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Kapitel 1: Das Feuer wird entfacht


Die Zeit war wieder einmal gekommen, wie jeden Tag in der letzten Woche. Es war Punkt 14 Uhr, Paul kam gerade von der Schule. So gut es ging humpelte er den langen Flur des Elternhauses entlang, seiner Mutter, die in der Küche stand und schon mit dem Essen auf ihn wartete, warf er nur eine flüchtige Begrüßung zu. Aber sie war ihm nicht böse, diesen Ablauf kannte sie schon von den letzten Tagen. Paul lief ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und ließ sich danach faul auf die riesige Couch fallen. Seine Mutter eilte ihm hinterher und servierte ihm sein Mittagessen, es gab Schnitzel und Pommes, Pauls Leibgericht. „Ist es wieder einmal Zeit für Olympia?“, fragte sie mit einem leichten Grinsen im Gesicht. Sie wusste, welche Antwort Paul ihr entgegnen würde, aber sie freute sich immer wieder, ihren Sohn strahlen zu sehen, wenn er ihr kurz und knapp antwortete: „Aber das weißt du doch, Mama! Na klar!“. Und schon war Paul in seiner eigenen Welt, während er gierig sein Essen verschlang. Sie entgegnete ihm ein Lächeln, ehe sie sich wieder in die Küche zurückzog und dort, wie so oft, in Tränen ausbrach.
Ihr Sohn hatte es nicht leicht. Schon seit seiner Kindheit litt er an einer seltenen Krankheit, die es ihm unmöglich machte, aus eigener Kraft auf seinen Beinen zu stehen. Pauls Nerven waren stark beschädigt, ein Leben ohne Krücken war nicht mehr möglich. Schon früh diagnostizierten die Ärzte, dass Paul höchstwahrscheinlich früh auf einen Rollstuhl angewiesen sein würde. Langsam verdichteten sich die Anzeichen, dass dieser Zeitpunkt immer näher rückte. Paul war zwar erst 7 Jahre alt, sein gesundheitlicher Zustand aber war fatal. So gut es ging probierte er, mit seinen Krücken durch das Leben zu kommen, langsam tat er sich aber selbst mit einfachen Tätigkeiten immer schwerer. Seiner Mutter setzte diese Tatsache erheblich zu. Wie sehr hatte sie vor seiner Geburt gehofft, mit dem Neugeborenen und ihrem Mann einen Neuanfang starten zu können. Die Beziehung zu ihrem Ehemann war schon vor Pauls Geburt schwierig, als sie ihm offenbarte, schwanger zu sein, waren sie kurz davor, sich zu trennen. Mit aller Kraft rafften sie sich noch einmal zusammen, aber auch der eigene Sohn konnte ihren Mann nicht mehr umstimmen. Ex-Mann, um genau zu sein. Wenige Wochen, nachdem Paul auf der Welt war, verließ er sie für eine jüngere Frau, fernab des Beziehungsstresses. Seitdem hatten sich die Beiden nicht mehr gesehen. Wenigstens bezahlte er aber jeden Monat Unterhalt.
Wenige Wochen, nachdem Melanie von ihrem Mann verlassen wurde, prasselte die nächste Hiobsbotschaft auf sie nieder. Pauls Krankheit wurde diagnostiziert und die Ärzte teilten ihr mit, dass er kein normales Leben würde führen können. Für Melanie schien die ganze Welt Kopf zu stehen, anfangs konnte sie kaum realisieren, was das für ihre Zukunft bedeuten würde. Nach und nach lernte sie, mit der Situation umzugehen. Sie liebte Paul wie ein gesundes Kind und opferte all ihre Kraft, um ihrem wertvollsten Schatz auf Erden eine schöne Kindheit bieten zu können. Wie alt Paul einmal werden würde, stand von Anfang an in den Sternen. Egal, wie sehr sie ihren Sohn liebte, die ganze Situation machte sie einfach unglaublich traurig und verbittert. Wie oft stand sie schon in der Küche, weinte hemmungslos, fernab ihres Sohnes, der meist im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß, wie oft...
„MAMA! MAMA!“. Laute Rufe aus dem Wohnzimmer rissen sie aus ihren Gedanken. Paul schrie nach ihr, jedoch hörte sie große Freude aus seiner Stimme heraus, weswegen sie sich noch Zeit nahm, um ihre Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Mit einem kurzen Blick in den Spiegel vergewisserte sie sich, ob sie wieder normal aussah. Paul sollte nicht merken, wie sehr ihr seine Situation wirklich zusetzte. Erst dann trat sie ins Wohnzimmer, wo Paul aufgeregt auf der Couch saß und scheinbar dem Fernseher zujubelte.
