gebremst von den Ästen und Zweigen. Auch diesmal zog es mich nach unten, nur viel schneller als in meiner Jugend und mindestens dreißig Meter bis zum Boden. Diesmal würde ich wohl nicht im Krankenhaus erwachen, mit Rückenprellungen, Verstauchungen und Blutergüssen und einer Gehirnerschütterung. Diesmal würde ich einfach zerschellen, unter mir war alles felsiger Boden. Wie war das nur möglich? Felsenboden direkt um den Baum herum, in einem ansonsten nur grünen Umfeld. Klar. Ich sollte sterben, deshalb hatte man den Boden auf diese Weise verändert, ich sollte keine Chance haben, um vielleicht mit einigen Knochenbrüchen davonzukommen. Und am Boden sah ich jetzt eine Schar kleiner brauner Männchen tanzen. Die Erdgeister. Ich hatte ihnen kein Ersatzhaus gebaut, sie waren wütend und wollten sich rächen. Der Aufprall war so heftig, dass ich bestimmt einen halben Meter tiefen Abdruck im Fels hinterließ. Wahrscheinlich war ich zu schwer geworden. Ich hätte doch abnehmen sollen. Ich hörte noch das grelle Kichern der Erdgeister bevor mich ein unglaublich dickes und dichtes Schwarz umhüllte und der Sarg geschlossen wurde.

 

4

 

Dieses Mal waren es beim Erwachen kein Durst und kein Ekel die mich quälten, sondern zwei Presslufthämmer, die in meiner Stirnhöhle hinter meinen Augen unaufhörlich ihre Arbeit verrichteten und mich vor Schmerz zum Schreien brachten. Der Schmerz trieb meine Tränendrüsen zu intensiver Arbeit an. Ich wollte den Schmerz nicht ertragen. Wann kam Maria endlich mit der Spritze? Ich wollte wieder fliegen. Was bedeutete schon die Wirklichkeit? Nur die Gefühle waren wirklich. Selbst wenn diese nur künstlich erzeugt wurden. Mir kam der Science-Fiction-Film Matrix in den Sinn. Die Erinnerung lenkte mich etwas von den Presslufthämmern ab. Mir fiel die Szene ein, in der einer der Crewmitglieder Neo und seine Freunde an die Agenten verriet. Keine Silberlinge erbat er sich als Belohnung, sondern er wünschte sich nur, in die Matrix zurückkehren zu dürfen. Er hasste das reale, so schmutzige Leben, lieber wolle er wieder in der Scheinwelt leben, in der er über keinerlei Freiheit und Selbstständigkeit verfügte, aber das Gefühl vermittelt bekam, reich und zufrieden, einfach - glücklich zu sein. Ich konnte diese Entscheidung nicht nachvollziehen, sie widersprach meiner Auffassung vom Glück. Und auch den Auffassungen der meisten großen Philosophen der Geschichte. Nur als Energiespender für Maschinen zu dienen und eine virtuelle Welt vorgegaukelt zu bekommen, in der die Empfindungen von außen simuliert wurden, hatte für einen Aristoteles und für viele seiner Nachfolger nicht im Entferntesten mit Glück zu tun. Glück setzte in ihrem Verständnis eine Art des selbstbestimmten sozialen Handels voraus, ein Stück realer Entscheidungsfreiheit. Das erschien mir immer einleuchtend, aber die Theorie und alle Reflexionen waren mir im Augenblick völlig egal. Letztlich gab es nur die Alternative: Schmerz oder Wohlbefinden. Wodurch dieses angenehme Gefühl hervorgerufen wurde, konnte mir doch eigentlich egal sein. Hauptsache die Presslufthämmer beendeten ihre Arbeit und ich durfte wieder fliegen. Ein größeres Glück konnte es nicht geben. Ich sah vor meinen tränenden Augen, wie das Schwarz lichter wurde und sechs dunkelgekleidete und mit roten Skimasken vermummte Männer einen gläsernen Sarg auf ihren Schultern trugen. Warum waren die Zwerge bloß so groß wie Wrestler? Die Gebrüder Grimm hatten gelogen. Das Märchen hätte „Schneewittchen und die sechs Riesen“ heißen müssen. Ich riss meine Augen weit auf, um wieder klarer sehen zu können. Wie sah Schneewittchen aus? Hatten die Märchenerzähler auch hier geflunkert, hatte sie vielleicht gar keine schwarzen Haare? Ich meinte zu erkennen, die langen Haare hatten eine hellblonde Färbung.

