29. April 2007, ein Datum das ich wohl nie mehr in meinem Leben vergessen werde. An diesem Tag hat sich alles geändert, mein ganzes bisheriges Leben war plötzlich wie ausgelöscht, die Leichtigkeit die bis dahin mitunter geherrscht hatte gab es mit einem Male nicht mehr.
Es war ein Sonntag und ich hatte ein erholsames und, ausnahmsweise ruhiges, Wochenende hinter mir da meine Kinder wie alle zwei Wochen bei meinem Exmann waren. Diese Tage waren mir heilig, vor allem wenn ich den Luxus hatte an diesen Tagen einmal nicht arbeiten zu müssen. Aber ich freute mich meine Rabauken wieder um mich zu haben, denn so allein in der Wohnung war es doch ungewohnt still.
Als meine Kinder am späten Nachmittag zurück kamen war es wie immer. Taschen in die Ecke, Sturm auf die Küche und den Kuchen und dazu aus drei Kehlen die Schilderung des Wochenendes. Natürlich wie immer alle gleichzeitig und, eigentlich auch schon wie immer, die Aussage das es irgendwie toll aber auch langweilig war, weil sie das machen mussten was der Vater wollte.
Meine Tochter erzählte mir, das eine Freundin von ihr über´s Wochenende mit beim Vater war. Auch das war nichts neues, denn ab und zu durfte mal eines der Kinder jemanden einladen wenn sie bei ihrem Vater waren.
Ich lies meine Kinder reden und machte mir im Geiste Notizen über die Dinge, über die ich mit meinem Exmann reden musste, allen voran einmal mehr das Thema Aufsichtspflicht. Denn, wie ich aus den Erzählungen meiner Kinder entnehmen konnte, hat mein Exmann sich wieder einmal die halbe Nacht auf irgendeiner Party vergnügt und betrunken und die Kinder alleine in seiner Wohnung zurück gelassen statt sich um sie zu kümmern wie es eigentlich sein sollte. Das die Drei sich dann am Tag darauf selbst versorgen mussten, was auch nicht zum ersten Mal der Fall war, war dann natürlich die logische Konsequenz. So konnte das nicht weiter gehen und ich nahm mir vor meinem Exmann dies nochmal in aller Deutlichkeit zu sagen. Allerdings wusste ich das ich bei ihm wie immer auf taube Ohren stoßen würde.
Es war also irgendwie wie immer, keine besonderen Vorkommnisse. Zumindest dachte ich das...
...ich dachte es bis ich gegen 17 Uhr einen Anruf vom Vater der Freundin meiner Tochter erhielt. Ab dann war nichts mehr wie immer.
Statt einer Begrüßung war der erste Satz den ich zu hören bekam "ich werde morgen zur Polizei gehen und Ihren Exmann anzeigen. Wenn Sie meinen Rat wollen, dann lassen Sie ihre Kinder nicht mehr zu Ihrem Exmann."
Ich wusste nicht wie mir geschieht, geschweige denn worum es geht, denn meine Kinder hatten mir nicht erzählt das irgendetwas passiert sei. Aber die Erklärung sollte ich umgehend bekommen und meine Überraschung ob dieses Anrufs sollte sich erst in Fassungslosigkeit und dann in blankes Entsetzen wandeln.
"Ihr Ex hat meine Tochter angefasst! Sie hat mir gesagt das sie mit Ihrer Tochter darüber gesprochen hat und das er das bei Ihrer Tochter schon seit langem macht!"
Wumm, der Schlag saß und ich konnte nicht fassen was ich da am Telefon erfahren musste, aber ich hatte nicht den geringsten Zweifel das dies der Wahrheit entsprach.
Ich brauchte einige Zeit um meine Fassung zurück zu bekommen und das zu verdauen was ich gehört hatte.
Als ich wieder halbwegs einen klaren Gedanken fassen konnte bin ich zu meiner Tochter um ihr zu sagen das ich einen Anruf vom Vater ihrer Freundin bekommen habe.
Mehr als dies hat es nicht gebraucht um bei meiner Tochter die Schleusen zu öffnen. Noch heute sehe ich meine Kleine vor mir wie sie weinend zusammen sackt. Hätte ich nur den geringsten Zweifel am Wahrheitsgehalt des Telefonats gehabt, in diesem Moment wären diese Zweifel weg gewischt gewesen.
Sexueller Missbrauch!
Diese zwei Worte hämmerten in meinem Kopf, wieder und wieder.
Nach und nach erzählte mir meine Tochter bruchstückhaft was in den letzten Jahren, an den sogenannten Papawochenenden, passiert ist und mein Entsetzen, meine Fassungslosigkeit und auch meine Hilflosigkeit wurden immer größer. Und auch ein weiter Gedanken jagte mir durch den Kopf: Warum habe ich nichts gemerkt?
Es war als hätte jemand in mir einen Schalter umgelegt. Ich funktioniert ohne zu denken, denn das konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. In mir war alles wie ausgelöscht.
Ohne groß nach zu denken nahm ich meine Tochter an der Hand, sagte meinen Jungs ich müsste mit ihrer Schwester noch einmal kurz weg und ging mit meiner Tochter zur Polizei. Etwas mehr als eine Stunde war seit dem verheerenden Anruf vergangen als ich vor dem diensthabenden Beamten stand und sagte das ich eine Anzeige wegen sexuellem Missbrauch erstatten möchte. Der Blick des Polizisten sprach mehr als 1000 Worte als er uns bat zu warten, da dies eine Sache für die Kripo sei und er den zuständigen Kollegen erst von einer anderen Dienststelle holen müsste, was aber nicht lange dauern würde.
Er hatte Recht, denn ich hatte gerade Zeit für eine Zigarette, von denen ich in der vergangen Stunde, ganz gegen meine Gewohnheiten, bestimmt eine Schachtel geraucht hatte.
Der zuständige Polizeihauptkommissar bat mich in ein Dienstzimmer während meine Tochter draußen warten musste, was ihr aber auch lieber war denn sie war immer noch ein Schatten ihrer selbst.