Auf der Flimmerkiste lief gerade, wie Paul ihr Minuten vorher schon mitteilte, die Übertragung der Olympischen Spiele, die gerade in aller Munde waren. Begonnen hatte alles letzte Woche Freitag. Nachdem Melanie für sich und Paul das Abendessen zubereitet hatte, legten sich die Beiden zusammen auf das Familiensofa, um den Abend gemütlich ausklingen zu lassen. Während Paul durch das Programm schaltete, er musste schließlich in zwei Stunden ins Bett und wünschte sich, noch etwas spaßiges zu sehen, blieb er auf dem Sportkanal hängen. Dort lief gerade die Eröffnungszeremonie von den Spielen und die Beiden sahen zu, wie das olympische Feuer in das riesige, von zigtausend Menschen gefüllte Stadion getragen wurde. „Wow“, sagte Paul, „das ist ja cool!“. Melanie lächelte sanft und strich ihrem Sohn durch sein Haar. Welche Begeisterung hinter seinen Worten steckte, merkte sie jedoch erst drei Tage später.
Über die Programmzeitschrift hatte sich Paul am Vorabend schlau gemacht, wann denn dieses „Spiel“, so bezeichnete er selbst Olympia, wieder im Fernsehen kommen würde. Seine Freude war groß als er bemerkte, dass er für die nächsten zwei Wochen Tag für Tag zusehen konnte, wie die Athleten gegeneinander um Goldmedaillen kämpften. So kam es dann, dass Paul Montag begeistert nach Hause hechtete, jedenfalls so gut es ihm möglich war, und sich direkt vor den Fernseher setzte, um das Großereignis zu verfolgen. Normalerweise mochte es Melanie nicht, wenn ihr Sohn stundenlang vor dem TV saß und sich mit nicht anderem beschäftigte. Hier machte sie jedoch eine Ausnahme, da diese Zeit, in der Paul vor dem TV saß, ihm neue Kraft verlieh. Und wenn es ihm gut ging, ging es Melanie auch gut.
So jubelte Paul auch am heutigen Donnerstag immer wieder, wenn ein Sportler gerade einen Wettkampf gewann oder die hart erkämpfte Medaille umgehangen bekam. Plötzlich stellte er ihr eine Frage, mit der sie nicht rechnete: „Mama, darf ich eigentlich auch einmal bei diesem Spiel mitmachen? Ich mag doch spielen, und ich möchte auch so eine Medaille bekommen!“. Dieser Satz verschlug ihr vollkommen die Sprache. „Ach Paul...“, stammelte sie heraus, ehe sie wieder das Wohnzimmer in Richtung Küche verließ. Dieser Satz erschütterte sie. Paul war stets ein tapferer Junge, er wollte nie auf andere Menschen angewiesen sein und versuchte stets, selbstständig zu sein. Der Schmerz, der aufkäme, wenn Melanie ihrem Sohn erklären müsste, dass er aufgrund seiner Krankheit nicht bei dem „Spiel“ mitmachen dürfte, dass dies nur professionellen Sportlern und gesunden Menschen vorbehalten ist... Er wäre enorm, und so ließ sie Pauls Frage unbeantwortet in der Hoffnung, sie würde nicht noch einmal aufkommen.
Die Tage verstrichen und Paul war aus seiner Begeisterung kaum noch herauszubringen. Täglich sah er neue Sportarten, die ihn immer wieder aufs Neue faszinierten und in ihren Bann zogen. Teilweise stand er sogar vor dem Fernseher und versuchte, die Bewegungen und Abläufe, die er dort im Fernsehen sah, nachzuahmen. Paul war nicht mehr zu bremsen und wäre er nicht vorher schon ein überaus tapferer, kleiner Junge gewesen, so wäre er es spätestens jetzt. Das brachte Melanie auf eine Idee. Die Leichtigkeit, mit der Paul nun durch den Tag ging, war auch für sie neu und brachte eine ungeheure Erleichterung mit sich. Die Freude, die Paul ausstrahlte, wenn er die Sportler wetteifern sah, ließ auch Melanie zum ersten Mal seit langer Zeit ihre Sorgen vergessen.