Als ich endlich das Gesicht deutlich sehen konnte, bekam ich einen Stich, der mein Herz durchdrang: Es war Joanne. Verdammt, es gab kein Glück ohne die anderen, ohne unseren Bezug auf die, die wir lieben. Ich hatte versprochen, sie zu beschützen. Ich musste den Schmerz ertragen, nur Weicheier sehnen sich nach angenehmen Empfindungen ohne Verantwortung. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen, die jenseits dieser Pritsche und den mir injizierten Drogen lag. Ich musste andere davor bewahren, in eine Situation zu geraten, wie ich sie gerade durchmachen musste. Lieber die Presslufthämmer im Hirn als ein manipulierter Geist. Mir kam mein Plan in den Sinn. Und die Worte Johns. Indem ich die Augen mehrmals fest zusammenpresste und die Stirn in Falten zog, konnte ich den Kopfschmerz etwas lindern. Die Bilder verschwanden und der Raum wurde sichtbar. Das Schwarz hatte sich tatsächlich wieder verflüchtigt. Das bläuliche Neonlicht hatte seinen Platz eingenommen. „Haben Sie ihn wieder gesehen?“ Du musst sie küssen! Ich schaute mit meinen wahrscheinlich jetzt geröteten Augen in das Gesicht über mir, nahm alle meine Kräfte zusammen und richtete meinen Kopf so weit wie möglich nach oben und küsste Maria kurz auf den Mund. Sie war so überrascht, dass sie mir nicht einmal eine Ohrfeige verpasste.

„Ja, Maria. Ich habe ihn gesehen. Nur Wärme, nur Licht, nur sanfte Musik. Es war glaube ich, ein Stück von Mozart. Ich habe keine Angst mehr. Soll die Teufelsbrut kommen, ich werde mit einem Lächeln sterben. Meine Sünden hat der Herr gesagt, seien mir vergeben. Ich sei nur ein armes fehlgeleitetes Schaf. Meine Reue mache alles wieder gut. O Maria. Er ist so gütig, so liebevoll!“ Meine Vorstellung muss recht beeindruckend gewesen sein, vielleicht wirkten die Drogen noch nach, vielleicht war es die pure Angst vor dem Ende, die mich zu Höchstleistungen beflügelte, vielleicht war ich aber ein besserer Schauspieler, als ich als Jugendlicher vermutet und man mir bescheinigt hatte. Mit vierzehn hatte ich mich in der Theatergruppe unserer Schule beworben. Ich musste zwei Texte vorsprechen. Einer war der berühmte Hamlet-Monolog. Ich fühlte mich nicht wie Hamlet und auch die substanziellen Sinn-Fragen waren mir mit vierzehn Jahren ziemlich egal. Es gab keinen Tod, keine Existenzangst, keine großen gesellschaftlichen Erschütterungen. Nur den Wunsch einer hübschen fünfzehnjährigen Blonden, die in der Theatergruppe mitspielte, nahe sein zu können. Der Vortrag wirkte wohl etwas emotionslos. Man vermisse das Feuer, die Leidenschaft, das schauspielerische Talent. Man riet mir, lieber in die Schwimmgruppe einzutreten, meine körperlichen Talente seien ausgeprägter als meine rhetorischen und schauspielerischen Fähigkeiten. Ein glattes Fehlurteil. Für das Theaterspiel des Lebens waren sie wohl doch mehr als ausreichend. Maria hatte sich einen abgeschabten Stuhl geholt und ihn direkt neben meine Liege gestellt. Dann füllte sie das Glas mit Mineralwasser und ließ mich wie gestern (oder war es schon länger her?) in kleinen Schlucken trinken. Ich nickte ihr dankbar zu. Der Dank war nicht gespielt oder geheuchelt. Mir fiel auf, dass ich gar keinen Hunger verspürte. Das war nach den vielen Sunden der Abstinenz ungewöhnlich. Drogen konnten nichts Gutes sein. Ich würde mich auch von tausend gegenteiligen Meinungen nicht überzeugen lassen. Maria setzte sich auf den Stuhl und fragte: „Was ist mit Ihrer Tochter passiert? Und welche Prüfung hat Ihnen unser Herr auferlegt?“ Ich überlegte, was am überzeugendsten klingen könnte. Ich durfte nicht nur lügen, es mussten viele kleine Wahrheiten in meiner Erzählung enthalten sein. „Ich habe mich vom Mammon blenden lassen. Mit kolumbianischen Drogenhändlern eingelassen. Als ich endlich wieder etwas vernünftiger wurde und die Verbindung lösen wollte, planten sie, mich auszuschalten. Es sollte wie ein Unfall aussehen. Statt meiner haben sie meine Frau erwischt. Ich ahnte nicht, dass es ein gezielter Anschlag war. Ich glaubte wirklich an einen Autounfall. Einige Jahre habe ich mit meiner Tochter allein gelebt, dann standen sie vor meiner Tür. Sie hätten einen Auftrag für mich. Ich wollte mit diesen Leuten nichts mehr zu tun haben, aber sie haben mich erpresst, wenn meine Tochter nicht wie meine Frau enden solle, müsse ich den Auftrag ausführen. Sie halten meine Tochter irgendwo gefangen. Wenn ich bis Sonntag keine Ergebnisse bringe, sei sie tot. Vielleicht haben sie sie auch schon umgebracht. Ich hatte nicht die Kraft nein zu sagen. In diesem Fall wirklich nicht aus Geldgier, sondern aus Liebe zu einem Menschen, der mir alles bedeutet.“ „Welchen Auftrag hat man ihnen erteilt?“ "Ich solle alles über ein Mitglied Ihrer religiösen Gemeinschaft herausbekommen, seinen Aufenthaltsort erkunden und Material über ihn sammeln.“ „Ich weiß, welches Mitglied Sie meinen, es handelt sich um eine Sie. Belinda Graham.“