Ich erzählte dem Beamten vom Anruf den ich erhalten hatte, von dem was meine Tochter mir in der vergangen Stunde erzählt hat, und, ich machte auch keinen Hehl daraus, das ich meinen Exmann abstechen würde wenn er mir in diesem Augenblick in die Finger käme. Die unbändige Wut auf den Menschen mit dem ich mal verheiratet war, mit dem ich drei Kinder habe und der, aus welchen Gründen auch immer, unserer gemeinsamen Tochter das schlimmste angetan hat was es außer Mord gibt, diese Wut hat mich damals fast zerrissen.
Aber es hat gut getan in diesem Moment einen Kanal für meine Wut zu haben und mir alles von der Seele zu reden was mir im Kopf herum schwirrte. Es war gut, Fragen stellen zu können, gerade in Bezug auf das weitere Prozedere. Es war gut, jemandem gegenüber zu sitzen der meine verbalen Ausfälle nicht persönlich nahm sondern mir zu verstehen gab das meine Gefühle, die ich zu dem Zeitpunkt hatte, normal waren.
Es wurde ein langer Termin bei der Polizei, länger als ich es mir hatte vorstellen können. Aber es war auch das erste Mal das ich mit der Polizei zu tun hatte, ich wusste also nicht was alles auf mich zu kommt. Nach gut zwei Stunden war die Anzeige fertig und ich durfte mit meiner Tochter wieder nach Hause gehen. Meine Tochter wurde an diesem Tag nicht befragt, wofür ich sehr dankbar war und sie auch. Denn aus einem unbeschwerten 11-jährigen Mädchen war innerhalb von wenigen Sekunden ein Schatten geworden als ich sie auf den Anruf angesprochen habe.
Als wir die Polizeidienststellen verließen hat meine Tochter gefragt: "bin ich jetzt wieder frei?" Meine Antwort war: "Ja. Es ist vorbei und dein Vater wird dir nie wieder etwas tun."
Und das meinte ich auch so und stehe bis heute dazu.
Der Mann, der Vater meiner Kinder, wird keinem meiner Kinder mehr etwas antun. Denn das was er bei den Kindern seit unserer Scheidung angerichtet hat ist mehr als genug. Aber das wusste ich an diesem Tag noch nicht, das sollte ich alles im Laufe der kommenden Wochen und Monate nach und nach erfahren.
Als meine Tochter und ich wieder zu Hause ankamen saßen meine Jungs vor dem Fernseher und fragten uns wo wir so lange waren.
Mir lag noch nie etwas daran andere zu belügen und ich wollte bei meinen Kindern nicht damit anfangen. Außerdem würden sie früher oder später eh erfahren müssen was passiert ist. So habe ich meinen Söhnen gesagt das ich mit ihrer Schwester bei der Polizei war um ihren Vater anzuzeigen. Ich habe ihnen gesagt das ihr Vater etwas gemacht hat was man als Erwachsener nicht macht und das er ihrer Schwester sehr weh getan hat. Zum Glück gaben sie sich mit dieser Erklärung zufrieden, auch wenn die Angst, das ihr Vater jetzt ins Gefängnis muss, in dem Augenblick alles andere überlagert hat.
Es fiel mir nicht leicht mit meinen Söhnen so offen zu sein, denn man wünscht sich für seine Kinder immer nur das Beste. Und dazu gehört sicher nicht Kindern sagen zu müssen das man als Mutter den Vater angezeigt hat.
Aber genauso schwer wie das Gespräch mit meinen Kindern war das Gespräch mit meiner Familie.
Ich musste mit jemandem reden, meiner Seele Luft machen und meinen Schmerz mit jemandem teilen. Also rief ich, nachdem die Kinder endlich im Bett waren, meine Eltern an. Ich wusste, in der kommenden Zeit würde ich jegliche Unterstützung brauchen die ich bekommen konnte - nicht nur für mich sondern auch für meine Kinder.
Mein Vater nahm meinen Anruf entgegen und der entsetze Aufschrei von ihm, nachdem ich ihm gesagt hatte was passiert ist, hallt noch heute in meinen Ohren wider. Es war das erste Mal in meinem Leben das ich meinen Vater, den ich bis dahin nur als Fels in der Brandung kannte, als gebrochenen Mann erlebte.
In einer schlaflosen Nacht habe ich mir Gedanken gemacht wie es weiter gehen soll, wen ich alles über die Vorkommnisse informieren muss, wie meine nächsten Schritte aussehen sollen.
Als erstes habe ich meine Tochter morgens in der Schule entschuldigt, denn sie musste nach dem vergangenen Tag erst einmal zur Ruhe kommen. Ich habe mich ans Telefon gehängt um die Leute zu informieren bei denen es mir wichtig erschien. Leider war dieser Tag ein Brückentag und sowohl das Jugendamt als auch mein Anwalt waren nicht erreichbar.
Wen ich aber informieren konnte waren die Schulen meiner Kinder.
So bin ich mit meiner Tochter zu ihrer Schule gefahren um mit dem Rektor zu sprechen. Das Entsetzen, was mir schon am Vortag begegnet war, setzte sich hier fort. Aber ich konnte es keinem verübeln, denn das was ich zu sagen hatte, das bekommt man auch nicht jeden Tag so unverblümt vor gesetzt. Man kann es aber auch nicht umschreiben um es für seine Gegenüber leichter verdaulich zu machen.
Der Rektor, ein Mann kurz vor dem Ruhestand, hat, nachdem er kurz schlucken musste sehr souverän reagiert. Als erstes hat er ein sofortiges Hausverbot für meinen Exmann erlassen und dann die Schulpsychologin hinzu gezogen, denn das Mädchen, welches mein Exmann ebenfalls angefasst hat, war nicht nur eine Freundin meiner Tochter sondern ging auch auf diese Schule, in die gleiche Klasse wie meine Tochter.
Es ging also nicht nur darum meiner Tochter zu helfen und sie vor möglichen weiteren Übergriffen zu schützen, sondern es ging auch darum wie man in der Klasse mit der Situation allgemein und mit dem Thema Missbrauch im Besonderen umgeht.
Wir sind damals überein gekommen die Lehrer der Klasse über den Missbrauch zu informieren, es aber den Mitschülern nicht zu sagen. Dies sollte meiner Tochter überlassen sein mit wem sie darüber sprechen wollte. Sie sollte auch den Zeitpunkt selbst bestimmen. Die Schule hat uns jegliche Unterstützung zugesagt, auch für den Fall das meine Tochter aufgrund der Vorfälle zeitweise nicht am Unterricht teilnehmen kann.
