Im Leben von Ben lief schon lange nichts mehr so, wie es eigentlich sein sollte. Erst vor kurzem feierte er seinen 17 Geburtstag, jedoch war ihm in letzter Zeit nicht nacht feiern zu Mute, im Gegenteil. Viele Probleme plagten ihn bereits in seinen jungen Jahren, wobei hier nicht die Rede von kleinen Lappalien, einem kurzzeitigen Tief oder sonstigen Stimmungsschwankungen ist. Nein, Ben war am Ende, und er wusste nicht mehr weiter. Tag für Tag quälte er sich mühevoll aus dem Bett, das Aufstehen schien ihm immer wieder reine Schikane. Wo seine Altersgenossen zusammen in die Stadt gingen, Kaffee tranken oder sich den neuesten Film, der natürlich in aller Munde war, ansahen, verkroch er sich langsam aber sicher in seiner eigenen Welt. Seine aktive Ader, die er früher mal besaß, schien einfach komplett verschwunden, jede einzelne Minute eines Tages quälte ihn.
Sein Tag begann heute, wie in letzter Zeit üblich, gegen drei Uhr nachmittags. Früher stand er eigentlich immer einige Stunden vorher auf, doch dazu fehlte ihm nun die Energie. Der Schlaf tröstete Ben, da er hier fernab aller Sorgen war, den ganzen Schmerz komplett vergessen konnte. Sein erster Gang führte ihn wie üblich ins Bad. Seine Körperpflege war in letzter Zeit nur noch sporadisch, weswegen er sich die Zahnbürste halbherzig in den Mund schob, ein paar Sekunden die obere, dann die untere Zahnreihe nachlässig schrubbte, ehe er die Bürste wieder zurück ins Waschbecken warf. Heute jedoch fiel Bens Blick seit langer Zeit mal wieder in den Spiegel, und was er dort sah, verschlug ihm fast die Sprache.
Er war einfach nur noch ein Schatten seiner selbst, sein Gesicht blass, die Augen mit dunkler Farbe und riesigen Ringen verziert. Bens Haar war fettig und wirkte ungepflegt, seine mangelnde Bereitschaft für die morgendliche Wäsche zeigte ihre Spuren. Das war natürlich nicht erst seit heute so, aber an diesem Tag fiel eben zum ersten Mal sein Blick wieder in den Spiegel.
Minuten verstrichen, während Ben sich weiterhin im Spiegel betrachtete. „Das ist aus mir geworden? So sehr habe ich mich ruiniert?“, dachte er immer wieder. Dieser Gedanke schwirrte noch lange durch seinen Kopf, die Kraft etwas zu ändern, hatte er jedoch nicht. Oder er wollte sie nicht abrufen, dass wusste er nicht genau. Immer noch geschockt stapfte er wieder in sein Zimmer und widmete sich seinem normalen Alltag. Mal saß er stundenlang vorm PC, ein anderes Mal legte er sich einfach direkt wieder ins Bett, um seinen Sorgen wieder einmal zu entfliehen. Das dieses Verhalten nicht gut für ihn war, wusste Ben selber. Aber es war ihm einfach egal, was die Zukunft für jemanden wie ihn bereithalten würde, daran verschwendete er auch keinen Gedanken. So saß er auch an diesem Tag stundenlang vorm PC, spielte Videospiele und driftete erneut in seine eigene Welt ab. Seine Mutter, die sich große Sorgen um ihren Spross machte und mehrfach an seiner Zimmertür klopfte, beachtete er erst gar nicht. Sein Essen – meist eine einfache Tiefkühlpizza – machte er sich sowieso selber, den Kontakt zu anderen Menschen versuchte er bewusst zu vermeiden. „Was wissen die schon, wie es mir geht“, murmelte er vor sich hin. Nachdem er es erneut geschafft hatte, den Tag totzuschlagen, ließ er sich zu später Stunde in die Federn fallen. Früh zu Bett gehen war für ihn ein Fremdwort. Sein Biorhythmus war sowieso ruiniert, also blieb er auch lange auf. Basta. Sein Verhalten erschien ihm richtig.
Es dauerte nicht lange, bis Ben, vollkommen erschöpft und niedergeschlagen, in den Schlaf fiel. Für gewöhnlich würde er nun die nächsten Stunden im Bett verbringen, meistens traumlose Nächte, um dann am Nachmittag genauso gerädert wie am Abend in seinen Alltag zu starten. Doch diese Nacht sollte alles verändern.