„Genau. Belinda Graham, die Bankierstochter.“

„Und rechte Hand und erste Frau unseres Vaters. Er vertraut ihr alles an.“ Der Ton in Marias Stimme verriet mir, dass sie über die Stellung Belindas innerhalb der Sekte bestimmt nicht glücklich war. Vielleicht wäre sie selbst gerne die rechte Hand des Vaters. Oder zumindest seine Linke. Oder die, die mit geöffneten Lippen vor ihm kniet. „Was ist heute für ein Tag?“

„Samstag.“ „O mein Gott. Morgen ist alles vorbei. Bitte geben Sie mir eine Spritze mit einer Überdosis, ich will dies alles nicht mehr ertragen, ich will zurück ins Licht. Und geben Sie mir bitte einen letzten Abschiedskuss.“ Sie war verwirrt. Ich musste diese Verwirrung und Unsicherheit ausnutzen. Ich schloss die Augen, reckte meinen Kopf nach oben und spitzte meine Lippen. Es dauerte einige Sekunden, ich konnte meinen Kopf kaum noch in dieser Stellung halten, als ich die schmalen Lippen zaghaft auf meinem Mund spürte. Ich schob vorsichtig meine Zunge in ihren Mund. Sie packte meinen Kopf mit beiden Händen und ließ sich auf den Kuss ein. In einer solchen Intensität und mit solch zeitlicher Ausdehnung hatte ich nur ein einziges Mal im Leben geküsst, im vergangenen Jahr: Joanne. Es gibt ja das Vorurteil, weniger hübsche Frauen seien am leidenschaftlichsten, am unberechenbarsten, einfach grenzenlos in ihren Forderungen. Ich konnte das Vor getrost aus dem Wort Vorurteil streichen. Selbst mein Lungenvolumen, was sicher etwas unter den Drogen gelitten hatte, aber noch immer überdurchschnittlich sein dürfte, war nach einigen Minuten erschöpft. Als sie ihre Zunge zurückzog und ich die Augen öffnete, sah ich, wie sie mit fahrigen Fingern ihre weiße Bluse auszog und sich ihren Faltenrock und ihre pinkfarbene halblange Unterhose herunterstreifte und ihre Hornbrille mit einem Schwung auf den Schrank warf. Ich wusste gar nicht, dass es solche Brillen noch gab. O mein Gott. Ein anderer Ausdruck als der von den Amerikanern bei jeder Gelegenheit benutzte oder abgenutzte Ausdruck fiel mir wieder einmal nicht ein. Ich hätte am liebsten lauthals losgelacht. Ich, der ich mich als Mann immer dagegen gesträubt hatte, irgendwelche Fesselspiele mitzuspielen; ablehnte, sich mit Handschellen ans Bettgestell ketten zu lassen oder anderweitig seine Freiheit aufzugeben, lag hier nun wie ein Sexsklave an eine Pritsche gefesselt und hatte alles verloren, was ich immer so geschätzt hatte: Freiheit, Unabhängigkeit, Würde. Ich wusste schon seit zwei Jahren, dass die Welt verrückt war und die Drehbuchautoren da oben sich ständig kleine Scherze einfielen ließen, um selbst Spaß an ihrer Arbeit zu haben, doch dies hier war einfach absurd. Mir fiel ein Spruch der 68er ein, die während der sogenannten sexuellen Revolution verkündeten: Ficken für die Freiheit! Das hier war keine sexuelle Revolution, dies hier war ein sexueller Albtraum. Maria öffnete meine nicht völlig getrocknete und nicht gerade nach einem guten Aftershave riechende Hose, schob sie samt Slip bis zu den Knöcheln und kletterte auf die Liege. Sie hatte vielleicht jahrelang keinen Sex gehabt, vielleicht sogar noch nie einen Mann in sich gespürt, vielleicht immer nur von einem Mann und einer derartigen Situation geträumt. Ich hatte Mitleid mit ihr. Aber Mitleid hatte leider nicht die gleiche Wirkung wie Viagra. Wenn ich versagte, was angesichts der Umstände sehr menschlich oder männlich normal wäre, würde ich wahrscheinlich keine zweite Chance, sondern eine höhere oder abschließende Dosis LSD erhalten oder was immer sie an neumodischen Drogen in ihrer Spritze hatte. Ohne ihre Hilfe würde ich mich nicht befreien können. Ich musste es versuchen, ich wollte leben. Ficken für die Freiheit! Das Leben mochte nicht schön sein, ganz und gar nicht gerecht, das Wort fair als Attribut für das Leben war ein einziger Witz, aber es hatte viel übrig für Irrsinn. Das einzig Wahre, das man über das Leben aussagen konnte: Es war total verrückt. Und wer sich in ihm langweilte, war schon tot oder hatte nie wirklich gelebt. Das Leben war kein Wunschkonzert, aber es hatte viel übrig für die, die ihr Instrument gut spielen können. Ficken für die Freiheit! Ich musste es versuchen. Ich musste mein Instrument gut spielen. Ansehen konnte ich sie aber nicht. Zu