Dies ist etwas was ich dem Rektor und allen anderen Beteiligten heute noch hoch anrechne.
Nach diesem Gespräch bin ich dann zur Schule meiner Jungs, denn ich wollte auch dort Bescheid geben was passiert ist. Ich wusste ja nicht ob meine Söhne etwas erzählen, wie sie mit der Situation umgehen oder wie mein Exmann reagiert wenn er von meiner Anzeige erfährt.
Auch dort begegnete mir wieder das schon bekannte Entsetzen in den Gesichtern der Lehrer und der Erzieher im Hort. Mir wurde versprochen mich zu informieren wenn mein Exmann dort auftaucht. Man versprach mir ihn nicht mit den Jungs allein zu lassen oder sie ihm gar mitzugeben wenn er sie abholen wollte. Ein Hausverbot, so wie bei meiner Tochter, wurde dort nicht so schnell verhängt, da alles über den Verwaltungsweg laufen muss. Und auch da sah man erst keine Notwendigkeit, zumindest nicht bis mein Anwalt Druck gemacht hat.
Meinen Anwalt habe ich, drei Tage nachdem ich vom Missbrauch erfahren habe, erreicht und auch sofort einen Termin bekommen.
Eine Person mehr der ich unverblümt gesagt habe was passiert ist und die genau wie alle anderen reagiert hat. Ich denke man kann gar nicht anders als entsetzt zu reagieren, ging mir ja im ersten Moment auch nicht anders.
Ich habe dem Anwalt dann erzählt was passiert ist, wie ich davon erfahren hab und was mir meine Tochter in den letzten Tagen dann noch alles erzählt hat. Ich habe ihm auch gesagt das ich meinen Exmann umgehend angezeigt habe, das ich nicht möchte das er, nachdem was er unserer Tochter angetan hat, Kontakt zu den Kindern hat – und zwar zu allen. Und ich habe ihm auch gesagt das ich Angst um die Kinder und mich habe, da mein Exmann schon des öfteren Drohungen gegen uns ausgesprochen hat. Letzteres wusste mein Anwalt weil er mich schon bei der Scheidung vertreten hat und ein Gewaltausbruch meines Exmannes mit ein Scheidungsgrund war. Außerdem kannte mein Anwalt ja das Vorstrafenregister von meinem Ex in dem Körperverletzungen, in verschiedenen Varianten, mehrmals vorkommen.
Mein Anwalt versprach bei Gericht eine einstweilige Verfügung gegen meinen Ex zu beantragen mit einer Kontaktsperre und einen Näherungsverbot.
Außerdem erfuhr ich hier wie es jetzt, nach meiner Anzeige, weiter geht, was es mit einem Verfahrenspfleger auf sich hat, das meine Tochter wohl zu einen Glaubwürdigkeitsgutachten müsste und noch einige Dinge mehr. Auf das bis dahin gemeinsam Sorgerecht angesprochen erhielt ich den Rat das alleinige Sorgerecht erst nach Abschluss des Strafverfahrens zu beantragen, welches jetzt auf meinen Exmann zukommen würde. Denn mit einem Urteil in der Hand wäre dies einfacher zu bekommen.
Das sich mein Anwalt dabei getäuscht hat konnten damals weder er noch ich wissen.
Am gleichen Tag hatte ich dann noch ein Telefonat mit dem Jugendamt. Dort nahm man mein Anliegen zu Kenntnis und versprach sich wieder bei mir zu melden. Da ich ja schon Anzeige erstattet und meinen Anwalt eingeschaltet habe bestünde keine akute Gefahr mehr für meine Kinder. Auf die Frage wie ich mit der Situation umgehen soll, wie ich meinen Kindern gegenüber verhalten soll und wie ich meiner Tochter am besten helfen kann erhielt ich damals leider keine Antwort.
Meine Tage waren damit ausgefüllt meine Kinder nicht mehr aus den Augen zu lassen. Ich brachte sie morgens in die Schule, holte sie wieder ab und begleitete sie auch zu Freunden oder zum Sport.
Mein Chef wusste inzwischen auch Bescheid und hat mir unbezahlten Urlaub gewährt. Arbeiten hätte ich zu der Zeit sowieso nicht können, denn unabhängig von meinem Schutzgedanken in Bezug auf meine Kinder, konnte ich mich eh nicht konzentrieren und Fehler, die ich mir in meinem Beruf nicht erlauben konnte, wären wohl unvermeidbar gewesen.
Zwei Wochen nachdem mein Anwalt sich ans Gericht gewandt hat bekam ich die einstweilige Verfügung. Mein Exmann durfte sich uns nicht mehr nähern und auch keinerlei Kontakt zu den Kindern oder mir aufnehmen. Das hätte mich zwar beruhigen sollen, da ich aber große Zweifel hatte das er sich daran halten würde, tat es das nicht. Vielmehr verstärkte sich damit meine Angst vor Übergriffen denn jetzt wusste er das etwas nicht stimmte, auch wenn er noch nicht im Bilde darüber war was es genau ist.
Das irgendwas schief läuft hatte er aber auch schon vorher zu spüren bekommen, denn er hat mich in den zwei Wochen zwischen Anzeige und Verfügung einmal angerufen. Da hab ich ihm nur gesagt, wenn er es noch einmal wagen sollte Kontakt zu den Kindern oder mir aufzunehmen oder gar bei uns auftauchen sollte, dann bring ich ihn um. Zum Antworten oder Nachfragen kam er gar nicht mehr. Ich habe aufgelegt bevor er überhaupt den Mund aufmachen konnte. Danach habe ich mein Handy ausgeschaltet und mir am kommenden Tag eine neue Simkarte besorgt. Unsere Festnetznummer hatte er nicht und jetzt konnte er mich auch über´s Handy nicht mehr erreichen oder gar belästigen.