Kurz nachdem Ben eingeschlafen war, begann er zu träumen. Dieses Mal jedoch war es kein normaler Traum rund um Fußball, Videospiele oder alles andere, was ihn sonst beschäftigte. Nein, nun erlebte er erneut die vergangenen sechs Monate, die ihn überhaupt erst in seine missliche Lage brachten.
Noch einmal sah er, wie er in der wichtigen Abschlussprüfung versagte und somit seine komplette schulische Ausbildung an die Wand fuhr. Es hätte doch alles so einfach sein können. Ben war noch nie ein herausragend guter Schüler, jedoch war er kurz davor, seinen Realschulabschluss durchaus annehmbar zu meistern. Vor seinem geistigen Auge sah er seinem damaligen Ich über die Schulter, verzweifelnd über der abschließenden Mathe Klausur sitzend. Ben wollte einfach nur weg von hier, diese Erinnerung daran, versagt zu haben, tat unglaublich weh. Er sträubte sich mit aller Kraft, um das alles nicht noch einmal zu erleben, doch alle Bemühungen waren umsonst. Die Zeit schritt voran, und im nächsten Moment sah er seinen Lehrer auf ihn zuschreiten, wütend gestikulierend, da Ben nichts zu Papier gebracht hatte. Das Resultat wusste er auch damals schon, ohne die Bekanntgabe der Noten abzuwarten. Ben hatte versagt, war durchgefallen und hatte somit keinen Abschluss. Noch schlimmer war die Tatsache, dass er dadurch auch schon die so gut wie sichere Lehrstelle als Versicherungskaufmann verloren hatte. Sein Arbeitgeber forderte einen Abschluss, den hatte er nicht. Bens Aussichten für die Zukunft waren nicht sehr rosig, und es quälte ihn, mit seiner Unfähigkeit – so sah er sich selbst, unfähig – konfrontiert zu werden.
Da wandelte sich sein Traum und Ben hoffte, mit angenehmeren Bildern zur Ruhe gebracht zu werden. Doch dazu sollte es nicht kommen, zumindest nicht in dieser Nacht. Im diesem Moment hatte er schon seinen besten Freund Marco vor Augen, den er seit seiner Kindheit kannte und der immer für ihn da war, wenn er jemanden zum Reden brauchte. Nie würde er vergessen, wie er dem Umzugswagen hinterher blickte, während ihm stille Tränen das Gesicht hinunterliefen. Marco sagte zwar, die beiden Freunde würden in Kontakt bleiben, jedoch hatte er seit dem Umzugstag nichts mehr von ihm gehört geschweige denn gesehen. Bis heute hatte er versucht, Marco und alle Erinnerungen, die mit ihm verbunden waren, zu vergessen. Umso schlimmer war es nun, seinen alten besten Freund wieder zu sehen. Ein stechender Schmerz traf Ben mitten im Herz, Marco fehlte ihm, soviel stand fest. Wenn ihm jemand in seiner aktuell aussichtslosen Situation hätte helfen können, dann wäre das Marco gewesen, ganz sicher. Aber er war nicht mehr da, und die Erinnerung an ihn versetzte ihm gefühlt einen Schlag ins Gesicht. Ben war am Ende, er wollte nur noch aufwachen, doch er spürte, dass dies nicht möglich war. Wieder wandelte sich das Bild in seinem Kopf, wieder zeigte sich ihm eine neue Szenerie.
So sah er nun seinen über alles geliebten Großvater. Ben stand in seinem Traum noch einmal im Krankenhaus und rang mit den Tränen. Sein Großvater war schwach und ein Schatten seiner selbst, kaum wiederzuerkennen. Dieser Anblick traf Ben am härtesten, denn sein Großvater war wie ein zweiter Vater für ihn. Das Bild brach rasch ab, mehr musste er gar nicht sehen. Wenige Tage später starb sein Großvater, der größte Verlust in Bens jungem Leben. Dennoch setzte er sich nie mit dem Tod selbst auseinander, er probierte einfach alles zu verdrängen. Ein großer Fehler, wie sich nun zeigte. In diesem Moment erinnerte er sich an die Worte seines Großvaters, denen er damals eher wenig Bedeutung schenkte: „Ich würde mir für dich wünschen, dass du einmal eine gute Zukunft hast.“ Keine Forderung, nein, dieser Wunsch kam von Herzen, doch das realisierte er erst in diesem Moment. Plötzlich wurde Ben klar, dass es so nicht weitergehen kann. Er muss etwas ändern, für seinen Großvater und vor allem für ihn selbst.