weiß, zu brustlos, zu hager war der Körper über mir. Und zu abstoßend die kurzen Haare über ihrem Mund. Ich musste auf meine Erinnerung und auf meine Fantasie zurückgreifen. Ich rief mir die Nacht in Erinnerung, als ich mit Joanne das erste Mal Highway to Hell getanzt und dann auf dem Teppich gelandet und ziemlich schnell, und ohne großes Vorspiel in sie eingedrungen war. Das Ergebnis meiner Erinnerung war Erfolg versprechend. Als ich spürte, wie das Blut in meine Genitalien schoss, fühlte ich mich gleich besser und sicherer, weil ich jetzt überzeugt war, meinen Mann stehen zu können. Ich ließ Maria gewähren. Zum Glück war sie so erregt, dass es keines Gleitmittels bedurfte und sie auch meine Reaktionen, mit Ausnahme der Härte meines Gliedes, wohl kaum wahrnahm. Ich hoffte, der Raum besaß schalldichte Wände, ansonsten würde man ihre spitzen Schreie wohl bis zum nächsten Anwesen hören können. Ich war sicher nicht in Bestform, aber das musste ich auch nicht. Solange meine Maria oder wiederauferstandene Evi auf mir herumreiten konnte und das Blut sich nicht aus meinem Glied zurückzog, verschaffte ich ihr genug an Freude und Lust. Wie zynisch konnten die Götter doch sein. Ich hatte in den letzten Jahren meinen Glauben an Gott wiedergefunden, an seiner Existenz zu zweifeln, war verrückter, als ein bloßes Spiel irgendwelcher Atome als Ursache des gigantischen Universums und der Liebe anzunehmen. Viel schwieriger, ja fast schier unmöglich als in dieser Situation an Gott zu glauben, war es, an einen guten Gott zu glauben. In diesem Augenblick fiel es mir jedenfalls schwer, dieses Attribut dem Schöpfer zuzuerkennen. Aber ich konnte mich nicht philosophischen oder religiösen Ergüssen hingeben, ich musste mich konzentrieren und zum tatsächlichen Erguss kommen. Obwohl ich den Orgasmus vielleicht sogar vortäuschen konnte, denn Evi sorgte für genug Feuchtigkeit. Sie ritt mit einer solchen Intensität, dass ich, nachdem sie einen letzten großen Schrei ausgestoßen hatte und ihr Gesäß mit großer Kraft senkte, nicht mehr über mein Kommen oder Zurückhalten nachdenken musste. Die Ejakulation zeigte mir, wer wirklich Herr im menschlichen Körper oder Geist war. Ich spürte den warmen Atem in meinem Gesicht. Sie atmete noch keuchend und nur langsam ebbte das Zucken des Körpers ab. Nach einer Minute wurde sie ruhiger. Wenn es mir gelingen sollte, diesem Verlies zu entkommen, würde ich diese Erfahrung und diese Bilder ein Leben lang mit mir herumtragen. Der Gedanke an Joanne hatte ausgereicht, um in dieser irren Situation dennoch sexuelle Gefühle entwickeln zu können. Was aber würde sein, wenn ich mit Joanne schlief, würden mich diese Schreie und Berührungen zu einem Sexmuffel werden lassen? Egal. Im Augenblick war es zu früh, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich wollte gerade heucheln und sagen, dass es wunderschön gewesen wäre, als Maria zu schluchzen anfing. Dann stand sie ruckartig von der Liege auf, strich ihre roten Haare nach hinten, ging zum Waschbecken, nahm ein Handtuch und wusch sich zwischen den Beinen. Ihr Schluchzen ging in ein Weinen über. Dann lief sie zur Tür, neben der ein großes Bild des „Hirten“ hing, kniete sich hin und begann laut zu beten. „Ich habe gesündigt, Vater. Ich konnte dem Bösen nicht widerstehen. Ich bin so unendlich schwach. Dieser Sohn des Satans hat mich verführt. Aber ich werde nicht zulassen, dass er weiter seine Geschichten und Lügen verbreitet und Frauen vergewaltigt.“ Sie erhob sich und ging zum Glasschrank. Ich ahnte, was kommen würde. Sie hatte Gewissensbisse und würde ihr Handeln ungeschehen machen wollen. Es sah nicht gut für mich aus. Das Wort „gut“ selbst mit einer Verneinung davor, war ein reiner Euphemismus. „Bitte, Maria. Es war keine Sünde. Du hast nur deinen Gefühlen freien Lauf gelassen, niemand wird je etwas davon erfahren.“ „Ganz sicher nicht. Du bist an einer Überdosis gestorben. Ich habe nicht aufgepasst. Dann bist du eben etwas früher als geplant in der Hölle. Das wird der Vater mir eher verzeihen, als meine Schwäche, meine körperliche Lust und meinen Ungehorsam. Für dich ist es doch nur gut, du hast mich vor einigen Minuten noch selbst um eine Überdosis angebettelt. Jetzt werde ich deinen eigenen Wunsch erfüllen.“