Eine weitere Woche später kam dann der Anruf von der Polizei, meine Tochter dürfe bei der Polizei jetzt ihre Aussage machen. Das dies so lange gedauert hat lag daran, dass für eine Aussage die Zustimmung von allen Erziehungsberechtigten vorliegen muss. Da es in unserem Fall zu Ungunsten des Vaters ist darf dieser allerdings nicht zustimmen. Seine Zustimmung wird durch einen Verfahrenspfleger ersetzt. Und Bürokratie dauert nun mal ihre Zeit.
Leider nahm keine Polizeibeamtin die Aussage meiner Tochter auf, wie ich es mir gewünscht hätte, sondern ein männlicher Beamte. Aber, auch wenn es meiner Tochter schwer fiel, sie kam besser damit zurecht als ich dachte.
Die polizeiliche Vernehmung wurde auf Video aufgenommen um meiner Tochter später eine Aussage bei Gericht wenn möglich zu ersparen. Ich durfte bei der Vernehmung dabei sein und mir war noch nie so übel wie an diesem Tag. Auch wenn meine Tochter mit mir in den vergangen Wochen immer wieder mal über den Missbrauch gesprochen hat, so kam vieles an diesem Tag zum ersten Mal ans Tageslicht. Da die Befragung sehr ins Detail ging erfuhr ich an diesem Tag zum ersten Mal wie weit der Missbrauch gegangen ist und was meine Tochter über 1 1/2 Jahren hat über sich ergehen lassen müssen. Ich musste erfahren das der Missbrauch sehr weit gegangen war. Einzig eine vollendete Vergewaltigung fehlte noch.
Ich erfuhr Dinge von denen ich mir wünschte, meine Tochter hätte sie nie erleben müssen und von denen ich mir wünschte, ich hätte sie verhindern können. Meine Tochter hat an diesem Tag eine Stärke bewiesen die ich nur bewundern konnte, sie hat die Fragen des Kripobeamten beantwortet, auch wenn es ihr noch so schwer fiel alles bis ins kleinste Detail zu erzählen. Aber ich denke sie wusste wie wichtig dies ist für den weiteren Verlauf war. Sie war sich bewusst, dass der Täter nur so zur Verantwortung gezogen werden kann.
Auch ich musste noch mal eine Aussage bei der Polizei machen, auch wenn ich das meiste schon bei meiner Anzeige zu Protokoll gegeben hatte. Aber das reichte eben nicht aus.
Am 31. Mai 2007 kam dann der Anruf von der Kripo auf den ich vier Wochen lang gewartet habe. Mein Exmann wurde verhaftet und wird dem Untersuchungsrichter vorgeführt.
Endlich! Endlich Sicherheit.
Der Untersuchungsrichter hat dann U-Haft angeordnet, u. a. wegen Fluchtgefahr, da mein Exmann Ausländer ist. Und nachdem mein Exmann mit einer Beschwerde gegen die U-Haft abgeblitzt ist war klar, er bleibt bis zum Prozess, wann immer der sein mag, in Haft. Die Erleichterung von uns allen war greifbar, auch wenn es für meine Söhne ein schwerer Tag war, denn sie kannten das Ausmaß dessen was ihr Vater gemacht hatten nicht. Ich hatte ihnen bis dahin nicht gesagt was genau vorgefallen ist, ich wusste einfach nicht wie ich zwei 6 und 8 Jahre alten Kindern sagen sollte was sexueller Missbrauch ist. Aber ich wusste das ich dies machen musste, denn der Missbrauch hat immer dann statt gefunden wenn die Kinder bei ihrem Vater waren. Da sich alle Drei dort ein Zimmer teilten stellte sich natürlich auch die Frage ob er sich nicht nur an seiner Tochter vergangen hat sondern auch an seinen Söhne. Ob sie vielleicht etwas vom Missbrauch mitbekommen haben und aus Angst geschwiegen haben.
Bei den Dingen, die ich durch die Vernehmung meiner Tochter erfahren habe, lag vor allem letzteres im Rahmen des möglichen.
Wie angekündigt wurde meiner Tochter vom Gericht eine Gutachterin zu geteilt um ein Glaubwürdigkeitsgutachten zu erstellen. Leider kam meine Tochter mit dieser Frau und den Methoden, mit denen bei so einem Gutachten gearbeitet wird, gar nicht zurecht. Sie verweigerte die Mitarbeit bei der Gutachterin und weigerte sich auch einen weiteren Termin wahr zu nehmen. Da ich meine Tochter nicht zwingen wollte bat ich meinen Anwalt sich bei Gericht um einen anderen Gutachter zu bemühen. Meiner Tochter war es egal ob dies eine Frau oder ein Mann ist, sie wollte nur nicht wieder zu dieser Psychologin.
Ich konnte das sehr gut nachvollziehen, denn ich konnte schon beim Vorgespräche, zu dem ich musste, feststellen, dass die Gutachterin vielleicht fachlich sehr gut war, aber absolut keine Ahnung von der Arbeit mit Kindern hatte. Für sie machte es keinen Unterschied wie alt die Person war bei der sie ein Gutachten erstellen sollte. Sie behandelte alle gleich und stellte ihre Fragen ohne Einfühlungsvermögen, bohrte in offenen Wunden bis meine Tochter zusammen brach und reagierte dann ungehalten als meine Tochter jegliche Antwort verweigerte.
Leider hatten wir kein Glück mit einem anderen Gutachter. Mein Anwalt sagte mir, meine Tochter müsste mit dieser Frau klar kommen und zusammen arbeiten, denn sonst würde mein Exmann wohl aus der U-Haft frei kommen und ein möglicher Prozess platzen. Eine Weigerung bei der Zusammenarbeit würde für das Gericht bedeuten das meine Tochter wohl gelogen hat. Als ich das erfuhr hätte ich am liebsten einigen Leuten den Hals um gedreht. Wie kann man nur so mit einem Menschen umgehen dem es schon total schlecht geht, vor allem wenn es sich dabei um ein Kind handelt.
Nachdem ich mit meiner Tochter gesprochen habe hat sie sich bereit erklärt nochmals zu der Gutachterin zu gehen. "Um ihr die knallharte Wahrheit zu sagen", wie sich meine Tochter damals ausdrückte. Also machte ich einen neuen Termin bei der Psychologin, der von dieser mit den Worten quittiert wurde "na hoffentlich stellt ihre Tochter nicht wieder auf stur und ich verschwende nur meine Zeit“.