Dabei wurde Ben zum ersten Mal bewusst, wie sehr sein Leben auf die schiefe Bahn geraten war. Mit all diesen Verlusten beschäftigte er sich in den vielen Stunden, in denen er für sich war, nie, zu groß war die Angst, dass der Schmerz wieder aufreißen würde. Die Tatsachen zu verdrängen schien ihm die einfachere Variante, unter der er selbst weniger Leiden müsste. Das er sich damit jedoch nur selbst schadete, wurde ihm erst in seinem Traum vor Augen geführt.
Während er in seinem Bett lag, sich unruhig hin und her wälzte, dabei mit den Beinen immer wieder ausschlug, liefen ihm erneut dicke Tränen die Wange hinunter. Davon bekam Ben jedoch nichts mit, seine Träume waren zu intensiv, er wachte nicht auf. Und so erlebte er nach und nach noch einmal seine jüngste Vergangenheit, Stück für Stück, intensiver denn je. Als ihm früh am Morgen dann die ersten Sonnenstrahlen durch seine Jalousie in die Augen schienen, wachte er auf. Mit klarem Verstand und mit neuer Energie, keinen Gedanken an die Nacht oder die letzten Wochen verschwendend.
Sofort stand er auf und wusste, was zu tun war. Ben brauchte eine Veränderung, und zwar sofort. Die letzten 24 Stunden hatten ihm gezeigt, dass das Leben weitergehen muss, dass es vor allem für ihn selbst weitergehen muss und wird. Er sprintete ins Bad, putzte sich sorgfältig die Zähne und hüpfte danach fast schon freudig unter die Dusche. Seit langem fühlte er sich wieder frisch und vital und es schien ihm, als würde er nun, während er sich unter dem warmen Wasserstrahl einseifte und abspülte, neben körperlichen Verunreinigungen auch seinen seelischen Ballast endlich abspülen. Ben drehte das Wasser ab und sprang wieder aus der Duschkabine, er hatte keine Zeit zu verlieren. Eilig schnappte er sich ein Handtuch, trocknete seinen Körper hastig ab und föhnte seine Haare trocken. Während er danach Gel in seinen Haaren verteilte, verschlug es ihm erneut die Sprache. Nicht, weil er so schrecklich aussah wie noch am gestrigen Tag. Sondern weil er endlich wieder so aussah, wie er sich in Erinnerung hatte: Ein junger Mann mit einem schönen Lächeln auf den Lippen, gepflegten Haaren und kräftigen, dunkelbraunen Augen. Dadurch schöpfte Ben neuen Mut.
Sein nächster Weg führte ihn sein Zimmer. Für die Spuren seines vorherigen Daseins, in dem Fall dreckige Teller, Reste seiner gestrigen Pizza und Klamotten, die achtlos im Zimmer verteilt lagen, hatte er keine Augen. Ben wollte einfach nur noch raus. Raus aus dem Zimmer, raus aus dem Haus und hinein in einen neuen Lebensabschnitt. Er kramte seine liebsten Freizeitklamotten aus der hintersten Ecke seines Schranks – er hatte sie schon lange nicht mehr an, auf gutes Aussehen hatte Ben in den letzten Monaten ebenfalls keinen Wert gelegt – und zog sich schnell an. Mit seinen nächsten Schritten sprintete Ben, nun vollständig gekleidet und scheinbar um 180° gewandelt, durchs Treppenhaus. Seine Eltern, die in ihrer Verzweiflung, was mit ihrem Sohn nur los war, am Küchentisch saßen, trauten ihren Augen kaum. Aber auch für sie hatte Ben keine Zeit. „Ich erkläre euch alles später, wie sehen uns zum Abendessen!“, rief er ihnen freudig zu, ehe die Haustür aufriss und genauso schnell hinter ihr verschwand, wie er auch erschienen war.
Draußen stand Ben einfach nur da. Minutenlang, während er tief einatmete und es genoss, die frische Luft in seinen Lungen zu spüren. All dies fühlte sich einfach unglaublich gut an und endlich freute sich Ben auf all die Dinge, die der Tag für ihn bereithalten würde. Was die plötzliche Veränderung gebracht hatte, wusste er nicht genau. Ihm war nur klar, dass ihm seine Träume in der letzten Nacht vor Auge geführt hatten, dass sein Leben so nicht weitergehen kann. Mehr Erklärungsansätze hatte Ben nicht, aber er brauchte auch keine. Er war dankbar, dass in den letzten 24 Stunden alles so passiert ist, wie es auch wahr. Mehr konnte er sich nicht wünschen.
Ben schloss die Augen und dachte noch einmal an seinen Großvater. Mit einem Lächeln im Gesicht wischte er sich eine Träne aus den Augen und rannte los. Wohin wusste er nicht. Was er jedoch wusste war, dass nun alles besser werden würde.
Tag der Veröffentlichung: 13.08.2012
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