Ich hatte mich wieder einmal überschätzt. Ich war keine Mylady und Maria kein Felton. Vielleicht beruhte die Beschreibung der Szene gar nicht auf irgendwelchen Erfahrungen, sondern entsprang einzig und allein der Fantasie des Autors. Nur deshalb war Mylady nicht gescheitert. Weil Dumas es so wollte. Ich hätte doch mehr auf meine eigenen Erfahrungen und meine Intuition setzen sollen und bestimmte Grenzen nicht überschreiten. Ein Gefühl der Selbstverachtung breitete sich in meiner Brust aus, dass aber schnell einer existenziellen Angst wich. Verdammt. Ich zog mit aller Kraft an den Riemen. Das Adrenalin verdoppelte meine Kräfte. Ich warf mich mit aller Wucht zur Seite, aber die Liege war an den Füßen im Boden verankert, sie ließ sich nicht umwerfen und die dicken Lederriemen hätte nicht einmal Tarzan zerreißen können. Ich hatte immer von einem ruhigen oder einem glanzvollen Tod geträumt. Stattdessen stand mir nun ein nutz- und würdeloser bevor. Auf eine Gedenkfeier konnte ich wohl kaum hoffen. Vielleicht landete ich im Meer als Leckerbissen für die Haie oder ich verschwand in einem Sumpf der Everglades. Oder man warf meinen voller Drogen gepumpten Köper in einen Straßengraben. Ich hatte mich in meiner Einschätzung von Maria getäuscht. Sie besaß kein Mitleid, kein Gewissen, sie war nur eine kranke, verseuchte Seele mit einer unterdrückten Sexualität und einer unendlichen Angst vor ihrem Sekten-Vater. Ich hatte verloren. Mir fielen die Worte ein, die man dem sterbenden Mozart zuschreibt: Der Geschmack des Todes ist auf meiner Zunge, ich fühle etwas, das nicht von dieser Welt ist. Auch ich hatte etwas Bitteres, noch nie Geschmecktes auf meiner Zunge, etwas das einem nicht nur den Gaumen, sondern auch das Herz zusammenzog. Nun hatte ich dem Tod in den letzten Jahren schon mehrmals ins Angesicht schauen und aus diesen Erfahrungen heraus eine gewisse stoische Gelassenheit entwickeln müssen, stattdessen spürte ich, wie grenzenlose Angst in mir hochstieg und sich in Panik verwandelte. Warum wollte ich mich einfach nicht damit abfinden, dass wir alle sterben müssen, einer früher, der andere später, die Todesart war doch letztlich egal. Aber ich wollte zu denen gehören, die später sterben und mit einem Sterbebegleiter am Bett, einer strahlenden Sonne, die durchs Fenster scheint und einem hübschen, lächelnden Gesicht über mir. Meinem persönlichen Engel. Dies hier hatte mit meinen Vorstellungen soviel zu tun, wie der Papst mit der Reduzierung des Bevölkerungswachstums. Ein fensterloser, steriler Raum, eine weißgesichtige rothaarige Bekloppte mit einer tödlichen Spritze in der Hand und ich in völliger Hilflosigkeit und ohne einen Engel über meinem Haupt. Wo war mein Schutzengel in dieser Stunde? War er abgezogen worden oder hatte er, wie ich Kathie gegenüber fast hellseherisch angedeutet hatte, eine Verschnaufpause genommen?