Bei diesem Kommentar stellten sich bei mir die Nackenhaare, denn wenn so jemand, der so voreingenommen ist, ein Gutachten über meine Tochter erstellt, kann eigentlich nichts Gutes dabei heraus kommen.
Im Nachhinein habe ich erfahren das wir nicht die Ersten waren die sich über diese Gutachterin beschert haben. Es muss wohl schon öfters vorgekommen sein das diese sich durch mangelndes Einfühlungsvermögen ausgezeichnet hat, vor allem wenn es um Gutachten bei Kindern ging. Und trotzdem wurde sie immer wieder als Gutachterin für Kinder bestellt. Etwas was ich bis heute nicht verstehen kann.
Auch die Freundin meiner Tochter musste zu dieser Gutachterin. Ihr Vater hat allerdings nicht, wie er mir bei dem einschneidenden Telefonat mitgeteilt hat, am Tag nach unserem Gespräch Anzeige erstattet. Es war vielmehr so das sich die Polizei bei der Familie gemeldet und die Tochter zur Befragung vorgeladen hat. Dies Aufgrund meiner Anzeige und meiner späteren Befragung, worin ich ausgesagt habe,es gäbe noch ein weiteres Opfer. Über den Ärger, den mir besagter Vater deswegen gemacht hat, mag ich gar nicht mehr reden. Allerdings kann ich nicht verstehen wie man erst so ein Fass aufmachen kann, dann nichts mehr macht sondern alles unter den Teppich kehrt und letztendlich demjenigen, der nicht schweigt sondern handelt, also mir, rechtliche Konsequenzen androht. Und das nur, weil ich bei der Polizei wahrheitsgemäß gesagt habe das meine Tochter nicht das einzige Opfer ist.
Auch das Jugendamt hatte sich wieder bei mir gemeldet. Das Gericht hat das Jugendamt informiert und ich wurde zu einem Gespräch gebeten. Also einmal mehr erzählen was passiert ist, wie es meiner Tochter geht, das sie inzwischen psychologisch betreut wird. Natürlich kam auch das Thema der Brüder auf, wie die mit der Situation umgehen, ob sie auch missbraucht wurden, und und und.
Zumindest wurden mir keine Vorwürfe gemacht weil ich nichts gemerkt habe, etwas wovor ich Angst hatte. Mir wurde vielmehr Hilfe angeboten falls die psychologische Betreuung meiner Tochter nicht ausreichen sollte, falls ich Unterstützung für meine Söhne bräuchte oder auch, falls ich Hilfe oder Unterstützung nötig habe. Auch wenn ich mir diese Antworten ganz zu Beginn, als ich mich ans Jugendamt gewandt hatte, gewünscht hätte, so war ich froh jetzt noch von einer weiteren Seite Unterstützung zu bekommen wenn es nötig ist.
Dann kam das erste Mal Post vom Gericht. Eine Vorladung für meine Tochter. Sie sollte vorab von einer Richterin befragt werden um ihr, wenn möglich, damit ein persönliches Erscheinen im Hauptprozess zu ersparen. Bei diesem Termin war nicht nur die Richterin dabei sondern auch die Anwältin von meinem Exmann. Mein Anwalt meinte, wir bräuchten ihn da nicht, da es nur um darum geht das meine Tochter eine Aussage macht. Nun gut, er musste es ja wissen. Ich begleitete meine Tochter zum Gericht und die gegnerische Anwältin wollte mich nicht bei der Befragung meiner Tochter dabei sein lassen. Die Richterin ging zum Glück nicht darauf ein sondern bat mich, gemeinsam mit meiner Tochter, ins Richterzimmer.
Dort wurde meine Tochter dann von der Richterin befragt und schließlich stellt auch die Anwältin vom meinem Exmann einige Fragen. Viele davon wurden allerdings von der Richterin abgewiesen.
Als wir das hinter uns hatten hoffte ich das meine Tochter keine weiteren Befragungen über sich ergehen lassen muss.
Natürlich sind diese Dinge wichtig, aber damit werden die Wunden auch immer wieder aufgerissen. Mit jeder Befragung wurden die kleinen Therapiefortschritte meiner Tochter wieder zunichte gemacht. Ich wünschte mir, das endlich alles zu einem Ende und meine Tochter endlich zur Ruhe kommt. Das sie endlich das Geschehene auf- und verarbeiten kann ohne das wieder jemand in den Wunden stochert. Ich wünschte mir, das meine Tochter endlich einen Weg findet wieder ein Stück ihrer Unbeschwertheit zurück zu bekommen und ihr Leben, nach dem was vorgefallen ist, wieder genießen kann. Das sie wieder Kind oder Jugendliche sein kann und darf, mit allem was dazu gehört, so wie es für andere Kinder normal ist.
Die Wochen vergingen und nach der Verhaftung des Täters war endlich wieder so etwas wie Normalität in den Alltag von den Kindern und mir eingekehrt.
Auch ich kam wieder etwas zur Ruhe.
Die Frage, die mich aber nie los gelassen hat und selbst heute noch beschäftigt ist, warum hab ich nichts gemerkt. Ich denke diese Frage würde sich jeder in meiner Situation stellen um heraus zu finden wo er versagt hat.
Natürlich gab es, wenn man den diversen Ratgebern glauben schenken darf, Anzeichen das etwas nicht stimmt. Aber für alle sogenannten Anzeichen gab es auch eine logische Erklärung. Außerdem, wer geht schon von einem Missbrauch aus wenn sich ein Kind anders verhält als man es gewohnt ist oder von ihm erwartet?
Rückblickend gab es bei meiner Tochter verschieden Dinge die mich hätten stutzig machen können, aber wie gesagt, es gab für alles eine logische Erklärung.
Meine Tochter ist zwei Monate bevor der Missbrauch begann auf ein Gymnasium gekommen. Mir war von vornherein klar das sich die Noten an der neuen Schule verschlechtern können, einfach weil die Anforderungen größer sind. Daher hat es mich nicht verwundert als es dann tatsächlich so kam. Und wenn sich meine Tochter dann, mit der Bemerkung sie müsse lernen, mehr als früher zurück gezogen hat, so hielt ich dies auch für normal und hatte dafür Verständnis.