Als Melanie ein paar Tage später, an einem heißen Dienstagnachmittag wieder einmal in der Küche stand, während Paul weiterhin glücklich vor dem TV saß, fiel ihr Blick auf ihre rechte Hand. Dort befand sich noch immer der Ring, den sie vor 8 Jahren von ihrem Ex-Mann zur Hochzeit angesteckt bekam. Der Ring selbst hatte für sie zwar keine besondere Bedeutung und auch emotional verband sie damit keine Erinnerungen – zumindest keine guten. Dennoch liebte sie es, den Ring zu tragen, da er die einzige Form von Schmuck war, den sie besaß. Er machte sie ein Stück weit zu etwas besonderem. Nun jedoch war Melanie entschlossen, etwas in ihrem Leben zu ändern. Hastig zog sie den Ring ab, was überraschend leicht ging, wenn man bedenkt, dass sie ihn vorher nie abgezogen hatte, und legte ihn in die Besteckschublade unter die Gabeln. Am liebsten hätte sie sämtliches Besteck darauf gelegt, um den Ring weit, weit aus ihrem Blickfeld zu schaffen. Die Tatsache, über Jahre hinweg den Ring eines Mannes getragen zu haben, der sie so im Stich gelassen hatte, ließ ein schlechtes Gefühl in ihr aufkommen. Schnell versuchte sie, diesen Gedanken wieder zu verdrängen. Melanie wollte einfach nur noch aus ihrem alten Verhaltensmuster raus, sie wollte die schon lang erträumte, glückliche Zukunft für Paul endlich ein Stück weit ermöglichen. Sie griff zum Hörer und wählte die Telefonnummer ihres Onkels. Dieser war Vorstand des örtlichen Leichtathletikteams und sie hoffte, Paul eine kleine Überraschung bereiten zu können. Lange hörte sie nur ein Freizeichen am anderen Ende der Leitung, ehe sie eine vertraute Stimme vernahm... „Hier bei Handke, mit wem spreche ich?“

Kapitel 2: Die Spiele beginnen


Im Nachhinein lief das Telefonat selbst besser als erwartet. Melanie redete über eine Stunde mit ihrem Onkel, vom eigentlichen Anliegen wich sie manchmal ab, um sich den Frust von der Seele zu reden. Frust, der seit Jahren in ihr steckte. Dennoch stand der Plan im Vordergrund, Paul eine Freude zu bereiten. Mittlerweile waren die Olympischen Spiele zu Ende und der kleine Junge vermisste es, täglich seine Sportsendungen zu verfolgen. Die neu gewonnene Motivation verschwand schnell wieder, auch wenn Paul seine gewohnte Selbstständigkeit beibehielt. Wenn auch mit etwas weniger Elan, seine Kraft schwand weiterhin nach und nach. Mit ihm würde es schon bald bergab gehen, bald würde er sich ohne einen Rollstuhl kaum noch fortbewegen können. Melanie war sich bewusst, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis Paul seine Krücken ablegen muss, jedoch verdrängte sie die negativen Gedanken so gut es ging. Paul sollte abgelenkt und wieder aufgeheitert werden, sie versprach ihrem Sohn eine große Überraschung.
Ungeduldig drängte er täglich nach der Wahrheit und fragte immer und immer wieder, was ihn denn nun erwarten würde. Melanie jedoch verriet ihm nichts. Umso größer war die Vorfreude bei Melanie, die strahlenden Augen ihres Sohnes zu sehen, wenn es endlich so weit sein würde.
Am großen Tag selbst setzte Melanie ihren Sohn schon früh morgens in den Kindersitz ihres Autos. Normalerweise war Paul nicht dafür zu begeistern, früh aufzustehen, doch in der letzten Nacht schlief Paul kaum, die Aufregung war zu groß. Nachdem ihr Sohn angeschnallt war, fuhr sie los, eine Mischung aus Anspannung und Freude war ihr ins Gesicht geschrieben. Aufmerksam sah Paul aus dem Fenster um eventuell zu erahnen, wo ihre Reise hingeht, jedoch konnte er es nicht erahnen. Die Beiden fuhren an das andere Ende der Stadt, in ein Gebiet, in dem Paul noch nie war, jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern. Nach ungefähr 15 Minuten war es dann soweit. Melanie stoppte auf einem kleinen Parkplatz gegenüber von der Leichtathletikarena ihrer Heimatstadt. Sie wollte Paul noch die Augen verbinden und ihn ins Stadion tragen, jedoch lehnte er das Angebot seiner Mutter entschieden ab. „Nein Mama, ich kann das selber!“. Er schnappte sich seine Krücken und lief den Weg entlang, den ihm seine Mutter zeigte. Langsam legte er seinen Weg zurück, je näher er dem Eingangstor kam, desto mehr schnaufte er. Melanie ging stolz hinter ihm her, jedoch konnte sie sich eine erste Träne nicht verkneifen. Sie hoffte inständig, dass ihrem Sohn die kleine Aufmunterung gefallen würde.
Sämtliche Sorgen waren jedoch umsonst. Sobald Paul das Tor durchschritten hatte, leuchteten seine Augen voller Freude. Im Stadion war die komplette Leichtathletikmannschaft versammelt und begrüßte den kleinen Paul mit einem kräftigen „Überraschung!“.
Für Paul war es der schönste Tag seines Lebens. Den ganzen Tag wurden spaßige Wettkämpfe für ihn veranstaltet, sämtliche Athleten trugen ihn auf den Schultern, sodass auch er an den Spielen teilnehmen konnte.
Am Ende bekam Paul eine Medaille von Melanies Onkel umgehängt. Sie glänzte genauso wie die, die Paul bereits im Fernsehen gesehen hatte. Der kleine Junge war außer sich vor Freude und umarmte zum Abschied jeden der Athleten und Helfer herzlich. Diesen Tag würde er nie vergessen. Genauso wie seine Mutter, der bei diesem Anblick stille Tränen der Freude die Wange hinunterliefen.
Auch wenn ihre Zukunft ungewiss sein würde, so war Melanie an diesem Abend doch zuversichtlich. Die Überraschung war gelungen, Paul war glücklich und sie freute sich, dass ihr Sohn diesen Tag vollends genießen. Egal was kommen würde, sie wird ihren Sohn immer lieben und sie wird alles für ihn tun, um sein Leben Tag für Tag schöner zu machen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.08.2012

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