Es war Zeit, sich von dieser schönen Welt, von der ich leider nichts mehr sehen konnte, zu verabschieden. Zweimal hatte ich in den letzten Jahren mit Inbrunst gebetet. Das erste Mal, als Schnurow mich überrumpelte und ich mit dem finalen Schuss gerechnet hatte. Das zweite Mal, als ich in der karibischen See kurz vor dem Ertrinken war. Vielleicht sollte ich es erneut mit dem Beten probieren. Schaden konnte es in meiner jetzigen Situation wohl kaum. Wenn ich Glück hatte, gewann ich dadurch wenigstens einige Minuten Lebenszeit. Es war schon erstaunlich, wie sehr man an diesem bisschen Leben hängen kann, vor allem, wenn man das Ende deutlich vor sich sieht.

„Bitte Maria, lass mich in Ruhe beten. Gib mir noch einige Minuten, um meine Sünden zu bereuen und den Herrn um Gnade anzuflehen.“ Sie antwortete nicht, senkte aber die Spritze und setzte sich auf den Stuhl, dessen rostige Stellen ich wie durch ein Vergrößerungsglas wahrnehmen konnte. Wie viel Zeit würde sie mir gewähren? Drei Minuten. Fünf? Spielte dies überhaupt eine Rolle? Ich betete das Vater unser. Als ich spürte, dass sie ungeduldig wurde und die Spritze ins Licht hielt, begann ich, diesmal nicht gespielt, sondern mit wirklicher Hoffnung auf eine Rettung den Psalm 37 zu beten: „Entrüste dich nicht über die Bösen. Sei nicht neidisch auf die Übeltäter. Denn wie Gras werden sie bald verdorren und wie das grüne Kraut werden sie verwelken. Befiehl dem Herrn deine Wege, und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen.“ Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: „O Gott, lass nicht zu, dass solche Fanatiker, die Welt beherrschen und Unschuldige tyrannisieren!“ Diese Worte waren wohl nicht dazu angetan, Evis Entschluss, meinen Körper auf dem sie eben noch so enthusiastisch herumgeritten war, in ein Stück totes Fleisch zu verwandeln. Ich schloss die Augen. Es hatte keinen Zweck, sich aufzubäumen und dabei zu wissen, dass man nichts ausrichten konnte. Es war an der Zeit, meine gute Kinderstube zu vergessen. Einen letzten Fluch sollte ich mir nicht verkneifen. Reue für Evi hin oder her. „Soll dich verlogene, geile, widerliche Schlampe der Teufel holen!“ Es gab ein dumpfes Geräusch, fast glaubte ich an ein entferntes Donnergrollen. Es folgte ein Krachen, der halbe Türrahmen wurde herausgerissen und die Tür hing nur noch an einer Angel. Gott musste nun doch meinen Schutzengel geschickt haben. Oder er war aus einem Schlaf erwacht. Allerdings hatte er keine Flügel und war recht groß. Er sah aus wie Bill. An Déjà-vus fehlte es in meinem Leben nicht. Maria war erschrocken aufgesprungen und hielt die Spritze wie einen Dolch in ihrer Hand. Sie war nicht schnell genug. Mein großer Engel fing ihren Arm ab, drehte ihn ruckartig um, die Spritze fiel zu Boden. Wenig sanft ließ er die Hohepriesterin der Spritze folgen. „Na, Frank? Ich glaube, du hast dich genug ausgeruht, wird Zeit, dass du uns wieder bei unserer Arbeit hilfst.