Woher hätte ich wissen sollen das die Begründung mit dem Lernen nur vorgeschoben war und sich meine Tochter aus einem ganz anderem Grund vermehrt zurück zog? Oder hätte ich es erkennen müssen, genauso wie ich hätte erkennen müssen das die schlechteren Leistungen in der Schule ihre Ursache außerhalb der Schule haben?
Wenn meine Tochter damals manchmal launisch war, dann schob ich dies auf die Pubertät. Schließlich war ich in dem Alter auch nicht anders. Hätte ich die Launen und Gefühlsausbrüche als Hilfeschrei bemerken müssen statt nachsichtig mit einer vermeintlich Pubertierenden zu sein?
Und wenn sie, was nicht oft vorkam, einmal am Wochenende nicht zu ihrem Vater wollte, dann beantwortete sie meine Fragen nach dem warum auch mit schulischen Dingen, zum Beispiel mit anstehenden Tests für die sie lernen muss was beim Vater nicht geht, weil er dafür kein Verständnis hat. Oder sie hatte eine Einladung bei einer Freundin oder auch einfach mal keine Lust.
Ich hatte Verständnis dafür, schließlich wurde sie ja älter und ich fand, sie dürfe auch ruhig mal ihre eigenen Interessen vertreten.
Mein Exmann sah das allerdings ganz anders und es gab regelmäßig Diskussionen, Druck und Drohungen wenn meine Tochter einmal nicht zu ihm wollte. Er beharrte darauf, es sei sein Recht die Kinder alle zwei Wochen am Wochenende bei sich zu haben und da hätten sich alle daran zu halten und unter zu ordnen – vor allem die Kinder. Das er selbst auch des öfteren einen Termin ab sagte oder verschob, und das generell kurzfristig, das interessierte ihn nicht. Er hätte ja schließlich auch noch ein Privatleben und da sei es normal wenn er mal keine Zeit für seine Kinder habe war seine Devise.
Ich kannte diese ganzen Sprüche von ihm damals zur genüge, denn wir waren schon lange genug geschieden und er brachte sie zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit an. Aber genauso gut wie ich die Sprüche kannte, genauso ließen sie mich kalt. Wenn meine Tochter, einer meiner Jungs oder auch mal alle drei nicht zu ihrem Vater wollten oder konnten, dann sagte ich dies meinem Exmann, lies mich von ihm und seinen Drohungen nicht beeindrucken. Wenn meine Kinder nicht wollten, dann mussten sie auch nicht zu ihrem Vater. Das war mein Standpunkt.
Hätte ich also Verdacht schöpfen müssen als meine Tochter ab und zu sagte, sie will nicht zu ihrem Vater?
Ich selbst mache mir auch heute noch die größten Vorwürfe weil ich nichts gemerkt habe, weil ich meiner Tochter nicht eher geholfen habe. Meine Schuldgefühle meinen Kindern gegenüber sind heute noch manchmal sehr groß, ebenso das Gefühl, als Mutter versagt zu haben. Auch wenn mir viele Menschen, auch von den Behörden, gesagt haben, ich hätte mir nichts vor zu werfen, hätte alles richtig gemacht sobald ich vom Missbrauch erfahren habe. Dies ändert nichts an meinen Selbstvorwürfen.
Meine Tochter und ich haben im Laufe der Zeit öfter darüber gesprochen und auch sie macht mir deswegen keine Vorwürfe.
Natürlich blieb auch die Frage nicht aus, warum meine Tochter sich mir nicht anvertraut hat, mir nie etwas gesagt hat, auch nicht andeutungsweise. Als ich sie danach gefragt habe hat sie mir gesagt das sie Angst hatte. Angst vor ihrem Vater.
Die Frage ob sie von ihrem Vater bedroht wurde hat sie verneint. Sowohl bei mir, als auch bei Polizei und Gericht. Aber sie war alt genug um die Drohung mit zu bekommen die ihr Vater mir gegenüber des öfteren geäußert hat, sie hat oft genug mit bekommen wenn er wütend bei uns vor der Tür stand weil etwas nicht so lief wie er es wollte. Dadurch war sie so eingeschüchtert das sie sich nicht getraut hat sich jemandem anzuvertrauen, weder mir noch jemand anderem – bis zu dem Wochenende an dem nicht sie, sondern ihre Freundin, Opfer ihres Vaters wurde. Dann endlich hat sie mit ihrer Freundin darüber gesprochen.
Mitte November 2007 kam wieder ein Brief vom Gericht. Diesmal für mich. Es war die Ladung zur Hauptverhandlung gegen meinen Exmann wegen sex. Missbrauch. Der Termin war für den 21.12.2007 angesetzt. Einerseits war ich froh das es jetzt endlich so weit ist, andererseits lagen meine Nerven immer mehr blank je näher der Termin kam. Das ging sogar so weit, das mein Hausarzt mir Beruhigungsmittel verschrieben hat weil ich schlicht am Ende war. Ich konnte irgendwann nicht mehr schlafen und habe kaum noch gegessen. Ein Zustand in dem ich dem Prozess wahrscheinlich nicht gewachsen gewesen wäre.
An besagtem Tag bin ich dann auf dem Gerichtsflur zum ersten mal seit neun Monaten meinem Exmann wieder begegnet.
Auch wenn ich das schon vorher wusste und versucht habe mich so gut es geht auf diese Begegnung einzustellen, so hätte ich alles dafür gegeben sie zu vermeiden.
Nach zehn Minuten war dann auch schon wieder alles vorbei, ohne das ich überhaupt in den Saal gerufen wurde. Auf Nachfrage wurde mir mitgeteilt das eine Schöffin überraschend erkrankt sei, die Verhandlung deswegen auf einen anderen Termin verschoben wird. Und dafür habe ich mich Tagelang verrückt gemacht? Toll.
Der nächste Termin war dann für Anfang Februar 2008 vorgesehen. Dieser wurde allerdings schon kurz nach der Ankündigung wieder abgesagt, da die Verteidigerin zu der Zeit im Urlaub war. Ich wusste zu dem Zeitpunkt das uns die Zeit davon läuft, denn es gibt Fristen die eingehalten werden müssen sobald die Staatsanwaltschaft das Strafverfahren eröffnet.