“ Bill öffnete die Riemen an meinen Händen und Füßen und half mir, mich von der Liege zu erheben. Voller Scham und im Zeitlupentempo zog ich meine Hose hoch. Schuhe hatte ich nicht mehr. Schade um mein schönes Messer darin. Ich hatte das Gefühl, alle meine Glieder hätten monatelang geschlafen. Ein Wunder, dass mein wichtigstes Glied funktioniert hatte. Was ein bisschen Fantasie ausmachen konnte, der Geist regierte also doch die Materie oder zumindest den Körper. Noch nie hatte ich dieses Wort so inbrünstig ausgesprochen wie in diesem Augenblick: „Danke.“ „Bedank dich bei Luke, der hat den Wagen aufgespürt, mit dem du aus dem Parkhaus entführt wurdest. Und bedank dich bei Norris, der die Durchsuchung der Anlage angeordnet hat. Und vor allem bedank dich bei deinem Freund in Kolumbien, der gestern Perez und Pater Joseph in Bogotá hat festnehmen lassen. Es gibt wohl erdrückende Beweise gegen diese Halunken. Erst dadurch hatte Norris die Möglichkeit, endlich gegen diese Sektenverbrecher hier vorgehen zu können.“ Bill half mir die halbe Holztreppe, die mir wie der Mont Everest vorkam, nach oben zu steigen. Ohne seine starken Arme hätte ich den Aufstieg nach drei Stufen aufgegeben. Zwei Beamte in Zivil, aber mit blauen Schusswesten, auf denen in großen gelben Lettern FBI stand, waren Bill gefolgt und inspizierten mein Verließ und nahmen sich meiner Evi an. Wer wollte noch bestreiten, dass es manchmal ganz nützlich sein konnte, ein Stoßgebet Richtung Himmel zu schicken. Diesen Himmel sah ich jetzt endlich wieder über mir. Nur wenige Tage war ich ihm entzogen worden, aber mir kam es vor, wie eine Ewigkeit. Wenn man sterben musste, sollte man es an der frischen Luft tun, Sonnenstrahlen im Gesicht. Meine Stunde war offenbar noch nicht gekommen, ein unglaubliches Gefühl der Freude breitete sich in mir aus, mir liefen einige Tränen über die Wangen. Ich schämte mich ihrer nicht. „Wir werden dich zur Untersuchung in ein Hospital bringen.“ „Nein. Ich kann keine weißen Wände mehr sehen und Spritzen schon gar nicht. Ich will einfach nach Hause. Bring mich bitte nach Hollywood Beach zu Joanne!“ „Ich bin hier nur geduldet, eigentlich dürfte ich bei dieser Aktion gar nicht dabei sein. Norris hat aber seinen Leuten die Anweisung gegeben, mich als Berater teilnehmen zu lassen. Er dirigiert den Einsatz vom Büro aus, er ist immer noch etwas angeschlagen, hat aber seinen Dienst vor drei Tagen wieder angetreten. Zum Glück kann ich nur sagen. Wir müssen aber mit dem Einsatzleiter sprechen. Wenn es sich nicht um Entführung gehandelt hätte, wäre dieser Einsatz, der sich natürlich gegen alle kriminellen Aktivitäten der Sekte richtet, nicht zustande gekommen. Du bist sozusagen der Grund, dass überhaupt diese Razzia erfolgen konnte. Du kannst nicht einfach durch die Hintertür verschwinden.“ Das Leben hielt eine seiner vielen Überraschungen für mich bereit. Der operative Leiter war mir bekannt. Es handelte sich genau um jenen jungen Mann, der mich zu Norris gebracht hatte und den ich aufgrund seines Alters, seiner Kleidung und seiner Piercings und Tattoos für einen Neuling oder Undercoveragenten hielt. Das FBI schien sich nicht nur vom Erscheinungsbild verändert, sondern auch in seiner Leitungsstruktur verjüngt zu haben. Er sah in seiner Montur keineswegs mehr so jugendlich aus wie noch bei meinem Besuch vor wenigen Wochen im FBI-Hauptquartier. „Wie geht es Ihnen, Mister Tenner?“