Nach weiteren Wochen des Wartens kam endlich eine neue Ladung zum Prozess am 02. April 2008, fast ein Jahr nach meiner Anzeige. Ich hoffte nur das nicht wieder etwas dazwischen kommt, denn nicht nur das Warten sondern auch die Ladungen und Absagen hatten mir zugesetzt.
Mein Bruder begleitete mich zum Gericht und auch mein Anwalt hatte zugesagt bei meiner Aussage dabei zu sein. Ich brauchte einfach diesen moralische Rückhalt, auch für den Fall das in letzter Sekunde wieder etwas passiert.
Aber dieses Mal ging alles glatt. Ich war für 9 Uhr morgens geladen, die Verhandlung hatte um 8:30 Uhr begonnen wie ich auf der Anzeigentafel entnehmen konnte, und kurz nach 9 Uhr wurde ich in den Saal gerufen. Ich durfte endlich aussagen, etwas worauf ich fast ein Jahr gewartet habe. In dem Moment als ich im Zeugenstuhl Platz genommen habe, habe ich alles um mich herum ausgeblendet. Ich habe mich ganz auf den Richter und seine Fragen konzentriert und als ich das erste Mal auf die Uhr sah, die sich mir gegenüber an der Wand befand, stellte ich fest das meine Zeugenvernehmung schon über eine Stunde dauert. Die Fragen bezogen sich auf meine Aussage bei der Polizei, darauf wie ich vom Missbrauch erfahren habe, was mir meine Tochter über den Missbrauch erzählt hat und auch über den Zeitraum des Missbrauchs sowie die Häufigkeit.
Den Zeitraum konnten wir dadurch fest machen, dass meine Tochter diesen mit einer Schulaufgabe zusammen legte und der Lehrer dankenswerter Weise das Datum dieser Schulaufgabe bestätigt hat. So stand fest, das der Missbrauch über den Zeitraum von 1 1/2 Jahren ging.
Was die Häufigkeit betrifft, so konnte ich anhand von Kalenderaufzeichnungen dem Gericht belegen wann meine Kinder die Wochenenden bei ihrem Vater verbracht hatten. Im Kalender waren nicht nur die eigentlichen Termine vermerkt sondern auch Besonderheiten. So zum Beispiel Terminverschiebungen oder Absagen, ebenso hatte ich notiert wenn eines der Kinder nicht beim Vater war. Auch andere Vorkommnisse, z. B. den Ausbruch der Masern bei einem Sohn während eines Wochenendes beim Vater, hatte ich aufgeschrieben. Dadurch konnte ich meine Aussage untermauern und das Gericht hatte etwas in der Hand um die Häufigkeit fest zu legen.
Meine Zeugenvernehmung dauerte über zwei Stunden, wobei ich dabei jedes Zeitgefühl verloren habe.
In einer kurzen Pause nach meiner Vernehmung meinte mein Anwalt, ich wäre die beste Zeugin gewesen die er je erlebt hätte. Ich hätte mich nicht verunsichern lassen, auch nicht von der Verteidigerin und wäre authentisch gewesen als ich auf die eine oder andere Frage ehrlich geantwortet habe ich wüsste es nicht oder ich könnte mich nicht genau erinnern. Mein Anwalt meinte dies war genau richtig, auch wenn ich das Gefühl hatte, ich hätte auf jede Frage antworten müssen. Vor allem meine Weitsichtigkeit in Bezug auf die Kalender hat ihn beeindruckt, denn darüber hatte ich vorher nie mit ihm gesprochen.
Nach den Aussagen der Psychologin die das Glaubwürdigkeitsgutachten erstellt hat, einem Gutachter der meinen Exmann begutachtet hat und einer weiteren Pause verkündetet der Richter, er würde den Prozess gerne heute noch zum Abschluss bringen auch wenn es schon schon spät sei. Staatsanwalt und Verteidigung stimmten dem zu und ich war froh das es nicht noch einen weiteren Termin geben würde. Ich einen Abschluss. Ich wollte das Urteil.
Der Staatsanwalt forderte in seinem Plädoyer 6 Jahre sowie die Unterbringung im Maßregelvollzug zur Entzugstherapie wegen Alkohol-, Medikamenten- und Drogenmissbrauch. Etwas womit mein Exmann versucht hat seine Strafe zu mildern und sich aus der Verantwortung zu stehlen. Die Verteidigerin forderte 2 Jahre zur Bewährung und als Auflage ein Entzugstherapie.
Mein Exmann, der das letzte Wort hatte, forderte zum wiederholten Male die Vorladung unserer Tochter damit sie ihm ins Gesicht sagt was er angeblich falsch gemacht und in Bezug auf die Strafe forderte er Freispruch. Als Begründung gab er an, erstens sei er immer so betrunken oder hätte Drogen konsumiert wenn die Kinder bei ihm waren das er gar nicht wüsste was er getan hat. Zum anderen hat er nichts falsch gemacht, denn er sei ja schließlich der Vater und er hätte das Recht mit seinen Kinder zu tun was er will. Das ginge weder mich noch das Gericht etwas an. Zudem seien alle im Saal Rassisten und er sitzt nur auf der Anklagebank da er Ausländer ist, aber nicht weil er einen Fehler gemacht hat.
Der Richter hat ihn irgendwann bei seinen Tiraden unterbrochen und mitgeteilt das Gericht zieht sich jetzt zur Beratung zurück und das das Urteil nach einer weiteren Pause verkündet wird.
Dann war es soweit und es sollte endlich zu einem Abschluss kommen.
Das Urteil lautet 5 Jahre und 2 Monate Haft, dazu Unterbringung im Maßregelvollzug zu Entzugstherapie, wegen mehrfachem sexuellem Missbrauch und mehrfachem schwerem sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlen unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen.
Damit folgte das Gericht fast dem Antrag des Staatsanwaltes in Bezug auf das Strafmaß. Folgte dem Gutachter der meine Exmann gesehen hatte und trotz Alkohol- und Drogenkonsum nicht von einer Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit ausging und es folgte vor allem der Psychologin, die im Glaubwürdigkeitsgutachten meiner Tochter die volle Glaubwürdigkeit ausgesprochen hatte.