„Ich war schon besser in Form, aber ich lebe noch. Das verdanke ich Ihnen. Vielen Dank.“

„Nichts zu danken. Wir machen nur unsere Arbeit. Mein Chef war schon lange hinter diesen Heuchlern her. Er hatte lange darauf gewartet, diese Durchsuchung starten zu können.“

„Ich hoffe, Sie finden viel an Beweismaterial. Was meine Person anbelangt, kann ich Ihnen sagen, dass Joseph Peters persönlich meine Entführung angeordnet hat und mich in diesem Keller mit Drogen zu Tode spritzen lassen wollte. Das werde ich vor Gericht beeiden.“

„Sehr gut. Entführung und versuchter Mord wird das Sündenregister dieses Pastors erheblich erweitern. Der wird die nächsten dreißig Jahre Gottes Himmel wohl nur noch vom Gefängnishof aus sehen können. Sofern er aus Thailand lebend zurückkommen sollte. Aber auch einige seiner hiesigen Stellvertreter können wir für lange Zeit aus dem Verkehr ziehen. Es wäre gut, wenn Sie sich gleich einem medizinischen Check unterziehen würden.“

„Ich bin geschwächt, aber nicht krank. Meine Aussage kann ich später machen, bitte lassen Sie mich einfach in mein Bett.“ „Eigentlich dürfte ich Sie nicht so einfach ziehen lassen, aber ich rufe Norris an, wenn er sein Einverständnis gibt, kann Bill Sie nach Hause bringen.“ Der junge, mir inzwischen sehr sympathische Mann, telefonierte kurz mit seinem Chef, dann reichte er das Handy weiter. „Schön, dass Sie noch am Leben sind, Frank. Ich hatte mir schon große Sorgen gemacht, als ich erfuhr, dass Sie nach Ihrem Besuch beim Rechtsanwalt wie vom Erdboden verschwunden waren.“ „Ihre Leute sind noch rechtzeitig gekommen, in zwei oder drei Wochen hätten die Priester mich so voller Drogen gepumpt, dass ich wahrscheinlich nicht mal mehr Bill erkannt hätte. Vielen Dank. Wir sind nun endgültig quitt.“ „Ich muss mich bei Ihnen bedanken, durch Ihre weitergeleiteten Informationen konnte Aaron diesen Peters und einige kolumbianische Drogenbosse gleich nach ihren Geheimverhandlungen in Bogotá festnehmen. Dadurch hatte ich hier die Möglichkeit, endlich die Anlage durchsuchen zu lassen. Vorher hat schon wieder einer von ganz oben dazwischen gefunkt und die Überwachungskräfte abgezogen, aber die Beweise gegen Peters sind nun so erdrückend, dass sich seine Freunde sehr schnell von ihm lossagen werden. Den will in ein paar Tagen keiner mehr gekannt haben. Fahren Sie nach Hause, Frank, Ihre Aussage können Sie in morgen oder übermorgen machen, ich schicke Ihnen zwei meiner Leute nach Hollywood Beach, die nehmen Ihre Angaben zu Protokoll. Erholen Sie sich gut.“ „Danke. Sie scheinen ja auch wieder recht schnell fit geworden zu sein?“

„Bin ich. Die Arbeit ist, abgesehen von meiner Frau, mein Lebenselixier. Und ich bin diesmal sehr zufrieden mit dem Ergebnis. Meine gerade verheilte Stichwunde juckt vor Freude und Genugtuung. Und ein Freund von mir wird auch erfreut sein, denn sein Sohn wurde von diesen Bethlehemern rekrutiert und völlig umgedreht. Ich hoffe, jetzt kann er ihn zurückgewinnen und ihm die wahren Absichten und Ziele dieser Bande klarmachen.“

„Wäre zu wünschen. Schade um jede junge Seele, die diesen Verbrechern in die Hände fällt. Machen Sie es gut und nochmals vielen Dank für mein Leben und - den Tipp.“ Ich denke, er wusste, was ich damit meinte. Ich fühlte mich nach dem kurzen Telefonat, als ob ich einen ganzen Acker umgepflügt hätte. Bill stützte mich, als er merkte, dass mir schwindlig wurde. Er brachte mich zu seinem Wagen, der einige Hundert Meter vom Haupteingang der Anlage geparkt war. Ich spürte wieder einmal wie relativ Zeit und Weg sein können. Man musste nicht Einstein sein, um zu dieser Erkenntnis zu kommen. Bereits nach fünfminütiger Fahrzeit rebellierte mein Magen, Bill konnte gerade noch rechtzeitig halten und ich die Beifahrertür öffnen, um mich zu übergeben. Die grünlich schimmernden Schleimreste, die auf dem Bordstein landeten, brachten mich zum erneuten Würgen. Ich wendete den Blick ab und sog die feuchte Luft kräftig ein. Dann ging es mir etwas besser. „Willst du einen Schluck trinken, ich habe einige Flaschen Mineralwasser im Kofferraum.“ Ich nickte nur. Nachdem ich meinen Mund und Rachen ausgespült und dann einige Schluck getrunken hatte, fühlte ich, dass sich mein Kreislauf etwas stabilisierte. „Wäre es nicht doch besser, in einem Hospital vorbeizuschauen?“ Bill meinte es gut, aber ich wusste, woher die Übelkeit kam und das einzige Mittel, das mir helfen konnte, zu alter Form zurückzukehren, befand sich anderthalb Stunden Fahrzeit entfernt. In Hollywood Beach. In einer gemieteten Villa. Joanne. Vielleicht gerade angesichts meiner körperlichen Schwäche spürte ich die Sehnsucht in einer besonders intensiven Weise. „Bring mich einfach nach Hause, Bill.“

……..

Impressum

Texte: Text ist urheberrechtlich geschützt. Text ist dem 3. Band der "Weichei-Trilogie" entnommen. Siehe: www.Frank-Tenner.net
Bildmaterialien: Frank Tenner, Cover K.J. Wernecke
Tag der Veröffentlichung: 25.03.2013

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