Es war vorbei, es war geschafft. Wir hatten ein Urteil und der Täter, mein Exmann und Vater meiner Kinder, wurde zu Recht zu einer hohen Haftstrafe verurteilt.
Als ich nach Hause kam und meiner Tochter das Urteil überbrachte fiel sie mir vor Freude und Erleichterung um den Hals.
Jetzt konnte ich ihr mit gutem Gewissen sagen:
„Es ist vorbei. Du bist endlich frei!“
Auch wenn mich heute, nach fast fünf Jahren, immer noch die Frage nach dem „Warum“ beschäftigt und mich auch immer wieder Selbstvorwürfe und Schuldgefühle einholen, bin ich stolz auf das was wir, vor allem meine Tochter, geleistet haben.
Der Missbrauch wird immer ein Teil unseres Lebens sein, vor allem im Leben meiner Tochter. Aber nach einem langen Weg ist in unserem Leben wieder etwas von der Unbeschwertheit und Leichtigkeit zurückgekehrt, die wir vor dem Missbrauch hatte.
Meine Tochter war drei Jahre lang ein Mal pro Woche zur ambulanten Psychotherapie um den Missbrauch zu verarbeiten. Auch wenn sie selbst oft die Notwendigkeit nicht gesehen hat, so hat sie doch vor kurzem zugegeben, das es richtig von mir war darauf zu bestehen.
Sie ist inzwischen fast volljährig, zieht sich auch weiterhin öfters mal zurück zum lernen, aber heute wirklich deswegen, denn sie will ihr Abitur so gut wie möglich machen. Daneben gab es inzwischen auch schon mal einen Freund, worüber ich mich, zur Verwunderung vieler, sehr gefreut habe. Denn das zeigt mir, meine Tochter kann, trotz allem was ihr passiert ist, wieder Vertrauen zu anderen, auch zu Jungs, aufbauen.
Zu ihrem Vater hat sie den Kontakt komplett abgebrochen und will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Oder um es mit ihren Worten zu sagen: „Der Kerl ist für mich gestorben.“
Meine Söhne sind inzwischen auch schon älter und wissen heute genau was vor einigen Jahren passiert ist. Für sie ist es das Letzte was ihr Vater ihrer Schwester angetan hat. Sie haben noch sporadisch Briefkontakt zu ihrem Vater, aber der beschränkt sich mittlerweile auf eine obligatorische Karte zum Geburtstag oder zu Weihnachten, wobei ich ihnen von meiner Seite aus den Kontakt nicht verbiete.
So wie ich meinen Kindern schon früh das Recht eingeräumt habe auch mal nicht zu ihrem Vater zu wollen, so räume ich ihnen heute das Recht ein den Kontakt zu ihrem Vater zu halten wie sie es wollen. Denn egal was er für ein Mensch ist und was er auch getan hat. Er ist nun mal der Vater. Ich denke, es ist für das weitere Leben der Jungs gut und wichtig selbst zu entscheiden wie sie mit ihrem Vater jetzt und in Zukunft umgehen wollen.
Die zunehmende Ablehnung des Vaters, die parallel mit dem vermehrten Verstehen der Vorfälle zunimmt, zeigt allerdings schon heute die Richtung.
Meine Kinder sollen frei sein in ihren Entscheidungen, frei sein Fragen zu stellen und Antworten einzufordern wenn sie es für richtig halten. Ich werde dann da sein und sie auffangen wenn die Antworten nicht so ausfallen wie sie es sich wünschen oder gar ganz aus bleiben.
Mein Exmann sieht sich immer noch als das eigentliche Opfer, er respektiert heute ein „Nein“ der Jungs in Bezug auf Kontakt genauso wenig wie er vor einigen Jahren das Nein unsere Tochter respektiert hat. Nur, heute kann er keines der Kinder verletzen, da sowohl das Jugendamt als auch ich als Puffer dazwischen stehen, je nach dem auf wen er versucht Druck auszuüben.
Er sitzt immer noch in einer forensischen Klinik im Maßregelvollzug und wird dort wohl auch noch etwas bleiben. Rein rechnerisch wäre im Sommer dieses Jahres die Strafe abgesessen wenn man die U-Haft abzieht.
Da aber die angeordnete Langzeittherapie zum Entzug nicht voll auf die Strafhaft angerechnet wird, und sich nach Auskunft meines Anwaltes erst jetzt kleine Veränderungen in seinem Verhalten zeigen, bei denen aber noch nicht klar ist ob sie positiv oder negativ zu Werten sind, ist mit einer baldigen Entlassung zum Glück nicht zu rechnen.
Und zu mir...
...ich habe viele Jahre funktioniert, habe versucht stark zu sein für meine Kinder und keine eigene Schwäche zu gelassen.
Ich habe in meinem Leben ausgemistet und ordentlich aufgeräumt. Habe mich von unwichtigem getrennt, wozu auch einige sogenannte Freunde gehörten und meinen Beruf gewechselt. Denn der Druck der Mehrfachbelastung war einfach zu viel für mich und ich brauchte nach allem einen kompletten Neuanfang.
Die Unterstützung meiner Familie ist immer noch da, genauso wie die Unterstützung von echten Freunden, deren Wert mir immer mehr bewusst wird.
Vor nicht all zu langer Zeit hatte ich dann einen richtigen Tiefpunkt an dem ich fast zerbrochen wäre Die alte Angst vor der Rache meines Exmannes und die nicht aufgearbeiteten Vorfälle der Vergangenheit holten mich ein.
Dank der Unterstützung von den Menschen die mir wichtig sind und Nahe stehen, vor allem meine Familie und ein langjähriger guter Freund, bin ich wieder auf dem aufsteigenden Ast.
Ich habe durch diese tragische Geschichte, auf die ich liebend gerne verzichtet hätte, zum einen gelernt das ich stärker bin wie gedacht, und das es mir immer irgendwie gelingt verborgene Kräfte zu mobilisieren falls es nötig ist. Aber ich musste auch erkennen das meine Kraft nicht grenzenlos ist, vor allem wenn man nicht an sich sondern nur an andere denkt.
Wie es weiter geht wird die Zukunft zeigen, in die keiner von uns blicken kann.
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2012
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